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Eine brandheiße Fährte: „Die Katze, die Gesang studierte“ von Lilian Jackson Braun jetzt als eBook bei dotbooks. HEXE! In großen Buchstaben steht das Wort auf der Wand der alten Coggin-Farm. Jim Qwilleran, der mit seinen beiden Siamkatzen Koko und Yum Yum direkt nebenan wohnt, findet das durchaus besorgniserregend. Als das Gebäude kurz darauf abbrennt und seine Bewohnerin im Feuer ums Leben kommt, scheint Jims Verdacht bestätigt. Doch wer wollte die harmlose alte Dame aus dem Weg räumen? Und was hat die Verwüstung der neu eröffneten Kunstgalerie damit zu tun? Während Jim noch völlig im Dunkeln tappt, spürt der kluge Kater Koko schon die erste Fährte auf … „Lilian Jackson Braun ist eine Meisterin ihres Fachs: Sie weiß immer ganz genau, wann sie die Katze aus dem Sack lassen muss.“ New York Daily News Die Krimi-Serie mit Suchtpotenzial! Der zwanzigste Fall für Reporter Jim und Siamkater Koko – jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Katze, die gesang studierte“ von Bestsellerautorin Lilian Jackson Braun. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 339
Über dieses Buch:
HEXE! In großen Buchstaben steht das Wort auf der Wand der alten Coggin-Farm. Jim Qwilleran, der mit seinen beiden Siamkatzen Koko und Yum Yum direkt nebenan wohnt, findet das durchaus besorgniserregend. Als das Gebäude kurz darauf abbrennt und seine Bewohnerin im Feuer ums Leben kommt, scheint Jims Verdacht bestätigt. Doch wer wollte die harmlose alte Dame aus dem Weg räumen? Und was hat die Verwüstung der neu eröffneten Kunstgalerie damit zu tun? Während Jim noch völlig im Dunkeln tappt, spürt der kluge Kater Koko schon die erste Fährte auf …
»Lilian Jackson Braun ist eine Meisterin ihres Fachs: Sie weiß immer ganz genau, wann sie die Katze aus dem Sack lassen muss.« New York Daily News
Über die Autorin:
Lilian Jackson Braun (1913–2011) wurde in Massachusetts geboren. Nach der Highschool arbeitete sie als Journalistin und in der Werbebranche, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Ihre Katzenkrimis wurden in 16 Sprachen übersetzt und standen regelmäßig auf der »New York Times«-Bestsellerliste.
Bei dotbooks erscheinen alle Bände der Erfolgsserie. Eine vollständige Übersicht finden Sie am Ende dieses eBooks.
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eBook-Neuausgabe November 2016
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1998 Lilian Jackson Braun
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »The Cat Who Sang For The Birds«.
Copyright © der deutschen Ausgabe 1998 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Forewer, katelyne und davorana
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-882-3
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Lilian Jackson Braun
Die Katze, die Gesang studierte
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Christine Pavesicz
dotbooks.
Für Earl Bettinger,den Ehemann, der …
Nach einem für die Jahreszeit ungewöhnlichen Tauwetter und einer verheerenden Überschwemmung kam der Frühling früh nach Moose County, 400 Meilen nördlich vom Rest der Welt. In Pickax City, der Bezirksstadt, standen die Blumenkästen in der Main Street bereits im April in Blüte, auf dem Park Circle sangen die Vögel, in den Feuchtgebieten schlüpften die Moskitos aus, und auf den Campingplätzen und den Straßen der Innenstadt tauchten die ersten Fremden auf.
Eines Nachmittags Ende Mai fuhr ein brauner Kleinbus auf einen Parkplatz und blieb neben einem kleinen grünen Auto stehen. Ein Mann in einem schwarzen Pullover glitt vom Fahrersitz. Er ließ den Motor laufen, blickte sich verstohlen um und öffnete die Heckklappe. Danach sperrte er den Kofferraum des PKW auf und lud rasch etwas aus seinem Wagen in den anderen. Dann fuhr er unverzüglich weg.
Wäre ein Fremder Zeuge dieser verstohlenen Aktion gewesen, dann hätte er den Mann als Weißen mittleren Alters, etwa eins achtundachtzig groß, mit grauen Strähnen im Haar und einem riesigen graumelierten Schnurrbart beschrieben. Hingegen hätte ihn jeder Bewohner von Pickax (3000 Einwohner) sofort erkannt. Der Mann war James Mackintosh Qwilleran, Kolumnist beim Moose County Dingsbums und – durch eine glückliche Fügung des Schicksals – der reichste Mann im nordöstlichen Teil des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten. Er hatte guten Grund, die Aktion auf dem Parkplatz verstohlen durchzuführen: In Pickax wußte jedermann genau, was jeder andere machte und sprach auch freimütig am Telefon, an den Straßenecken und in den Kaffeehäusern darüber. Zum Beispiel sagten die Leute:
»Schön, daß Polly Duncan so einen reichen Freund hat. Sie ist schon unheimlich lange Witwe.«
»Dieses grüne Auto, das sie fährt – das hat er ihr zum Geburtstag geschenkt. Was sie ihm wohl geschenkt hat?«
»Während sie bei der Arbeit ist, kauft er in Toodles Markt Lebensmittel für sie ein und legt ihr die Sachen in ihren Wagen.«
»Da fragt man sich schon, warum sie nicht heiraten. Dann könnte sie ihren Job in der Bücherei aufgeben.«
Die Klatschmäuler wußten alles. Sie wußten, daß Qwilleran im Süden unten, wie sie die Mega-Städte südlich des 49. Breitengrades nannten, ein berühmter Polizeireporter gewesen war. Sie wußten, daß irgendeine üble Geschichte seine Karriere ruiniert hatte. Sie sagten:
»Dann ist er hier heraufgekommen und auf einmal bis zum Hals in Millionen gesteckt! Das nenne ich Glück!«
»Wenn du mich fragst, wohl eher Milliarden, aber er hat sie verdient. Netter Kerl. Freundlich. Überhaupt nicht arrogant.«
»Das kannst du laut sagen! Er tankt sein Auto selbst voll. Wohnt in einer Scheune, mit zwei Katzen.«
»Und das beste ist, er verschenkt das meiste von seinem Kies!«
In Wirklichkeit fand Qwilleran die Welt der Hochfinanz langweilig und hatte daher den Klingenschoen-Fonds gegründet, der seinen Reichtum zum Wohl der Gemeinde verwenden sollte. Diese Großzügigkeit, gepaart mit seinem liebenswürdigen Wesen, hatte ihn bei den Einheimischen zu einer Art Helden gemacht. Er für seinen Teil war mit dem Kleinstadtleben und seiner Beziehung zur Leiterin der öffentlichen Bücherei glücklich und zufrieden. Dennoch strahlte sein nachdenklicher Blick eine Traurigkeit aus, die die Leute von Moose County neugierig machte.
