Die Katze, die Postbote spielte - Band 6 - Lilian Jackson Braun - E-Book
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Die Katze, die Postbote spielte - Band 6 E-Book

Lilian Jackson Braun

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Beschreibung

Jim und Samtpfote Koko auf der Suche nach einer Vermissten: „Die Katze, die Postbote spielte“ von Lilian Jackson Braun jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Palast für seine Katzen! Dank einer unerwarteten Erbschaft zieht Jim Qwilleran mit Koko und Yum Yum in eine Luxusvilla. Im Gegensatz zu seinen beiden vierbeinigen Gefährten fühlt sich der Lokalreporter hier jedoch nicht so richtig wohl: Immer wieder stößt er auf geheimnisvolle Gegenstände, die einer gewissen Daisy Mull gehört haben. Was geschah mit der jungen Frau? Niemand kann Jims Fragen beantworten – niemand außer Koko. Der schlaue Kater mit der feinen Spürnase ist seinem Herrchen wie immer eine Schnurrbartlänge voraus … „Durch und durch reizvoll – das pure Lesevergnügen!“ Detroit Free Press Die Krimi-Serie mit Suchtpotenzial! Der sechste Fall für Reporter Jim und Siamkater Koko – jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Katze, die Postbote spielte“ von Bestsellerautorin Lilian Jackson Braun. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 282

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Über dieses Buch:

Ein Palast für seine Katzen! Dank einer unerwarteten Erbschaft zieht Jim Qwilleran mit Koko und Yum Yum in eine Luxusvilla. Im Gegensatz zu seinen beiden vierbeinigen Gefährten fühlt sich der Lokalreporter hier jedoch nicht so richtig wohl: Immer wieder stößt er auf geheimnisvolle Gegenstände, die einer gewissen Daisy Mull gehört haben. Was geschah mit der jungen Frau? Niemand kann Jims Fragen beantworten – niemand außer Koko. Der schlaue Kater mit der feinen Spürnase ist seinem Herrchen wie immer eine Schnurrbartlänge voraus …

»Durch und durch reizvoll – das pure Lesevergnügen!« Detroit Free Press

Über die Autorin:

Lilian Jackson Braun (1913–2011) wurde in Massachusetts geboren. Nach der Highschool arbeitete sie als Journalistin und in der Werbebranche, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Ihre Katzenkrimis wurden in 16 Sprachen übersetzt und standen regelmäßig auf der »New York Times«-Bestsellerliste.

Bei dotbooks erscheinen alle Bände der Erfolgsserie. Eine vollständige Übersicht finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe August 2016

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1987 Lilian Jackson Braun

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel »The Cat Who Played Post Office«.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1996 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Forewer und bioraven

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-825-0

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Lilian Jackson Braun

Die Katze, die Postbote spielte

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Christine Pavesicz

dotbooks.

Kapitel 1

Ein Mann – um die Fünfzig, eins achtundachtzig groß, zweihundertdreißig Pfund schwer, mit graumeliertem Haar und buschigem Schnurrbart – schlug die Augen auf und fand sich in einem fremden Bett in einem fremden Zimmer. Merkwürdig matt, blieb er reglos liegen und ließ seinen Blick mit mäßiger Neugier im Raum umherschweifen. Augen, die man als traurig bezeichnen konnte, betrachteten den metallenen Fußteil des Bettes, das nackte Fenster, die scheußliche Farbe der Wände, den Fernsehapparat auf einem Regal hoch oben an der Wand. Vor dem Fenster wogten die Äste eines Baumes heftig im Wind.

Fast konnte er die melodiöse Stimme seiner Mutter sagen hören: ›Der Baum winkt dir zu, Jamesy. Sei ein braver kleiner Junge und wink schön zurück.‹

Jamesy? Ist das mein Name? Er klingt nicht – ganz – richtig … Wo bin ich? Wie heiße ich?

Die Fragen drifteten durch sein Bewußtsein, ohne Angst auszulösen – nur vage Verwirrung.

Vor seinem geistigen Auge tauchte ein Bild auf – ein alter Mann mit einem Bart wie der Weihnachtsmann stand an seinem Bett und sagte: »Tu hast Scharrlach, Jamesy. Virr brringen tich ins Krrankenhaus und machen tich gesunt.«

Krankenhaus? Ist das hier ein Krankenhaus? Habe ich Scharlach?

Obwohl ihn sein Dilemma nicht beunruhigte, machte sich doch allmählich ein unangenehmes Gefühl breit, daß er irgend etwas von entscheidender Bedeutung versäumt hatte, daß er jemanden, der ihm nahestand, im Stich gelassen hatte. Vielleicht seine Mutter? Er runzelte die Stirn, und dabei verspürte er einen leisen Schmerz. Er hob die linke Hand und entdeckte, daß er an der Stirn einen Verband trug. Rasch überprüfte er seine anderen Körperteile. Es war noch alles da, und nichts schien gebrochen zu sein, aber die Bewegungsfähigkeit seines rechten Knies und seines rechten Ellbogens war durch weitere Verbände eingeschränkt. Außerdem war auch an seiner linken Hand irgend etwas anders als sonst. Er zählte vier Finger und einen Daumen; trotzdem stimmte etwas nicht. Es war ihm ein Rätsel. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fragte sich, was er bloß versäumt haben könnte.

