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England 1874: Als Captain Gabriel Huntley nach Jahren des Dienstes im Heer Ihrer Majestät in die Heimat zurückkehrt, wünscht er sich nichts sehnlicher, als eine Familie zu gründen. Doch als er in einer dunklen Gasse einem schwer verletzten Mann zu Hilfe eilt, vertraut dieser ihm eine Botschaft an, die Huntleys Leben für immer verändern wird. Eine Geheimgesellschaft, die sich die Erben von Albion nennt, ist auf der Suche nach einer magischen Quelle, mit deren Hilfe sie die ganze Welt unter britische Herrschaft bringen will. Huntley begibt sich in die Mongolei, wo er auf die attraktive und selbstbewusste Thalia Burgess trifft, die sein Herz schon bald höher schlagen lässt. Gemeinsam setzen sie alles daran, um die Erben von Albion aufzuhalten.
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Seitenzahl: 523
ZOË ARCHER
DIE KLINGEN DER ROSE
Jenseits des Horizonts
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Babette Schröder
Für Zack:
meinen Krieger,
meinen Helden
1
ÄRGER AM HAFEN
Southampton, England. 1874.
Gabriel Huntley verabscheute unfaire Kämpfe. Das war schon in der Schule so gewesen, dann später bei der Armee, im Dienste Ihrer Majestät, und er hasste sie noch immer.
Huntley wich einer Faust aus, die auf seinen Kopf zuschoss, dann attackierte er seinen Gegner mit ein paar Schlägen. Als sein Möchtegernangreifer bewusstlos auf dem Boden zusammensackte, wirbelte Huntley herum, um sich dem nächsten Gegner zu stellen. Drei Männer kamen mit eiskaltem, mordlustigem Blick auf ihn zu. Die Zahl seiner Angreifer hatte sich leider nur geringfügig reduziert. Huntley musste unwillkürlich lächeln. Kaum eine Stunde zurück in England, und schon prügelte er sich. Vielleicht war es nicht so schlecht, wieder nach Hause zu kommen.
»Wer zum Teufel ist der Kerl?«, schrie jemand.
»Keine Ahnung«, antwortete ein anderer.
»Hauptmann Gabriel Huntley«, knurrte er, während er einen Schlag abwehrte und zugleich einem anderen Angreifer seinen Ellbogen in den Magen rammte. »Vom dreiunddreißigsten Infanterieregiment.«
Sein Schiff hatte in jener Nacht in Southampton angelegt und ihn nach fünfzehn Jahren zurück an die britische Küste gebracht. Hab und Gut auf den Rücken geschnallt, hatte er ungewöhnlich still und zurückhaltend am Fuß der Gangway gestanden. Er hatte das Gefühl gehabt, nicht einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Jahrelang hatte man ihn von einem Ende des britischen Reiches zum anderen geschickt, nun durfte er endlich selbst über sein Schicksal bestimmen. Darauf freute er sich schon lange. Gleich nach seinem Entlassungsgesuch als Hauptmann hatte er eine Passage auf dem nächsten Schiff nach England gebucht.
Doch bereits während der langen Tage und Wochen auf See, in denen er reichlich Zeit hatte, ausgiebig über alles Mögliche nachzudenken, verlor die Vorstellung an Reiz. Ja, er war in England geboren und die ersten siebzehn Jahre seines Lebens dort aufgewachsen – und zwar in einem trostlosen Bergwerkskaff in Yorkshire. Doch die andere Hälfte seines Lebens hatte er fast zur Gänze in fernen Ländern verbracht: auf der Krim, in der Türkei, in Indien und in Abessinien. England hatte sich immer mehr zu einem Idealbild entwickelt, das in Kasernen und Offiziersclubs hochgehalten wurde. Abgesehen von Sergeant Alan Inwood besaß er in England weder Familie noch Freunde. Die zwei Männer hatten jahrelang Seite an Seite gekämpft, bis eine Kugel Inwood das Bein gekostet hatte und der treue Sergeant in seine Heimat zurückgekehrt war. In all den Jahren hatte er Huntley jedoch regelmäßig geschrieben.
