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Die Samtpfote schlägt wieder zu! „Die Katze, die die Bank ausraubte“ von Lilian Jackson Braun jetzt als eBook bei dotbooks. Endlich ist es soweit und das Pickax-Hotel wird nach seiner Renovierung neu eröffnet! Doch es dauert keine zwei Tage, bis das Hotel erneut Schlagzeilen macht: Einer der ersten Gäste – ein Juwelenhändler – wird ermordet in seinem Zimmer aufgefunden. Von den teuren Schmuckstücken und seiner Assistentin fehlt jede Spur. Jim Qwilleran wittert einen spannenden Fall und begibt sich auf die Suche, wie immer unterstützt von seinen schlauen Siamkatzen Koko und Yum Yum. Doch diesmal wirft Kater Koko mehr Fragen auf, als er löst – denn seine plötzliche Besessenheit mit Fotos, Papiertüchern und Kleingeld ist äußerst merkwürdig … „Dieser skurrile und fesselnde Krimi packt den Leser – eine lebendige, witzige Geschichte mit fein präzisierten Charakteren!“ Publishers Weekly Die Krimi-Serie mit Suchtpotenzial! Der zweiundzwanzigste Fall für Reporter Jim und Siamkater Koko – jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Katze, die die Bank ausraubte“ von Bestsellerautorin Lilian Jackson Braun. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 302
Über dieses Buch:
Endlich ist es soweit und das Pickax-Hotel wird nach seiner Renovierung neu eröffnet! Doch es dauert keine zwei Tage, bis das Hotel erneut Schlagzeilen macht: Einer der ersten Gäste – ein Juwelenhändler – wird ermordet in seinem Zimmer aufgefunden. Von den teuren Schmuckstücken und seiner Assistentin fehlt jede Spur. Jim Qwilleran wittert einen spannenden Fall und begibt sich auf die Suche, wie immer unterstützt von seinen schlauen Siamkatzen Koko und Yum Yum. Doch diesmal wirft Kater Koko mehr Fragen auf, als er löst – denn seine plötzliche Besessenheit mit Fotos, Papiertüchern und Kleingeld ist äußerst merkwürdig …
»Dieser skurrile und fesselnde Krimi packt den Leser – eine lebendige, witzige Geschichte mit fein präzisierten Charakteren!« Publishers Weekly
Über die Autorin:
Lilian Jackson Braun (1913-2011) wurde in Massachusetts geboren. Nach der Highschool arbeitete sie als Journalistin und in der Werbebranche, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Ihre Katzenkrimis wurden in 16 Sprachen übersetzt und standen regelmäßig auf der New York Times-Bestsellerliste.
Bei dotbooks erscheinen alle Bände der Erfolgsserie. Eine vollständige Übersicht finden Sie am Ende dieses eBooks.
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eBook-Neuausgabe Dezember 2016
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2000 Lilian Jackson Braun
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »The Cat who Robbed a Bank«.
Copyright © der deutschen Ausgabe 2001 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmitiven von shutterstock/Forewer, SofiaV und Macrovector
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-902-8
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Lilian Jackson Braun
Die Katze, die die Bank ausraubte
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Christine Pavesicz
dotbooks.
Es war ein September, an den man sich noch lange erinnern würde! In Moose County, 400 Meilen nördlich vom Rest der Welt, hatte man große Pläne und Erwartungen.
Erstens war die Renovierung des geschichtsträchtigen Hotels in Pickax City, der Bezirkshauptstadt, nach dem Bombenanschlag vom Vorjahr endlich abgeschlossen, und die Eröffnung unter einem neuen Namen, mit neuem Koch und mit einem Galaempfang, stand kurz bevor.
Zweitens sollte demnächst ein berühmter Amerikaner (der im Jahr 1895 vielleicht oder vielleicht auch nicht dort geschlafen hatte) im Rahmen des ersten alljährlichen Mark-Twain-Festivals von Pickax City geehrt werden.
Außerdem hatte eine namhafte Persönlichkeit aus Chicago die Präsidentensuite reservieren lassen und ihre Ankunft am Labor Day angekündigt, was die Herzen der Damen höher schlagen ließ.
Und zu guter Letzt sollte das schottische Volksfest mit den Highland-Spielen, an denen drei Bezirke teilnehmen würden, auf dem Festplatz abgehalten werden: Es würde durchdringende Dudelsackmusik geben, starke Männer in Kilts, die Baumstämme warfen, und hübsche junge Mädchen, die auf ihren Fußballen den Highland Fling tanzten.
Das einzig Unerwartete war der Mord im Polizeiregister von Pickax, doch das war eine lange Geschichte, die vor mehr als 20 Jahren ihren Anfang genommen hatte.
Der September nahte, und die Leute in Pickax (3000 Einwohner) zitierten Sprüche von Mark Twain über das Wetter, schlugen anzügliche Namen für das Hotel vor und erzählten sich endlos Gerüchte über einen Mann namens Delacamp; nur wenige würden ihn persönlich kennen lernen, aber alle wussten etwas über ihn.
Wenn Jim Qwilleran, Kolumnist beim Moose County Dingsbums, im Stadtzentrum von Pickax seine Runde machte, spürte er die erwartungsvolle Stimmung, die in der Luft lag. Als er zur Bank ging, um einen Scheck einzulösen, sagte die junge Frau, die seine Fünfziger abzählte: »Ist das nicht aufregend? Mr Delacamp besucht uns wieder, und er kommt immer in die Bank. Ich hoffe, er kommt an meinen Schalter, aber für gewöhnlich kümmert sich der Filialleiter persönlich um seine Transaktionen. Trotzdem, es ist alles so faszinierend!«
»Wenn Sie meinen«, antwortete Qwilleran. Als langjähriger Berufsjournalist war er selten aufgeregt und gewiss nie fasziniert.
