Die Legenden von Avany: Bryans Herz - Sandra Gernt - E-Book

Die Legenden von Avany: Bryans Herz E-Book

Sandra Gernt

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gay Fantasy Der finale Teil der Legenden! Shias jüngste Prophezeiung schickt ihn gemeinsam mit Nayr und Wyr nach Omoy. Er muss dorthin zurück, wo alles begann, und die Zeit drängt. Der Feind – der geheimnisvolle Puppenmeister – greift nach der Gabe der Götter. Sollte er sie jemals in die Hände bekommen, wird alles Leben dieser Welt unweigerlich enden. Währenddessen warten Eska und Arym auf die Rückkehr des Lichts, während sie unentwegt unter Angriff stehen. Was haben all diese seltsamen Prophezeiungen zu bedeuten? Welcher Thron ist es, der in Flammen steht? Und welche Rolle spielt Bryans Herz, das Herz des Königs von Avany? 3. Teil der Legenden von Avany Ca. 78.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 380 Seiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gay Fantasy

 

Der finale Teil der Legenden! 

Shias jüngste Prophezeiung schickt ihn gemeinsam mit Nayr und Wyr nach Omoy. Er muss dorthin zurück, wo alles begann, und die Zeit drängt. Der Feind – der geheimnisvolle Puppenmeister – greift nach der Gabe der Götter. Sollte er sie jemals in die Hände bekommen, wird alles Leben dieser Welt unweigerlich enden.

Währenddessen warten Eska und Arym auf die Rückkehr des Lichts, während sie unentwegt unter Angriff stehen.

Was haben all diese seltsamen Prophezeiungen zu bedeuten? Welcher Thron ist es, der in Flammen steht? Und welche Rolle spielt Bryans Herz, das Herz des Königs von Avany?

 

3. Teil der Legenden von Avany

 

Ca. 78.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 380 Seiten.

 

Bryans Herz

Buch 3

von

Sandra Gernt

 

 

Kapitel 1: Heimatklänge

Kapitel 2: Totenklage

Kapitel 3: Überraschungsbegegnung

Kapitel 4: Erinnerungen

Kapitel 5: Drei Schritte vor, zwei zurück

Kapitel 6: Alles im Fluss

Kapitel 7: Flüstern im Wind

Kapitel 8: Der Herr der Lüfte

Kapitel 9: Es war einmal in Takis

Kapitel 10: Mondschatten

Kapitel 11: Drachengesang

Kapitel 12: Die Elementarherrscher

Kapitel 13: Das Ritual

Kapitel 14: Bryans Herz

Epilog: Was noch zu sagen übrig blieb …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Der Puppenmeister streckt die Hand, er greift nach dem göttlichen Preis. Und alles wird verloren sein und kein Leben sich mehr regen, und alles ist verloren, in dem Moment, in dem er gewinnt. Des Königs Herz steht auf dem Spiel. Brennen muss der Thron! Der Weg führt nach Süden, zurück, wo es begann. Kein Opfer zu groß. Ein Herz für ein Herz.“

Shias‘ Prophezeiung

 

 

 

Heimatklänge

 

n diesem Morgen war alles wunderschön und friedlich. Die Sonne schien, es war angenehm warm, man hörte sogar einige Vögel zwitschern, obwohl es so spät im Jahr war.

Nayr saß aufrecht auf seinem Nachtlager, lehnte sich an die Wand ihrer magisch errichteten Behausung. Wider Erwarten hatte er tief und fest geschlafen. Vielleicht stumpfte er mittlerweile schon ab? Es war so viel in solch kurzer Zeit geschehen, dass er für einen Moment rekapitulieren musste, was genau gestern vorgefallen war … und die Wochen davor …

Ah. Gewiss. Sie hatten Armaya gefunden, diese uralte Kreatur, die als Manifestation des Elements der Erde ihren Platz im großen Ritual übernehmen sollte.

Jenes Ritual, mit dem das heilige Artefakt der Götter gesichert werden sollte. Das Artefakt, das Nayr Tag und Nacht auf dem Rücken trug. Das jedes magische Wesen von Avany angezogen hatte, inklusive einiger sehr unangenehmer alter Kreaturen, die seit tausenden von Jahren in Tiefschlaf gelegen hatten und von denen jede Einzelne in der Lage wäre, das gesamte Königreich zu entvölkern.

