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Auf einer abgelegenen Bergstraße wird die völlig verstörte Laura Schrader aus den Trümmern eines Wagens geborgen. Im Kofferraum entdecken die Retter eine grausam entstellte Leiche. Als die Polizei den Psychologen Robert Winter hinzuzieht, wird dieser mit dem rätselhaftesten Fall seiner Karriere konfrontiert: Die Geschichte, die Laura Schrader ihm erzählt, klingt unglaublich. Doch irgendwo innerhalb dieses Wahnkonstrukts muss die Wahrheit verborgen sein. Je weiter Robert vordringt, desto mehr muss er erkennen, dass die Gefahr, vor der Laura Schrader warnt, weitaus erschreckender ist als jeder Wahn.
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Seitenzahl: 446
Das Buch
Auf einer abgelegenen Bergstraße wird die völlig verstörte Laura Schrader aus den Trümmern eines Wagens geborgen. Im Kofferraum entdecken die Retter eine grausam entstellte Leiche. Als die Polizei den Psychologen Robert Winter hinzuzieht, wird dieser mit dem rätselhaftesten Fall seiner Karriere konfrontiert: Die Geschichte, die Laura Schrader ihm erzählt, klingt unglaublich. Doch irgendwo innerhalb dieses Wahnkonstrukts muss die Wahrheit verborgen sein. Je weiter Robert vordringt, desto mehr muss er erkennen, dass die Gefahr, vor der Laura Schrader warnt, weitaus erschreckender ist als jeder Wahn.
Der Autor
Wulf Dorn, Jahrgang 1969, arbeitete zwanzig Jahre in einer psychiatrischen Klinik, ehe er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seinem 2009 erschienenen Debütroman »Trigger« gelang ihm ein Sensationserfolg. Seitdem stehen seine Bücher auf internationalen Bestsellerlisten und haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den französischen »Prix Polar«.
WULF DORN
DIE
KINDER
THRILLER
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Vollständige deutsche Erstausgabe 09/2017
Copyright © 2016 by Wulf Dorn
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Heiko Arntz
Umschlaggestaltung: Studio Botschaft, München, nach einem Motiv von Nele Schütz Design
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-19681-3V002
www.heyne.de
Für David
Schwarzer. Stern.
Vorbemerkung des Autors
Die Hauptgeschichte dieses Romans ist frei erfunden, ebenso wie die Schauplätze und die Personen, denen wir im Folgenden begegnen werden.
Was die Zwischensequenzen betrifft, wäre ich froh, ebenfalls behaupten zu können, es handle sich um pure Fiktion, aber jede dieser Szenen hat einen wahren Hintergrund. Sie beruhen auf Ereignissen, die sich innerhalb des einen Jahres zugetragen haben, in dem ich diesen Roman geschrieben habe.
Zu Lucy Walkers Geschichte wurde ich durch eine Aufnahme der belgischen Fotografin An-Sofie Kesteleyn inspiriert. Dieses Foto ist ebenso beängstigend wie die in diesem Roman zitierten Schlagzeilen, von denen es (mit Ausnahme der letzten) jede einzelne wirklich gegeben hat. Erwähnenswert ist auch, dass diese Pressemeldungen aus einem Zeitraum von nur fünf Wochen stammen.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse in meinem Leben als Leser und Autor dunkler Geschichten ist, dass die Realität stets um ein Vielfaches grausamer ist als jede Fiktion.
»Der Ort ist hier, die Zeit ist jetzt, und die Reise in das Reich der Schatten, deren Zeuge wir nun werden, könnte unsere Reise sein.«
ROD SERLING
»The Twilight Zone«
»Ein Kind, das die Hoffnung verliert, ist das Gefährlichste. Es gibt viele schwierige Situationen im Kinderleben, aber nie darf es die Hoffnung verlieren.«
ALFRED ADLER
»Die Technik der Individualpsychologie«
»Children ’round the world
Put camel shit on the walls,
Making carpets on treadmills
Or garbage sorting.
And it’s no game.«
DAVID BOWIE
I. Die Tankstelle. Sturmfahrt. Der Fund.
I.
Die Tankstelle. Sturmfahrt. Der Fund.
Noch bevor der zweite Signalton für die Kurzmitteilung verstummt war, hatte sich Patrick Landers bereits das Handy gegriffen.
Endlich!
Doch statt Sus Foto erschien auf dem Display nur das Logo seines Mobilfunkanbieters. Die Nachricht darunter warb für extra günstige Herbsttarife.
»Verdammt!«
Er ließ das Telefon zurück auf den Beifahrersitz fallen. Vor ihm lag noch ein gutes Stück Fahrt, und der Himmel verdunkelte sich wie ein unheilvolles Omen. Er erhöhte das Tempo und sah in den Rückspiegel, als könne er dort die Gesichter zu den Stimmen sehen, die ihn in seinen Gedanken verfolgten.
»… spricht kaum noch ein Wort …«
»… wie ein völlig anderer Mensch …«
»… hat sich plötzlich verändert …«
»… verhält sich merkwürdig, irgendwie … Wie soll ich sagen? Unheimlich. Ja, unheimlich!«
»Sie mögen mich für verrückt halten, Doktor, aber ich fürchte mich vor ihr.«
Und schließlich die Worte seines Doktorvaters: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Patrick. Ich bin ebenso ratlos wie du. In meinen zwanzig Berufsjahren ist mir so etwas noch nie untergekommen.«
Diese Worte wogen für Patrick am schwersten von allen. Gleich nach diesem Telefonat war er aufgebrochen, und seither bereute er, nicht schon viel früher losgefahren zu sein. Warum, zum Teufel, hatte er eine weitere Nacht verstreichen lassen?
Die Landstraße machte eine Linkskurve, vorbei an den heruntergekommenen Gebäuden einer längst aufgegebenen Molkerei, und dann endlich war der Pass ausgeschildert. Niemand kam ihm entgegen, und auch hinter ihm blieb die Straße leer. Seit er von der Autobahn abgefahren war und wenig später die Bundesstraße verlassen hatte, war er kaum noch einem anderen Fahrzeug begegnet, und seit einer knappen halben Stunde war er nun schon allein unterwegs. Das würde sich erst wieder zur Frühlingssaison ändern, wenn sich die Wohnmobile der Touristen über die schmale Strecke quälten, um in der abgelegenen Berggegend einen Wanderurlaub oder ein paar Tage beim Paragliding zu verbringen.
Falls dann überhaupt noch jemand hierherkommt.
Vor ihm verschwand nun auch das letzte Abendlicht unter der dicken schwarzen Wolkendecke, die nichts Gutes verhieß. Seit dem Nachmittag hatte der Wetterdienst vor orkanartigen Böen und starken Regenfällen in den höheren Lagen gewarnt. Ein Herbststurm konnte auf diesen engen, kurvenreichen Bergstraßen besonders gefährlich werden.
Doch noch mehr als das Wetter sorgte Patrick das, was ihn möglicherweise an seinem Ziel erwartete. Die Angst, er könnte mit seiner Vermutung richtigliegen, ließ ihm keine Ruhe mehr.
Vor Jahren hatte Su ihm ein T-Shirt mit dem Aufdruck Take it easy or easy takes you geschenkt. »Das passt zu dir«, hatte sie gesagt, und keiner, der Patrick auch nur ein wenig kannte, hätte ihr widersprochen. Patrick Landers war niemand, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ. Zwar hatte sich seither vieles verändert – Su und er waren nun schon eine ganze Weile nicht mehr zusammen und das inzwischen abgetragene T-Shirt wartete längst in irgendeiner Ecke seines Schlafzimmerschranks auf die Altkleidersammlung –, aber der Spruch traf es immer noch. Je älter Patrick wurde, desto mehr. In den fünfunddreißig Jahren seines Lebens hatte er gelernt, dass sich die meisten Dinge als harmloser erwiesen, als sie auf den ersten Blick schienen. Vorausgesetzt, man ging sie mit Bedacht und der nötigen Gelassenheit an.
Doch diesmal hatte er die Situation unterschätzt. Su hatte versprochen, sich bei ihm zu melden. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatte sie ihre Versprechen stets gehalten. Aber nun waren schon drei Tage vergangen, ohne eine Nachricht von ihr. Kein Rückruf, keine SMS, nichts. Grund genug, ernsthaft besorgt zu sein und davon auszugehen, dass etwas passiert war. Etwas, das er vielleicht hätte verhindern können.