Im Blumengeschäft, wo Qwilleran für eine kranke Bekannte eine blühende Pflanze bestellte, meinte die Verkäuferin mit großen Augen atemlos: »Haben Sie schon gehört? Mr Delacamp kommt! Er muss immer frische Blumen im Hotelzimmer haben, und er schickt seinen Kundinnen Rosen.«
»Gut!«, erwiderte Qwilleran. »Alles, was der einheimischen Wirtschaft dient, findet meine Zustimmung.«
Als er im Drugstore ein Exemplar der New York Times zur Hand nahm, hörte er eine Kundin sagen, sie hätte eine geprägte Einladung zu Mr Delacamps Nachmittagstee erhalten, und jetzt überlege sie, welches Parfüm sie nehmen solle. Die Frau des Drogisten erklärte: »Es heißt, er mag französische Parfüms. So etwas führen wir nicht. Versuchen Sie es im Kaufhaus. Die können es Ihnen bestellen.«
Qwilleran ging ins Kaufhaus auf der anderen Straßenseite; seine journalistischen Instinkte witterten eine gute Story, die aus dem Leben gegriffen war und in der auch der Humor nicht zu kurz kam. Das Kaufhaus Lanspeak war ein großes Geschäft, das sich seit vier Generationen im Besitz der Familie befand. Es führte neumodische Waren, hatte jedoch altmodische Vorstellungen über den Kundenservice. Qwilleran traf die Besitzer in ihrem winzigen Büro im Erdgeschoss an.
»Hallo, Qwill! Kommen Sie herein!«, sagte Larry Lanspeak.
»Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit uns«, sagte seine Frau Carol.
Qwilleran setzte sich auf einen Stuhl. »Danke, keinen Kaffee; aber klären Sie mich bitte auf. Was hat es mit dem geheimnisvollen Nimbus von Delacamp auf sich?« Er wusste, dass das Ehepaar als offizielle Gastgeber des Mannes fungierte. »Was soll die ganze Aufregung?«
Larry sah seine Frau an; sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Was kann ich sagen? Er ist schon älter, aber er sieht gut aus – ist elegant – und galant! Er schickt den Frauen Rosen!«
»Und küsst ihnen die Hand«, fügte Larry mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu.
»Er überhäuft sie mit Komplimenten!«
»Und küsst ihnen die Hand«, wiederholte Larry mokant.
»Es ist alles sehr förmlich. Zu seinem Dienstagnachmittagstee müssen die Damen Hüte tragen, und unsere Hutabteilung ist schon ausverkauft. Wir führen die einfachen Filzhüte, die die Frauen in der Kirche tragen, aber unsere Tochter sagte, wir sollten sie mit Federn und Blumen und riesigen Schleifen aufputzen. Das haben wir auch getan! Diane ist eine nüchterne, engagierte Ärztin, aber sie hat was Verrücktes an sich.«
»Sie kommt nach ihrer Mutter«, meinte Larry.
»Das Ergebnis ist wirklich irrwitzig! Tut mir leid, dass Sie darüber nichts schreiben können, Qwill, aber das ist alles rein persönlich, anlassbezogen und exklusiv. Keine Publicity!«
»Okay. Ich werde es vergessen. Keine Story«, sagte Qwilleran ergeben. »Aber er scheint ein interessanter Typ zu sein … Geht ihr beide nur wieder an die Arbeit.«
Larry begleitete ihn aus dem Büro und durch den Mittelgang zwischen den Regalen mit Hemden und Krawatten für Männer hindurch sowie an den Schals und Ohrringen für Frauen vorbei zur Eingangstür.
»Der alte Campo ist harmlos, wenngleich nicht ganz koscher«, sagte er. »Aber dass er uns alle vier, fünf Jahre besucht, ist gut für bestimmte Mitglieder unserer Gemeinde – und eine gute Werbung für unser Kaufhaus. Eigentlich ist es Carols Projekt. Ich halte mich da raus.«
Es war so: Delacamp war ein Händler. Er kaufte und verkaufte Familienschmuck und besuchte in regelmäßigen Abständen entlegene, ehemals wohlhabende Gegenden. Dort waren die Nachkommen alter, vermögender Familien vielleicht bereit, sich von einem geerbten Rubin- und Smaragdhalsband oder von einem Diamantdiadem zu trennen, um ein neues Auto, eine Collegeausbildung oder eine Luxuskreuzfahrt zu finanzieren. Die Goldschmiede in Delacamps Firma in Chicago konnten die Steine aus diesen altmodischen Schmuckstücken neu fassen und als Ringe, Anhänger, Ohrringe und dergleichen einer neuen Generation von Reichen als Investition oder Statussymbol verkaufen.
Moose County entsprach genau diesem Bild, und Delacamp war offenbar zu dem Schluss gelangt, dass sich seine Besuche hier lohnten. Im 19. Jahrhundert, als die örtlichen Rohstoffvorkommen ausgebeutet wurden und es noch keine Einkommensteuer gab, war es der reichste Bezirk im Staat gewesen. Die alten Bergbaumagnaten und Holzbarone hatten sich Herrenhäuser mit großen Tresoren im Keller gebaut. Sie hatten ihre Nachkommenschaft auf Colleges im Osten geschickt und waren mit ihren Frauen nach Paris gefahren, wo sie ihnen Schmuck gekauft hatten, der im Wert steigen würde. Als die Minen Anfang des 20. Jahrhunderts geschlossen wurden, brach die Wirtschaft zusammen, und die meisten Familien flohen in die großen Städte. Andere entschieden sich, zu bleiben; sie lebten still und leise von ihren Privateinkünften und wurden Geschäftsleute oder Akademiker – oder während der Prohibition sogar Alkoholschmuggler.