Huntley trug Inwoods letzten Brief in der Jackentasche bei sich. Er kannte ihn auswendig, denn er hatte ihn auf der Überfahrt nach England immer wieder gelesen. Inwood schlug ihm vor, mit ihm als Textilhändler in Leeds zusammenzuarbeiten. Ein einfaches, ruhiges Leben. Mit der Aussicht zu heiraten. Inwood behauptete, in Leeds gebe es haufenweise nette, anständige Mädchen; die Töchter der Mühlenbesitzer hielten Ausschau nach Ehemännern. Huntley könne umgehend Arbeit und eine Frau finden – wenn er denn wollte.
Huntley wusste, wie man unter den widrigsten Umständen kämpfte. In einem Monsun, in heftigen Schneestürmen oder bei sengender Hitze. Mit Bajonetten, Säbeln, Revolvern und Gewehren. Er hatte Schiffszwieback gegessen, auf dem Maden herumkrochen. Als es nichts anderes zu trinken gab, hatte er stinkendes verdorbenes Wasser getrunken. An all dem war er nicht zugrunde gegangen. Nichts machte ihm Angst. Aber bei der Vorstellung, wirklich sesshaft zu werden und, guter Gott, eine Frau zu suchen, gefror dem Soldaten das Blut in den Adern.
Nachdem das Schiff angelegt hatte, war Huntley am Fuße der Gangway inmitten des Gedränges der von Deck strömenden Menschen stehen geblieben. Er hatte versucht, den ersten Schritt in sein neues Leben zu tun, ein normales Leben, und festgestellt, dass er es nicht konnte.
Jedenfalls noch nicht. Anstatt schnell zum Gasthaus zu gehen, vor dem Postkutschen darauf warteten, die Passagiere zu Dörfern und Städten im ganzen Land zu bringen, hatte sich Huntley in die entgegengesetzte Richtung aufgemacht. Obwohl er monatelang auf See gewesen war, brauchte er mehr Zeit. Zeit nachzudenken. Zeit zu planen. Zeit, sich an sein seltsames und fremdes Heimatland zu gewöhnen. Zeit für zumindest ein Glas.
Ziellos lief er durch das Labyrinth aus schmalen, von Straßenlaternen erleuchteten Gassen, die vom Pier wegführten. Nach kurzer Zeit begegnete er kaum noch anderen Menschen und fand sich schließlich allein in einer nebligen dunklen Straße wieder. Eine große orangefarbene Katze schlich an ihm vorbei Richtung Hafen, um dort auf Fischfang zu gehen. Am Ende der Straße lag ein winziges Pub, aus dem gelbes Licht auf das feuchte Pflaster fiel. Wie bei einer Kaserne drangen aus dem Inneren lautes Gelächter und grobe Worte an sein Ohr.
Die Kneipe erschien ihm wie das Paradies.
Huntley ging auf das Pub zu. Er verspürte große Lust auf einen Kräuterschnaps. Zumindest in dieser Beziehung war er ein echter Engländer. Doch während er auf die einladende Tür zuschritt, sagten ihm seine Soldatensinne, dass ganz in der Nähe Ärger drohte. Er folgte den Geräuschen, und als er sah, was vor sich ging, geriet er so in Rage, dass er nicht mehr klar denken konnte: In einer finsteren Gasse jenseits der Straße prügelte ein halbes Dutzend Männer auf einen verletzten Mann ein. Ein paar andere standen daneben, um notfalls ebenfalls in den Kampf einzugreifen. Er erkannte augenblicklich, dass das nicht in Ordnung war und er dem verwundeten Mann helfen musste.
So war Huntley dem Mann zu Hilfe geeilt.
Jetzt kamen drei Männer auf ihn zu und schleuderten ihn gegen eine feuchte Backsteinmauer. Zum Glück verhinderte sein Gepäck, dass sein Kopf gegen die Steine krachte. Zwei Männer griffen seine Arme, während der dritte ihn in der Mitte festhielt. Bevor einer von ihnen einen Schlag landen konnte, rammte Huntley dem Mann vor sich das Knie in die Brust, der daraufhin keuchend die Luft ausstieß. Er bohrte dem Mann die Hacke seines Stiefels in die Rippen und schob ihn von sich. Japsend suchte der Kerl Halt und landete unsanft auf einem Stapel leerer Kisten, die unter seinem Gewicht zusammenkrachten. Geschickt befreite sich Huntley von den beiden anderen Männern.