Verdammt, warum hatte er nur so lange gezögert? Statt nur etliche Male vergeblich bei ihr anzurufen und darauf zu warten, dass sie sich bei ihm meldete, hätte er sich längst schon auf den Weg machen sollen. Denn falls sich seine Vermutung bewahrheitete, die sich mehr und mehr in ihm ausgebreitet hatte und mittlerweile fast schon Gewissheit war, durfte er keine Zeit mehr verlieren.
Was, wenn ich zu spät komme?
Er verscheuchte den Gedanken, der ihn wieder und wieder befiel wie ein lästiges Insekt, und rieb sich die brennenden Augen. Er war erschöpft von der langen Fahrt und einer unruhigen Nacht davor. Einer Nacht, in der er sich im Bett gewälzt hatte und von jenen Stimmen geplagt worden war, die ihn jetzt verfolgten.
»… hat sich plötzlich verändert …«
»… verhält sich merkwürdig …«
» … unheimlich!«
Er hätte jetzt viel für einen starken Kaffee gegeben. Außerdem näherte sich die Tankanzeige dem Reservebereich. Er konnte es noch bis zum Ziel schaffen, schätzte er, aber es würde knapp werden.
Schließlich siegte die Vernunft über die Ungeduld, und er hielt an einer Tankstelle, die mit einer großen Tafel an der Einfahrt darauf hinwies, dass sich die Nächste Tankstelle in 30 km Entfernung befand.
Die Tafel entpuppte sich jedoch als ein schlechter Scherz des Schicksals. Denn als er eilig ausstieg und den Zapfstutzen in die Tanköffnung steckte, zeigte die Zapfsäule keine Reaktion. Sie war abgeschaltet, ebenso wie die Lichter in dem abgelegenen Tankstellengebäude. Dann erst fiel ihm auf, dass auch im angrenzenden Wohnhaus alles dunkel war.
Wie um die Schilder, die für Täglich frische Croissants, Coffee to go und Gratis Reifencheck – Fragen Sie an der Kasse warben, Lügen zu strafen, klebte ein Zettel an der Eingangstür, auf den jemand in krakeliger Handschrift Vorübergehend geschlossen geschrieben hatte.
Für einen Augenblick blieb Patrick vor der Tür stehen. Etwas an dieser Nachricht irritierte ihn. Etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte und das sich wohl am ehesten als Intuition beschreiben ließ. Die Augen lassen sich täuschen, das Bauchgefühl nicht, hatte man ihm im Medizinstudium eingetrichtert – und das Leben hatte ihn gelehrt, dass dieser Satz nicht nur auf die medizinische Diagnostik zutraf.
Vielleicht lag es an der Art, wie dieser Zettel geschrieben worden war. Eilig hingekritzelt, als habe der Inhaber den Laden geradezu fluchtartig verlassen.
Der Wind wurde allmählich stärker und trug den Geruch von Regen vor sich her. Donner grollte, gewaltig und bedrohlich nah.
Patrick wandte sich von der merkwürdigen Notiz ab und eilte zu seinem Wagen zurück. Er hatte hier bereits viel zu viel Zeit verplempert. Er setzte zurück auf die Straße, wobei er seine Tankanzeige ignorierte, und fuhr weiter.
Bald darauf waren die verlassenen Gebäude mit den dunklen Fenstern aus seinem Rückspiegel verschwunden. Die Schar Fliegen, die sich gegen eines dieser Fenster drängte, hatte er nicht bemerkt.
Es waren nur noch wenige Kilometer bis zur Passstraße, als der Sturm schließlich losbrach. Die dunkle Wolkenwand hatte den Abendhimmel nun völlig verschlungen und hielt ihr finsteres Versprechen. Der Wind wuchs zum Getöse an und rüttelte so heftig an dem Mercedes, dass Patrick Mühe hatte, die Spur zu halten.
Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Mit jeder Sekunde wurden es mehr, bis schließlich ein wahrer Sturzbach niederging und die Straße durch die Wasserschleier kaum noch zu erkennen war.
Patrick blieb keine andere Wahl, als das Tempo zu verlangsamen. Fluchend schaltete er einen Gang zurück.
Während er die Serpentinen hochfuhr und mühsam versuchte, etwas durch den Wasserfall auf seiner Windschutzscheibe zu erkennen, musste er immer wieder an den handgeschriebenen Zettel denken. An diese seltsame, beunruhigende Intuition. Als gäbe es einen Zusammenhang zwischen seinen Befürchtungen und der verlassenen Tankstelle.
Das war natürlich Unsinn. Er redete sich das nur ein, weil er müde, überspannt und aufgewühlt war. Bei Erschöpfung und in Stresssituationen konnte man durchaus paranoid werden.
Obwohl die Wischanlage jetzt auf höchster Stufe lief und die Scheibenwischer hektisch hin und her zuckten, vermochten sie kaum noch etwas gegen die Wassermassen auszurichten. Ausgerechnet jetzt, wo die Straße anstieg und zunehmend kurviger wurde.
Ungeduldig hieb er auf das Lenkrad, nur um sich gleich darauf wieder zur Ordnung zu rufen. Er musste dem Drang widerstehen, aufs Gaspedal zu treten und die nächste Kurve schneller zu nehmen. Bei solchem Wetter überhaupt auf dieser Strecke unterwegs zu sein, war schon gefährlich genug. Er sah kaum etwas vor sich. Hinter jeder Biegung konnte rutschiges Herbstlaub lauern. Oder Geröll, das der Sturm von den Felshängen gelöst hatte.
Er rieb sich wieder die Augen und warf einen raschen Blick in den Rückspiegel. Er war weiterhin allein unterwegs. Im Dämmerlicht der Armaturenbeleuchtung sahen seine Augen wie die eines Hauptdarstellers in einem Horrorfilm aus. Wie Dr. Jekyll, nachdem er sich in Mr. Hyde verwandelt hatte.
Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er bald den Scheitel der Passstraße erreicht haben würde. Er war zwar schon seit Jahren nicht mehr in dieser Gegend gewesen, aber er erinnerte sich an die Aussichtsplattform, die einen weiten Blick ins Tal bot. Sicherlich nicht bei diesem Regen und auch nicht bei Nacht, aber er wusste, dass es von dort aus nur noch eine knappe halbe Stunde dauern würde. Sobald er angekommen war, würde er zuerst …
Ein einzelnes grelles Licht verwandelte die regennasse Windschutzscheibe in ein blendendes Lichtermeer. Patrick schoss das Wort Motorrad! durch den Kopf.
Er trat so heftig auf die Bremse, dass er für einen Moment glaubte, er werde ins Schleudern geraten. Doch nach einem kurzen Stück kam der Mercedes wie befohlen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Einen Augenblick lang fürchtete Patrick, dass ihn der Fahrer dennoch rammen würde. Erst nach einer weiteren Schrecksekunde begriff er, dass sich das Licht nicht bewegte.
Geblendet kniff er die Augen zusammen, um etwas durch die hell erleuchtete Regenflut und die hektisch hin und her zuckenden Scheibenwischer zu erkennen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Er hatte sich getäuscht. Soweit er erkennen konnte, war das da vor ihm am linken Straßenrand kein Motorrad. Es war ein Wagen, an dem nur noch ein Scheinwerfer funktionierte. Der Fahrer musste in der scharfen Kurve die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren haben.
»Auch das noch!«
Patrick stellte den Motor ab und schaltete die Warnblinkanlage ein, auch wenn es an dieser Stelle nicht viel Sinn hatte. Die Kurven schlängelten sich hier so eng, dass man kaum weiter als fünfzig Meter sehen konnte. Er würde die Unfallstelle mit zwei Warndreiecken absichern müssen. Doch da ihm seit einer halben Ewigkeit kein anderes Fahrzeug begegnet war, beschloss er, die Regeln zu missachten und zuerst nach dem verunglückten Fahrer zu sehen. Möglicherweise saßen ja auch mehrere Leute in dem Wagen.
Er nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und steckte sein Handy ein. Dann streifte er die Kapuze seiner Windjacke über und stieg aus.