All das brachte Qwilleran zu der Überzeugung, dass es für den alten Campo recht gut laufen musste, und es machte ihm Spaß, sich den Klatsch in den Kaffeehäusern anzuhören. Arbeiter wie Angestellte äußerten freimütig ihre Meinung:
»Er wird furchtbar viel Wind machen, und die alten Mädels werden ganz aus dem Häuschen sein.«
»Es heißt, er trinkt nur Tee, aber ich wette zehn zu eins, dass er ihn mit irgendetwas aufbessert.«
»Ja, ich habe vor ein paar Jahren als Hausdiener im Hotel gearbeitet, und er hat sich abends immer Rum bringen lassen. Mit dem Trinkgeld war er großzügig; das muss man ihm lassen.«
»Ich kenne da einen Typen, dessen Frau 10.000 Dollar von ihrem gemeinsamen Konto abgehoben und sich eine Diamantbrosche gekauft hat.«
»Bin ich froh, dass meine Frau nicht auf seiner Liste steht. Die gehen auf seine Teegesellschaft, und dann wickelt er sie um den kleinen Finger!«
»Er hat immer eine Assistentin dabei, und die ist zufällig immer jung und sexy. Angeblich ist sie seine Cousine oder seine Nichte oder so was, aber man entdeckt nie eine Ähnlichkeit, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Klatsch war eine tragende Säule der Kultur von Moose County, obwohl man hierorts »Anteil nehmen und sich mitteilen« dazu sagte. Die Männer hatten ihre Kaffeehäuser, die Frauen ihre Kaffeekränzchen.
Qwilleran hörte zu, nickte und amüsierte sich innerlich. Auch über ihn hatte man geklatscht. Er war Junggeselle und pflegte einen einfachen Lebensstil, und doch war er der reichste Mann im nordöstlichen Teil des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten. Eine Laune des Schicksals hatte ihn zum Erben des riesigen Klingenschoen-Vermögens in Moose County gemacht. Davor hatte er von einem Reportergehalt gelebt und war an Reichtum nie besonders interessiert gewesen; außerdem kam er sich bei finanziellen Dingen wie ein Tölpel vor. Er meisterte die Situation, indem er den Klingenschoen-Fonds ins Leben rief, der den Auftrag hatte, das Geld mit größter Umsicht zum Wohle der Gemeinde auszugeben.
Es erübrigt sich zu sagen, dass »Mr Qwilleran« in der ganzen Gegend zu einer Ikone geworden war, und das nicht nur wegen seiner Großzügigkeit. Er schrieb eine zweimal wöchentlich erscheinende Kolumne, »Aus Qwills Feder«, die der beliebteste Teil der Zeitung war. Er hatte eine liebenswürdige Art und Sinn für Humor, wenngleich ihm seine traurigen Augen etwas Melancholisches verliehen. Und er wusste, was er wollte.
Das Pionierblut hatte die Einheimischen zu unverbesserlichen Individualisten gemacht, wie ein Blick auf die Landkarte bestätigte. Es gab Orte wie Squunk Corners, Little Hope, Sawdust City, Chipmunk und Ugley Gardens. Qwilleran passte in dieses Umfeld. Er schrieb sich mit Qw, wohnte mit zwei Katzen in einer Scheune, trug einen üppigen grau melierten Schnurrbart und fuhr mit einem Liegerad, bei dem man mit hochliegenden Beinen in die Pedale treten musste.
Es sprach noch mehr für ihn. Groß und gut gebaut strahlte er eine natürliche Autorität aus. Als Journalist hatte er gelernt, zuzuhören. Sogar vollkommen Fremde hatten das Gefühl, sich ihm anvertrauen, mit ihm über ihre Träume sprechen und ihm ihr Herz ausschütten zu können. Er hörte stets teilnahmsvoll zu.
Eine von Qwillerans Marotten war sein Bedürfnis nach Privatsphäre. Er musste allein sein, um denken, schreiben und lesen zu können, und seine umgebaute Scheune bot ihm das richtige Maß an Abgeschiedenheit. Obwohl sie innerhalb der Stadt und nicht weit von der Main Street entfernt lag, stand sie auf einem großen Grundstück, einst ein langgezogener Streifen Farmland, das sich von der Main Street eine halbe Meile Richtung Osten bis zur Trevelyan Road erstreckte. Gepflasterte Straßen waren damals unbekannt gewesen.
Jetzt teilte sich die Main Street in eine Fahrspur Richtung Norden und eine in Richtung Süden – das war der Park Circle, der von zwei Kirchen, dem Gerichtsgebäude, einer majestätischen alten Bücherei und dem ursprünglichen Klingenschoen-Herrenhaus gesäumt war, das jetzt als kleines Theater fungierte. Hinter diesem Herrenhaus befand sich ein Kutschenhaus mit vier Garagen und einer Dienstbotenwohnung im ersten Stock. Von hier aus schlängelte sich ein Pfad durch einen immergrünen Wald und endete in einem Scheunenhof.
Die 100 Jahre alte Apfelscheune erhob sich wie eine alte Burg – achteckig, drei Stockwerke hoch, mit einem Fundament aus Bruchstein und verwitterten Schindeln an den Wänden. In die Wände waren verschieden geformte Fenster eingesetzt worden, die die Winkel der Holzbalken im Inneren nachzeichneten.
Richtung Osten war das Grundstück einst ein blühender Obstgarten gewesen, bis die Bäume von einer geheimnisvollen Krankheit befallen worden waren. Jetzt wurde es wieder aufgeforstet, und die wild wachsenden Gärten lockten Vögel und Schmetterlinge an.
Am letzten Tag des Monats August marschierte Qwilleran den alten Weg durch den Obstgarten hinunter, um aus seinem Briefkasten an der Trevelyan Road die Post und die Zeitung zu holen. An der Stelle, wo das alte Farmhaus niedergebrannt war, stand jetzt ein rustikales modernes Gebäude, in dem das Kunstzentrum von Pickax untergebracht war. Hier belegten die Bewohner des Bezirks Kurse, besuchten Ausstellungen, und einige von ihnen mieteten Ateliers. Im Vorbeigehen zählte Qwilleran die Autos auf dem Parkplatz. Wie es schien, hatten sie einen guten Tag.