Er überlegte, ob er Gewehr oder Pistole zücken sollte, verwarf den Gedanken jedoch schnell. In engen Gassen wie dieser stellten Schusswaffen für denjenigen, der sie benutzte, eine ebenso große Gefahr dar wie für sein anvisiertes Ziel. Bei dem geringen Abstand war es ein Leichtes, dem Schützen die Waffe zu entreißen, sie umzudrehen und auf ihn zu richten.
Dann musste Huntley eben die Fäuste benutzen. Kein Problem.
Huntley stürzte sich auf die zwei Männer, die gleichzeitig auf das Opfer einprügelten. Einer der Angreifer schlug Huntley seine Faust ins Gesicht. Aber das war nichts verglichen mit dem, was das Opfer abbekommen hatte. Hemd und Weste des Mannes waren blutverschmiert, der Saum seines Jacketts eingerissen, das Gesicht geschwollen und aufgesprungen. Huntley hatte genügend Schlägereien erlebt. Sollte der Mann den Kampf überhaupt überleben, würde das Gesicht mit dem rötlichen Bart bleibende Schäden zurückbehalten. Aber zum Kuckuck, obwohl der Kerl taumelte und wankte, kämpfte er weiter.
»Ich mag keine Schläger«, brummte Huntley. Er packte den Mann, der ihm soeben den Faustschlag verpasst hatte, am Hals und würgte ihn heftig.
Der Mann versuchte, Huntleys Finger von seinem Hals zu lösen, doch Huntleys in fünfzehn Jahren Armee trainierte Hand blieb an Ort und Stelle. Dennoch gelang es dem Mann, ein paar Worte hervorzuwürgen.
»Wer immer … Sie sind …«, stieß er heiser hervor, »ver… schwinden Sie. Das ist nicht Ihr … Kampf.«
Huntley grinste böse. »Das ist meine Entscheidung.«
»Idiot«, schnaufte der Mann.
»Vielleicht«, erwiderte Huntley, »aber da das meine Finger um Ihren Hals sind« – dabei verstärkte er seinen Griff und entlockte dem Mann ein gequältes Gurgeln –, »ist es nicht gerade klug, große Töne zu spucken, oder?«
Der Mann schwieg. Hinter Huntley ertönte ein kurzer, spitzer Schrei. Als er sich umdrehte, blitzte in der Dämmerung etwas Metallenes auf – eine lange, gefährliche Klinge, an der leuchtend rotes Blut klebte. Einer der Angreifer stand damit vor dem Opfer, das eine Hand auf seinen Bauch presste. Blut sickerte aus seiner Weste und durch seine Finger.
»Morris geht nirgendwo mehr hin«, erklärte der Mann mit dem Messer in der Hand. Sein vornehmer Akzent passte zu seinen geschniegelten blonden Haaren und dem Schnurrbart. Trotz seiner aristokratischen Ausstrahlung schien er sich mit der blutverschmierten Klinge in der Hand wohlzufühlen. »Gehen wir«, befahl der Geschniegelte den anderen Männern.
Huntley überlegte einen kurzen Augenblick, ob er sich auf den Anführer mit dem Messer stürzen oder sich lieber um den Kerl kümmern sollte, auf den Ersterer eingestochen hatte, um Morris. Abrupt löste er den Griff um den Hals seines Gefangenen und fing den verwundeten Morris gerade noch rechtzeitig auf, bevor er auf dem Boden zusammenbrach.
Die Angreifer flohen rasch aus der Gasse, nur einer von ihnen dachte an ihren bewusstlosen Kameraden und fragte: »Was machen wir mit Shelley? Und mit dem da?« Er deutete auf Huntley.
»Shelley überlassen wir sich selbst«, bellte der Geschniegelte. »Und der andere weiß nichts. Wir müssen verschwinden. Sofort«, fügte er zischend hinzu. Ohne dass Huntley sie daran hindern konnte, verschwanden die Angreifer in der Nacht und ließen ihn mit dem sterbenden Mann in den Armen zurück.
Denn der Mann würde sterben. Daran bestand kein Zweifel. Auf dem Schlachtfeld hatte Huntley ähnliche Verwundungen gesehen, und sie hatten stets tödlich geendet. Das Blut strömte zunehmend stärker aus der Wunde in Morris’ Bauch. Nur ein Wunder konnte den Tod noch aufhalten, und Huntley glaubte nicht an Wunder.
Er neigte sich vorsichtig nach vorn und legte Morris auf den Boden. »Ich hole einen Arzt«, sagt er und löste die Gepäckriemen von den Schultern.