Eines Donnerstags im Mai ging er in die Zeitungsredaktion, um seinen nächsten Beitrag für die Kolumne »Aus Qwills Feder« abzuliefern. Danach machte er einen Sprung ins Antiquariat, sah sich dort eine Weile um und kaufte schließlich ›Der Tag der Heuschrecke‹ von Nathanael West, in einer Ausgabe aus dem Jahr 1939. In Toodles Markt bat er Grandma Toodle, ihm bei der Auswahl von Obst und Gemüse für Polly zu helfen. Das lud er dann auf dem Parkplatz der Bücherei von seinem in ihren Wagen und hoffte, daß keiner der allgegenwärtigen Wichtigtuer ihn dabei beobachtet hatte.
Als diese heikle Aktion erledigt war und er nach Hause fuhr, hörte er plötzlich Sirenen und sah auf der Main Street Fahrzeuge mit Blinklicht Richtung Süden fahren. Sein journalistischer Instinkt ließ ihn den Einsatzfahrzeugen folgen, während er gleichzeitig über das Autotelefon in der Lokalredaktion anrief.
»Danke, Qwill«, sagte der Lokalchef, »aber wir haben den Tip schon früher bekommen, und Roger ist bereits auf dem Weg dorthin.«
Die Autos, darunter Rogers grauer Kleinbus, bogen in die Straße ein, die zur High School führte. Als Qwilleran hinkam, machte der Reporter bereits Fotos von einem grausigen Unfall vor dem Schulgebäude.
Auf der Straße lagen Trümmer von zwei kaputten Autos, blutüberströmte Opfer und Glasscherben. In dem am schlimmsten zugerichteten Fahrzeug schien jemand eingeschlossen zu sein. Auf dem Rasen des Schulhauses drängten sich entsetzte Schüler, die von dem gelben Band, mit dem die Polizei die Unfallstelle abgesperrt hatte, zurückgehalten wurden. Rettungsteams waren im Einsatz. Ein betrunkener Autofahrer wurde zu einem Streifenwagen geschoben. Einen Schwerverletzten brachte man auf einer Trage zu einem Rettungshubschrauber, der auf dem Parkplatz der Schule gelandet war. Man hörte die schockierten Zuschauer stöhnen und aufschreien, als sie ihre blutüberströmten Klassenkameraden erkannten. Schließlich hatten die Blechscheren der Bergungsmannschaft die Karosserie aufgeschnitten, und das eingeschlossene Opfer wurde in einem Plastiksack abtransportiert.
In diesem Augenblick wurden die Schüler von der Stimme des Schuldirektors über Lautsprecher aufgefordert, sofort ins Haus zurückzukommen und sich im Festsaal einzufinden.
Qwilleran beobachtete die Rettungsaktion mit wachsender Verwunderung; verwirrt strich er sich über den Schnurrbart und winkte den Reporter, der inzwischen seine Fotoausrüstung einpackte, zu sich her.
Roger blickte auf. »He! Dein schwarzes Hemd gefällt mir, Qwill. Wo hast du es gekauft?«
»Vergiß das Hemd! Was geht hier vor?«
»Das weißt du nicht?« Der Reporter sah sich um und sagte dann in vertraulichem Tonfall: »Ein simulierter Unfall. Um die Jugendlichen vom Trinken abzuhalten. Morgen abend ist die Frühlingsfete.«
»Glaubst du, das bringt was?«
»Es sollte ihnen einen Schrecken einjagen. Man hat die Schüler aufgefordert, wegen angeblicher Verunreinigung des Belüftungssystems das Gebäude sofort zu verlassen. Als ich das viele Blut sah, wurde mir selbst ein wenig schlecht … und dabei wußte ich, daß es nicht echt war!«
Qwilleran schnaubte in seinen Schnurrbart. »Ehrlich gesagt, Roger, wenn mir der Lokalchef nicht gesagt hätte, daß die Zeitung den Tip schon früher bekommen hat, wäre ich darauf reingefallen. Was hat er eigentlich damit gemeint?«
»Wir haben vor etwa einer Stunde das Okay zur Veröffentlichung der Story bekommen. Die Planung und Geheimhaltung dieser ganzen Aktion war eine Meisterleistung.«
»Hast du Zeit für eine Tasse Kaffee bei Lois?«
»Klar. Um halb drei hab’ ich einen Termin, aber das ist bloß eine Ausstellung von Kinderzeichnungen. Da kann ich ruhig zu spät kommen.« Roger ging zu seinem Bus. »Wir treffen uns bei Lois.«
Lois’ Imbißstube befand sich in einer Seitenstraße der Main Street und war ein schäbiges Speiselokal, das die Leute, die in der Innenstadt arbeiteten und einkauften, seit dreißig Jahren verköstigte. Lois Inchpot, die laute, herrische, schwerarbeitende Besitzerin, servierte ihren treuen Gästen, für die sie eine kostbare Säule der Gemeinde war, preisgünstige Hausmannskost und große Portionen. Als die beiden Journalisten hinkamen, war das Restaurant leer.
»Was wollt ihr beiden?« schrie Lois durch die Durchreiche aus der Küche. »Das Mittagsmenü ist aus! Und die Suppe ist auch fast alle!«
»Nur Kaffee«, rief Qwilleran, »außer, es gibt vielleicht noch Apfelkuchen.«
»Nur noch ein Stück. Werfen Sie eine Münze.«
Roger sagte: »Nimm ihn du, Qwill. Ich esse genauso gerne Zitronenkuchen.«
Roger war ein blasser junger Mann mit adrett gestutztem Vollbart, der sich kohlschwarz von seinem ungewöhnlich weißen Teint abhob. Er war früher Geschichtslehrer gewesen und, als der Moose County Dingsbums ins Leben gerufen wurde, zum Journalismus übergewechselt. Er war mit der Tochter der zweiten Frau des Herausgebers verheiratet. Vetternwirtschaft war in Moose County nicht nur gesellschaftsfähig, sondern wurde auch emsig praktiziert.