Die Straße markierte zugleich die Stadtgrenze. Dahinter war Farmland. Qwilleran winkte einem Farmer, der mit einem Traktor die Straße entlangzuckelte und dem Fahrer eines Farmlasters, der in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war. Qwillerans Briefkasten und ein Zeitungskasten waren neben dem Gehsteig auf Pfähle montiert. Es waren nur wenige Briefe da; Qwillerans Fanpost ging an die Zeitungsredaktion, und die offizielle Geschäftspost und Reklamesendungen an die Anwaltsfirma, die den Klingenschoen-Fonds vertrat.
Aus Richtung der McBee Farm lief ihm ein Junge mit einer Einkaufstüte entgegen. »Mr Qwilleran! Mr. Qwilleran!«, rief er. Eis war der zehnjährige Culvert McBee. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht!«
Qwilleran hoffte, dass es nicht Kohlrüben oder Pastinaken aus dem McBee’schen Küchengarten waren. »Das ist sehr lieb von dir, Culvert.«
Vom Laufen außer Atem keuchte der pausbäckige Junge: »Ich habe Ihnen etwas gebastelt … ich habe da drüben … einen Sommerkurs belegt.« Er nickte Richtung Kunstzentrum und reichte Qwilleran dann die Tüte.
»Was ist es denn?«
»Schauen Sie rein.«
Qwilleran war nicht sonderlich begeistert von dem Schnickschnack, den ihm wohlgesonnene Leser manchmal bastelten; also war seine Erwartung nicht allzu groß, als er in die Tüte schaute. Er sah einen Block, der mit Heftklammern auf einem kleinen Holzbrett montiert war. Auf dem Deckblatt stand in Computerschrift der bekannte Spruch: 30 Tag’ hat der September.
»Es ist ein Kalender«, erklärte Culvert. »Man reißt jeden Tag ein Blatt ab und liest, was darauf steht.«
Auf dem zweiten Blatt stand das Datum (1. September), der Wochentag (Dienstag) und ein kurzer Spruch: Schlafende Hunde soll man nicht wecken.
»Na, das ist aber ganz was Tolles!«, erklärte Qwilleran mit angemessener Begeisterung. Er blätterte den Kalender durch und las: Was gut für den Gänserich ist, ist auch gut für die Gans … Man kann ein Pferd an den Brunnen führen, aber man kann es nicht zwingen zu trinken … Bei Nacht sind alle Katzen grau. »Woher hast du diese Sprüche, Culvert?«
»Aus der Bücherei. Sie stammen aus der ganzen Welt.«
»Sie haben alle mit Tieren zu hm!«
»Ja.«
»Also, ich finde es wirklich toll, dass du dir so viele Gedanken gemacht hast!«
»In dem Brett ist ein Loch. Sie können es an einem Nagel aufhängen.«
»Das werde ich tun.«
»Ich habe für meine Mama auch einen gemacht.«
»Wie geht es deinen Eltern? Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.«
»Dad geht es gut. Mama tut von der Arbeit am Computer die Hand weh.«
»Wie geht es den Hunden?« Culvert nahm alte, herrenlose Hunde auf und gab ihnen ein Zuhause.
»Dolly ist an Altersschwäche gestorben, und ich habe sie hinter dem Schuppen begraben. Ich habe ihren Namen auf einen Stein gemalt. Sie können kommen und ihn sich ansehen, wenn Sie möchten. Meine Tante ist gekommen und hat Blumen mitgebracht.«
»Das war nett von ihr. Bist du wieder bereit für die Schule?«
»Ja.«
Dann lobte Qwilleran noch einmal den Kalender, und Culvert ging zu seiner Farm an der Base Line Road zurück.
Auf dem Parkplatz des Kunstzentrums stand ein wohlbekanntes Auto, und Qwilleran ging hinein, um sich mit seinem Freund Thornton Haggis zu unterhalten, einem Pensionisten mit üppiger weißer Haarmähne, der vorübergehend das Kunstzentrum leitete, bis ein Ersatz für Beverly Forfar gefunden war.
»Wie ich sehe, halten Sie noch immer die Stellung«, sagte Qwilleran. »Hat jemand von Beverly gehört?« »Nein. Nach dem Chaos, das sie hier erlebt hat, war sie wohl froh, mit unserer schönen Stadt nichts mehr zu tun zu haben.«
Die frühere Leiterin hatte jedoch an Qwilleran geschrieben und ihm überschwänglich für sein Abschiedsgeschenk gedankt, ohne zu ahnen, dass es etwas war, was er ohnehin hatte loswerden wollen.
Sie hatte geschrieben: »Es war so wunderbar von Ihnen, zu veranlassen, dass ich Das Weiß der Weiße bekomme. Es hängt jetzt in meiner Wohnung und wird von allen bewundert. Es interessiert Sie vielleicht, dass ich einen kleinen Job in Ann Arbor, Michigan, gefunden habe, der sehr ausbaufähig sein könnte.«
Qwilleran nickte. Soviel er von jener Stadt wusste, herrschte dort das richtige Klima für dieses Bild, einen esoterischen Tiefdruck. Er hatte es bei einer Tombola im Kunstzentrum gewonnen, und zwar einfach deshalb, weil er der Einzige war, der dafür ein Los gekauft hatte. Er hatte mehrere gekauft, allerdings unter dem Pseudonym Ronald Frobnitz. Nachdem er das Bild gewonnen hatte, versuchte er, es diskret loszuwerden, ohne den Künstler zu kränken, der es gespendet hatte. Glücklicherweise wollte Beverly Forfar gerade Pickax für immer verlassen, und sie freute sich sehr über ein Kunstwerk, dessen Wert auf 1000 Dollar geschätzt wurde.