Jetzt erst erkannte er das volle Ausmaß des Unfalls. Die vordere Hälfte des Audis sah aus, als wäre sie in eine Presse geraten. Der Wagen musste zuerst von der rechten Spur abgekommen und mit der Fahrerseite an der Felswand entlanggeschrammt sein. Davon zeugten etliche tiefe Dellen und dass auf dieser Seite kaum noch etwas von der silbernen Lackierung übrig geblieben war. Danach musste der Fahrer den Fehler begangen haben, das Steuer herumzureißen. Die steinerne Straßenbegrenzung hatte die Schleuderfahrt schließlich beendet und die Beifahrerseite eingedrückt wie eine leere Bierdose.
Patrick starrte auf die Motorhaube, die sich halb aufgestellt hatte, was ihr das Aussehen eines hässlichen schiefen Grinsens verlieh. Er atmete die kalte Abendluft ein, roch ausgelaufenes Benzin und machte sich auf einen schlimmen Anblick gefasst. Dann lief er zu dem Wagen, wobei er mit einer Hand seine Kapuze festhielt, die ihm der Wind vom Kopf zu reißen drohte.
Unter seinen Schuhen knirschte Glas auf dem Asphalt. Bis auf die Windschutzscheibe, die wie ein gefaltetes Mosaik ins Innere des Wagens hing, waren alle Scheiben zersprungen. So sah Patrick noch ehe er ankam, dass eine Frau auf dem Fahrersitz saß. Ihr Kopf hing auf der rechten Schulter, und das lange blonde Haar verdeckte ihr Gesicht.
»Hallo?«, rief er ihr durch das Tosen des Sturmwinds zu, bekam aber keine Antwort.
Patrick trat näher und sah ins Wageninnere. Er atmete erleichtert auf, als er im Strahl der Taschenlampe sah, dass sich ihre Brust hob und senkte. Schwach, aber gleichmäßig. Außer der Frau befand sich niemand im Wagen.
»Hallo, können Sie mich hören?«
Die Frau reagierte nicht. Sie war bewusstlos, und Patrick fragte sich, wie viel Zeit seit dem Unfall vergangen sein mochte. Trotz der Kälte und des Regens stieg von der zerbeulten Front des Audis kein Dampf auf. Der Motor musste schon länger erkaltet sein.
Patrick sah, dass ihr Oberkörper mit getrocknetem Blut bedeckt war. Inwieweit auch ihre Beine Verletzungen aufwiesen, konnte er nicht erkennen. Der Airbag bedeckte ihren Unterleib wie ein schlaffes Tuch.
Er rüttelte an der Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Kein Wunder, Rahmen und Karosserie waren völlig verzogen.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche und betätigte die Kurzwahl für den Notruf. Dabei musste er mehrmals auf das regennasse Display tippen, ehe es auf die Berührung reagierte.
Der Mitarbeiter der Rettungsleitstelle, der sich nach dem zweiten Freizeichen meldete, hatte eine junge und besänftigende Stimme. Als Patrick ihm jedoch die ungefähre Lage des Unfallorts zu erklären versuchte, klang er zunehmend nervöser. Er schien weder eine Ahnung zu haben, wo genau sich dieser Pass befand, noch welches Krankenhaus das nächstliegende war. Wahrscheinlich werde die Bergwacht einen Rettungshelikopter schicken müssen, sagte er schließlich. Das könne ein wenig dauern, aber selbstverständlich werde man sich beeilen.
»Bitte bleiben Sie am Unfallort«, sagte der Mann, und nun klang er wieder routiniert. »Ist die Straße bereits abgesichert?«
Patrick erklärte ihm, dass er sich gleich im Anschluss an ihr Gespräch darum kümmern werde, als sich die Frau im Wagen plötzlich bewegte. Sie musste seine Stimme gehört haben und war aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht.
Vielleicht hatte sie auch nur geschlafen, schoss es Patrick durch den Kopf. Wenn sie hier wirklich schon eine Weile festgehangen hatte, wäre das durchaus möglich. Man musste schließlich nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, oder?
»Gut, machen Sie das«, hörte er den Mann sagen, der irgendwo im warmen, trockenen Callcenter der Rettungsleitstelle saß, während Patrick eiskalter Herbstregen und Sturmwind um die Ohren pfiffen. »Aber seien Sie vorsichtig und bringen Sie sich nicht in …«
Mehr nahm Patrick nicht wahr, denn nun hatte ihm die Frau den Kopf zugewandt, und er sah ihr Gesicht.
»Du lieber Himmel, das gibt’s doch nicht!«, stieß er hervor und ließ die Hand mit dem Telefon sinken. »Laura?«
Sie bewegte die Lippen und murmelte etwas, doch ihre Stimme war zu schwach, als dass er sie im Tosen des Sturms hätte hören können. Ihre rechte Gesichtshälfte war blutverkrustet und ihre blonden Strähnen klebten in einer trocknenden Platzwunde. Darunter hatte die Blutung ein rotbraunes Netz auf Schläfe und Wange hinterlassen. Schock und Kälte hatten ihr einen gelblichen Teint verliehen, was sie wie eine Leiche aussehen ließ.
Hastig schob Patrick das Handy in die Hosentasche und unternahm einen weiteren vergeblichen Versuch, die Fahrertür zu öffnen.
»Laura, kannst du mich hören?« Er beugte sich dichter zu ihr, bewegte eine Hand vor ihrem Gesicht. »Laura!«
Ihre Augen zuckten suchend umher, wie bei jemandem, der aus einem besonders intensiven Traum geweckt worden war und sich erst wieder in der Realität orientieren musste. Dann bemerkte sie seine Hand und schließlich ihn.
»Pat-rick?«
Ihre Stimme war nur ein Hauchen, aber sie hatte ihn erkannt. Ein gutes Zeichen.
»Bleib ganz ruhig. Hilfe ist unterwegs. Hast du Schmerzen?«
Sie bewegte wieder die Lippen, bekam aber kein Wort heraus. Dann sank ihr Kopf auf die Nackenstütze zurück, ihre Augenlider begannen zu flattern.
»Nicht einschlafen, Laura! Du musst wach bleiben! Der Notarzt wird gleich hier sein.« Obwohl er nun derart schrie, dass sich seine Stimme überschlug, war er sich nicht sicher, ob sie ihn verstand. »Ich werde jetzt kurz weggehen und die Straße absichern, hörst du? Ich bin gleich wieder zurück.«
Sie hatte die Augen geschlossen, und es sah so aus, als sei sie wieder ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich hatte sie eine Gehirnerschütterung und viel Blut verloren.
Patrick entschied, dass es keinen Sinn hatte, sie zu untersuchen, solange sie in dem Wagen eingeklemmt war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Rettungswagen zu warten. Oder auf den Helikopter. Falls man sie hier im Nirgendwo fand.
Er biss sich auf die Unterlippe und spürte, dass er am ganzen Leib zitterte und das nicht nur der Kälte wegen. Seine Nerven lagen völlig blank, und ihm lief die Zeit davon.
Reiß dich zusammen! Du bist Arzt, also verhalte dich auch wie einer!
Er musste einen klaren Gedanken fassen, wie es jetzt weitergehen sollte. Er konnte Laura hier nicht allein lassen, aber er durfte auch nicht länger warten. Wenn Su etwas zugestoßen war …
Er stutzte. Hatte Laura sich etwa deshalb allein auf den Weg gemacht? Hatte sie Su zurückgelassen, weil …
»Sie mögen mich für verrückt halten, Doktor, aber ich fürchte mich vor ihr.«
Er schüttelte sich, um den Gedanken zu verscheuchen, dann lief er zurück zu seinem Mercedes. Er holte das Warndreieck aus dem Kofferraum und rannte durch den Regen, bis er das Ende der Kurve erreicht hatte. Nachdem er das Dreieck mitten auf der Fahrbahn platziert hatte, hastete er zurück zu Laura.
Sie saß noch immer bewegungslos und mit geschlossenen Augen da. Er fühlte ihren Puls, der erhöht war, aber gleichmäßig ging. Ihre Lider flatterten wie bei einem unruhigen Traum.
Um die obere Kurve zu sichern, brauchte er das Warndreieck aus ihrem Wagen. Zum Glück hatte das Heck den Unfall deutlich besser überstanden als die Front. Doch auch die Heckklappe hatte sich verkantet und ließ sich nicht mit bloßen Händen öffnen. Nach mehrmaligem Rütteln und Reißen gab Patrick es auf. Er lief erneut zu seinem Wagen und holte den Radschlüssel aus seinem Kofferraum.