Eine fremde Frau kam – stämmig, weißhaarig, ein Lächeln im Gesicht – mit lautlosen Schritten geschäftig ins Zimmer. »Oh, Sie sind wach! Sie haben die ganze Nacht tief und fest geschlafen. Es ist ein wunderschöner Tag, aber windig. Wie fühlen Sie sich, Mr. Kwill?«

Kwill? Jamesy Kwill? Ist das mein Name?

Es klang unwahrscheinlich, fast absurd. Er strich sich versuchsweise über das Gesicht und spürte einen vertrauten Schnurrbart und ein Kinn, das er zehntausendmal rasiert hatte. Um seine Stimme zu testen, sagte er laut zu sich selbst: »An das Gesicht erinnere ich mich, aber nicht an den Namen.«

»Mein Name? Toodle«, sagte die Frau freundlich. »Mrs. Toodle. Kann ich irgend etwas für Sie tun, Mr. Kwill? Dr. Goodwinter wird in ein paar Minuten hier sein. Ich nehme Ihren Krug mit und bringe Ihnen frisches Wasser. Und Sie müssen ja einen Hunger haben wie ein Scheunendrescher.« Sie ging mit dem Krug in der Hand aus dem Zimmer und rief über die Schulter zurück: »Badezimmerbenutzung gestattet.«

Badezimmerbenutzung gestattet. Scheunendrescher. Toodle.

Lauter fremde Worte, die keinen Sinn ergaben. Der alte Mann mit dem Bart hatte ihm gesagt, er habe Scharlach.

Jetzt sagte ihm diese Frau, die Badezimmerbenutzung sei gestattet. Es hörte sich irgendwie peinlich an. Er seufzte noch einmal tief und schloß die Augen, um auf den alten Mann mit dem Weihnachtsmannbart zu warten. Als er sie wieder aufschlug, stand eine junge Frau in einem weißen Mantel an seinem Bett und hielt sein Handgelenk.

»Guten Morgen, Schatz«, sagte sie. »Wie geht es dir?«

Die Stimme kam ihm bekannt vor, und er erinnerte sich an ihre grünen Augen und die langen Wimpern. Um ihren Hals hing ein röhrenförmiges Ding, dessen Name ihm nicht einfallen wollte. Zögernd fragte er: »Sind Sie meine Ärztin?«

»Ja, und noch mehr – viel mehr«, sagte sie und zwinkerte ihm zu.

Vertraute Gefühle regten sich. Ist das meine Frau? Bin ich ein verheirateter Mann? Habe ich meine Familie vergessen? Wieder meldeten sich Gewissensbisse, und er hatte das Gefühl, daß er sich vor der Verantwortung drückte, was immer diese Verantwortung betreffen mochte. »Sind Sie – sind Sie meine Frau?« fragte er mit stockender Stimme.

»Noch nicht, aber ich arbeite daran.« Sie küßte eine Stelle auf seiner Stirn, die nicht vom Verband bedeckt war. »Du bist noch ganz groggy, nicht wahr? Aber du wirst bald wieder okay sein.«

Er blickte auf seine linke Hand. »Da fehlt etwas.«

»Deine Uhr und dein Ring sind im Krankenhaussafe, bis du nach Hause gehen kannst«, erklärte sie sanft.

»Oh, ich verstehe … Warum bin ich hier?« fragte er ängstlich; er machte sich Sorgen, welch unfeine Krankheit er wohl haben mochte.

»Du bist auf der Ittibittiwassee Road mit dem Fahrrad gestürzt. Erinnerst du dich?«

Ittibittiwassee. Badezimmerbenutzung gestattet. Scheunendrescher. Groggy. Was für eine Sprache, so fragte er sich, redeten diese Leute? Er riskierte die Frage: »Habe ich ein Fahrrad?«

»Du hattest ein Fahrrad, Schatz, aber das ist jetzt schrottreif. Jetzt wirst du dir ein Zehngangrad kaufen müssen.«

Schrottreif. Zehngangrad. Toodle. Bestürzt schüttelte er den Kopf. Er räusperte sich und sagte: »Diese Frau, die hier hereingekommen ist, hat gesagt: Badezimmerbenutzung gestattet. Was bedeutet das? Ist das – ist das irgendwie …«

»Das bedeutet, daß du allein aufstehen und ins Badezimmer gehen kannst«, sagte die Ärztin; ihre Mundwinkel zuckten. »Ich komme wieder, wenn ich meine Runde gemacht habe.« Sie gab ihm noch einen Kuß. »Arch Riker kommt dich besuchen. Er fliegt aus dem Süden unten herauf.« Dann ging sie mit langbeinigen Schritten aus dem Zimmer und winkte ihm freundschaftlich zu.

Arch Riker. Aus dem Süden unten. Wovon sprach sie? Und wer war sie? Sie nach ihrem Namen zu fragen, wäre unter den gegebenen Umständen peinlich gewesen. Resigniert zuckte er die Achseln, hievte sich aus dem Bett und humpelte ins Badezimmer. Im Spiegel sah er traurige Augen, graumelierte Schläfen und einen überdimensionalen graumelierten Schnurrbart – das alles erkannte er. Aber der Name wollte ihm nicht einfallen.

Dann brachte die Frau, die sich Toodle nannte, ein Tablett mit etwas, das sie als ›Scheunendrescherfrühstück‹ bezeichnete, und er aß einen weichen, gelben Klecks, zwei salzige, feste Dinger und ein paar dünne, knusprige Dreiecke, auf die er etwas Rotes, Süßes strich. Doch er war froh, als er sich wieder hinlegen, die Augen schließen und zu denken aufhören konnte.