Als PS. hatte sie in ihrem Brief geschrieben: »Wenn Sie mit Professor Frobnitz in Japan in Verbindung stehen, danken Sie ihm bitte für seine Großzügigkeit. Es tut mir leid, dass ich ihn nicht kennen gelernt habe, als er in Pickax war. Am Telefon klang er ausgesprochen charmant.«
Qwilleran fragte Thornton: »Wie steht’s mit einem Nachfolger für Beverly?«
»Sie haben sich schon ein paar Bewerber angesehen, scheinen sich aber zu keiner Entscheidung durchringen zu können.«
»Sie leisten gute Arbeit, Thorn. Warum sollten sie auch einen Leiter anstellen, wenn der gute alte Thorn umsonst arbeitet?«
»Glauben Sie nicht, dass mir dieser Gedanke nicht auch schon gekommen ist! Nach dem dreißigsten September höre ich auf! In der Zwischenzeit organisieren wir die Kunsthandwerksausstellung. Kommen Sie zur Eröffnung? Ich werde auch einige meiner eigenen Sachen ausstellen.«
»Machen Sie etwas Kreatives aus Grabsteinen?«, fragte Qwilleran.
Thornton war pensionierter Steinmetz und hatte einmal Kunstgeschichte studiert. »Sie können mich aufziehen, so viel Sie wollen«, erwiderte er, »aber ich brauchte ein Hobby, bei dem ich etwas mit den Händen machen kann. Ich habe mir eine Drehbank gekauft, und jetzt bearbeite ich im Keller Holz.«
»Das muss ich mir ansehen!«, sagte Qwilleran.
»Dann kommen Sie zur Handwerksausstellung«, antwortete sein Freund. »Bringen Sie Geld mit.«
Als Qwilleran die Straße zur Apfelscheune hinaufging, näherte er sich ihr aus östlicher Richtung. In ihrer Blütezeit hatte man durch die Scheune durchfahren können; durch die riesigen Tore im Osten und im Westen passte ein mit Äpfeln beladener Pferdewagen. Jetzt hatte man in die riesigen Tore Türen in Menschengröße eingesetzt. An der Ostseite hatte sie eine schöne Doppeltür, die links und rechts von Glasfenstern flankiert war. Obwohl die Tür sich an der Rückseite des Gebäudes befand, war es die Eingangstür, die ins Foyer führte. Die Hintertür war natürlich an der Vorderseite; sie führte in die Küche. (Derartige Absonderlichkeiten waren in Moose County, wo man sagte, Pickax sei ein wahres Paradoxon, ganz normal. Zweimal hatten die Wähler gegen eine Änderung von Straßennamen gestimmt. Die »Old East Street« befand sich westlich der »New West Street«, und die »North Street East« und die »South Street West« sorgten ebenfalls für Konfusion. Doch das verwirrte nur Fremde, und Fremde zu verwirren war hierorts ein beliebter Zeitvertreib.)
Als Qwilleran die Doppeltür erreichte, wurde er von den Seitenfenstern aus von zwei Siamkatzen beobachtet, die auf den Hinterbeinen standen und sich mit den Vorderpfoten auf das niedrige Fensterbrett stützten. Er trat ins Foyer und musste sich einen Weg zwischen den Tieren hindurch bahnen, die sich um seine Beine schlängelten, mit dem Schwanz wedelten, ihn umkreisten, unvermutet kehrtmachten, sich an seinen Knöcheln rieben und unter seine Füße gerieten – und dabei ununterbrochen mit den lautstarken Stimmen von Siamkatzen miauten. Dieser stürmische Empfang wäre vielleicht schmeichelhaft gewesen, hätte Qwilleran nicht auf die Uhr geschaut. Es war Zeit für die Raubtierfütterung!
»Was habt ihr beide denn heute Nachmittag gemacht?«, fragte er, während er ihr Abendmahl herrichtete. »Etwas Nützliches? Habt ihr irgendwelche Weltprobleme gelöst? Wer hat den 50-Meter-Sprint gewonnen?« Je mehr man mit Katzen spricht, desto klüger werden sie; davon war Qwilleran überzeugt.
Der lange, schlanke, geschmeidige Kater hieß Kao K’o Kung, kurz Koko genannt. Seine Gefährtin war Yum Yum – klein, zierlich und scheu, doch sie konnte kreischen wie eine Alarmsirene, wenn sie etwas wollte, und zwar sofort. Beide besaßen ein helles, sandfarbenes Fell mit schwarzbrauner Maske, Ohren und Schwanz. Yum Yums Augen waren blauviolett, und ihr flehender Katzenbabyblick konnte herzzerreißend sein. Kokos dunklere blaue Augen waren von einer Tiefe, die eine unergründliche Intelligenz und unermessliche Geheimnisse erahnen ließen.
Sie waren Wohnungskatzen, doch für ein kleines Geschöpf, das kaum zehn Pfund wog, war das Scheuneninnere so groß wie die gesamte freie Natur. Die Scheune hatte einen Durchmesser von 30 Metern und war bis zum Dach offen. Die Wände entlang verlief spiralförmig eine Rampe, die drei Galerien in drei Stockwerken miteinander verband. In der Mitte der Scheune stand ein riesiger weißer, würfelförmiger Kamin mit weißen Rauchabzügen, die zur Kuppel hinaufragten; er unterteilte das Erdgeschoss in mehrere Bereiche: den Eßbereich, den Wohnzimmerbereich, den Eingangsbereich und den Bibliotheksbereich. Die Küche befand sich unter einer Galerie und halb verborgen hinter einer L-förmigen Imbisstheke.
Tagsüber flutete das Licht durch dreieckige und rautenförmige Glasfenster ins Scheuneninnere. Blasse Farben herrschten vor – vom gebleichten Holz über die Polstermöbel bis hin zu den marokkanischen Teppichen. Wenn nach Einbruch der Dunkelheit mit einem einzigen Schalter die indirekte Beleuchtung und raffiniert platzierte Spots eingeschaltet wurden, war die Wirkung einfach betörend.