Der Wind zerrte an seinen Kleidern, er war bis auf die Haut durchnässt. Vor Kälte konnte er seine Finger kaum noch spüren.
Nach einigem Hebeln und Stemmen sprang die Heckklappe schließlich auf. Augenblicklich schlug ihm ein entsetzlicher Gestank entgegen, der ihm trotz des Windes den Atem raubte. Patrick wich so erschrocken davor zurück, dass ihm der Radschlüssel aus der Hand glitt und klirrend auf die Straße schlug.
Keuchend hielt er sich die Hand vor Mund und Nase und blinzelte. Im Dunkeln war nicht zu erkennen, was da vor ihm im Kofferraum lag, aber dieser Gestank nach Verwesung und Exkrementen war überwältigend.
Er würgte, trat noch einen Schritt zurück und zog die Taschenlampe wieder aus seiner Jacke. Das Schlimmste befürchtend, schaltete er sie ein – und versteinerte.
Entsetzt blickte er in weit aufgerissene Augen, die auch ihn anzusehen schienen. Ein gebrochener Blick, ängstlich, erstaunt und wütend zugleich. Dann sah er den offenen Schädel. Das Gelbgrau eines freiliegenden Gehirns, das nie wieder denken, nie wieder fühlen würde. Das nur noch tote Masse war.
Er taumelte rückwärts, stolperte und fiel hin. Die Taschenlampe prallte dicht neben ihm auf den Asphalt und erlosch.
Patricks Magen zog sich zusammen, und er übergab sich. Er bemerkte nicht einmal, wie ihm das Erbrochene über Jacke und Hose rann.
Nach einer Weile ließen der Krampf und das Würgen schließlich nach. Wie ein Betrunkener stemmte er sich hoch und schleppte sich schwankend und mit zitternden Knien an dem Autowrack entlang.
Als er bei Laura ankam, hatte sie die Augen wieder geöffnet. Sie sah ihn an, Tränen liefen über ihr Gesicht.
»Es … tut mir … leid … ich … wollte … nicht …«
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber er verstand sie, und ein Schaudern durchlief ihn.
»Ist Su noch dort?«, fragte er mit rauer Stimme. Er hielt sich am Wagendach fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Antworte mir, Laura, ich muss es wissen! Ist Su noch dort?«
Seine Knie fühlten sich so weich an, dass er glaubte, er würde jeden Moment in sich zusammensacken.
Lauras Augen weiteten sich entsetzt.
»Geh nicht … da hin!«, stieß sie hervor. Diesmal sprach sie lauter, was sie sichtlich anstrengte. »Du darfst nicht … Ich …«
Dann verließen sie ihre Kräfte. Ihre Augen verdrehten sich nach oben, dass das Weiße zu sehen war, nur um ihn gleich darauf wieder anzusehen. Sie kämpfte gegen eine neue Ohnmacht an, um ihn zu warnen.
Patrick stieß sich vom Wagendach ab und taumelte auf den Mercedes zu. Hinter sich hörte er Laura schreien.
Er stieg in seinen Wagen, schlug die Tür zu und raste mit heulendem Motor durch den Sturm davon.
II. Einhundertvierundsechzig. Die Frau im Zimmer.
II.
Einhundertvierundsechzig. Die Frau im Zimmer.
Trostlos war das erste Wort, das Robert Winter in den Sinn kam, als sich die Schiebetür des Aufzugs vor ihm auftat. Er kam nur selten in das Untergeschoss der Klinik. Sein Büro befand sich im zweiten Stock, wo es, im Gegensatz zu hier unten, wenigstens Tageslicht gab.
Er betrat den langen Korridor, in dem es penetrant nach Desinfektionsmitteln roch. Eine Mischung aus Kampfer, Ammoniak und Zitronenaroma, gegen die nur Fenster etwas hätten ausrichten können. Die weiß getünchten Wände mit den stählernen Stoßleisten schimmerten kalt im Neonlicht. Zu beiden Seiten reihten sich Türen, die nur an den Außenseiten Klinken hatten und mit Codeschlössern gesichert waren.
An manchen Tagen konnte man hinter diesen Türen Schreie, Weinen oder irres Gelächter hören. Doch nicht an diesem Morgen. Dafür war es zu früh. Die Patienten in diesem Bereich schliefen noch – dafür sorgten in nahezu allen Fällen die üblichen Sedativa.
Aus einem Raum am Ende des Korridors kam ihm Bennell entgegen. Seit ihrer letzten Begegnung waren mehr als eineinhalb Jahre vergangen, und Robert hatte den Eindruck, dass Bennell in der Zeit deutlich gealtert war. Der Gang des Polizisten war noch immer der des passionierten Langstreckenläufers, aber die Falten in seinem Gesicht hatten sich tiefer um Nase und Mund gegraben, und sein kurz geschnittenes Haar war nun vollends grau. Im Neonlicht schimmerte es geradezu weiß.
Frank Bennell musste die sechzig inzwischen überschritten haben und würde demnächst in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Bis dahin war er aber immer noch der Spürhund, dem man die besonderen Fälle anvertraute. Er hatte das, was man gemeinhin den siebten Sinn nannte – jenes besondere Gespür, das man nicht erlernen konnte, sondern in die Wiege gelegt bekam. Sein kriminologischer Instinkt hatte ihm bei seinen Vorgesetzten und ganz besonders bei den jüngeren Kollegen ein großes Maß an Respekt und Hochachtung eingebracht. Bennell konnte eine Aufklärungsquote vorweisen, die manch anderen Kollegen seines Dienstrangs vor Neid erblassen ließ.
Dennoch hatte sich der Polizist nie zur Selbstherrlichkeit verleiten lassen. Im Gegenteil, seine Stärke lag unter anderem darin, dass er seine Grenzen genau kannte und wusste, wann er fremde Hilfe benötigte, um in einem Fall weiterzukommen. So war vor einigen Jahren die Zusammenarbeit mit Robert entstanden. Der Kriminalist und der Psychologe, beide Spezialisten auf dem Gebiet, die dunklen Seiten des menschlichen Wesens zu erkunden.
»Danke, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte Bennell, als sie sich auf halbem Weg im Korridor trafen. »Tut mir leid, dass ich Sie aus dem Bett holen musste, noch dazu in Ihrem Urlaub.« Er hielt Robert einen dampfenden Pappbecher entgegen. »Schwarz ohne Zucker, richtig?«
»Kaffee und eine Entschuldigung? Dann muss es sich wirklich um einen Notfall handeln.«
Bennell lächelte dünn und nickte. »Kann man wohl sagen. Ich habe in meinem Leben schon viele verrückte Dinge gehört, aber das hier …«
Er verstummte, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verhieß nichts Gutes. Den dunklen Rändern unter seinen Augen nach zu urteilen, schien er schon die ganze Nacht auf den Beinen zu sein. Er war nicht einmal zum Rasieren gekommen.
Robert musste an ihre letzte Zusammenarbeit denken, den Fall des Hammermörders. Ein Broker in den mittleren Jahren, der unter Stress psychotische Halluzinationen entwickelt hatte. Von Zeit zu Zeit hatten ihn Stimmen heimgesucht und ihn zu Häusern geführt, in denen menschenähnliche Wesen mit Schweineköpfen wohnten, die eine weltumspannende Finanzkrise planten. Also hatte der Mann einen Hammer aus seinem Werkzeugkasten genommen und war losgezogen, um diesen Monstern Einhalt zu gebieten. Bis zu seiner Ergreifung hatte er neun Männer und vier Frauen erschlagen. Nach jedem dieser Morde, die (wenn man die Wahnlogik des Täters außer Acht ließ) völlig willkürlich schienen und dadurch die Ermittlungen enorm erschwert hatten, war er in sein normales Alltagsleben zurückgekehrt und hatte sich an nichts mehr erinnert. Es sei gewesen, als habe sein Verstand nach jedem dieser Wahnschübe den Reset-Knopf gedrückt, hatte der Mann behauptet, und Robert hatte ihm das auch geglaubt. Das Gehirn ist zu vielem fähig – vor allem, wenn es außer Kontrolle gerät.
Dieser Fall hatte sie einiges an Energie gekostet. Was also mochte geschehen sein, das noch schlimmer war?
Robert nahm den Kaffeebecher entgegen und folgte Bennell über den Korridor.