Unvermittelt schlug er die Augen auf. An seinem Bett stand ein Mann – ein Mann mit Bauch und schütterem Haar und einem rosigen Gesicht, das er schon viele Male gesehen hatte.

»Du Halunke!« sagte der Besucher freundlich. »Du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt! Was hattest du vor? Wolltest du dich umbringen? Wie geht es dir, Qwill?«

»Ist das mein Name? Ich kann mich nicht erinnern.«

Der Mann schluckte zweimal und erbleichte. »Alle deine Freunde nennen dich Qwill. Das ist die Kurzform von Qwilleran. Jim Qwilleran, mit Q-w geschrieben.«

Der Patient ließ sich diese Information durch den Kopf gehen und nickte dann langsam.

»Erinnerst du dich nicht an mich, Qwill? Ich bin Arch Riker, dein alter Kumpel.«

Qwilleran starrte ihn an. Kumpel. Noch so ein verwirrendes Wort.

»Wir sind zusammen in Chicago aufgewachsen, Qwill. Die letzten paar Jahre war ich dein Redakteur beim Daily Fluxion. Wir waren millionenmal im Presseclub miteinander Mittag essen.«

Allmählich begann sich der Nebel in Qwillerans Hirn etwas zu lichten. »Einen Augenblick. Ich möchte mich aufsetzen.«

Riker drückte auf einen Knopf, worauf sich der Kopfteil des Bettes aufrichtete, und zog sich selbst einen Stuhl heran. »Melinda hat mich angerufen und mir gesagt, daß du vom Fahrrad gestürzt bist. Ich bin sofort losgefahren.«

»Melinda?«

»Melinda Goodwinter. Deine derzeitige Flamme, Qwill. Und gleichzeitig deine Ärztin, du Glückspilz.«

»Was ist das hier?« fragte Qwilleran. »Ich weiß nicht, wo ich bin.«

»Das ist das Krankenhaus von Pickax. Sie haben dich nach deinem Unfall hierhergebracht.«

»Pickax? Was für ein Krankenhaus ist das?«

»Pickax City – vierhundert Meilen nördlich vom Rest der Welt. Du hast die letzten paar Monate hier gelebt.«

»Oh … Nachdem ich aus Chicago weggezogen bin?«

»Qwill, du lebst schon seit zwanzig Jahren nicht mehr in Chicago«, sagte Riker sanft. »Du hast in der Zwischenzeit in New York gelebt, in Washington – im ganzen Land.«

»Einen Augenblick. Ich möchte mich auf den großen Sessel dort setzen.«

Riker reichte ihm einen rotkarierten Morgenrock mit ausgefransten Rändern. »Hier, zieh den an. Sieht aus, als ob er dir gehört. Das ist das Muster des Mackintosh-Clans. Kommt dir das bekannt vor? Deine Mutter war eine Mackintosh.«

Qwillerans Gesicht hellte sich auf. »Stimmt! Wo ist sie? Geht es ihr gut?«

Riker holte tief Luft. »Sie ist gestorben, als du im College warst, Qwill.« Er schwieg einen Augenblick und überlegte. »Hör mal, fangen wir ganz von vorne an. Ich kenne dich seit dem Kindergarten. Deine Mutter hat Jamesy zu dir gesagt. Wir haben dich Snoopy genannt. Weißt du noch, warum?«

Qwilleran schüttelte den Kopf.

»Weil du immer deine Nase in die Frühstückspakete der anderen Kinder gesteckt hast.« Er forschte in Qwillerans Gesicht nach einem Zeichen des Erinnerns. »Erinnerst du dich an die Lehrerin, die wir in der ersten Klasse hatten? Sie war oben dünn und unten dick. Du hast gesagt: ›Die alte Miss Blair sieht aus wie ein Bär.‹ Erinnerst du dich?«

Die Antwort war ein leichtes Nicken und ein leises Lächeln.

»Du konntest schon immer gut mit Worten umgehen. Während wir anderen mit Wasserpistolen spielten, hast du mit Worten gespielt.« Geduldig fuhr Riker mit seiner nostalgischen Schilderung fort; er beschrieb die Höhepunkte im Leben seines Freundes. »Du hast dreimal hintereinander den Rechtschreibwettbewerb gewonnen … Am Ende der Unterstufe hast du dann die Mädchen entdeckt… In der High-School hast du Baseball gespielt – Außenfeld, guter Schläger. Und du hast die Schulzeitung herausgegeben.«

»Den Nordwind«, murmelte Qwilleran.

»Genau! So hat sie geheißen! … Nach der Schule bist du zum Militär gegangen und mit einem kaputten Knie zurückgekommen, und damit war’s mit Baseball vorbei. Im College warst du im Gesangsverein und hast dich fürs Schauspielen interessiert.« Die Jahre zogen in Minutenschnelle vorbei. »Wir sind beide Journalisten geworden, aber du hast die tollen Aufträge bekommen. Du warst ein erstklassiger Polizeireporter, und wann immer es im Ausland irgendwelche Krisen gab, haben sie dich hingeschickt, um über die Spannungsherde zu berichten.«

Mit jeder neuen Enthüllung wurde Qwillerans Kopf klarer, und er reagierte entsprechend sicherer.