Eben jenes Artefakt, das der Feind erobern wollte, um sich die Macht eines Gottes anzueignen, die keinem sterblichen Wesen zustand – und zudem im schlimmsten Fall die Welt vernichten könnte, weil man das Artefakt dazu missbrauchen konnte, die gesamte Magie an sich zu reißen, die die Tiefen der Erde durchströmten. Ohne diese magischen Ströme war kein Leben möglich.

Jesir, die Nymphe, die ihre wichtigste Verbündete geworden war, hatte ihnen einiges erklärt, was sie wissen und verstehen mussten, um mit dem Artefakt umherziehen zu können, ohne damit auf Schritt und Tritt Katastrophen anzurichten. Wobei sie allerdings durchaus ein wenig zurückhaltend mit den notwendigen Informationen gewesen war, weshalb es zu gewalttätigen Begegnungen mit den alten Wesen kam und Wyr, ihr treuer Wyvernfreund, sich für eine Weile von ihnen hatte trennen müssen, damit er diese Kreaturen zurück in den Tiefschlaf zwingen konnte.

Derweil waren Nayr und Shias auf ihre eigene Abenteuerreise gegangen, ohne jede Begleitung. Hatten sich von Prophezeiungen geleitet zum Königsschloss von Avany begeben, wo die Begegnung zwischen Shias und König Bryan, Nayrs Bruder, nicht allzu gut verlaufen war. Immerhin hatte sich Shias rasch aus dem Verlies befreien können, ohne Folter oder größeres Leid erdulden zu müssen.

Die Tunnelkobolde, die sie anschließend zu Hilfe gerufen hatten, um den prophezeiten Herrn der Wyvernhöhe zu finden, bei dem es sich nicht um den König selbst handeln konnte, waren freundlich und ehrfürchtig ihnen gegenüber gewesen. Mit ihrer Unterstützung war es zu einer hochgradig unangenehmen, aber wichtigen Begegnung mit einem schlafenden Drachen gekommen. Lór war brutal und rücksichtslos, doch er hatte sich bereit erklärt, seinen Platz im Ritual einzunehmen, für das machtvolle Vertreter jedes Elements benötigt wurden. Freundlicherweise hatte Lór nicht versucht, das Artefakt dabei für sich zu beanspruchen oder sie kurzerhand aufzufressen.

Danach hatten sie Armaya aufgesucht, was eine lange Wanderung in den Norden erforderte. Am Tränensee, dem Zusammenfluss gleich mehrerer von den eindrucksvollsten Wasserfällen, die Nayr sich nicht einmal hatte vorstellen können, hatten sie diese uralte, äußerst merkwürdige Kreatur gefunden. Sie hatte die Gestalt einer harmlosen Menschenfrau genutzt, um weniger erschreckend auf sie zu wirken, und einige sehr interessante Dinge zu sagen gehabt. Etwa, dass sie den Namen Jesir für die Nymphe nutzen durften, die sich bis dahin jeder persönlichen Bezeichnung entzogen hatte. Dass es gar nicht zwanghaft der machtvollste Vertreter seines Elementes auf dieser Welt sein musste, der für das Ritual ausgewählt wurde; es genügte, wenn es jemand mit ansehnlicher magischer Macht über das entsprechende Element war. Sobald der Hüter des Artefakts eine Übereinkunft mit einem magisch begabten Wesens hatte, konnte derjenige sich seiner Pflicht nicht mehr entziehen, er musste am Ritual teilnehmen, und konnte nur dann ersetzt werden, wenn er zuvor den Tod fand.

Exakt das war Armaya geschehen … Kaum hatte sie ihre Zustimmung gegeben, war sie von über einem halben Dutzend Kreaturen der Tiefe attackiert worden. Ihre letzte Tat hatte darin bestanden, Nayr und Shias in einer aus Erdmagie geformten Riesenfaust in Sicherheit zu bringen, bis sie fast mit Wyr zusammengetroffen waren. Der hatte sich auf die Suche nach ihnen begeben, sobald er seine Pflicht erledigt hatte. Armaya war tot, und es bestand kein Zweifel, dass dies das Werk des Feindes war, der das Ritual verhindern musste, um seine Ziele zu erreichen.