»Nein«, keuchte Morris. »Sinnlos. Keine Zeit.«
»Ich könnte wenigstens die Polizei holen«, schlug Huntley vor. Er dachte an den grausamen Gentleman, der eiskalt zugestochen hatte. Seine scharfen Gesichtszüge verdankte er vermutlich ähnlich rücksichtslosen Menschen, die seit Generationen untereinander heirateten und sich fortpflanzten. »Ich habe die Gesichter der Männer deutlich gesehen. Die meisten könnte ich beschreiben und dafür sorgen, dass sie vor Gericht kommen.«
Morris verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln. »So enden Sie auf dem schnellsten Weg tot in einer Gasse, mein Freund.«
Huntley fragte sich, wer diese Männer waren, die wie ganz normale Straßenräuber einen Mann in einer Gasse überfielen, aber offenbar viel Macht besaßen. Vielleicht eine kriminelle Organisation. Mit einem betuchten Herren in ihren Reihen. War so etwas möglich? Er konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Da er wusste, dass sein Gesicht das Letzte sein würde, was Morris vor seinem Tod sah, sagte er: »Ich heiße Huntley.«
»Anthony Morris.« Die zwei schüttelten sich ungelenk die Hand, und anschließend klebte auch an Huntleys Fingern Blut.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun, Morris?«, fragte er. Nach dem dunklen Blut zu urteilen, das aus Morris’ Kleidung sickerte, blieb nicht mehr viel Zeit.
Morris runzelte die Stirn und begann zu sprechen, doch Huntley wurde abgelenkt. Der an der Mauer zusammengesackte Angreifer hatte still und leise das Bewusstsein wiedererlangt. Jetzt kauerte er neben ihnen und flüsterte in seine hohlen Hände. Als Huntley genauer hinsah, bemerkte er in den Händen des Mannes etwas, das in erstaunlicher Weise an ein kleines Wespennest erinnerte – allerdings bestand dieses hier aus Gold. Auf einmal erfüllte ein lautes, durchdringendes Brummen die Gasse, und das goldene Nest begann zu leuchten. Unfassbar.
Nirgends auf der Welt hatte Huntley je so etwas gesehen. Und dabei hatte er die ungewöhnlichsten Dinge erlebt. Bei diesem Anblick erstarrte er.
Während der Mann in seinem Flüstern fortfuhr, verstärkte sich das Summen, und das Nest strahlte heller. Dann tauchte in der Öffnung des Nestes der Schein einer winzigen metallenen Wespe auf. Wie von allein bewegte sich Huntleys Hand in Richtung des rätselhaften Spektakels. Da schoss plötzlich ein Schwarm Wespen aus dem Nest direkt auf Huntley und Morris zu. Und Huntley war noch immer wie gelähmt.
Ächzend und stöhnend drehte sich Morris in Huntleys Armen und schaffte es, ihn mit sich auf den Boden zu reißen. Sie drückten sich flach auf das feuchte Pflaster. Gerade noch rechtzeitig. Denn wie die Gewehrsalve einer Gatling krachten Dutzende von Wespen hinter ihnen in die Mauer. Mörtel und Backsteinsplitter regneten auf Huntley herab, der schützend den Arm über sich und Morris hielt. Er streckte rasch die Hand aus und griff sich ein Holzbrett von einer Kiste, die bei der Schlägerei zu Bruch gegangen war. Am einen Ende standen Nägel hervor. Das schleuderte er dem Mann mit dem Wespennest entgegen. Als das Brett ihn am Kopf traf, schrie der Mann vor Schmerz auf. Er rappelte sich hoch und wieselte, eine Hand an den blutenden Schädel gepresst, in der anderen das Wespennest, davon. Huntley hätte den angeschlagenen Mann leicht einholen können, aber in ein paar Minuten war Morris tot, und er hatte genug Menschen sterben sehen, um zu wissen, dass man in diesem Moment nicht allein sein sollte.
Vielleicht würde er Morris im Jenseits begegnen. Huntley hob den Blick zu der Mauer hinter sich. Genau an der Stelle, wo sich zuvor sein Kopf befunden hatte, war die Wand von zwei Dutzend Einschusslöchern durchsiebt. Hätte Morris ihn nicht umgestoßen, würden diese Löcher jetzt seinen Schädel zieren, und sein Gehirn wäre über halb Southampton verteilt. Das wäre ihm nicht gut bekommen.