»Du hast Journalismuspreise gewonnen und ein Buch über Großstadtkriminalität geschrieben. Es kam sogar auf die Bestsellerliste.«

»Ungefähr zehn Minuten lang.«

Auf Rikers Gesicht spiegelte sich Erleichterung. Allmählich klang sein Freund wieder normal. »Du warst mein Trauzeuge, als ich Rosie heiratete.«

»Es hat den ganzen Tag geregnet. Ich erinnere mich an das nasse Konfetti.«

»Du hast Miriam ja in Schottland geheiratet.«

Wieder verspürte Qwilleran ein vage unangenehmes Gefühl. »Wo ist sie? Warum ist sie nicht hier?«

»Du bist seit etwa zehn Jahren geschieden. Sie ist irgendwo in Connecticut.«

Die traurigen Augen blickten ins Leere. »Und danach ist alles aus den Fugen geraten.«

»Okay, nennen wir es beim Namen, Qwill. Du hast zu trinken angefangen und konntest keinen Job halten, aber du hast damit aufgehört und dann beim Daily Fluxion angefangen, als Feuilletonist. Du hast ein paar recht gute Sachen geschrieben. Du konntest über Kunst schreiben, über Antiquitäten, über Innenausstattung – alles.«

»Selbst wenn ich davon keine Ahnung hatte«, warf Qwilleran ein.

»Als Restaurantkritiker konntest du über Speisen so spannend schreiben wie über Verbrechen.«

»Einen Augenblick, Arch! Wie lange bin ich schon weg von meinem Schreibtisch? Ich muß wieder arbeiten!«

»He, Mann, du hast vor ein paar Wochen gekündigt!«

»Was? Warum habe ich gekündigt? Ich brauche den Job!«

»Nicht mehr, mein Freund. Du hast Geld geerbt – einen dicken Batzen – das Klingenschoen-Vermögen.«

»Das glaube ich nicht! Was mache ich? Wo wohne ich?«

»Hier in Pickax City. So war es in den Klauseln des Testaments festgelegt. Du mußt fünf Jahre in Moose County leben. Du hast ein großes Haus in Pickax geerbt, mit einer Garage für vier Autos, einer Limousine und …«

Qwilleran packte die Armlehne seines Sessels. »Die Katzen! Wo sind die Katzen? Ich habe die Katzen nicht gefüttert!« Das war es, was ihn am Rande seines Bewußtseins ständig beunruhigt hatte. »Ich muß hier raus!«

»Nur keine Aufregung. Sonst platzen dir noch die Nähte auf. Den beiden Bälgern geht es gut. Deine Haushälterin füttert sie, und sie richtet mir ein Zimmer zum Übernachten her.«

»Meine Haushälterin?«

»Mrs. Cobb. Ich hätte nichts dagegen, gleich mal auf ein Nickerchen hinzufahren. Ich bin seit vier Uhr früh auf.«

»Ich komme mit. Wo sind meine Kleider?«

»Setz dich, setz dich, Qwill. Melinda will noch ein paar Untersuchungen vornehmen. Ich komme dann später wieder vorbei.«

»Arch, niemand außer dir hätte all diese alten Geschichten hervorkramen können.«

Riker nahm die Hand seines Freundes. »Fühlst du dich jetzt wieder wie du selbst?«

»Ich glaube schon. Keine Angst.«

»Bis später, Qwill. Mein Gott! Bin ich froh, daß du wieder auf dem Posten bist! Du hast mir einen fürchterlichen Schrecken eingejagt.«

Als Riker gegangen war, testete Qwilleran sich selbst. Kumpel, Nickerchen, Scheunendrescher. Jetzt war ihm die Bedeutung all dieser Worte klar. Er konnte sich an seine eigene Telefonnummer erinnern. Er konnte das Wort Onomatopöie buchstabieren. Er wußte die Namen seiner Katzen: Koko und Yum Yum, zwei wunderschöne, aber tyrannische Siamkatzen. Doch es gab ein paar Stunden, die wie ausgelöscht waren. Wie sehr er sich auch konzentrierte, er konnte sich an nichts unmittelbar vor oder nach dem Unfall erinnern. Warum war er mit dem Fahrrad gestürzt? War er in ein Schlagloch oder auf losen Kies gefahren? Oder war er beim Fahren ohnmächtig geworden? Vielleicht wollte Melinda ihn deswegen noch untersuchen.

Er war zu müde, um sich weiter zu konzentrieren. Sich an seine Vergangenheit zu erinnern, war anstrengend gewesen. An einem einzigen Vormittag hatte er über vierzig Jahre durchlebt. Er mußte ein wenig schlafen. Er mußte ein Nickerchen machen. Er lächelte vor sich hin, weil er jetzt alle Worte kannte, und schlief ein.

Qwilleran schlief tief und fest und hatte einen lebhaften Traum. Er saß in einem sonnigen Raum, der ganz in Gelb und Grün gehalten war, beim Mittagessen. Die Haushälterin servierte Käsemakkaroni mit grünen und roten Paprikastückchen. Er sah alles ganz genau von sich: die braune Auflaufform, den leuchtendrosa Pullover der Haushälterin. Die Farben in seinem Traum waren geradezu beunruhigend kräftig.

Qwilleran sagte zu Mrs. Cobb, daß er vielleicht mit dem Fahrrad auf die Ittibittiwassee Road fahren würde.

›Seien Sie vorsichtig mit dieser alten Rostkarre‹, sagte sie fröhlich. ›Sie sollten sich wirklich ein Zehngangrad kaufen, Mr. Qwilleran … ein Zehngangrad kaufen, Mr. Qwilleran … ein Zehngangrad kaufen, Mr. Qwilleran …‹

Plötzlich war er wach; seine bandagierte Stirn war kalt und feucht. Die Szene war so real gewesen, daß er nicht glauben konnte, daß das ein Traum gewesen war. Es gab nur eine Möglichkeit, sich zu vergewissern.