Armaya hatte ihnen klargemacht, dass Nayr gerade das bedeutsamste Wesen dieser Welt war – er war der Hüter des göttlichen Artefakts, der Garant für Magie und somit Überleben der diversen Völker. Dabei hatte er das verdammte Ding bloß übernommen, weil es Shias und Wyr spürbares Unbehagen bereitet hatte, ihm nah zu kommen, solange sie es noch nicht geschafft hatten, es effektiv vor Entdeckung abzuschirmen. Eine Drachenschuppe, gespendet von Wyr, war dazu notwendig gewesen.

Eine weitere Prophezeiung hatte sie dazu gedrängt, sich sofort in den Süden aufzumachen, nach Omoy. Der Feind hatte möglicherweise König Baruk, den Herrscher von Omoy, längst unter Kontrolle gebracht, was den unsinnigen Krieg gegen Avany erklären würde. Sie gingen nicht davon aus, dass Baruk selbst der Feind war, doch dafür fehlte noch jeder Beweis. Vielleicht wurde auch Bryan kontrolliert oder stand in Gefahr, angegriffen zu werden – die Prophezeiung hatte es mit Bildern von brennenden Thronen und einer unverständlichen Aussage angedeutet, dass das Herz des Königs auf dem Spiel stand.

Sie sollten also in den Süden gehen, dorthin, wo alles begann. Shias hatte es für sich dergestalt interpretiert, dass er nach Radinburg eilen musste, weil das Abenteuer dort für ihn seinen Anfang genommen hatte. In diese Stadt hatte man ihn geordert, um für den Krieg gegen Avany eingezogen zu werden. Er erinnerte sich schemenhaft an den Weg, den er damals gegangen war, an das seltsame Auswahlverfahren. Danach war ihm etwas Schreckliches widerfahren, was ihn beinahe an Geist und Verstand gebrochen hatte. Die Erinnerungen lagen unter Seelentrümmern begraben, sie wussten lediglich, dass es mit einem jungen Mann namens Fynn zusammenhing, der mit Shias gemeinsam ausgewählt wurde, um als Attentäter nach Avany zu ziehen und wichtige Mitglieder des Kronrates zu ermorden. Shias war anfangs, als er auf Wyr gestoßen war, vollkommen desorientiert und traumatisiert gewesen. Danach hatte er sich scheinbar vollständig erholt, doch Nayr wusste, wie fragil sein Liebster war. Wie leicht er wieder zerbrechen konnte, sollten die verdrängten Erinnerungen zurückkehren.

Dank eines magischen Tricks von Shias teilte Nayr dessen Gedanken, Erinnerungen und Gefühle, genauso wie Shias umgekehrt alles über ihn wusste. Eigentlich sollte das bloß vorübergehend sein und niemals derart in die Tiefe gehen. Eine magische Hilfe, dazu gedacht, damit Shias bei der Audienz mit König Bryan auf die richtige Weise reagieren konnte. Als sie merkten, wie tief der Bund tatsächlich ging, wollten sie die Magienadeln eigentlich beseitigen und hatten sich dann, als es soweit war, doch dagegen entschieden – auf seltsame Weise war es sowohl unglaublich beängstigend als auch unglaublich schön, einander so nahe zu sein, als wäre man zu einem einzigen Lebewesen verschmolzen. Allein die Orgasmen, wenn sie beisammen waren … Mittlerweile hatten sie gelernt, sich zurückzunehmen, sodass sie nicht mehr permanent jede Empfindung und jeden Gedanken des anderen teilen mussten und etwas Privatsphäre möglich war. Man wollte schließlich auch mal allein sein, etwas Peinliches tun oder denken, ohne sich beobachtet zu fühlen. Es funktionierte ausgezeichnet und Nayr wollte gar nicht mehr allein sein müssen. Auf gewisse Weise war er sein gesamtes Leben lang einsam gewesen, obwohl sich stets Menschen um ihn herum befunden hatten.

Jedenfalls wusste er dank dieser Verbundenheit, wie Fynn ausgesehen hatte und wie schwer es für Shias werden würde, diesem Albtraum zu begegnen. Sich womöglich an das zu erinnern, was ihm angetan wurde. Magische Folter, die grauenhafte Schäden an seinem Gehirn angerichtet hatten, Folter, die seine Seele in Stücke gerissen hatte. Jesir hatte ausdrücklich davon abgeraten, diese Erinnerungen zu bergen. Fynn war tot. Mehr hatte sie nicht sagen wollen.