»Also!« begann Qwilleran. »Wie kommt es, daß ich von diesem Melodram vor der Schule nichts wußte?« Es gab nichts, was er mehr haßte, als nicht informiert zu sein und überrascht zu werden. »Wer hat sich denn das eigentlich ausgedacht?«
»Wahrscheinlich die Versicherungen. Das Erstaunliche dabei ist, daß sie es geheimhalten konnten, obwohl so viele Organisationen und Einzelpersonen beteiligt waren.«
»Und trotz unserer dreitausend neugierigen Einwohner und geborenen Klatschmäuler«, fügte Qwilleran hinzu. »Ganz Pickax weiß, daß ich jetzt für Polly die Lebensmittel einkaufe, obwohl ich herumschleiche wie ein Dieb.«
»Das ist der Preis dafür, daß du in einem Paradies lebst, in dem es keine Verbrechen und keine Umweltverschmutzung gibt«, meinte der jüngere Mann. »Was sagst du zu den Jugendlichen, die bei dem Unfall mitgespielt haben? Es sind alles Schüler, die schon in irgendeiner Form mit alkoholisierten Fahrern zu tun hatten. Was sagst du zu dem aufgeschminkten Blut? Das haben ihnen die Leute von der Rettungsmannschaft verpaßt.«
»Sie waren alle sehr überzeugend, und ich wette, es hat ihnen wirklich Spaß gemacht. Aber werden ihre Bemühungen auch etwas bewirken?«
»Ich hoffe es. Jetzt wird jeder Schüler gebeten, sich zu verpflichten, bei Schulfeiern keinen Alkohol zu trinken.«
Lois unterbrach sie; sie kam mit zwei Kuchentellern in einer Hand, zwei Bechern Kaffee in der anderen, und Gabeln und Löffeln in der Schürzentasche an ihren Tisch. »Wenn ihr beide etwas verschüttet, dann putzt es weg!« befahl sie voller Autorität. »Ich habe gerade erst alles für das Abendessen hergerichtet, und meine Aushilfskraft kommt erst um halb fünf.«
»Sehr wohl, Madam«, sagte Qwilleran betont unterwürfig. Dann stellte er Roger die übliche Frage: »Gibt’s bei der Zeitung was Neues?«
»Nun, gestern nacht hatten wir einen Vandalenakt, der eine sensationelle Story gegeben hätte, aber …«
»Soviel zu deinem Paradies ohne Verbrechen«, warf Qwilleran ein.
»Nun ja … also … Bei der Redaktionsbesprechung heute morgen gab es wieder die üblichen Diskussionen. Ich weiß, ihr Zeitungsleute aus dem Süden unten redet ständig vom Recht der Öffentlichkeit auf Information, aber wir hier oben sehen das anders. Würden wir ausführlicher über diesen Akt von Vandalismus berichten, würden wir (a) das Selbstbewußtsein des Übeltäters aufbauen, (b) Nachfolgetäter ermutigen und (c) eine Hexenjagd auslösen.«
»Also habt ihr euch für die Zensur entschieden«, sagte Qwilleran, um ihn aufzuziehen.
»Wir nennen es das Verantwortungsbewußtsein von Kleinstadtbewohnern!« Rogers blasses Gesicht rötete sich. Er war in Moose County geboren, und Junior Goodwinter, der junge Chefredakteur, war schon ein Vertreter der vierten Generation von Goodwinters in Moose County. Arch Riker, der Herausgeber, stammte aus dem Süden unten und trug noch schwere Bedenken bezüglich der Aufgabe, seine journalistische Integrität aufzugeben. Qwilleran lebte schon lange genug im Norden, um die Argumente beider Seiten zu verstehen.
»Was war das mit einer Hexenjagd?« fragte er.
»Nun, es gibt in jeder Kleinstadt eine Strömung, die die Stadt nur allzu gerne zu einem zweiten Salem machen würde. Gestern nacht hat jemand auf die Wand eines alten Farmhauses in großen gelben Lettern, einen halben Meter hoch, das Wort Hexe gesprüht. In dem Haus wohnt eine alte Frau, allein. Sie ist schon über neunzig und etwas seltsam, aber in dieser Gegend hier wimmelt es von seltsamen Typen.«
Qwillerans Oberlippe bebte, und er preßte die Knöchel auf den Schnurrbart. »Um welches Farmhaus handelt es sich?«
»Um das alte Coggin-Haus in der Trevelyan Road, gleich hinter deinem Grundstück.«
»Ich kenne das Haus, aber die Bewohnerin habe ich noch nie gesehen. Ist sie vielleicht zufällig Wünschelrutengängerin?«
»Davon weiß ich nichts.«
Qwilleran sagte: »Meine Kolumne in der Dienstagszeitung hat sich mit dem Wünschelrutengehen befaßt. Im Süden unten ist das ziemlich umstritten. Was hältst du davon?«
»Hier bei uns würden die meisten Leute keinen Brunnen graben, ohne vorher einen Wünschelrutengänger zu Rate zu ziehen, der ihnen die beste Stelle dafür zeigt«, sagte Roger. »Es klingt verrückt – mit einem gegabelten Ast Wasser unter der Erde aufzuspüren – aber wie es heißt, funktioniert es, also paß auf, was du sagst. Qwill, wie schaffst du es, daß dir immer wieder Themen für ›Qwills Feder‹ einfallen? Mir wären schon längst die Ideen ausgegangen.«
»Es ist nicht leicht. Zum Glück hatte ich in der zehnten Klasse eine Lehrerin, die mir beibrachte, über alles – oder nichts – tausend Worte zu schreiben. Apropos Hexen! Diese Frau hat uns mit ihren großen, runden, wässrigen Augen verhext! Hinter ihrem Rücken nannten wir sie Ms. Fischauge, aber sie verstand ihr Handwerk, und sie war eine gute Lehrerin! Jedesmal, wenn ich mich an die Schreibmaschine setze, um eine Kolumne herunterzuklopfen, danke ich im stillen Ms. Fischauge.«
»Ich wünschte, ich hätte in meinem Geschichtsunterricht so einen Eindruck auf die Kinder gemacht«, sagte der Ex-Lehrer.
»Vielleicht hast du das auch. Vielleicht haben es dir deine Schüler bloß nicht gesagt. Ich habe Ms. Fischauge nie gesagt, wie sehr ich sie schätzte, und jetzt ist es zu spät. Ich weiß nicht einmal mehr, wie sie wirklich hieß, und ich bezweifle, daß sie überhaupt noch lebt. Sie war schon alt, als ich in der zehnten Klasse war.«
»Du hast geglaubt, sie ist alt. Wahrscheinlich war sie dreißig.«
»Das ist wahr. Das ist sehr wahr«, sagte Qwilleran und starrte in seinen Kaffeebecher.