Qwilleran hielt sich am liebsten im Bibliotheksbereich auf. Eine Wand des würfelförmigen Kamins war mit Bücherregalen verkleidet, auf denen antiquarische Klassiker standen, die Qwilleran von einem Buchhändler in Pickax gekauft hatte. Es gab einen Bibliothekstisch mit dem Telefon, dem Anrufbeantworter und Schreibmaterial. Qwilleran saß gerne in einem großen Lehnsessel mit Fußschemel und las den Katzen etwas vor oder verfasste mit einem weichen Bleistift auf einem Notizblock seine Kolumne.
Bevor er am letzten Augusttag zum Abendessen ausging, las er den Katzen aus einem Buch vor, das Koko ausgewählt hatte. Koko war der offizielle Bibliokater. Er streifte auf den Bücherregalen umher und rollte sich gerne zwischen den Biografien und den englischen Romanen aus dem 19. Jahrhundert zusammen. Zur Lesestunde hatte er das Vorrecht, das Buch auszusuchen, wenngleich Qwilleran ein Vetorecht besaß. In letzter Zeit hatten sie griechische Dramen gelesen. Koko witterte, um welches Buch es sich handelte, und er erschnüffelte wiederholt Die Frösche von Aristophanes.
»Okay, lesen wir es noch einmal«, sagte Qwilleran, »aber zum allerletzten Mal!« Beiden Katzen gefiel der Chor der Frösche, den Qwilleran so dramatisch wiedergab: brekekex koax koax. Yum Yums Augen weiteten sich, und aus Kokos Brust stieg ein Grollen empor.
»Diese Katzen sind wie kleine Kinder«, sagte Qwilleran an jenem Abend beim Essen. »Mit drei Jahren wollte ich auch immer wieder »Rumpelstilzchen« hören. Meine Mutter hat mich aus reiner Verzweiflung so früh lesen gelehrt.«
Er dinierte mit der wichtigsten Frau in seinem Leben, einer bezaubernden Gefährtin in seinem Alter, hinter deren sanfter Stimme, zartem Lächeln und angenehmem Wesen sich ein Wille verbarg, der ebenso stark war wie der von Yum Yum. Sie hieß Polly Duncan und war Leiterin der öffentlichen Bücherei. Zu ihren Verabredungen trug sie stets etwas Besonderes, und diesmal war es ein grünes Seidenkleid mit einer Halskette aus langen Silberstäben und grünen Jadeperlen.
»Du siehst reizend aus«, bemerkte Qwilleran. Er hatte gelernt, nicht zu sagen: »Du siehst heute Abend reizend aus«. Das würde bedeuten, dass sie sonst nicht reizend aussah. In Bezug auf die Feinheiten der Sprache war Polly empfindlich.
Erfreut erwiderte sie: »Vielen Dank, Lieber. Und du siehst auch sehr gut aus.«
Wenn Qwilleran mit Polly abendessen ging, trug er immer ein Jackett mit passender Krawatte. Es war eine Geste der Höflichkeit, die sie einander erwiesen.
Sie hatten einen Tisch bei Onoosh reservieren lassen, einem Café im Zentrum von Pickax mit exotischen Wandmalereien, Lampen, Ziergegenständen aus Messing und Düften aus dem Mittelmeerraum. Endlich akzeptierte man auch 400 Meilen nördlich vom Rest der Welt Lokale mit fremdländischer Küche, obwohl es lange gedauert hatte. An den Tischen mit Messingplatten saßen Feinschmecker mit abenteuerlustigem Gaumen, Urlauber und auch Studenten des öffentlichen Colleges von Moose County, die einen Rabatt erhielten.
Als Aperitif wählte Polly einen trockenen Sherry, und Qwilleran bestellte Squunk-Wasser on the rocks mit einer Zitronenscheibe, ein Mineralwasser aus der Gegend.
»Was ist der neueste Klatsch in der Bücherei?«, fragte er. Die Bücherei war in mehr als nur in einer Hinsicht ein Informationszentrum. »Befinden sich die Klatschbasen von Pickax im Aufruhr wegen Mr Delacamp?«
»Nein, nein!, erwiderte Polly erregt. »Das Allerneueste betrifft Amanda! Hast du es noch nicht gehört?«
»Ich habe das Gerücht schon im Juli gehört, als du in Kanada warst; aber sie hat es geleugnet.«
»Sie hat es sich danach noch etliche Male überlegt, aber ich glaube, sie wollte nur die Spannung erhöhen. Amanda ist alles andere als naiv!«
»Also, wie ist der letzte Stand?«, fragte Qwilleran ungeduldig. Als Journalist war es ihm immer unangenehm, wenn er nicht auf dem neuesten Stand war.
»Also! Heute ist die Frist abgelaufen, und sie hat ihr Antragsformular um neun Uhr vormittag im Rathaus abgeholt. Acht Stunden später hat sie es mit allen erforderlichen Unterschriften abgegeben – mit Unterschriften von fünf Prozent der eingetragenen Wähler! Sie hat sich vor Toodles Markt und vor das Kaufhaus Lanspeak gestellt und ziemliches Aufsehen erregt, wie du dir vorstellen kannst.«
»Das ist unsere Amanda!«, ergötzte sich Qwilleran.
Es gab nur eine einzige berühmte Amanda in Pickax. Als Besitzerin des Einrichtungsateliers in der Main Street hatte sie 40 Jahre lang die Häuser bekannter Familien eingerichtet. 20 Jahre lang hatte sie im Stadtrat gesessen – immer freimütig und unverblümt, manchmal auch mürrisch. Die Einheimischen liebten sie wegen ihres furchtlosen Individualismus, und der äußerte sich auch in ihrer exzentrischen Art, sich zu kleiden und zurechtzumachen. Jetzt wagte sie es, bei der Wahl im November den amtierenden Bürgermeister herauszufordern – einen Politiker, der diese Position bereits fünf Amtszeiten innehatte, und zwar nur deshalb, weil seine Mutter eine Goodwinter war.