Nayr verließ die Unterkunft. Es war Zeit, sich dem neuen Tag zu stellen. Was vor ihnen lag, war beängstigend genug, sich heulend zusammenrollen zu wollen, um ihm nicht begegnen zu müssen. Leider hatte er in den vergangenen Tagen, seit er von Wyvernhöhe aufgebrochen war, um die Kriegsschäden in einer kleinen Grenzstadt zu besichtigen, vieles lernen müssen. Dass es nicht half, sich heulend vor dem zu verstecken, was man fürchtete, gehörte dazu. Diese Dinge hatten zu oft die Eigenschaft, einen dennoch aufspüren zu können, und manche besaßen extrem lange, spitze Zähne … Oder Schwerter in den Händen.

 

Auf Shias‘ Bitte hin waren sie vergangene Nacht nicht bis nach Radinburg geflogen, sondern hatten unweit von seinem Zuhause übernachtet. Es war eine schlaflose, harte Nacht für ihn gewesen, mit Nayr im Arm, der selig geschlummert hatte, genau wie Wyr. Von Nayrs wirren Träumen hatte er sich fernhalten können, es stand ihm nicht zu, sie mitzuverfolgen. Ihm genügte es zu wissen, dass sein Liebster Ruhe fand, sich erholen konnte, keinerlei Albträume durchleiden musste, obwohl sie wahrlich genügend Schrecken erlebt hatten, um von Rechts wegen niemals mehr friedlich träumen zu können. Nayr war erstaunlich widerstandsfähig, vor allem seit er größtenteils aufgehört hatte, sich selbst als feigen, nutzlosen Schwächling zu betrachten. Gänzlich würde er diesem Empfinden vielleicht niemals entkommen können, aber es konnte nur gut für ihn sein, wenn er seine eigene Stärke begriff.

Shias hingegen wusste, dass er bereits einmal vollständig zusammengebrochen war. Er musste dem begegnen, was unerträglich war, und das hatte ihm genauso den Schlaf geraubt wie die erschütternden Ereignisse, die ihnen widerfahren waren. Armayas Tod war so brutal und sinnlos gewesen! Sie hatte sich geradezu begeistert und regelrecht mit Erleichterung der Übermacht ihrer Feinde gestellt. Beinahe, als hätte sie den Tod als Erlösung von einem sinnentleerten Dasein begrüßt. Als wäre sie dem Feind, der ihr das Leben geraubt hatte, dankbar gewesen. Was sagte es über ihn, wie gut er sie verstehen konnte? Auch er hatte bereits um den Tod als Erlösung gefleht. Es war einer von Nayrs Albträumen …

Er stand nun sicherlich seit einer halben Stunde auf einem Hügel und blickte über das Land, während die aufgehende Sonne sich durch den Morgennebel kämpfte. Die eisigen Winde berührten ihn nicht. Der Nebel war ihm gleichgültig. Er lauschte einzig und allein dem Klang seiner Heimat. Dem vertrauten Vogelgezwitscher, auch wenn nur wenige von ihnen hier überwinterten und sie jetzt, im fortschreitenden Herbst, eher stumm blieben. Er hörte Schafe, die auf der Weide standen und das letzte kümmerliche Gras fraßen, das sie finden konnten. Er hörte Hunde in der Ferne bellen. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich genau vorstellen, wie es gerade in diesem Moment im Haus seiner Familie klang. Das muntere Schwatzen seiner Brüder, Lyk und Tirio, die sich gegenseitig neckten und aufzogen, während sie sich für den Tag vorbereiteten. Vater, der Yeso und Kyrm, den beiden Knechten, die ersten Befehle erteilte, was als heutiges Tageswerk getan werden musste, und die Söhne streng ermahnte, nicht zu trödeln, damit sie endlich zu Tisch gehen und frühstücken konnten. Schließlich wollten sie noch aus dem Buch der Heiligen lesen, die täglichen Kampfübungen standen aus und das geringer werdende Tageslicht musste für allerlei Arbeit genutzt werden.

Mutter und Amia, die Magd, hatten sicherlich längst die Hühner versorgt und waren jetzt dabei, das Frühstück zuzubereiten. Er sah sie vor seinem geistigen Auge, hörte, wie sie mit Töpfen und Pfannen klapperten, das Herdfeuer entzündeten, dabei jede für sich ein Lied vor sich hinsummte. Sie waren beide nicht allzu redselig vor dem Frühstück.