Er griff nach dem Telefon und wählte seine Nummer.

Als er das heitere ›Hallo‹ seiner Haushälterin hörte, staunte er über den originalgetreuen Klang ihrer Stimme in seinem Traum. »Wie läuft es im Haus, Mrs. Cobb? Wie geht es den Katzen?«

»Oh, Sie sind es, Mr. Qwilleran«, rief sie. »Gott sei Dank sind Sie unversehrt! Die Katzen? Sie fehlen ihnen. Koko frißt nicht, und Yum Yum jammert viel. Sie wissen, daß etwas nicht in Ordnung ist. Mr. Riker ist hier; ich habe ihm gesagt, er soll hinaufgehen und sich eine Weile hinlegen. Brauchen Sie etwas, Mr. Qwilleran? Kann ich Ihnen irgend etwas schicken?«

»Nein, vielen Dank. Gar nichts. Ich komme morgen nach Hause. Aber beantworten Sie mir bitte ein paar Fragen. Haben Sie mir gestern Käsemakkaroni serviert?«

»Oh, Gott! Hoffentlich war nicht das Essen an Ihrem Sturz schuld.«

»Keine Sorge. Nichts dergleichen. Ich versuche mich nur an etwas zu erinnern. Haben Sie gestern einen rosa Pullover getragen?«

»Ja, den, den Sie mir geschenkt haben.«

»Habe ich mit Ihnen über meine Pläne für den Nachmittag gesprochen?«

»Oh, Mr. Qwilleran! Das hört sich an wie eine Ihrer Ermittlungen! Haben Sie einen Verdacht?«

»Nein, nur reine Neugier, Mrs. Cobb.«

»Nun, ich muß nachdenken … Sie sagten, daß Sie mit dem alten Fahrrad wegfahren wollten, und ich sagte, Sie sollten sich ein neues Zehngangrad kaufen. Jetzt müssen Sie sich ein neues Rad kaufen, Mr. Qwilleran. Der Sheriff hat Ihr altes in einem Graben gefunden, und es ist vollkommen kaputt!«

»In einem Graben?« Das ist seltsam, dachte Qwilleran und strich sich nachdenklich über den Schnurrbart. Er dankte der Haushälterin und schlug ein paar Delikatessen vor, mit denen Kokos Appetit angeregt werden konnte. »Wo ist er, Mrs. Cobb? Holen Sie ihn ans Telefon.«

»Er sitzt auf dem Kühlschrank«, sagte sie. »Er hört genau zu. Ich schaue mal, ob die Schnur lang genug ist.«

Es entstand eine Pause, in der Mrs. Cobb versuchte, Koko gut zuzureden, während das vertraute durchdringende Maunzen des Katers klar und deutlich zu hören war. Dann ertönte im Hörer ein Schnüffeln.

»Hallo, Koko, alter Junge«, sagte Qwilleran. »Kümmerst du dich auch um Yum Yum? Hältst du die Löwen und Tiger vom Haus fern?«

Ein kehliges Schnurren kam durch die Leitung. Koko schätzte intelligente Gespräche.

»Sei ein braver Kater und iß ordentlich. Du mußt bei Kräften bleiben, um all die Jaguare und die schwarzen Büffel zu vertreiben. Bis dann, Koko. Morgen bin ich wieder zu Hause.«

»YAU!« ertönte ein scharfer Schrei, bei dem Qwilleran das Trommelfell schmerzte.

Er legte den Hörer auf und sah, daß Mrs. Toodle mit großen Augen dastand und ein erstauntes Gesicht machte. Vorsichtig sagte sie: »Ich komme, um zu fragen … ob Sie jetzt Ihr … Mittagessen haben wollen, Mr. Qwilleran.«

»Wenn nichts dagegen spricht«, erwiderte er, »würde ich lieber hinunter in die Cafeteria gehen. Glauben Sie, daß es heute Consommé mit pochierten Kiebitzeiern oder Austern Rockefeller gibt?«

Mrs. Toodle machte ein erschrecktes Gesicht und lief eilig hinaus. Qwilleran gluckste. Nach seiner kurzen Amnesie fühlte er sich richtiggehend euphorisch.

Bevor er sich auf die Suche nach etwas Eßbarem machte, kämmte er sich und dachte an Mrs. Cobbs Bemerkung: Der Sheriff hat das Rad in einem Graben gefunden! Der Straßengraben war fast zehn Meter von der Fahrbahn entfernt, damit die neue Straße bei Bedarf verbreitert werden konnte. Wäre er ohnmächtig geworden oder auf irgendein Hindernis aufgefahren, dann wäre er mit seinem Fahrrad auf den kiesbestreuten Straßenrand gestürzt. Wie war das Fahrrad im Graben gelandet? Dieser Frage konnte er später nachgehen; zuerst mußte er etwas essen.

In seinem Mackintosh-Morgenmantel machte Qwilleran sich auf den Weg zum Aufzug; durch sein bandagiertes Bein war sein Gang sehr langsam und würdevoll. Er war froh, daß er nicht auf seinem kaputten Knie gelandet war. Doch dann wurde ihm klar, daß er jetzt vielleicht zwei kaputte Knie hatte.