»Was zum Teufel war das?«, fragte er Morris. Huntley setzte sich vorsichtig auf, Morris lehnte sich an ihn. »Wespen anstelle von Kugeln? Aus einem strahlenden goldenen Nest?«
Morris hustete, wobei ein weiterer Schwall Blut durch seine Finger drang. »Kümmern Sie sich nicht darum. Ich muss Ihnen etwas sagen. Sie müssen für mich eine Nachricht übermitteln. Sie muss … persönlich überbracht werden.«
»Natürlich.« Huntley verdankte Morris sein Leben. Es war seine Pflicht, ihm gefällig zu sein. Dabei spielte es keine Rolle, dass Morris innerhalb der nächsten Minuten sterben würde. Das war ein ehernes Gesetz. Wenn die Welt zum Teufel ging, musste man die Ehre hochhalten. »Haben Sie einen Brief? Soll ich etwas aufschreiben?« In seinem Gepäck befanden sich ein paar Bücher, und er hätte bereitwillig ein paar Seiten für Morris’ Nachricht geopfert.
Morris schüttelte schwach den Kopf. »Ich darf nichts aufschreiben. Und selbst wenn, die Post würde es nicht ausliefern.«
Eine Nachricht, die man nicht aufschreiben durfte. Ein Ziel, das der weit vernetzte britische Postdienst nicht bediente. Die Sache wurde immer seltsamer. Huntley fragte sich langsam, ob er vielleicht irgendwo betrunken im Rinnstein lag. Vielleicht war das alles nur eine durch Whisky hervorgerufene Wahnvorstellung. »Wer ist der Empfänger?«
»Mein Freund Franklin Burgess.« Morris biss die Zähne zusammen, als ihn eine frische Schmerzwelle durchströmte. Huntley tat sein Bestes, um ihn zu beruhigen, und strich ein paar feuchte Haarsträhnen aus Morris’ Stirn. »In Urga. In der Äußeren Mongolei.«
»Das ist … ziemlich weit entfernt«, stieß Huntley hervor, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.
Ein geisterhaftes Lächeln spielte um Morris’ Lippen. »Auf jeden Fall. Ich war auf dem Weg zu einem Schiff, das mich dorthin bringen sollte, als …« Er deutete mit dem Kopf auf die schwere Wunde in seinem Bauch, und sein Lächeln erstarb. Mit der freien Hand griff er nach Huntleys Jackett. Es überraschte Huntley, dass Morris noch über so viel Kraft verfügte, doch Morris’ Aufregung wuchs. Huntley versuchte, ihn zu beruhigen, aber vergeblich. Morris drehte beinahe durch und verschwendete seine letzte Kraft darauf, Huntley näher zu sich heranzuziehen. »Bitte. Sie müssen Burgess diese Nachricht bringen. Tausende von Menschenleben stehen auf dem Spiel. Ach, mehr. Viel mehr.«
Huntley zögerte. In seiner Tasche steckte Inwoods Brief. Eine ruhige Zukunft lockte. Wenn er Morris’ Bitte nachkam, musste er seine Pläne, in Leeds sesshaft zu werden, verschieben. Doch ein Abenteuer in der Fremde schien Huntley unendlich viel attraktiver als Ruhe und Beständigkeit. Das konnte man allein daran erkennen, dass er sich, kaum zurück in England, in einen Kampf eingemischt hatte. Vermutlich war es nicht klug, aber das hatte Huntley noch nie interessiert. Und Morris hatte ihm das Leben gerettet, es war seine ultimative Pflicht. Er konnte es dem sterbenden Mann nicht verwehren.
»Geben Sie mir die Nachricht. Ich bringe sie ihm«, erklärte er.
Kurz schien Morris von Huntleys Zustimmung überrascht, dann zog er dessen Ohr zu seinem Mund herab. Huntley wusste nicht recht, was er erwartet hatte, doch ganz sicher nicht die beiden unsinnigen Sätze, die Morris mit schwacher Stimme in sein Ohr hauchte. Wie konnte das Leben von Tausenden von Menschen von etwas abhängen, das selbst ein Edward Lear nicht verstehen würde?