»Sag mal, Qwill, was ich dich schon lange fragen wollte: Was ist das für ein fragiles Fahrrad, mit dem ich dich auf der Sandpit Road gesehen habe?«
»Ein britisches Thanet, Jahrgang 1950. Ein Sammlerstück. Es wurde in einer Radfahrerzeitschrift angeboten.«
»Es sieht funkelnagelneu aus.«
»Es heißt Silverlight. Ich kann es mit dem kleinen Finger hochheben. Ich glaube, Thanet war vom Flugzeugbau beeinflußt.«
»Jedenfalls ist es wirklich schnittig«, sagte Roger.
»Noch Kaffee?« schrie Lois aus der Küche. Sie wußte, daß Qwilleran Kaffee niemals ablehnte. »Hab’ ’ne frische Kanne aufgebrüht, speziell für Sie«, sagte sie beim Einschenken. »Keine Ahnung, warum.«
»Ich weiß auch nicht, warum«, antwortete er. »Ich bin eine unwürdige Kreatur, und Sie sind eine gute Seele mit einem gütigen Herzen und einem liebenswürdigen Wesen.«
»Quatsch!« sagte sie lächelnd und watschelte zurück in die Küche.
»Wie geht es deiner Familie, Roger?« Zu seinem Bedauern konnte sich Qwilleran die Namen und das Alter der Sprößlinge seiner Freunde einfach nicht merken, nicht einmal, wie viele es waren und welches Geschlecht.
»Gut. Sie sind ganz aufgeregt wegen der Jugendmeisterschaft im Fußball. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin der Trainer unserer Mannschaft, der Pygmäen von Pickax …. Wie geht es deinen Katzen?« Roger hatte eine Todesangst vor Katzen, und es war schon ein Akt übermenschlicher Tapferkeit, daß er sich nach ihrem Befinden erkundigte.
»Diese anspruchsvollen blaublütigen Geschöpfe sind froh, daß sie nach dem Winter in einer Wohnung wieder in der Scheune sind; sie waren dort in ihrem königlichen Lebensstil ziemlich eingeschränkt. Ich habe gerade hinter der Scheune einen Pavillon bauen lassen, damit sie die frische Luft genießen und mit den freilebenden Tieren kommunizieren können.«
»Apropos Scheune, Qwill, ich muß dich um einen Gefallen bitten.« Roger sah ihn hoffnungsvoll an. »Ich bin diesen Monat der einzige Reporter, der Wochenenddienst hat, und am Samstag nachmittag bin ich zur Berichterstattung eingeteilt, aber … genau an diesem Nachmittag muß ich eine Busladung Kinder zu dem großen Spiel gegen die Liliputaner von Lockmaster bringen. Ich brauche jemanden, der für mich einspringt.«
»Was ist das für ein Auftrag?« Die Erfahrung hatte Qwilleran gelehrt, beim Einspringen Vorsicht walten zu lassen. »Was hat er mit einer Scheune zu tun?«
»Nun, es ist nicht gerade so aufregend wie ein Großbrand. Es ist eine Veranstaltung im Metallschuppen des Goodwinter-Farmmuseums. Eine Einweihung. Tag der offenen Tür.«
»Hmff«, machte Qwilleran. Dann dachte er daran, wie er als Großstadt-Greenhorn aus dem Süden nach Moose County gekommen war. Roger war der erste Einheimische gewesen, dem er begegnet war. Geduldig und ohne sich über ihn lustig zu machen, hatte ihm Roger erklärt, daß die bedrohlichen Schritte, die nach Einbruch der Dunkelheit über das Dach trampelten, von einem Waschbären stammten und nicht von einem Einbrecher. Daß die haarsträubenden Schreie mitten in der Nacht nicht von einer Frau kamen, die gerade entführt wurde, sondern von einem Kaninchen, das von einer Eule gepackt wurde. »Nun, ich glaube, das könnte ich schaffen«, sagte er zu dem jungen Reporter, der bange auf seine Antwort wartete. »Ich nehme an, der Bericht soll am Montag fertig sein.«
»Abgabetermin Montag mittag. Mach Fotos. Kommt wahrscheinlich auf die erste Seite …. Also danke, Qwill! Ich weiß das wirklich zu schätzen!« Roger sah auf die Uhr. »Jetzt muß ich mich aber auf mein Pferd schwingen.«
»Geh nur. Ich übernehme die Rechnung.« Die Einladung entsprang nicht reiner Großzügigkeit; an der Kasse konnte er vielleicht ein paar Stückchen Truthahn oder Schmorbraten für die Katzen schnorren.
»Fressen Ihre verzogenen Bälger Kabeljau?« fragte Lois, während sie auf die Tasten der altmodischen Registrierkasse einhämmerte. »Das morgige Tagesmenü – Fisch und Chips.«
»Vielen Dank. Ich werde sie fragen.« Er wußte nur allzugut, daß Koko und Yum Yum über jeden Fisch außer erstklassigen roten Blaurückenlachs ihre aristokratischen Nasen rümpften.
Auf dem Heimweg fuhr Qwilleran über den Park Circle, wo sich die Main Street in zwei Fahrbahnen – Richtung Norden und Richtung Süden – teilte. Am Rand des Kreisverkehrs standen zwei ehrwürdige Kirchen, das imposante Amtshaus und eine öffentliche Bücherei, die aussah wie ein griechischer Tempel. Doch das eindrucksvollste Gebäude war ein Quader aus Bruchstein, der im Sonnenlicht glitzerte. Das war einst das Klingenschoen-Herrenhaus gewesen, jetzt aber ein kleines Theater, in dem Stücke und Konzerte aufgeführt wurden und dessen Gärten in Parkplätze umgewandelt worden waren. Das Kutschenhaus für vier Fahrzeuge gab es noch immer, und in der Wohnung darüber lebte eine Frau, die Bestellungen für Hackbraten, Käsemakkaroni und andere Speisen entgegennahm, wie sie ein Junggeselle einfrieren und sich auftauen konnte.
Am hinteren Ende des Parkplatzes fuhr Qwillerans brauner Kleinbus durch ein verziertes Eisentor in ein uraltes immergrünes Wäldchen, das so dicht bewachsen war, daß es dort selbst zu Mittag dunkel und still war. Plötzlich mündete der Weg in eine Lichtung, auf der sich wie ein Märchenschloß ein riesiges, über hundert Jahre altes Gebäude erhob. Das war Qwillerans Scheune – achteckig und drei Stockwerke hoch.
Das Erdgeschoß bestand aus dem Original-Bruchsteinfundament, dessen Wände so dick waren, daß die kleinen Fenster, die in den Stein geschnitten worden waren, wie Schießscharten in einer mittelalterlichen Festung wirkten. Über dem Fundament waren die Wände mit verwitterten Schindeln verkleidet, und in der Mitte des achteckigen Dachstuhls war eine Kuppel. Die neuen Fenster, die in die Wände eingesetzt worden waren, hatten seltsame Formen, die von den massiven Holzbalken vorgegeben wurden, die den Bau innen stützten.