Das war der große Name in Pickax. Vier Goodwinter-Brüder hatten die Stadt im Jahr 1850 gegründet.
Doch der Bürgermeister hieß Gregory Blythe. Seine Herausforderin hingegen war Amanda Goodwinter!
Qwilleran erklärte: »Ich prophezeie ihr einen Erdrutschsieg.«
Eine fröhliche junge Frau in einer bestickten Weste servierte ihnen Baba ghanoui und Spanokopetes, und Qwilleran sagte: »Ich wünschte, meine Mutter könnte mich jetzt sehen – hier sitze ich und esse Spinat und Melanzani. Und es schmeckt mir!« Dann fragte er: »Was gibt’s Neues vom alten Campo?«
»Wie kannst du nur so spotten?« schalt Polly ihn. »Diese Eifersucht beim männlichen Teil unserer Bevölkerung ist lächerlich! Einige Mitglieder des Verwaltungsrats der Bücherei stehen auf seiner Gästeliste, und sie sagen, er sei ein vornehmer Gentleman mit geschliffenen Manieren und großem Charisma!«
»Ich habe gehört, er habe immer einen weiblichen Adlatus dabei, der mit ihm reist und zufällig auch jung, sexy und blutsverwandt ist«, bemerkte Qwilleran mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme.
Polly erwiderte vollkommen ernst: »Er schult Familienmitglieder, damit sie das Geschäft übernehmen können, wenn er in Pension geht … Das habe ich zumindest gehört«, fügte sie hinzu. »Aber die große Neuigkeit ist, dass mich Carol gebeten hat, bei seinem berühmten Dienstagnachmittagstee den Tee auszuschenken! Diese Opale, die du mir geschenkt hast, hat Carol bei einem Juwelier in Chicago bestellt. Das war Delacamps Firma, und daher bin ich plötzlich im engsten Kreis.«
»Was macht er eigentlich, wenn er hier ist?«
»Also, zuerst gibt er für potenzielle Kunden eine exklusive Teegesellschaft. Dann laden ihn Familien, die Familienschmuck zu verkaufen haben, zu sich nach Hause ein, und jene, die erlesenen Schmuck aus seiner Privatkollektion kaufen wollen, vereinbaren einen Termin mit ihm in seiner Hotelsuite.«
Qwilleran ließ sich das alles kurz durch den Kopf gehen und fragte dann: »Wenn er so wählerisch ist, was hat er dann zu dem alten Hotel mit seinen kaputten Aufzügen und dem miserablen Essen gesagt?«
»Er besaß so viel Anstand, es nicht zu kritisieren oder sich gar darüber lustig zu machen … Ich kann es dir ja ruhig sagen, Qwill: Ich habe Lampenfieber, wenn ich daran denke, dass ich für ihn Tee ausschenken soll.«
»Unsinn, Polly. Du hast immer alles im Griff, und jetzt, nach deiner Operation, bist du gesünder, lebendiger und bewundernswerter als je zuvor.«
Die junge Serviererin, die ihnen die Hauptspeise brachte, grinste, als sie sah, wie »ein älteres Paar« auf dem Tisch Händchen hielt.
»Mokieren Sie sich nicht«, sagte Qwilleran zu ihr. »Das ist eine alte mediterrane Sitte.«
Polly und Qwilleran wandten ihre Aufmerksamkeit kurz den schön angerichteten Speisen – gefüllte Weinblätter für sie, Lammcurry für ihn – und den feinen Düften zu. Dann fragte er: »Was wirst du zum Empfang am Samstagabend tragen?«
»Mein langes weißes Kleid und die Opale. Ziehst du zu deinem Smoking den Kilt an?«
»Ich glaube, das wäre passend.«
Die feierliche Eröffnung des renovierten Hotels versprach eine äußerst formelle Angelegenheit zu werden; die Eintrittskarte kostete 300 Dollar, und die Einnahmen gingen an Moose Countys Liga gegen das Analphabetentum. Es würde Champagner und Musik geben und die Gelegenheit, das renovierte Gebäude als Erste zu besichtigen.
Qwilleran sagte: »Ich bekomme das Hotel sogar noch vor den ersten Besuchern zu sehen. Fran Brodie schmuggelt mich hinein.«
»Dem Hotel einen neuen Namen zu geben, war ein Geniestreich, wenn man den trostlosen Ruf bedenkt, den es früher hatte.«
»Das neue Schild wird am Donnerstag montiert.«
Dann wandte sich die Unterhaltung trivialeren Dingen zu:
Der Theaterclub würde die Saison mit … denn es will Abend werden eröffnen.
Das Kunstzentrum hatte es nicht geschafft, einen Nachfolger für Beverly Forfar zu finden.
Celia Robinson hatte Pat O’Dell geheiratet und war in sein großes Haus in der Pleasant Street gezogen, was bedeutete, dass die Wohnung im Kutschenhaus jetzt leerstand.
Als sie schließlich das Restaurant verließen, fragte Qwilleran: »Möchtest du noch zu mir in die Scheune kommen und dir meinen neuen Kalender ansehen?«
»Nur kurz. Ich muss nach Hause, die Katzen füttern.«
Es dämmerte bereits, als sie in den Scheunenhof fuhren. Die Welt schien in ein mattes, dunkelblaues Licht getaucht zu sein. Es war der atemlose Moment nach dem Sonnenuntergang, kurz bevor die Sterne aufgehen, wenn alles still ist … und wartet.
»Es ist wie verzaubert«, sagte Polly.