Alle Leute auf dem Gang schienen ihn zu kennen. Das Personal und die Patienten, die herumgehen konnten, grüßten ihn mit Namen, und eine der Krankenschwestern sagte: »Entschuldigen Sie wegen des Zimmers, Mr. Qwilleran – wegen der Farbe der Wände, meine ich. Sie sollten eigentlich altrosa werden, aber die Maler haben es falsch verstanden.«

»Die Farbe ist nicht sehr appetitlich«, pflichtete Qwilleran ihr bei. »Sie sieht aus wie rohes Kalbfleisch, aber ich kann noch vierundzwanzig Stunden damit leben.«

In der Cafeteria wurde er von den Krankenschwestern, Technikern und Ärzten, die gerade Salat mit Hüttenkäse, Chili con carne und gebratenen Kabeljau mit gedünstetem Sellerie aßen, mit Applaus begrüßt. Er bedankte sich, indem er sich höflich verbeugte und theatralisch salutierte, und stellte sich dann am Ende der Schlange an. Vor ihm stand ein weißhaariger Landarzt, der aus zwei Gründen allseits bekannt war: Er war Melindas Vater, und er hatte der halben Einwohnerschaft von Moose County den Hals ausgepinselt, ihre Knochen eingerichtet und ihre Babys auf die Welt gebracht.

Dr. Halifax Goodwinter drehte sich um und sagte: »Ah! Der berühmte Radfahrer! Freut mich, daß Sie noch unter den Lebenden weilen. Es wäre schade, wenn meine Tochter ihren ersten und einzigen Patienten verlöre.«

Eine Krankenschwester hinter Qwilleran stupste ihn am Ellbogen. »Sie sollten einen Helm tragen, Mr. Qwilleran. Sie hätten tot sein können.«

Er ging mit seinem Tablett mit Chili con carne und Maismuffins an einen Tisch, an dem drei Männer saßen, die er im Club der Freunde von Pickax kennengelernt hatte: der Krankenhausverwalter, ein freundlicher Urologe und ein Bankier, der im Verwaltungsrat des Krankenhauses saß.

Der Arzt sagte: »Wollen Sie jemanden verklagen, Qwill? Ich kann Ihnen ein paar clevere Anwälte empfehlen, die sich auf solche Fälle spezialisiert haben.«

Der Bankier sagte: »Den Hersteller können Sie nicht mehr belangen. Diese Art Fahrrad wird schon seit fünfzig Jahren nicht mehr produziert.«

Der Verwalter sagte: »Wir werden sammeln, damit Sie sich ein neues Fahrrad kaufen können – und vielleicht auch einen neuen Morgenmantel.«

Qwilleran klopfte auf den Aufschlag des schäbigen roten Plaids und sagte mit seiner besten Bühnenstimme: »Meine Herren, das ist ein exquisiter Morgenmantel von ganz besonderer Herkunft. Die Zeichen der Abnutzung erhöhen nur den Erinnerungswert.« In Wirklichkeit hatte Koko eine Phase gehabt, in der er Wollstoffe gefressen hatte – er hatte die Polsterung von Sesseln, Krawatten, den Mackintosh-Morgenmantel und andere Stoffe, die gerade zur Hand waren, angeknabbert.

Bei diesem Geplänkel im Krankenhaus war Qwilleran in seinem Element. Es war dieselbe Art scherzhafter Sticheleien, die ihm auch beim Daily Fluxion Spaß gemacht hatten. Alle Leute in Pickax City schienen ihn zu mögen, und warum auch nicht? Er war ein freundlicher Gesprächspartner, ein teilnahmsvoller Zuhörer, und er war der reichste Mann im ganzen Bezirk. Was das anlangte, machte er sich keine Illusionen. Als Feuilletonist beim Fluxion hatten sich Lobbyisten, Politiker, Geschäftsleute und die Meute von den Medien um seine Gunst bemüht. Er ließ sich ihre Avancen mit Anstand gefallen, aber er machte sich keine Illusionen.

Nach dem Mittagessen mußte er zur Blutabnahme ins Labor und dann zum EKG. Danach machte er ein Nickerchen und hatte wieder einen Traum.

Auch dieser Traum war sehr lebendig – allzu lebendig. Er kletterte neben einer einsamen Landstraße aus einem Graben. Seine Kleidung war klatschnaß; seine Hose zerrissen; seine Beine bluteten. Er stolperte auf die Straße und marschierte los; Blut lief ihm ins rechte Auge. Bald darauf hielt ein rotes Auto an, und ein Mann in einem blauen Hemd sprang heraus. Es war Junior Goodwinter, der junge Chefredakteur des Pickax Picayune. Junior nahm ihn mit in die Stadt und redete während der ganzen Fahrt ununterbrochen auf ihn ein, doch Qwilleran konnte nichts sagen. Er bemühte sich verzweifelt, Juniors Fragen zu beantworten, doch die Worte wollten ihm nicht einfallen.

Der Traum endete abrupt. Als er die Augen aufschlug, saß er schwitzend und zitternd aufrecht im Bett. Er wischte sich das Gesicht ab und griff dann nach dem Telefon, um in der Zeitungsredaktion anzurufen.

»Qwill! Sie sind über dem Berg!« rief Junior ins Telefon. »Als ich Sie gestern auflas, waren Sie nicht direkt tot, aber auch nicht lebendig. Wir haben schon alles für den Nachruf vorbereiten lassen, falls Sie die Löffel abgeben sollten.«

»Vielen Dank. Sehr anständig von Ihnen«, sagte Qwilleran.