Und dann gab es noch die Türen. In ihrer Blütezeit hatte man durch die Scheune durchfahren können, und die Tore waren groß genug für einen Wagen und ein Pferdegespann gewesen. Jetzt hatte man in die beiden großen Tore Glasscheiben und Türen von menschlichem Ausmaß eingesetzt. An der Ostseite führte eine traditionelle Flügeltür in den Vorraum; an der Westseite gelangte man durch eine einfache Tür vom Hof in die Küche.
Das Innere der Scheune war noch spektakulärer. Sie war von einem Architekten aus dem Süden renoviert worden und hatte eine durchgehende Rampe, die spiralenförmig bis zum Dach verlief und die Galerien auf drei Ebenen miteinander verband. In der Mitte war ein offener Raum von gut zwölf Metern Höhe, in dessen Zentrum ein weißer, würfelförmiger Kamin mit zylindrischen Abzugsrohren stand, die zum Dach hinaufgingen. Der Kamin teilte das Erdgeschoß in vier Bereiche: Wohnzimmer, Bibliothek, Eßzimmer und Vorzimmer.
Obwohl die Scheune nicht speziell so geplant worden war, erwies sie sich doch als ausgesprochen katzenfreundlich. Der Kaminwürfel – gut zweieinhalb Meter hoch – war ein sicheres Plätzchen gerade außerhalb der Reichweite von Menschen. Die Rampe war maßgeschneidert für einen fünfzig-Meter-Sprint; vor jeder Mahlzeit flitzten acht donnernde Pfoten spiralenförmig zum Dach hinauf und wieder herunter. Durch die seltsam geformten Fenster warf das Sonnenlicht dreieckige und rautenförmige Flecken auf den Boden, die die Katzen faszinierten, weil sie sich im Laufe des Tages weiterbewegten.
Als Qwilleran zu Hause ankam, parkte er den Bus im Hof und warf einen Blick in die alte Seemannskiste, die neben der Hintertür stand und in der man Päckchen abgeben konnte. Sie war leer. Die Hand auf dem Türknauf, stand er da und war plötzlich beunruhigt wegen seiner Mitbewohner. Ging es ihnen gut? Hatten sie in einem Anfall katzenhaften Übermuts die Einrichtung zu Kleinholz verarbeitet? Würden sie ihn mit Willkommensgeschrei und hoch erhobenen Schwänzen begrüßen?
Als er in die Küche trat, war es im ganzen Haus totenstill, weit und breit kein Zeichen von Leben.
»Koko! Yum Yum!« rief er dreimal, mit wachsender Sorge. Dann begann er zu suchen. Gegen den Uhrzeigersinn ging er um den großen Raum im Erdgeschoß herum.
Als er in den Vorraum kam, blieb er wie angewurzelt stehen. »Ihr Halunken!« sagte er erleichtert und tadelnd. »Habt ihr mich aber erschreckt!«
Die beiden eleganten Siamkatzen standen auf die Hinterbeine aufgerichtet da und starrten durch die niedrigen Fenster neben der Eingangstür. Sie beobachteten sieben schwarze Krähen, die sich direkt vor dem Fenster versammelt hatten. Solche Vögel hatten sie noch nie aus nächster Nähe gesehen. Mit glasigen Augen wandten sie sich kurz der Person zu, die ihre Namen gerufen hatte, doch standen sie noch immer ganz im Bann dieser Geschöpfe, die im Gleichschritt einherstolzierten wie ein Exerziertrupp – zuerst marschierten alle sieben nach Norden, dann rechtsum!, und alle sieben nach Süden.
»Ich habe euch beiden einen Leckerbissen mitgebracht«, sagte Qwilleran.
Widerwillig verließen sie ihren Posten und folgten ihm steif auf langen, schlanken braunen Beinen in die Küche. Als sie durch das Sonnenlicht gingen, das durch die Westfenster hereinfiel, begann ihr sandfarbenes Fell irisierend zu glitzern, und ihre dunkelbraunen Masken umrahmten leuchtende blaue Augen.
Plötzlich begannen die schwarzen Nasen zu zucken, die braunen Ohren spitzten sich, und die Schwänze schlugen erfreut hin und her. Truthahn! Er wurde kleingeschnitten und auf zwei getrennten Tellern serviert.
Dann holte Qwilleran eine weiße Leinentasche mit dem Logo der öffentlichen Bücherei von Pickax und rief: »Alles einsteigen!« Er stellte sie auf den Boden und hielt die Griffe auseinander. Koko sprang als erster hinein, setzte sich auf den Boden und machte sich so klein und kompakt wie möglich. Yum Yum sprang hinterher und landete auf ihm drauf. Ein Weilchen rutschten und wanden sie sich spielerisch herum und setzten sich schließlich bequem zurecht. Dann wurden um sie herum noch andere Dinge in die Tasche gesteckt. Es war die einfachste, schnellste und sicherste Methode, zwei Hauskatzen, Lesestoff und eine Thermosflasche mit Kaffee in den Pavillon zu transportieren. Er war nur ein paar Meter von der Scheune entfernt – ein freistehender, achteckiger Bau, der rundum mit Fliegengitter bespannt war.
Die Idee, in dem mit niedrigen Büschen bewachsenen Hof einen Vogelgarten anzulegen, stammte vom Landschaftsgärtner.
Qwilleran hatte diesbezüglich seine Zweifel gehabt. »Wir haben hier nicht viele Vögel«, hatte er zu ihm gesagt.
»Legen Sie einen Vogelgarten an, dann kommen sie schon!« hatte ihm der enthusiastische junge Mann versichert. »Die Katzen werden ihre Freude daran haben! Am meisten begeistern sie die Bewegungen der Vögel – wie sie flattern, im Sturzflug herabstoßen, herumhüpfen und mit dem Schwanz zucken.«
Also hatte Qwilleran zugestimmt, und Kevin Doone hatte ausgewählte Bäume und Sträucher herangeschafft, hohe Gräser, drei Futterstellen für Vögel und zwei Vogelbäder, eines auf einem Podest und das andere auf dem Erdboden. Die Vögel kamen. Die Katzen waren hingerissen.
Als Qwilleran am frühen Abend mit Polly Duncan telefonierte, erzählte er ihr, daß der Pavillon ein voller Erfolg war. Sie bedankte sich für die Lebensmittel und machte ihm Komplimente wegen der guten Dinge, die er ausgesucht hatte.