»Die Franzosen haben einen Ausdruck dafür: l’heure bleue.« »So heißt auch ein französisches Parfüm. Ich kann mir vorstellen, dass es wunderbar ist.«
Schließlich gingen sie in die Scheune, um sich den Kalender anzusehen, und dann fuhr Polly nach Hause, um Brutus und Catta zu füttern. Qwilleran ging mit den Katzen hinaus in den fliegengitterumspannten Pavillon, wo sie alle drei in der Dunkelheit saßen. Die Katzen liebten die Nacht. Sie hörten lautlose Geräusche und sahen unsichtbare Bewegungen in den Schatten.
Plötzlich spitzte Koko die Ohren. Er lief in den hinteren Teil des Pavillons und starrte auf die Scheune. Zwei oder drei Minuten später läutete das Telefon. Qwilleran lief zurück zum Hauptgebäude und riss nach dem sechsten oder siebenten Läuten den Hörer von der Gabel.
Am anderen Ende war Celia Robinson O’Dell, die als Bewohnerin des Kutschenhauses seine Nachbarin gewesen war. »Hallo, Boss!«, grüßte sie ihn fröhlich. Ihre Stimme klang jung für eine Frau ihres fortgeschrittenen Alters. »Wie läuft’s in der Scheune? Wie geht es den Kätzchen?«
»Celia! Ich habe versucht, Sie anzurufen und Ihnen zu Ihrer Heirat zu gratulieren, aber Sie sind schwer zu erreichen.«
»Wir sind in die Flitterwochen gefahren. Wir haben Pats verheiratete Tochter in Green Bay besucht. Er hat drei Enkelkinder.«
»Wie gefällt Ihnen das Leben in der Pleasant Street?«
»Oh, es ist ein wunderschönes großes Haus mit einer großen Küche, die ich jetzt auch brauche, wo ich doch ernsthaft mit dem Partyservice anfange. Aber ich habe gerne im Kutschenhaus gewohnt, und es hat mir Spaß gemacht, Ihnen und den Kätzchen Leckerbissen vorbeizubringen. Aber ich kann ja nach wie vor ein paar Sachen für Ihre Tiefkühltruhe kochen, und Pat kann sie Ihnen bringen, wenn er bei Ihnen im Hof arbeitet.«
»Dafür werden wir Ihnen alle drei sehr dankbar sein.«
»Und wenn Sie irgendwelche kleinen … geheimen … Aufträge haben, die ich für Sie erledigen kann …«
»Nun, warten wir’s ab, wie sich das entwickelt. Richten Sie Pat meine Glückwünsche aus. Er ist ein Glückspilz.«
Als Qwilleran den Hörer auflegte, strich er sich nachdenklich über den Schnurrbart. Er befürchtete, dass seine raffinierte Spionagestrategie bald ausgedient haben würde. Aus Neugier oder Misstrauen steckte er gerne seine Nase in Dinge, die ihn nichts angingen, und mit Hilfe von Celia hatte er dabei seine Anonymität wahren können. Als ehrbare, vertrauenswürdige, großmütterliche Frau war sie eine ideale Geheimagentin. Und als begeisterte Leserin von Spionageromanen liebte sie ihre geheimen Aufträge. Es hatte Einsatzbesprechungen, kryptische Telefongespräche, versteckte Kassettenrecorder und geheime Treffen in der Gemüseabteilung von Toodles Markt gegeben. Aber wie lange würde sie jetzt, als verheiratete Frau, ihre Tarnung noch aufrechterhalten können?
Was Qwilleran anbelangte, hatten seine Ermittlungen keinerlei offiziellen Charakter. Er war einfach an Verbrechen interessiert, was von seinen Jahren als Polizeireporter für diverse Zeitungen im Süden unten herrührte – wie die Einheimischen die Großstädte südlich von Moose County nannten. Er hatte in den letzten Jahren in dieser kleinen Gemeinde viele böse Machenschaften aufgedeckt und dabei das Vertrauen und die Freundschaft des Polizeichefs von Pickax gewonnen. Das war eine Verbindung, die bestehen bleiben würde, mit oder ohne seine Geheimagentin.
DIENSTAG, 1. SEPTEMBER – Schlafende Hunde soll man nicht wecken.
Qwilleran hatte für seine Kolumne »Aus Qwills Feder« 1000 Lobesworte über den September geschrieben, und er lud die Leser ein, Gedichte über diesen Monat zu verfassen. Er schrieb: »Die besten werden in ›Qwills Feder‹ abgedruckt und gewinnen einen goldgeprägten Qwill-Bleistift.« Jedermann wusste, dass Qwills liebstes Schreibgerät ein dicker gelber Bleistift mit einer dicken, weichen Mine war.
»Du denkst dir ständig was Neues aus, um die Leser dazu zu bringen, deine Arbeit zu machen«, zog ihn der Chefredakteur auf.
»Das nennt man Leserbeteiligung. Sie sind begeistert davon!«
»Wer zahlt eigentlich all die Bleistifte, die du verschenkst?«
»Du kannst sie mir von meinem mageren Gehalt abziehen.«
MITTWOCH, 2. SEPTEMBER – Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.
Das allwöchentliche Geschäftsessen des Vereins der Freunde von Pickax fand im Gemeindesaal statt. Die Ausschüsse berichteten über den Fortschritt der Vorbereitungen für das Mark-Twain-Festival, das für Oktober angesetzt war. Es war eine Parade vorgesehen, Square-Dance-Aufführungen, Wettbewerbe, Vorträge und so weiter. Die sogenannte Präsidentensuite des Hotels (im zweiten Stock, straßenseitig) würde in »Mark-Twain-Suite« umbenannt werden. Der Vorschlag, eine Straße nach ihm zu benennen, war von den Bewohnern frostig aufgenommen worden; sie beanstandeten, eine Änderung von Straßennamen würde nur Verwirrung stiften und für die Grundstücksbesitzer Kosten verursachen. Qwilleran nahm an der Sitzung teil und aß seine Suppe, unterließ es aber, sich für irgendetwas freiwillig zu melden.
DONNERSTAG, 3. SEPTEMBER – Hunde, die bellen, beißen nicht.