»Wiederholen Sie es«, drängte Morris. Sein Gesicht war wächsern und blass, seine Lippen zunehmend unbeweglich. Das Blut sickerte jetzt schwächer aus seiner Wunde. Die Quelle schien beinahe versiegt.
Huntley kam sich mehr als lächerlich vor, als er Morris’ Nachricht wiederholte – drei Mal auf Morris’ Drängen hin –, bis der sterbende Mann zufrieden war.
»Gut. Sie müssen fahren. Noch heute Nacht. Das nächste Schiff geht … in zwei Wochen. Zu spät.«
Huntley hatte sich gefreut, nach England zurückzukehren, und es fiel ihm noch etwas schwer, sich gleich wieder von seiner Heimat zu verabschieden. Von seinem Ausscheiden aus der Armee besaß er etwas Geld, aber er bezweifelte, dass es für eine Reise ans andere Ende der Welt reichte. Als Soldat konnte man nicht reich werden, doch vielleicht zog es gerade deshalb so viele leichtsinnige Narren zur Armee. Er war einer von ihnen. Als ahnte er, was Huntley einwenden wollte, fügte Morris hinzu: »In meiner Manteltasche. Meine Papiere. Nehmen Sie meinen Platz auf dem Schiff.«
Huntley schwirrte der Kopf von den Erlebnissen der letzten Stunde, und so nickte er nur stumm. Dann kam ihm ein Gedanke. »Ich bezweifle«, sagte er, »dass mir dieser Mann, Burgess, glauben wird, wenn ich mit dieser etwas lächerlichen … verschlüsselten Nachricht vor seiner Tür stehe, und behaupte, dass Sie …« Obwohl beiden klar war, dass Morris die Gasse nicht lebend verlassen würde, brachte er den Satz nicht zu Ende.
Morris’ Augen lagen tief in den Höhlen und blickten ins Leere. Huntley konnte ihn kaum verstehen, als er sagte: »In der Innentasche meiner Weste.«
So vorsichtig er konnte, griff Huntley in die Innentasche von Huntleys Weste und zog einen kleinen runden Metallgegenstand hervor: einen Kompass. In der dämmerigen Gasse erkannte er lediglich winzige Gravuren auf dem Deckel, konnte die Sprache jedoch nicht entziffern. Er nahm an, dass es sich um Griechisch, Hebräisch oder vielleicht Sanskrit handelte, mit dem er sich ein bisschen auskannte. Er öffnete den Deckel. Jede Himmelsrichtung wurde von einer anderen Klinge repräsentiert: dem Pugiodolch römischer Soldaten, dem Florett europäischer Duellanten, dem Krummsäbel aus dem Nahen Osten und dem gefährlich gebogenen Kris aus Ostindien. In der Mitte des Kompasses befand sich eine klassische englische Rose. Aufgrund des Gewichts vermutete Huntley, dass es sich um ein sehr wertvolles altes Stück handelte. Wie duftender Rauch schienen leise Stimmen aus der Vergangenheit daraus aufzusteigen, die ihn stärker als jede Sirene an ferne Küsten lockten. Außergewöhnlich.
»Geben Sie den Burgess.« Morris atmete flach. »Sagen Sie ihm ›Ewig ist der Norden‹, dann weiß er Bescheid.«
»Das mache ich, Morris«, erklärte Huntley aufrichtig und ernst.
»Danke«, keuchte er. »Danke.« Er schien sich endlich zu entspannen und sich nicht länger gegen das Unvermeidliche zu wehren.
»Gibt es noch jemand anders, den ich benachrichtigen soll? Ihre Familie vielleicht?«
»Nein, niemanden. Meine einzigen Verwandten … erfahren es früh genug.« Bei diesen Worten lief ein Zucken durch Morris, sein Körper bäumte sich ein letztes Mal auf und klammerte sich an die vertraute Welt. Beinahe entglitt er dabei Huntleys Armen, und aus seiner Kehle löste sich ein erstickter Laut. Dann sackte er mit offenen Augen zurück. Es war vorbei.
Huntley blickte hinunter in das Gesicht des toten Mannes. Morris konnte nicht älter als vierzig oder fünfundvierzig Jahre sein. Ein gesunder Mann, kein Berufssoldat, aber gut in Form. Er war edel gekleidet, ohne dabei protzig zu wirken. Die Qualität seiner Kleidung ließ auf einen Lebensstandard schließen, den sich nur wenige leisten konnten. Huntley nicht. Es schien entwürdigend, dass Morris’ Leben nach einem unfairen Kampf so plötzlich in einer schmutzigen Gasse endete.