»Die Anerkennung gebührt Mrs. Toodle«, sagte er. »Ich kann Zucchini nicht von Gurken unterscheiden.«
»Was hast du zu Abend gegessen?« fragte Polly, die sich stets wegen seiner unbekümmerten Eßgewohnheiten Sorgen machte.
»Ich habe mir Käsemakkaroni aufgetaut.«
»Du solltest Salat essen.«
»Den Salat überlasse ich dir und den Kaninchen.« Dann wurde sein Tonfall streng. »Bist du heute zwanzig Minuten spazierengegangen, Polly?«
»Ich hatte keine Zeit, aber heute abend trifft sich mein Vogelklub im Clubhaus, und ich gehe vorher ins Fitness- Studio und trainiere auf dem Laufband.«
Ihre Stimme war sanft und mild, und sie hatte ein weiches Lachen, das er beruhigend und stimulierend zugleich fand. Er hörte sie gerne reden. »Ist heute in der Bücherei irgend etwas Aufregendes passiert?« fragte er. »Anti- Computer-Demonstrationen? Krawalle?«
Unter Pollys Leitung war die Bücherei dank dem Klingenschoen-Fonds vor kurzem mit Computern ausgestattet worden, doch viele Mitglieder lehnten den elektronischen Katalog ab. Sie zogen es vor, am Informationstisch zu fragen und sich zur Papier-Kartei führen zu lassen – möglichst von einer freundlichen Mitarbeiterin, die wahrscheinlich in dieselbe Kirche ging und vielleicht sogar mit dem Sohn von jemandem, den sie kannten, verlobt war. So war das in Pickax. Der Scanner für den Streifencode und die Maus waren ihnen fremd und verdächtig.
Polly sagte: »Wir müssen ein paar Kurse für die Mitglieder anbieten, besonders für die älteren.«
»Was hast du mit der alten Kartei gemacht?« fragte er.
»Sie ist im Keller. Ich glaube, wir werden sie …«
»Wirf sie nicht weg«, unterbrach er sie. »Nach der Revolution kannst du sie wieder nach oben bringen lassen. Eines Tages werden sich die Leute, die noch mit der Hand schreiben, erheben und die Computerbenutzer stürzen, und dann wird die Welt wieder normal werden.«
»Ach, Qwill«, lachte sie. »Du willst schon wieder die Menschheit bekehren! Was hast du heute gemacht, außer mit der Hand geschrieben?« Sie wußte, daß er seine zweimal wöchentlich erscheinende Kolumne handschriftlich aufsetzte und dabei, die Füße auf einen Fußschemel gelegt, auf einem Lehnsessel saß.
»Ich habe eine alte Ausgabe von Der Tag der Heuschrecke in tadellosem Zustand aufgetrieben. Wenn du mal in Stimmung bist für bissigen Humor, könnten wir dieses Wochenende einen Teil daraus laut lesen. Wohin möchtest du am Samstag essen gehen?«
»Wie wäre es mit Onooshs Lokal? Ich lechze nach Mittelmeer-Küche!« Dann sagte sie in geändertem Tonfall: »Heute habe ich etwas Bizarres gehört. Du kennst doch das alte Coggin-Farmhaus in der Trevelyan Road? Irgend jemand hat auf die Vorderwand das Wort Hexe gemalt.«
»Ja, ich weiß. Der Chefredakteur hielt es für besser, es nicht in der Zeitung zu bringen. Wie hast du davon erfahren?« fragte er, als wüßte er es nicht. Die Bücherei war schon immer die CIA von Pickax gewesen.
»Die Tochter meiner Assistentin ist bei den ›Mädchen für alles‹, und die wurden gebeten, die Schmiererei zu entfernen. Der Sheriff hat sie auf seiner ersten Streife heute morgen entdeckt und den Hilfstrupp alarmiert. Ich glaube, die Schmiererei war weggeputzt, bevor Mrs. Coggin überhaupt etwas davon mitbekam.«
Qwilleran hatte einmal eine Kolumne über die eifrige Truppe geschrieben, die sich aus Freiwilligen aller Kirchen zusammensetzte. Einige von ihnen waren technisch begabt; andere waren einfach junge Menschen mit Energie und Kraft. Wenn arme, alte oder kranke Menschen irgendein Problem im Haushalt hatten, war diese Truppe sofort zur Stelle, um die Krise zu bewältigen.
»Kennst du Mrs. Coggin persönlich?« fragte Polly.
»Nein, aber ich habe sie einmal kurz in ihrem Hinterhof gesehen. Dort gibt es kaum ein Lebenszeichen, nur Hühner und Hunde.«
»Sie ist schon über neunzig, aber gesund und munter, wie es heißt. Ich nehme an, sie gilt als exzentrisch, aber diese Art von Vandalismus war niederträchtig!«
Beim Zuhören strich sich Qwilleran langsam über den Schnurrbart, eine Geste, die bedeutete, daß sich sein Verdacht regte. Vielleicht steckte hinter dem Schimpfwort mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Seine Arbeit als Journalist hatte ihn eines gelehrt: Es gibt immer eine Story hinter der Story.
Polly sagte: »Aber jetzt muß ich aufhören zu plaudern und ins Clubhaus gehen, obwohl ich dieses Laufband entsetzlich langweilig finde.«
»Es ist gut für dich«, erinnerte er sie.
»Und Salat ist gut für dich, Lieber! À bientôt!«
»À bientôt!«
Langsam und zärtlich wiegte Qwilleran den Hörer im Arm. Noch nie hatte sich jemand über seine Eßgewohnheiten Sorgen gemacht; aber hatte er sich schon jemals über das Herz-Kreislauf-System eines anderen Menschen Sorgen gemacht?
Vor ihm war eine Wand voller Bücherregale, die die eine Seite des Kamins bedeckten und mit antiquarischen Bänden aus Eddington Smiths verstaubtem Bücherladen gefüllt waren. Der Anblick ihrer brüchigen Rücken erfreute ihn, wie der Klang von Pollys weicher Stimme. Er stimmte mit Francis Bacon überein; Alte Freunde zum Vertrauen, altes Holz zum Verbrennen, alte Autoren zum Lesen.
Die Titel waren nach bestimmten Kategorien geordnet, und Koko legte sich gerne in den kuscheligen Zwischenraum zwischen den Biographien und den Theaterstücken oder zwischen den geschichtlichen Werken und schöngeistiger Literatur. Ab und zu hob er die Nase, um den Fischleim zu schnüffeln, der bei den alten Bänden verwendet worden war. Manchmal stieß er ein Buch vom Regal. Das landete dann mit einem lauten Plumps auf dem Boden, und er spähte über die Kante des Regals hinunter, um zu sehen, was er gemacht hatte. Und das war sozusagen Qwillerans Stichwort, das Buch aufzuheben und ein paar Seiten daraus laut vorzulesen, sich an vertrauten Worten und Gedanken zu erfreuen, während sich die Katzen über den Klang der vertrauten Stimme freuten. Er hatte eine volle, ausdrucksstarke Sprechstimme.