»Sind Sie jetzt wieder auf dem Damm? Sie klingen okay.«

»Sie haben mich zusammengeflickt, und jetzt sehe ich aus wie eine Mumie. Wo war ich, als Sie mich auflasen, Junior?«

»Auf der Ittibittiwassee Road, nach dem Schacht der Buckshot-Mine. Sie sind total benommen mitten auf der Straße herumgewandert – in die falsche Richtung. Ihre Kleidung war ganz zerrissen und verdreckt. Sie bluteten am Kopf. Ich habe mir wirklich Sorgen um Sie gemacht, vor allem, weil Sie nicht reden konnten.«

»Haben Sie mein Fahrrad gesehen?«

»Ehrlich gesagt, habe ich nicht danach gesucht. Ich wollte Sie nur so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen. Ich bin fast hundertsiebzig gefahren.«

»Mit welchem Auto?«

»Mit dem Jaguar, zum Glück. Deshalb kam ich so schnell auf das Tempo.«

»Vielen Dank, Junior. Nächste Woche gehen wir mal miteinander Mittag essen. Ich lade Sie ein.«

Wieder ein Traum, der gestimmt hatte! Selbst die Farbe des Autos war richtig gewesen. Qwilleran wußte, daß Juniors Jaguar rot war.

Am Abend, als Melinda Goodwinter und Arch Riker ins Krankenhaus kamen, um mit ihm in der Cafeteria zu Abend zu essen, sprach er mit ihnen über seine Träume. Ohne ihren weißen Mantel und das Stethoskop sah Melinda der jungen Frau viel ähnlicher, mit der er die vergangenen zwei Monate ausgegangen war.

Qwilleran fragte sie: »Küßt du alle bettlägrigen Patienten?«

»Nur die in fortgeschrittenem Alter«, versetzte sie zuckersüß mit einem boshaften Funkeln ihrer grünen Augen.

»Komisch«, sagte er, »aber ein paar Details, an die ich mich nicht erinnern konnte, sind mir heute Nachmittag im Traum eingefallen. Ich habe nur noch eine Erinnerungslücke – was die konkreten Umstände betrifft, die den Unfall verursacht haben.«

»Es war jedenfalls kein Schlagloch«, sagte Melinda. »Diese Straße ist ganz neu, glatt wie Glas.«

Riker sagte: »Ich schätze, du hast das Rad herumgerissen, um vor irgend etwas auszuweichen, Qwill, und bist auf dem Bankett ins Schleudern gekommen. Vielleicht war es ein Stinktier oder ein Waschbär, oder vielleicht sogar ein Reh. Auf der Fahrt vom Flughafen hierher habe ich viele tote Tiere auf der Straße gesehen.«

»Wir werden es nie mit Sicherheit wissen«, sagte Qwilleran. »Wie läuft’s im Haus? Hast du schlafen können? Hat dir Mrs. Cobb ein Mittagessen serviert? Hast du Koko gesehen?«

»Es ist alles in Ordnung. Koko hat mich an der Eingangstür begrüßt und einer militärischen Inspektion unterzogen. Ich glaube, ich habe bestanden, weil er mir gestattete, einzutreten.«

Spätnachts, als auf dem Krankenhausgang kein Laut zu hören war, hatte Qwilleran seinen letzten Traum. Er war das fehlende Glied zwischen den Käsemakkaroni und dem roten Jaguar. Er sah sich gemächlich eine verlassene Straße entlangradeln; der glatte Asphalt, der Mangel an Verkehr und die sanften Hügel waren ganz nach seinem Geschmack. Das Bergauffahren war leicht, und das Bergabfahren war herrlich.

Er kam an der aufgelassenen Buckshot-Mine mit der verfallenen Bergwerkshütte und den ominösen Schildern vorbei, auf denen stand: Lebensgefahr … Zutritt verboten … Einsturzgefahr. Die aufgelassenen Bergwerke in der einsamen Landschaft um Pickax waren für Qwilleran eine endlose Quelle der Faszination. Sie waren geheimnisvoll – still – tot.

Die Buckshot-Mine war jedoch anders. Man hatte ihm erzählt, wenn man genau aufpaßte, könne man aus dem Schacht, in dem im Jahr 1913 achtzehn Bergleute lebendig begraben worden waren, ein unheimliches Pfeifen hören.

In seinem Traum radelte er langsam und lautlos an der Buckshot-Mine vorbei. Nur ein Klicken im Hinterrad und das leise Schnarren der Kette durchbrach die Stille. Er wandte den Kopf, um die gespenstischen grauen Überreste der Bergwerkshütte zu betrachten … die Mulde an der Stelle, wo der Schacht eingestürzt war … das saftig grüne Unkraut, das den ganzen Schauplatz überwucherte. Er war so in den Anblick versunken, daß er den Laster nicht bemerkte, der aus der Gegenrichtung auf ihn zukam – bis er seinen Motor dröhnen hörte. Als er nach vom blickte, sah er gerade noch, wie der Wagen beschleunigte und auf die Fahrbahn Richtung Osten ausscherte – ein mörderisches Monstrum, das direkt auf ihn zuraste. In seinem Traum sah er ganz deutlich den Kühlergrill, ein großes, verrostetes Ding, das ihn anzugrinsen schien. Er riß die Lenkstange herum und fuhr auf den Straßengraben zu, doch das Vorderrad stieß auf einen Felsbrocken, und er wurde über die Lenkstange geschleudert. Einen endlosen Augenblick lang flog er durch die Luft.

Entsetzt riß sich Qwilleran aus dem Schlaf; er saß aufrecht im Bett, er schwitzte und schrie.