Huntley schloss Morris Augen. Er seufzte. Nein, er hatte sich noch nicht an den Tod gewöhnt, egal wie vertraut er war.
Zwei Stunden später stand Huntley an Deck der Frances und sah zu, wie sich die Lichter von Southampton in der Nacht immer weiter entfernten.
Schon wieder Adieu, dachte er.
Nach Morris’ Tod hatte Huntley die Reisepapiere aus seiner Tasche geholt und festgestellt, dass das Schiff in Kürze auslief. Es blieb keine Zeit, die Polizei zu verständigen, denn das würde mit Sicherheit ein langes Verhör nach sich ziehen. Womöglich hätte er bis zur Aufklärung des Mordes das Land nicht verlassen dürfen. Das konnte Wochen dauern, und Morris hatte ihm versichert, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Also hatte Huntley Morris’ Leiche vorsichtig auf den Boden gelegt und den Mantel des Mannes über sein Gesicht gezogen. Überall an seiner Kleidung klebte Morris’ Blut. Blutbefleckt ein Schiff zu besteigen, schien ihm weder eine angenehme Vorstellung noch sehr passend. Er hatte in seinem Gepäck frische Kleider zum Wechseln gefunden, die verschmutzten Sachen in eine Decke gewickelt und sie wieder in seinem Gepäck verstaut. Besser die Polizei fand keinen Hinweis auf seine Identität, wenn sie Morris’ Leiche entdeckte.
Huntley hatte Morris mit überaus schlechtem Gewissen allein in der dunklen Gasse zurückgelassen, doch er konnte es nicht ändern. Der Erste Steuermann der Frances hatte ihm aufgrund der Papiere abgenommen, dass er Anthony Morris aus Devonshire Terrace in London war und ihm eine Kabine zugewiesen, die deutlich luxuriöser als die auf seiner Heimreise war. Als das Schiff den Anker lichtete, hielt Huntleys ruheloses Herz es in der eleganten Kabine mit den Messingbeschlägen und gerahmten Stichen nicht mehr aus. Zusammen mit ein paar anderen Passagieren fand er sich an Deck ein und sah zu, wie sich die Küste Englands entfernte.
»Wir fahren nach Konstantinopel.« Huntley drehte sich um und sah sich einer eleganten jungen Frau gegenüber, die ihn fröhlich anstrahlte. Ihre Mutter stand daneben und hatte ein wachsames Auge auf den Flirt ihres Sprosses. Offenbar wusste sie aber genug über »Mr. Morris«, um ihn als passende Begleitung für eine Schiffsromanze zu akzeptieren. Huntley beschlich Panik.
»Das ist meine erste Auslandsreise«, fuhr das Mädchen unbeirrt fort. »Ich kann es kaum erwarten, aus dem langweiligen alten Shropshire fortzukommen.« Sie erwartete mit einem hübschen Lächeln seine entsprechend charmante Antwort. Auf seinem Rücken bildete sich ein leichter Schweißfilm.
»Ich kannte mal jemand in Konstantinopel«, sagte Huntley schließlich. »Ein exzellenter Schütze. Einmal hat er einen Moskito von dem Hinterteil eines Büffels geschossen.«
Das Mädchen starrte ihn mit offenem Mund an, errötete, drehte sich um und flüchtete, so schnell sie konnte, in die schützenden Arme ihrer Mutter. Nachdem die Mutter ihn mit einem entsprechenden Blick gestraft hatte, verschwanden beide. Vermutlich verbreiteten sie nun überall, dass Mr. Morris der ordinärste Mann mit den schlechtesten Manieren auf dem ganzen Schiff sei, schlimmer noch als der einäugige Koch, ein saufender Atheist.
Vielleicht war es gut, wenn er sich noch eine Zeit lang von England fernhielt. Nach seiner Rückkehr musste Huntley auf Brautschau gehen, und nach der letzten Begegnung zu urteilen, musste er vorher dringend an seiner Konversation arbeiten. Es ging eben nicht spurlos an einem Mann vorbei, wenn er fünfzehn Jahre fern von der Gesellschaft ehrenwerter Damen verbracht hatte.