Merkwürdigerweise waren die Titel, die der Kater hinunterwarf, oft von prophetischer Bedeutung, oder zumindest kam es ihm so vor; es konnte auch Zufall sein. Andererseits … ein paar Stunden bevor die Vandalen die alte Frau als Hexe gebrandmarkt hatten, hatte Koko Hexenjagd hinuntergestoßen, das Stück von Arthur Miller. Warum sollte er gerade jenen speziellen Augenblick wählen, um seine Aufmerksamkeit auf ein Werk über die Hexenprozesse in Salem zu lenken? Koko tat niemals etwas grundlos, und dieser Vorfall weckte in Qwilleran das dringende Bedürfnis, Mrs. Coggin einen Besuch abzustatten.
Als Journalist war Qwilleran an Menschen interessiert, über die er schreiben konnte; als Mensch, der seine Großeltern nicht gekannt hatte, zog es ihn zu Achtzig- und Neunzigjährigen hin. Das war Grund genug, Mrs. Coggin zu besuchen. Einen weiteren Anstoß gab Kokos respektloser Umgang mit der Hexenjagd.
Als Qwilleran am nächsten Morgen die Katzen fütterte, begann er sich zu fragen, wie die exzentrische Alte wohl auf den unangemeldeten Besuch eines Fremden reagieren würde. Sie stand nicht im Telefonbuch. Hier im Norden war es üblich, einfach mal »vorbeizukommen« oder »hereinzuschauen«, aber nicht für Qwilleran. In seinen Adern floß noch immer ein wenig Stadtblut.
Trotzdem, sagte er sich. Gegenüber von ihrem Haus, auf der anderen Straßenseite, stand nicht nur ein Briefkasten, sondern auch ein Kasten für Zeitungen …. Alle Bewohner des Bezirks, die über neunzig waren, erhielten ein Gratis-Abonnement des Moose County Dingsbums … Wenn sie ihn las, sollte sie seinen Schnurrbart eigentlich erkennen. Er war jeden Dienstag und Freitag über seiner Kolumne abgebildet und in Moose County besser bekannt als George Washingtons Perücke auf dem Ein-Dollar- Schein …. Ein kleines Geschenk unter Nachbarn, zum Beispiel Muffins aus der schottischen Bäckerei, wäre vielleicht angebracht.
»Was meinst du dazu, Koko?« fragte er den Kater, der sich auf sein Frühstück konzentrierte.
»Jargel«, erwiderte Koko, der versuchte, gleichzeitig zu schlucken und zu antworten.
Am späteren Vormittag machte sich Qwilleran mit einem mit einer roten Schleife geschmückten Karton der Bäckerei auf den Weg, Er verabschiedete sich von den Katzen und sagte ihnen, wohin er ging und wann er zurück sein würde. Je mehr man mit seinen Katzen spricht, davon war er überzeugt, desto klüger werden sie. Koko war beängstigend klug. Qwilleran bezeichnete ihn als tollen Burschen und hatte jede Menge Respekt vor ihm. Yum Yum war ein zierliches kleines Weibchen mit einem gewinnenden Wesen, das gerne auf dem Schoß lag, den Inhalt von Papierkörben liebte und kleine, glänzende Gegenstände, die sie unter dem Teppich verstecken konnte.
Zum Abschied gab er ihnen noch ein paar Anweisungen. »Geht nicht ans Telefon. Zieht nicht den Stecker vom Kühlschrank aus der Steckdose. Macht nicht auf, wenn Meinungsforscher an der Tür klingeln.«
Sie sahen ihn ausdruckslos an.
Von der Scheune führte ein schmaler Weg Richtung Osten zur Landstraße, etwa ein paar hundert Meter. Er schlängelte sich durch den Vogelgarten, dann durch eine Wiese, die einmal ein heruntergekommener Apfelgarten gewesen war, und danach durch ein uraltes Wäldchen mit Nadel- und Hartholzbäumen. Am Ende, zur Trevelyan Road hin, befand sich das zwei Morgen große Grundstück, auf dem Polly begonnen hatte, ein Haus zu bauen, bis ihre gesundheitlichen Probleme sie gezwungen hatten, das Projekt aufzugeben. Zum Glück hatte es ihr der Klingenschoen-Fonds abgekauft und der Künstlergemeinde von Moose County als Veranstaltungszentrum für Ausstellungen und ähnliche Aktivitäten zur Verfügung gestellt.
Das neue Kunstzentrum wirkte wie ein Wohnhaus, da daneben ein paar der im Norden so beliebten Zedern standen. Als Qwilleran vorbeiging, sah er, daß für die offizielle Eröffnung bereits alles tipptopp in Ordnung war – mit Ausnahme der Zufahrt und des Parkplatzes. Auf diesen betonierten Flächen verliefen kreuz und quer braune Schmutzspuren, die die Autoreifen von der Landstraße angeschleppt hatten. Die Trevelyan Road wurde vor allem von Farmern benutzt, und die Reifen von Lastautos und Traktoren hinterließen die Erde von den Feldern auf dem Straßenbelag, von wo sie in weiterer Folge auf das Grundstück des Kunstzentrums gelangte. Die Funktionäre des Kunstausschusses hatten den Beamten der Bezirksverwaltung diesen Mißstand aufgezeigt, aber was konnte man schon tun? In einer Farmergegend gibt es nun mal Schmutz! Doch die neue Leiterin des Kunstzentrums hatte einen wütenden Leserbrief an die Zeitung geschrieben, was wiederum zornige Antwortbriefe aus der Landwirtschaft nach sich gezogen hatte.
Gegenüber dem schönen neuen Gebäude, auf der anderen Straßenseite, stand ein baufälliges Farmhaus, das von etwa hundert Morgen bestelltem Farmland umgeben war. Das Haus war äußerst vernachlässigt, und hätten nicht vor dem Haus um die Räder eines verrosteten Traktors herum Hühner gepickt, hätte man glauben können, es stehe leer. Als Qwilleran näher kam, hinkten und watschelten hinter dem Haus fünf alte Hundemischlinge hervor.
»Brave Hunde! Brave Hunde!« sagte er und ging auf die kleine Veranda vor dem Hauseingang zu. Zu alt oder zu müde, um zu bellen, folgten sie ihm mit milder Neugier.