Shias hörte das Krähen der Hähne, die Raben, die in den umliegenden Bäumen laut wurden. Womöglich stritten sie sich um etwas, das einer von ihnen erbeutet hatte, oder sie erzählten sich Geschichten, die kein dummes Menschlein verstand. All das sah und hörte er so deutlich vor sich, als wäre er ein Geist aus den Legenden, aus dem Totenreich heimgekehrt, um nach seiner Familie zu sehen, die ohne ihn weitermachen musste. Ihm gefiel es, wie glücklich sie waren. In seiner Vorstellung fehlte es ihnen an nichts und sie vermissten ihn auch nicht. Als hätten sie ihn vergessen. Andere würden das vielleicht als schrecklich empfinden, dieses Vergessen, für ihn war es eine tröstliche Traumvorstellung. Wie viel schlimmer wäre es, wenn sie leiden würden, täglich um ihn weinen müssten? Nein, das wünschte er sich nicht für seine Lieben.

Shias hielt die beiden Geburtsketten fest in der Hand, während er sich nach Hause zu seiner Familie träumte. Seine eigene Kette, die ihm am Tag seiner Geburt verlieren worden war, dem siebzehnten Tag des Schmelzmondes, dem ersten Frühlingsmond. Dieser Tag war Kiar geweiht, der Schutzheiligen der Quellen. Die Nähe zum Element Wasser war ihm somit wohl in die Wiege gelegt worden. Die andere Kette gehörte seinem Bruder Lyk, der sie ihm als Glücksbringer aufgezwungen hatte. Sie symbolisierte die Frühlingsgöttin Nidis selbst, da Lyk an einem der ungeweihten Tage im Brachemond geboren wurde, jenem Mond im Übergang zum Sommer, wo die brachliegenden Felder gepflügt wurden.

Er plante, die Kette heimlich zu überbringen, bevor sie weiterzogen. Wyr würde ihm sicherlich dabei helfen, sie in Lyks Tasche zu schmuggeln, ohne dass sein Bruder es bemerkte.

Er spürte Nayr in seiner Nähe, der das Wasser nutzte, das Shias für ihn bereitgestellt hatte, um sich zu erfrischen. Auch Wyr war mittlerweile aus seinem Schlaflager aus Glühsteinen hervorgekrochen, hatte die Unterkunft zurück in Steine und Geäst zerfallen lassen und flatterte in seiner Winzlingsgestalt umher, auf der Suche nach Insekten für sein Frühstück. Shias wartete, bis ihr geflügelter Freund seinen Hunger gestillt hatte, bevor er sich mit seiner Bitte an ihn wandte.

„Warum besuchen wir deine Familie nicht einfach?“, fragte dieser verblüfft. „Ich dachte, das wäre die Absicht gewesen, weswegen wir heute Nacht in diesem Gebiet geblieben sind?“

„Bei den Vieren, nein!“, rief Shias entsetzt. „Ich kann meiner Familie nicht gegenübertreten! Sie würden tausende Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann oder darf. Sie würden wissen wollen, warum ich nicht bei ihnen bleiben kann. Wer Nayr ist. Warum ich nicht meiner Pflicht für mein Vaterland folge und in diesem Moment auf dem Schlachtfeld stehe. Oder als Attentäter durch Avany streife, wenn ich ihnen sage, dass das mein Befehl war. Sie würden glauben, dass ich fahnenflüchtig geworden bin. Dass ich Omoy und meine Herrscher verraten habe. Damit hätten sie ja sogar recht, denn egal wie gut meine Gründe sein mögen, ich bin ein fahnenflüchtiger Verräter. Nun, natürlich müssten sie mich sofort ausliefern. Wie könnte ich sie in diese Position bringen? Ihnen das antun, wenn ich doch einfach bloß hätte fernbleiben müssen, wenn mir ihr Wohlergehen tatsächlich am Herzen liegt?“

„Sie sind deine Familie und du liebst sie wie verrückt“, sagte Wyr und schüttelte verwirrt den Kopf. „Du musst ihnen einfach nur die Wahrheit erklären, bis sie alles verstanden haben, dann werden sie dich nicht ausliefern. Ich weiß, dass sie dich ebenfalls wie verrückt lieben, sie würden nicht einmal darüber nachdenken, etwas zu tun, das derartig absurd ist.“