»Womit haben wir es diesmal zu tun? Ihr Mitarbeiter hörte sich an, als sei es ein Staatsgeheimnis.«
»Lipinski kann nichts dafür«, erwiderte Bennell. »Ich musste ihn anweisen, nicht am Telefon darüber zu sprechen. Die Staatsanwaltschaft hat eine strikte Nachrichtensperre verhängt. Noch ist nichts nach außen gedrungen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Medien von der Sache Wind bekommen. Wenn wir bis dahin keine Ergebnisse haben, wird die Hölle losbrechen. Deshalb brauchen wir schnellstmöglich Antworten.«
Sie betraten einen kleinen Raum, wo ein dicklicher junger Mann vor einem Laptop saß. Er arbeitete konzentriert an dem Monitor, der eine Kameraübertragung zeigte. Das Bild flackerte und verschwand immer wieder, dennoch erkannte Robert den Tisch in dem Gesprächsraum nebenan. Er sah eine Frau und eine Krankenschwester, die sich gegenübersaßen.
»Das ist Markus Lipinski. Lipinski, das ist Doktor Winter«, stellte Bennell sie beide vor. »Lipinski wird sich um die Aufzeichnung Ihres Gesprächs kümmern.«
»Morgen, Doktor.« Lipinski nahm die Kopfhörer ab und nickte ihm zu. »Die Übertragung steht gleich. Sorry, aber das Kamerasystem Ihrer Klinik ist ziemlich veraltet.«
»Nicht nur das Kamerasystem«, entgegnete Robert. »Aber erklären Sie das mal dem Gesundheitsministerium.«
Lipinski grinste, ehe er sich wieder dem flackernden Monitor zuwandte und sich erneut daranmachte, die Bildübertragung zu stabilisieren.
Bennell ließ sich an einem Seitentisch nieder, auf dem mehrere Aktenmappen lagen, und deutete Robert an, gegenüber Platz zu nehmen.
»Also gut«, sagte Robert und setzte sich. »Schießen Sie los.«
»Tja, also …«, begann Bennell und rieb sich über die Bartstoppeln. »Ich will versuchen, Ihnen das Ganze zu erklären, aber das wird nicht einfach sein.«
Er nahm die oberste Aktenmappe und schlug sie auf. Robert erkannte einen Einsatzbericht.
»Gestern Abend um neunzehn Uhr dreiundzwanzig erreichte uns ein Notruf«, sagte Bennell. »Ein Dr. Patrick Landers meldete einen Unfall auf einer Bergstraße, etwa sechzig Kilometer entfernt von hier. Die Leitstelle verständigte sofort den Rettungsdienst, der dann fünfundvierzig Minuten später am Unfallort eintraf.«
Erstaunt hob Robert die Brauen. »Erst nach einer Dreiviertelstunde?«
»Ja, der Helikopter, den man zunächst losgeschickt hatte, musste wegen des Sturms umkehren. Und die Feuerwehr und der Rettungswagen brauchten eine Weile, bis sie die Stelle fanden.«
Bennell zog den Ausdruck eines Landkartenausschnitts unter dem Bericht hervor. Robert warf einen kurzen Blick darauf, konnte jedoch nichts damit anfangen. Er stammte nicht aus dieser Gegend und hatte seinen Urlaub auch noch nie in den Bergen verbracht. Er, Jeanette und die Kinder bevorzugten die See und das Strandleben.
»Nun, jedenfalls fand man den Wagen schließlich«, fuhr Bennell fort. »Es hat einige Zeit gedauert, bis man die Fahrerin aus dem Wrack befreit hatte. Sie muss wohl bei dem starken Regen die Kontrolle über das Fahrzeug verloren haben. Trotzdem hatte sie Glück. Sie war zwar ziemlich geschwächt, aber außer einer Platzwunde und einer leichten Gehirnerschütterung wurde sie nicht verletzt.«
Robert deutete zum noch immer flackernden Monitor. »Ich nehme an, das ist die Frau?«
Lipinski und Bennell nickten beinahe synchron. Offensichtlich waren die beiden ein eingespieltes Team, ähnlich wie zuvor Bennell und Lipinskis Vorgänger. Dieser hatte sich gleich nach dem Hammermörderfall in den Innendienst versetzen lassen.
Bennell schlug eine zweite Aktenmappe auf, in der die Personalien der Frau festgehalten waren.
»Wir wissen inzwischen, dass ihr Name Laura Schrader ist«, sagte er. »Ihren Eltern gehört ein Ferienhaus, das nur wenige Kilometer vom Unfallort entfernt liegt. Sie hat ausgesagt, dass sie von dort gekommen ist. Der Wagen, in dem sie saß, ist auf einen Boris Schumann zugelassen.« Er deutete auf einen winzigen Punkt auf der Karte. »Schumann betreibt einen kleinen Supermarkt in diesem Dorf, ganz in der Nähe des Ferienhauses. Warum Frau Schrader mit Schumanns Wagen unterwegs war, wissen wir nicht, und es ist auch insofern verwunderlich, da sie drei Tage zuvor gerade einen Wagen gemietet hatte.« Er tippte auf die Adresse unter Laura Schraders Namen. »Und zwar in ihrem Wohnort, gute zweihundertfünfzig Kilometer entfernt. Das wissen wir aus den E-Mails auf ihrem Smartphone. Der Wagen wurde noch nicht zurückgegeben, das haben wir überprüft. Wenn sie also mit einem Mietwagen in den Urlaub fährt, von dem die Verleihfirma garantiert, dass er im Schadensfall innerhalb weniger Stunden ersetzt würde, warum ist sie dann mit einem anderen Fahrzeug unterwegs?«
»Vielleicht hat es in diesem Fall länger gedauert, weil der Ort zu abgelegen ist?«
»Das war auch mein erster Gedanke«, sagte Bennell. »Aber der Autovermieter hat keine Schadensmeldung erhalten.«
Robert zog die Mappe zu sich heran und überflog Laura Schraders Daten. Zweiunddreißig Jahre alt, ledig, Senior Projektmanagerin in einer Marketingagentur.
»Gut, es gab also keinen Fahrzeugschaden. Aber wegen dieser Frage haben Sie mich doch bestimmt nicht aus dem Bett geholt?«
Bennell gab ein freudloses Lachen von sich. »Nein, aber ich dachte, ich beginne zuerst mit dem einfachen Teil der Geschichte. Mit dem, was noch einigermaßen logisch klingt.«
Wieder zog er etwas unter dem Bericht hervor – wie ein Kartenspieler, der nach und nach sein Blatt offenlegt. Diesmal war es das Foto einer schlanken, altmodisch wirkenden Pistole.
»Als man Laura Schrader aus dem Wagen geborgen hat, fand man die hier im Fußraum auf der Beifahrerseite. Eine Luger 08. Ein uraltes Modell, registriert auf einen Bernhard Jacobs. Er wohnt nur eine Straße von Schumanns Supermarkt entfernt. Die Waffe ist legal. Als Jäger hat er einen Waffenschein. Nur, was hatte diese alte Knarre bei Laura Schrader verloren?« Er sah Robert kurz an, wie um auch diese Frage wirken zu lassen, dann sprach er weiter. »Jedenfalls wurde die Pistole benutzt. Das Magazin ist leer geschossen.«
»Wie viele Schüsse?«
»Maximal acht. Falls nicht nachgeladen wurde. Tja … und man fand noch etwas.«
Diesmal zögerte Bennell, ehe er wieder nach der Aktenmappe griff. Er sah Robert mit beinahe entschuldigendem Blick an und räusperte sich.
»Das hier ist kein schöner Anblick. Machen Sie sich auf was gefasst.«
Robert nahm das Foto entgegen, das Bennell ihm reichte. Aus seiner langjährigen Berufserfahrung, die auch etliche forensische Fälle einschloss, war er Tatortfotos gewöhnt, und dem Ausdruck auf Bennells zerfurchtem Gesicht nach stellte er sich auf einen besonders schlimmen Anblick ein. Doch was er sah, war schlimmer als erwartet. Mit angewidertem Blick reichte er Bennell das Foto zurück.
Bennell nickte mitfühlend. »Der Name des Mädchens ist Mia Landers. Sie war acht Jahre alt. Die Kleine lag im Kofferraum des Unfallwagens. Laut der Gerichtsmedizin rührt der zerschmetterte Schädel von einer Schussverletzung her.«
Der Name ließ Robert aufhorchen.