Dennoch wurde die Eingangstür aufgerissen, und eine hagere Frau in seltsamer Kleidung kreischte: »Und wer sind Sie?«
Qwilleran hob den Karton von der Bäckerei hoch und antwortete mit sanfter Stimme: »Ein Bote des Moose County Dingsbums mit einem Geschenk für eine unserer liebsten Leserinnen!«
»Allmächtiger Gott!« rief sie. »Ich sag’s, das ist der Schnurrbart aus der Zeitung! Kommen Sie ’rein und trinken Sie ’nen Schluck Kaffee. Ich hab’ ’ne Kanne auf dem Herd stehen.« Sie sprach den lokalen Dialekt, der bei den Oldtimern in der Gegend verbreitet war. Polly erforschte das alte ›Moose‹ als eine schon fast vergessene Mundart. Qwilleran war froh, daß er seinen Kassettenrecorder dabei hatte.
Im Vorzimmer war es vollkommen finster. Blind herumtastend, folgte er ihr und fand sich dann in einer großen, verstaubten, vollgerammelten Küche. Außer einem kugelrunden Kanonenofen, Töpfen und Pfannen und einer Spüle mit Handpumpe gab es eine schmale Pritsche, eine Ladenkommode und einen großen, altmodischen Morris-Sessel mit zerrissener Polsterung. Hier wohnte sie also!
Sie räumte zusammengerollte Zeitungen und andere Sachen weg, die auf einem Holztisch und einem zerkratzten Holzstuhl lagen. »Setzen Sie sich hin!« lud sie ihn ein. Dann schenkte sie aus einer emaillierten Blechkanne Kaffee in dicke Porzellanschalen mit angeschlagenen Henkeln. Die Kanne war auf einem Petroleumkocher warm gehalten worden. Auf dem gußeisernen Ofen, den man bei diesem Wetter nicht brauchte, waren zusammengerollte Zeitungen aufgestapelt.
Qwilleran sagte: »Ich hoffe, Sie mögen diese Muffins, Mrs. Coggin. Sie sind mit Karotten und Rosinen.«
Sie biß in einen hinein – sie hatte gute Zähne, groß, aber verfärbt. »Na so was! Hab’ nichts so Feines mehr gegessen, seit mein Bert von mir gegangen ist. Das war vor zwanzig Jahren. Wenn man allein lebt, gewöhnt man sich ein recht einfaches Leben an. Er war achtundsiebzig, der Bert, als er von mir gegangen ist. Ich bin dreiundneunzig.«
»Man sieht es Ihnen nicht an«, sagte Qwilleran. »Sie haben etwas Jugendliches an sich.« Sie war wirklich lebhaft und agil.
»Jawohl. Ich kann die Zeitung noch ohne Brille lesen. Hab’ nie gekaufte Zähne besessen. Lebe von den Früchten des Feldes und arbeite hart, das ist das Geheimnis.«
Doch ihr Gesicht war zerfurcht und ledrig, und ihr schütteres weißes Haar ungebändigt. Diese Wildheit in Verbindung mit ihrer kreischenden Stimme und der merkwürdigen Kleidung konnte leicht Anlaß zu Gerüchten geben. Trotz des milden Wetters und des glühenden Petroleumkochers trug sie über einer Arbeitshose einen langen, dicken Rock und darüber mehrere Schichten Männerhemden und -pullover. Sie stapfte in hohen, geschnürten Arbeitsstiefeln, die ihr etwas zu groß waren, auf dem groben Holzboden herum.
»Wie lange waren Sie verheiratet, Mrs. Coggin?«
»Sechzig Jahr’. Das da ist der Sessel von Bert.« Sie ließ sich auf den Morris-Sessel plumpsen und legte ihre Stiefel auf eine Holzkiste. »Und das sind die Stiefel von Bert.«
»Hat dieses Land hier all die Jahre Ihnen gehört?«
»Mit einem Morgen haben wir angefangen. Haben ihn selbst bearbeitet. Hatten kein Pferd. Ich hab’ den Pflug gezogen. Da war ich noch jung. Jetzt bin ich dreiundneunzig. Mach’ alles selber. Ziehe meine eigenen Kohlrüben und Grünkohl. Fahre selbst mit dem Traktor.«
»Aber wie bewirtschaften Sie diese riesigen Felder, Mrs. Coggin?«
»Seit Bert von mir gegangen ist, machen das ein paar junge Burschen. Hundert Morgen, bis ganz runter zum Fluß. Mit diesen großen Maschinen ist das nicht mehr dasselbe wie früher. Sind aber brave Jungs. Haben mir Pacht gezahlt, jawohl, zwanzig Jahre lange, und nicht einen Monat ausgelassen.«
»Ich glaube, ich kenne sie – die McBee-Brüder.«
»Jetzt verpachte ich das Land nicht mehr. Hab’ den ganzen Kram verkauft! Da brauch’ ich keine Steuern mehr zahlen, und ich kann hier wohnen, mietfrei. Dieser neue Mann, der liebt das Land, genau wie Bert. Er wird Gemüse anbauen – Kartoffeln und Bohnen, nicht nur Heu und Getreide.«
»Das klingt nach einem guten Geschäft. Haben Sie immer in dieser Gegend gewohnt, Mrs. Coggin?«
»Nein. Bin in Little Hope aufgewachsen.«
»Dann kennen Sie wahrscheinlich Homer Tibbitt.« Der pensionierte High-School-Direktor war jetzt der offizielle Historiker des Bezirks.
»Jawohl. Hat auf der Nachbarsfarm gewohnt. Auf diesen Jungen hatt’ ich es mal abgesehen, jawohl, aber der ist auf und davon, in ’ne Schule, also hab’ ich den Bert geheiratet. Der war ’n guter Farmer und ’n guter Mann. Flat mir drei Jungs geschenkt, jawohl. Sind jetzt alle weggezogen. Weiß nicht mal, wo sie sind. Vielleicht schon von uns gegangen.«
»Wahrscheinlich haben Sie schon Urenkel.«
Sie zuckte die Schultern. »Weiß nicht, wo sie sind.«
Qwilleran warf einen Blick auf die Handpumpe der Küchenspüle. Er zählte vier Öllampen. »Ich sehe hier kein elektrisches Licht.«
»Brauch’ keins.«
»Haben Sie ein Telefon?«
»Nein. Geldverschwendung … Wollen Sie noch Kaffee?«
Er lehnte höflich ab. Obwohl er selbst für seinen starken Kaffee berüchtigt war, warf ihn die dicke Brühe, die den ganzen Vormittag auf dem Petroleumkocher gebrodelt hatte, fast um. »Was sagen Sie zu Ihren neuen Nachbarn gegenüber?« fragte er.