Eine Schwester kam ins Zimmer. »Mr. Qwilleran! Mr. Qwilleran! Was ist denn los? Haben Sie schlecht geträumt?«

Qwilleran schüttelte sich, um den Alptraum loszuwerden. »Tut mir leid. Ich hoffe, ich habe die anderen Patienten nicht gestört.«

»Wollen Sie einen Schluck Wasser, Mr. Qwilleran?«

»Danke. Und würden Sie mir den Kopfteil höher stellen? Ich möchte lieber eine Weile sitzen.«

Qwilleran lehnte sich an das Kissen und ging den Traum noch einmal durch. Er war genauso plastisch wie die anderen. Der Himmel war blau. Das Unkraut vor dem aufgelassenen Bergwerk war giftgrün. Der Laster hatte einen verrosteten Kühlergrill.

Wie die anderen Träume war auch dieser tatsächlich passiert, das war ihm klar, aber es gab niemanden, den er anrufen konnte, um es sich bestätigen zu lassen.

Eines stand fest: Was auf der Ittibittiwassee Road passiert war, das war kein Unfall gewesen. Er dachte: Die Leute in Pickax mögen mich … aber nicht alle.

Kapitel 2

Es war Mittsommer, als der reichste Mann von Moose County mit seinem antiquierten Fahrrad stürzte. Zwei Monate davor war er alles andere als wohlhabend gewesen. Er hatte als unterbezahlter Feuilletonist für eine große Zeitung im Mittleren Westen gearbeitet, die sich durch ihre 24-Punkt Verfasserzeile und ein dürftiges Gehaltsschema auszeichnete. Als genügsamer Junggeselle wohnte er in einer möblierten Einzimmerwohnung und zahlte die Raten für seinen Gebrauchtwagen ab. Er besaß eine fünfzig Jahre alte Schreibmaschine mit einer kaputten Umschalttaste, und seine Bibliothek bestand aus absonderlichen Büchern, die er in der 24-Cent-Kiste von Antiquariaten gefunden hatte. Seine bescheidene Garderobe hatte bequem in zwei Koffern Platz. Er war rundum zufrieden.

Jim Qwillerans einziger Luxus war die Betreuung zweier Siamkatzen, die Katzenfutter ablehnten; sie zogen Rindsfilet, Hummer und – zur Saison – Austern vor. Sie hatten das Feingefühl von Aristokraten und den Gaumen von Gourmets; doch darüber hinaus war Koko, der Kater, ein Tier von ungewöhnlicher Intelligenz. Die Geschichten über seine übersinnliche Wahrnehmung hatten ihn beim Daily Fluxion und im Presseclub zur Legende gemacht, wenngleich gegenüber Außenstehenden die ungewöhnlichen Kräfte des Katers mit keinem Wort erwähnt wurden.

Und dann wurde Qwilleran, ohne jemals ein Lotterielos gekauft zu haben, praktisch über Nacht zum Multimillionär. Die Erbschaft kam völlig überraschend, und er war der Alleinerbe.

Als ihn die erstaunliche Nachricht erreichte, waren Qwilleran und seine Katzen gerade auf Urlaub in Moose County, dem nördlichsten Vorposten des Staates. Sie wohnten nahe dem Ferienort Mooseville in einer Hütte am See. Sobald er sich von dem Schock erholt hatte, reichte er beim Daily Fluxion seine Kündigung ein und traf Vorkehrungen für die Übersiedlung nach Pickax City, der dreißig Meilen von Mooseville entfernten Bezirksstadt.

Doch vorher mußte er seinen Schreibtisch in der Redaktion des Fluxion ausräumen, sich von seinen Kollegen verabschieden und ein letztes Mal mit Arch Riker in den Presseclub Mittag essen gehen.

Auf dem Weg zum Club wischten sich die beiden Männer den Schweiß von der Stirn und jammerten über die Hitze. Es waren die ersten heißen Tage des Sommers.

Qwilleran sagte: »Du und die anderen, ihr werdet mir fehlen, Arch, aber das heiße Wetter nicht. Das Thermometer am Rathaus zeigt fünfunddreißig Grad.«

»Ich nehme an, die Fotografen braten wie jedes Jahr ein Ei auf dem Gehsteig«, bemerkte Arch.

»In Moose County weht immer eine angenehme Brise. Eine Klimaanlage ist überflüssig.«

»Das mag schon sein, aber wie hältst du es aus, vierhundert Meilen entfernt von der Zivilisation zu leben?«

»Hast du den Eindruck, daß die heutigen Städte zivilisiert sind?«

»Qwill, du warst jetzt kaum einen Monat in dieser Wildnis des Nordens«, sagte Arch, »und schon denkst du wie ein Schafzüchter … Okay, ich will es anders formulieren. Wie hältst du es aus, vierhundert Meilen vom Presseclub entfernt zu leben?«

»Es ist ein Wagnis«, gab Qwilleran zu, »aber Miss Klingenschoen hat in ihrem Testament verfügt, daß ich fünf Jahre in Moose County leben muß, oder ich verliere den Anspruch auf das Erbe.«

Im Club, wo die Klimaanlage außer Betrieb war, bestellten sie Corned-beef-Sandwiches, Gin Tonic für Riker und Eistee für Qwilleran.

»Wenn du als Erbe ausscheidest«, fuhr Riker fort, »an wen geht die Erbschaft dann?«

»An irgendwelche Typen in New Jersey. Ehrlich gesagt, ist mir die Entscheidung nicht leichtgefallen, Arch. Ich war nicht sicher, ob ich für eine noch so riesige Geldsumme einen Job bei einer großen Zeitung aufgeben sollte.«