»Landers? Wie der Anrufer?«
»Ja, sie ist, oder vielmehr war seine Tochter. Laura Schrader ist Patrick Landers Schwägerin. Ex-Schwägerin, um genau zu sein. Er war bis vor vier Jahren mit ihrer älteren Schwester Susann verheiratet. Seltsam, dass sie ausgerechnet auf dieser Straße aufeinandertreffen, nicht wahr?«
Robert deutete zu der Aufnahme der Pistole.
»Ist das die Tatwaffe?«
»Das wird gerade untersucht«, erwiderte Bennell. »Aber ich glaube eher nicht. Um so etwas anzurichten, braucht man ein größeres Kaliber. Selbst bei einem Kinderschädel.«
»Was sagt Landers dazu?«
Bennell zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht. Denn ab hier beginnt der verrückte Teil der Geschichte. Also schnallen Sie sich lieber an und glauben Sie mir, was ich Ihnen erzähle. Auch wenn’s schwerfällt.«
Wieder sah er Robert auf diese seltsame Art an, die ihm ganz und gar nicht gefiel. Diesen Blick hatte er in der langen Zeit, die sie sich nun kannten, noch nie bei Bennell gesehen. Ein unsicherer, fast schon eingeschüchterter Ausdruck.
»Fest steht, dass der Notruf von Landers’ Handy aus getätigt wurde und dass sich der Anrufer als Patrick Landers ausgegeben hat«, sagte Bennell. »Zu hundert Prozent lässt sich das zwar nicht sagen, aber ich denke, er ist es auch gewesen. Dem Bewegungsprofil seines Mobiltelefons zufolge hielt er sich bis zum frühen Nachmittag in seiner Praxis auf, die im selben Stadtteil liegt, in dem auch Laura Schrader, seine Exfrau und seine Tochter leben.« Als wollte er seine Aussage unterstreichen, legte Bennell die Personalien der vier auf dem Tisch nebeneinander und zeigte darauf. »Gegen fünfzehn Uhr vierzig fuhr Landers dann los. Unterwegs rief er mehrmals die Nummer seiner Exfrau an, die wohl drei Tage zuvor gemeinsam mit Laura Schrader zu dem Ferienhaus gefahren war. Jedenfalls laut ihres Bewegungsprofils.«
»Weiß man, was Landers von seiner Frau wollte?«
»Exfrau«, korrigierte ihn Bennell. »Nein, sie hat die Anrufe nicht angenommen. Wir warten noch auf die richterliche Freigabe der Aufzeichnungen ihrer Mobilbox, dann werden wir wohl erfahren, warum Landers sie so dringend sprechen wollte und sich schließlich zu ihr auf den Weg gemacht hat. Denn das Ferienhaus wird höchstwahrscheinlich sein eigentliches Ziel gewesen sein. Sein letzter Anruf war das Gespräch mit dem Mitarbeiter der Rettungsleitstelle, in dessen Verlauf er dann plötzlich aufgelegt hat.«
»Weiß man weshalb?«
»Der Mann in der Rettungsleitstelle sagte, Landers habe überrascht geklungen. Sicherlich, weil er seine Schwägerin in dem Wagen angetroffen hat.«
»Trotzdem ist es ungewöhnlich, dass er deshalb das Telefonat beendet.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Ein paar Minuten später ist Landers in Richtung des Ferienhauses weitergefahren. Dann bricht die Ortung ab. Das ganze Tal dort unten ist ein einziges Funkloch. Im Umkreis von über zehn Kilometern gibt es keinen Sendemast. Tja, der liebe Landschaftsschutz macht unseren Ermittlungen einen Strich durch die Rechnung. Einen gewaltigen Strich.«
»Landers ist also verschwunden«, resümierte Robert.
»O ja, das ist er.« Bennell nickte langsam und sah Robert eindringlich an. »Landers ist verschwunden. Und nicht nur er.«
»Wer denn noch?«
Statt zu antworten, sah Bennell ihn nur weiterhin an. Er schien zu überlegen, wie er seine Worte wählen sollte.
»Ich bin dann so weit«, sagte Lipinski in diesem Moment und stand auf. »Sie können anfangen, wenn Sie wollen.«
»Ja, danke«, sagte Bennell, ohne den Blick von Robert abzuwenden. »Wir haben es gleich.«
Lipinski nickte und ging zur Tür. »Ich hole mir noch einen Kaffee. Sonst noch jemand?«
Robert schüttelte den Kopf, doch Bennell hielt zwei Finger hoch.
»Bringen Sie uns bitte noch zwei Becher mit.« Er sah Robert ernst an. »Glauben Sie mir, Sie werden heute noch eine Menge Kaffee brauchen. Das wird länger dauern.«
Lipinski nickte, wie um die Worte seines Vorgesetzten zu bestätigen, und verließ den Raum.
»Nun sagen Sie schon, was ist passiert?«, fragte Robert.
Bennell blickte vor sich auf die Tischplatte und schürzte nachdenklich die Lippen. Als er Robert schließlich wieder ansah, hatten seine Augen einen merkwürdigen Glanz angenommen. Robert kannte diesen Gesichtsausdruck. Er hatte ihn schon bei seinen Patienten gesehen, wenn sie sich entschlossen hatten, ihm einen Einblick in ihre Wahnwelt zu gewähren.
Also gut, außer meiner Glaubwürdigkeit habe ich nichts zu verlieren, schien dieser Blick zu sagen.
»Ich habe Sie gewarnt, dass sich die ganze Geschichte ziemlich verrückt anhören wird«, sagte Bennell. Er holte tief Luft. »Also, Tatsache ist, dass Patrick Landers’ Wagen mit offenen Türen und eingeschaltetem Licht vor Schumanns Supermarkt vorgefunden wurde. Von dem Mann selbst fehlt jedoch jede Spur.« Er machte erneut eine kurze Pause, ehe er hinzufügte: »Ebenso wie von allen anderen Dorfbewohnern.«
»Was?« Robert starrte ihn entgeistert an.
»Einhundertdreiundsechzig Personen laut Einwohnerregister«, sagte eine Stimme hinter ihm. Lipinski war zurückgekommen und stellte die beiden Kaffeebecher auf den Tisch.
»Landers hinzugerechnet sind es einhundertvierundsechzig«, fügte Bennell hinzu.
Robert stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Nehmen Sie es nicht persönlich, aber dafür wäre uns der Aufwand zu groß gewesen«, sagte Bennell ernst. »Ganz zu schweigen von den Suchmannschaften, die seit heute Nacht die Gegend durchkämmen. Vermisst werden einhundertvierundsechzig Personen. Männer, Frauen, Kinder.«
»Aber wie sollte das möglich sein?«
»Um das herauszufinden, sind wir hier«, sagte Bennell. »Wir gehen bislang davon aus, dass sich diese Menschen noch in der Gegend befinden. Denn bis auf Laura Schrader wissen wir von keinem Einzigen, dass er oder sie sich aus dem Ort entfernt hätte. Unser großes Problem ist, dass es sich um eine ehemalige Bergbauregion handelt. Es gibt dort mehr Stollen als Löcher in einem Schweizer Käse. Aber die Leute können sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Unsere Vermutung ist daher, dass diese Leute eigentlich nur dort sein können. In einem oder mehreren dieser Stollen.«
Bennell griff nach einem Kaffeebecher, nippte daran und verzog das Gesicht. Robert betrachtete ihn besorgt. Sie hatten zusammen schon einige spektakuläre Fälle aufgeklärt – nicht nur den Fall des Hammermörders. Robert dachte an die Frau, die Babys aus Kinderwagen gestohlen hatte oder an den nekrophilen Frauenmörder oder den Mann, der mehrere Jungen zunächst kastriert und dann getötet hatte, weil Jesus es ihm aufgetragen hatte. Jeder dieser Fälle hatte sie unter enormen Druck gesetzt, weil es galt, weitere Opfer zu verhindern. Sie hatten binnen kürzester Zeit hinter die Motivation des Täters kommen müssen, und sie hatten es stets geschafft – nicht zuletzt durch Bennells unbeirrte, zielstrebige Ermittlungsarbeit.
Doch nun schien Robert ein völlig anderer Frank Bennell gegenüberzusitzen. Ein Frank Bennell, der an sich und an dem Erfolg seiner Mission zweifelte.