Vor ihm lag aber ein noch größeres Rätsel als der weibliche Verstand. Huntley griff in seine Tasche, zog den beeindruckenden Kompass hervor und starrte auf den Deckel. Als könnte er so die Schrift so entziffern, rieb er mit dem Daumen darüber. Dann klappte er ihn auf und betrachtete die vier Klingen, die die vier Himmelsrichtungen symbolisierten. Selbst er erkannte, dass es sich um ein altes und wertvolles Stück handelte, dass voller Rätsel steckte.
Ja, es würde sehr interessant werden. Kein Leeds, keine Arbeit und keine Frau, zumindest noch nicht. Auf seinen Lippen erschien ein schiefes Lächeln. Er wandte der englischen Küste den Rücken zu und kehrte nach unten in seine Kabine zurück.
2
EINE RÄTSELHAFTE NACHRICHT
Urga, Äußere Mongolei. 1874. Drei Monate später.
Ein Engländer hielt sich in Urga auf.
Die Stadt war Fremde gewohnt. Halb Urga wurde von Chinesen bevölkert; Kaufleuten, die Handel trieben, und Manchubeamten, die das Reich der Quing verwalteten. Auch die Russen hatten einen kleinen Stützpunkt im Ort. Das russische Konsulat gehörte zu den wenigen modernen Gebäuden der Stadt, die überwiegend aus Filzzelten, den sogenannten Gers, und buddhistischen Tempeln bestand. Es schien also nicht ganz ungewöhnlich, dass sich ein Ausländer in der Stadt aufhielt.
Doch Engländer waren eher selten und für Thalia Burgess beunruhigend.
Sie eilte durch das, was man hier als Straßen bezeichnete, und drängte sich an den Menschen vorbei. Eine Menschenansammlung in einem so weiten offenen Land wirkte seltsam. Wie ein typischer Mongole war Thalia in einen Del gekleidet, eine dreiviertellange Tunika mit Stehkragen, die man an der rechten Schulter mit Knöpfen schloss. Um die Taille hatte sie eine Schärpe aus roter Seide gebunden. Darunter trug sie Hosen, die in Stiefeln mit nach oben gebogenen Spitzen steckten. Wie ihr Vater stammte Thalia aus England, doch beide lebten bereits so lange in der Mongolei, dass sie selbst den einsamsten Nomaden kaum noch auffielen. Niemand beachtete sie, als sie durch das Labyrinth aus Straßen zu den beiden Gers lief, die sie mit ihrem Vater bewohnte.
Sie unterdrückte ihre aufsteigende Panik. Auf dem Markt hatte sie gehört, dass ein Engländer in diesen entlegenen Teil der Welt gekommen war. Das allein reichte, um sie zu beunruhigen. Noch schlimmer war, dass sich dieser Fremde nach ihrem Vater, Franklin Burgess, erkundigt hatte. Sie war sofort zurückgelaufen. Denn selbst mithilfe der Bediensteten war ihr Vater nicht in der Lage, sich gegen die Erben zu verteidigen.
Als Thalia durch die Straßen eilte, wich sie einer Gruppe Mönche in safrangelben Gewändern aus, darunter einige Jungen, die zu Lamas ausgebildet wurden. Als sie an einem Tempel vorbeikam, aus dem Mönchsgesang drang, blieb sie abrupt stehen. Sie drückte sich rücklings gegen die Mauer und versteckte sich hinter einer bemalten Säule.
Da war er. Der Engländer. Sie erkannte ihn sofort an seiner Kleidung ein robuster Mantel, Khakihosen, hohe Stiefel und ein zerbeulter Filzhut mit breiter Krempe auf den blonden Haaren. Er führte Gepäck mit sich, und über seiner Schulter hing ein Gewehr in einem Futteral. An der linken Hüfte trug er eine Pistole, an der rechten ein Jagdmesser mit Horngriff. Die gesamte Ausstattung wirkte, als hätte er sie schon häufig benutzt. Ein Reisender. Er war groß und überragte die Menge beinahe um einen halben Kopf. Da er sich von ihr entfernte, konnte Thalia sein Gesicht nicht erkennen und wusste nicht zu sagen, ob er jung oder alt war. Sein lässiger, selbstbewusster Gang deutete allerdings eher auf einen jüngeren Mann hin. In seinem derzeitigen Zustand konnte ihr Vater es nicht mit einem jungen, gesunden, bewaffneten Mann aufnehmen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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