»Könnte es nicht sein, dass alles ganz anders gelaufen ist?«, fragte Robert. »Ich meine, vielleicht ist die Dorfbevölkerung geschlossen irgendwo hingereist. Drei große Reisebusse sollten genügen …«
»Ein kleiner Ausflug meinen Sie? So wie man früher gemeinsam auf einer Prozession aus dem Dorf auszog? Nein.« Bennell schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen. »Sehen Sie, als Jugendlicher habe ich sehr viele Geistergeschichten gelesen, und besonders fasziniert hat mich immer die Geschichte der Mary Celeste. Ein Frachtschiff, das man gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts mitten im Atlantik treibend fand. Die geladenen Fässer und der Proviant waren noch an Bord, doch vom Kapitän, seiner Frau und seiner Tochter sowie der gesamten Mannschaft fehlte jede Spur. Es gibt zig Theorien, was mit den Leuten geschehen ist. Offensichtlich haben sie das Schiff verlassen, weil sie fürchteten, dass es versenkt würde – vielleicht durch ein Seebeben, oder, wie es in der abenteuerlichsten Theorie heißt, weil man irgendein Seeungeheuer gesichtet hatte. Die wahrscheinlichste Überlegung ist wohl, dass es sich um einen versuchten Versicherungsbetrug handelte und dass die Besatzung in einem Rettungsboot abgehauen und dabei untergegangen ist. Es gibt zig Vermutungen, aber die Wahrheit hat man nie herausgefunden. Was man fand, war ein verlassenes Schiff, auf dem ein großes Durcheinander herrschte. Als hätten Vandalen das Schiff heimgesucht.«
»Und was daran erinnert Sie an das Verschwinden der Leute aus dem Dorf?«
Mit entrückter Miene starrte Bennell auf die Aktenmappe vor sich, ehe er sie erneut aufschlug und in den Fotos darin stöberte. Schließlich hielt er zwei Aufnahmen zwischen den Fingern, zögerte jedoch. Er sah Robert wieder an. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen.
»Als unsere Streife dort eintraf, herrschte in den Häusern und auf den Straßen ebenfalls ein großes Durcheinander, um es milde auszudrücken«, sagte er. »Es wurden auch Blutspuren entdeckt. Fast so, als ob die Leute aufeinander losgegangen wären.«
Er hielt Robert die beiden Aufnahmen hin. Die eine zeigte eine Waschmaschine, neben der etliche Wäschestücke auf dem Boden lagen, als habe man sie achtlos hingeworfen. Das Schubfach der Maschine war geöffnet, darauf lag ein Waschmittelkarton, aus dem ein Häufchen weißes Pulver zu Boden gerieselt war. Auf dem zweiten Foto war ein zum Essen gedeckter Tisch zu erkennen. Das Tischtuch hing schief, die Teller, der Brotkorb und eine Platte mit Wurst, Gemüse und Käse waren darauf verrutscht und die Stühle umgestoßen.
»Deshalb mein Vergleich mit der Geschichte von der Mary Celeste«, sagte Bennell. »Tja, und dann wären da noch die Waffe und das tote Mädchen in Laura Schraders Wagen. Einem Wagen, der einem der Verschwundenen gehört.«
Robert nickte. All das klang wirklich recht unheimlich. Aber anders als Bennell hatte er in seiner Jugend keine Gespenstergeschichten gelesen und war als rationaler Mensch davon überzeugt, dass es für all dies eine logische Erklärung gab, auch wenn sie noch so abwegig sein mochte.
»Ich denke, dass diese Frau weiß, was in dem Ort geschehen ist«, fuhr Bennell jetzt fort und deutete auf den Monitor. »Und ich bin überzeugt, dass Sie der Richtige sind, um die Antworten von ihr zu bekommen, die wir brauchen. Ihre Kollegen sagen, dass Frau Schrader noch immer unter Schock steht. Wahrscheinlich hat das, was sie uns bisher erzählt hat, deshalb keinen rechten Sinn ergeben. Jedenfalls nicht für einen Mann in meinem Alter, der nicht mehr an die Spukgeschichten aus seiner Jugend glaubt.«
»Was genau hat sie Ihnen bislang erzählt?«
»Dass es dort draußen jemanden gibt, der uns allen nach dem Leben trachtet«, sagte Bennell.
»Genauer ist sie nicht geworden?«
»O doch, deshalb ist sie letztlich hier.« Bennell seufzte. »Sie behauptet, es seien Monster.«
Robert stand auf und trat näher an den Monitor heran. Die Frau saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl, hatte die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt und ihr Gesicht in den Händen vergraben. Die Krankenschwester saß mit dem Rücken zur Kamera ihr gegenüber und schien in einen E-Book-Reader vertieft zu sein.
»Sie haben mit ihr gesprochen«, sagte Robert und sah sich zu Bennell um, der neben ihn trat. »Halten Sie ihre geistige Verwirrung für authentisch?«
»Sie sind der Traumaexperte, finden Sie es heraus.« Bennell sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Bei unserem Hammermörder war ich mir absolut sicher. Da brauchte ich Sie nur, um es fachlich zu belegen. Aber in diesem Fall … Im Augenblick haben wir nur einen Wust von Fakten, die nicht zusammenpassen, und doch scheinen sie zusammenzugehören. Wir müssen herausfinden, was mit diesen Leuten geschehen ist, und solange wir keine weiteren Hinweise finden, sind Sie meine einzige Hoffnung.«
»Gut, ich rede mit ihr. Aber erwarten Sie keine Wunder.«
»O doch«, sagte Bennell, »genau das erwarte ich von Ihnen. Ein gottverdammtes Wunder ist genau das, was wir jetzt brauchen.«
Er ging voran, und Robert folgte ihm auf den Korridor zur Tür des Gesprächsraums.
Bennell gab den Zugangscode ein und wandte sich noch einmal zu Robert um.
»Da ist noch etwas, was Sie wissen sollten«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Als man Laura Schrader aus dem Fahrzeug geborgen hat, starrte ihre Kleidung vor getrocknetem Blut. Sie hatte zwar eine Platzwunde an der Stirn, aber der Notarzt meinte, dass die nicht dafür ausgereicht hat, um sich derart zu besudeln. Vielleicht stammt das Blut von der Kleinen, vielleicht aber auch von einer weiteren Person. Genaueres werden wir erst wissen, sobald das Labor ihre Kleidung untersucht hat.«
Robert nickte verstehend. »Sie meinen …«
»Dass Sie vorsichtig sein sollen«, vollendete Bennell seinen Satz. »In dubio pro reo, wie es so schön heißt, aber womöglich ist Laura Schrader nicht nur eine Zeugin.«
Phnom Penh
KAMBODSCHA
»Nun komm schon! Trödel nicht so herum!«
Kannithas Vater zog an ihrem Arm, und sie stolperte weiter. Dabei sah sie sich immer wieder nach den vielen Schaufenstern um, an denen sie vorübereilten. Wie gerne wäre sie stehen geblieben, um die zahllosen Dinge zu bewundern, die es dort zu entdecken galt.
Sie war schrecklich aufgeregt. Wie groß die Stadt doch war! All die vielen Geschäfte, Schilder, Menschen, Autos und Mopeds. Straßenverkäufer, die große Schubkarren voller Wassermelonen vor sich herschoben. Garküchen, die an jeder Straßenecke den köstlichen Duft nach würzigen Suppen, Gemüse, Reis und Gebratenem verströmten. Kleine Stände, an denen bunte Eiscreme verkauft wurde, von der sich Kannitha fragte, ob ihr etwas so Kaltes überhaupt schmecken würde.
Und die vielen Modeläden mit den wunderschönen Kleidern! Aus jedem dieser Läden dröhnte laute Musik auf die Straße, viel lauter als aus dem kleinen Transistorradio zu Hause. Lieder, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Die meisten davon wurden in einer fremden Sprache gesungen. Kannitha vermutete, dass es Englisch sein musste.
Eines dieser Lieder gefiel ihr besonders gut. Die Frau, die es sang, hatte eine piepsende Stimme – wie eine Maus. Sie piepste ein »Hey!« nach jeder Strophe, was Kannitha lustig fand. Am liebsten hätte sie dazu getanzt, aber das ging nicht, weil sie es ja eilig hatten und ihr Vater sie weiter an ihrem Arm hinter sich her zog.
Von ihren älteren Geschwistern hatte sie schon viel über die Stadt gehört, doch was sie heute zu sehen bekam, übertraf ihre kühnsten Träume.
Vorhin zum Beispiel, da waren sie an einem Geschäft vorbeigekommen, in dem es nur Spielsachen zu kaufen gab. Nichts anderes! Unglaublich!
Am liebsten wäre sie für immer dort geblieben, auch wenn der Mann im Laden sie mit finsterem Gesicht gemustert hatte. Natürlich hatte dieser Blick nicht ihr gegolten, da war sie sich sicher. Es lag bestimmt an der schwülen Hitze, die wie eine Dunstglocke über der Stadt hing. Sie hatte dem Mann gewiss zu schaffen gemacht. Auch ihr Vater stöhnte alle paar Schritte und wischte sich den Schweiß.
Am besten hatten ihr die großen Plastiktiere gefallen. Das grasgrüne Krokodil, der lachende Löwe und der riesige Elefant, der niemals in das kleine Zimmer gepasst hätte, das sie sich mit ihren Geschwistern teilte.
Und dann waren da noch die vielen Bälle gewesen, die es in allen Größen und Farben gab. Zu Hause hatten sie nur einen einzigen Ball – einen kleinen, dem immer wieder die Luft ausging. Dabei waren sie doch zu sechst.
Aber Kannitha wusste, dass sie ihren Vater gar nicht erst zu fragen brauchte, ob er ihnen noch einen Ball kaufen könnte – oder gar für jedes Kind einen. Das würde ihr nur wieder eine Tracht Prügel einbringen, weil sie ihn nicht respektierte.
Sie sah ja auch ein, dass sein Geld gerade mal fürs Essen reichte, und manchmal nicht einmal dafür, weil er seit seinem Unfall nicht mehr arbeiten konnte … aber diese bunten Bälle waren einfach wunderschön gewesen.
Nun, wenn sie irgendwann einmal selbst Geld hätte, dann würde sie jedenfalls wissen, wo man solche Bälle kaufen konnte. Sie würde sich den Laden genau merken. Man wusste schließlich nie, ob einen die Götter eines Tages belohnen würden, wie ihre Großmutter immer gesagt hatte.
Plötzlich blieb ihr Vater stehen, und Kannitha wäre fast gegen ihn gelaufen.
»Warte«, sagte er und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht. Dann lehnte er sich schnaufend an die Wand eines großen Gebäudes und sah daran empor.
»Sind wir da?«, fragte Kannitha. Sie erhielt nur sein Nicken zur Antwort.
Er war ganz außer Atem, was kein Wunder war, dachte sie. Nicht nur wegen der drückend schwülen Hitze, die ihm jedes Jahr nach der langen Regenzeit zusetzte, sondern auch wegen seines Beins. Es funktionierte nicht mehr richtig, hatte Kannithas Bruder ihr erklärt, als ihr Vater aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war. Und da ihm das Geld fehlte, dass man es wieder heil machen konnte, musste er seither hinken. Das war bestimmt sehr anstrengend.
Noch schlimmer aber war, dass auch sein Motorroller bei dem Unfall kaputtgegangen war. Nun konnte er nichts mehr für die Händler auf den Märkten transportieren und verdiente kein Geld mehr.
Dieser dämliche Lastwagen!
Wäre der nicht gewesen, hätten sie heute bestimmt einen oder zwei – oder vielleicht sogar sechs – Bälle kaufen können, dachte sie. Und sie hätten sie mit dem Motorroller nach Hause bringen können, statt später wieder den langen Weg zu Fuß gehen zu müssen.
Sie folgte dem Blick ihres Vaters an der riesigen Glasfassade empor. Was für ein großes Haus!
Ein solches Haus nannte man Hotel, hatte Kannitha gelernt. Und wenn man hinein wollte, musste man vorher zum Arzt gehen. Der nahm einem Blut ab, um es zu untersuchen. Das war nicht schön, und die Nadel pikte – aber nur ein bisschen. Und wenn man schon acht war, durfte man deswegen auch nicht weinen. Außerdem war das, was der Arzt danach gemacht hatte, noch viel unangenehmer gewesen. Nicht weil es wehgetan hätte, sondern weil es ihr peinlich gewesen war. Er hatte bei ihr unten reingeschaut, und sie hatte sich deswegen schrecklich geschämt.
Aus einer Seitengasse neben dem Hotelhaus hörte sie ein metallisches Scheppern und lautes Lachen von Kindern. Neugierig sah sie nach und musste sofort ebenfalls lachen.
Eine Gruppe Jungs und ein Mädchen, alle in ihrem Alter, spielten in einem Hinterhof Fußball. Der Fußball war nichts anderes als eine leere Pepsi-Dose, und als Tor dienten zwei Mülltonnen.
Auf einer der Tonnen saß das Mädchen, das lauthals lachte, weil der Junge, der mit der Dose auf das Tor zielte, ein paar sehr alberne Verrenkungen machte.
»Aye, sexy baby«, sang er dabei. »Gangnam style!«
Kannitha hatte zwar keine Ahnung, was das bedeutete, aber auch sie musste über sein ulkiges Powackeln lachen.
Das Mädchen auf der Tonne bemerkte sie und winkte ihr zu. Dann sahen sich auch die Jungs zu ihr um und winkten ebenfalls.
»Hey!«, rief der Junge, der gerade noch getanzt hatte, und machte eine übertriebene Geste, die darin endete, dass er auf Kannitha zeigte.
»Hey!«, rief sie und winkte strahlend zurück.
Sie wäre jetzt zu gern zu diesen Kindern gelaufen, um mitzuspielen oder wenigstens um dem lustigen Jungen noch eine Weile zuzusehen und mit ihnen zu lachen, aber das ging nicht. Ihr Vater würde das niemals erlauben. Ganz besonders nicht heute, wo er schrecklich schlechte Laune hatte.
Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern, winkte den Kindern noch einmal zu und ging zu ihrem Vater zurück. Er stand im Schatten des Vordachs am Eingang des Hotelhauses und schien ihre kurze Abwesenheit nicht bemerkt zu haben. Er rauchte eine selbst gedrehte Zigarette und starrte mit gerunzelter Stirn vor sich auf den Boden.
Kannitha kannte diesen Gesichtsausdruck bei ihm. So sah er aus, wenn er angestrengt nachdachte, und sie wusste, dass man ihn dann keinesfalls ansprechen durfte. Also wartete sie geduldig neben ihm, roch den süßlichen Tabakrauch, der sich mit den unzähligen Gerüchen der Stadt vermischte, und verfolgte mit neugierigem Staunen das Treiben auf der Straße.
Schließlich trat ihr Vater die Zigarette auf dem Gehweg aus, straffte sich und ergriff wieder ihre Hand.
»Komm«, sagte er knapp und ohne sie anzusehen. Dann führte er sie durch eine große gläserne Drehtür ins Innere des Hotels.
Kannitha konnte kaum glauben, wie angenehm kühl und sauber es hier drin war. Alle Leute, selbst die Einheimischen, trugen schöne Kleider und manche sogar Uniformen.
Ihr Vater ging mit ihr zu einem sehr langen Tisch, der wie ein glatter Stein glänzte. Dahinter stand ein uniformierter Mann. Er war noch jung. Seine Uniform sah viel schöner aus als bei allen Soldaten, die Kannitha bisher in ihrer Siedlung gesehen hatte.
»Ich bin Vibol«, sagte ihr Vater zu dem Soldaten und sprach dabei viel deutlicher als sonst zu Hause. »Mister Haddenbach erwartet mich.«
Was für ein ulkiger Name, dachte Kannitha, aber das Lächeln verging ihr, als sie den Blick des jungen Soldaten hinter dem großen Tisch sah. Er musterte sie eindringlich und erinnerte sie dabei an den Verkäufer in dem Spielzeuggeschäft.
Seltsam, dachte sie. Hier ist es doch schön kühl, und die Luft ist auch viel besser als draußen. Wie kann man da schlechte Laune haben?
»Zimmer dreihunderteins«, sagte der Soldat schließlich zu ihrem Vater, der sie sofort wieder mit sich zog.
Während sie zur anderen Seite des großen Raumes gingen, der mit einem dunkelgrünen Teppich ausgelegt war, fühlte Kannitha noch immer den Blick des jungen Mannes auf sich. Warum schaute er sie so an, sie hatte ihm doch nett zugelächelt?