„Wyr, das hat überhaupt gar nichts mit Liebe zu tun! Sie wären dazu verpflichtet, denn wenn sie es nicht tun und erwischt werden, würde man sie alle töten. Ich könnte meine Familie niemals in solche Gefahr bringen!“

„Schnickschnack! Deine Mutter stammt von den Nonnit ab, was sie ihr Leben lang geheim halten konnte. Dein Vater ist ein hochgebildeter, kluger Mann, der dir und deinen Geschwistern Lesen, Schreiben und die Kriegskünste beigebracht hat. Dinge, die für Bauern verboten sind und was er ebenfalls geheim halten konnte. Warum also sollten sie nicht verstehen, was du tun musst? Warum sollten sie erwischt werden, wenn niemand weiß, wo du zu suchen bist?“

„Wyr, Menschen sind kompliziert“, rief Shias und verbarg das Gesicht unter den Händen, weil er dieses Gespräch kaum ertragen konnte. „Bitte glaube mir, dass es meiner Familie nicht an Liebe mangelt, lediglich an der Möglichkeit, sich selbst zu schützen. Es würde sie in vollkommen unnötige Gefahr bringen, wenn ich ihnen begegne und es würde sie so sehr verletzen, mich als Verräter begreifen zu müssen.“

„Wyr, er könnte ihnen auf keinen Fall die volle Wahrheit erzählen, es gibt tausende Dinge, die sie um keinen Preis erfahren dürfen“, sagte Nayr.

„So ist es“, rief Shias. „Wie sollte ich ihnen begreiflich machen, dass ich mit dem Thronfolger von Avany durch die Lande ziehe? Wie soll ich ihnen irgendetwas über das Artefakt erzählen? Wie könnte ich ihnen von meiner Magie erzählen, die in Omoy gleichbedeutend mit einer tödlichen Krankheit ist? Wie soll ich ihnen sagen, dass Fürst Amo, unser geliebter Landesherr, mich vermutlich so hart gefoltert hat, dass mein Geist schließlich in Stücke gebrochen ist?“

„Es ist nicht bewiesen, dass es Amo war“, murmelte Wyr. „Es muss jemand gewesen sein, der Magie beherrscht.“

„Sei es, wie es sei. Meine Eltern würden mich natürlich frei gehen lassen, doch ich würde ihnen derart viele Ängste und Sorgen aufbürden, weil sie nicht verstehen, in was ich hineingeraten bin, weil ich ihre Fragen abwehren müsste … Sie würden keine Nacht mehr ruhig schlafen können. Das könnte ich ihnen nicht antun, sie haben es nicht verdient, solches Leid aufgebürdet zu bekommen. Mich würde es ebenfalls zu Boden drücken, ihnen Kummer bereitet zu haben und am Ende hätte niemand etwas gewonnen.“

„Wenn Wyr die Kette zu deinem Bruder schmuggelt, werden sie nicht denken, dass du nichts mehr mit ihnen zu tun haben willst?“, fragte Nayr.

„Nein. Es gibt zahlreiche Legenden in Omoy, genau wie in Avany“, entgegnete Shias. „Geschichten von Leuten, die in die Fremde aufgebrochen sind und Talismane ihrer Liebsten oder Familienmitglieder mitnahmen, mit dem Versprechen, diese Wertstücke zurückzubringen, koste es, was es wolle. In der Regel sind es Geburtsketten, die bei uns glaube ich einen höheren Stellenwert haben als in Avany, oder?“

„Sie sind uns sehr wichtig, aber es ist nicht vergleichbar mit dem, was ich in deinen Erinnerungen gesehen habe“, bestätigte Nayr.

„Nun, am Ende dieser Legenden sterben die Helden, bevor sie ihr Versprechen erfüllen können, doch sie finden Helfer, die diese Aufgabe für sie übernehmen. Meistens sind es natürlich Menschen, Wegbegleiter, Freunde, die den Talisman heimtragen. Manchmal können es aber auch Tiere sein. Vögel zumeist, Raben oder Tauben, die die Ketten aus den Händen der Sterbenden klauben und sie zielsicher zu ihren Liebsten tragen. Die Zurückgebliebenen haben dadurch Gewissheit, dass die geliebte Person tot ist und müssen nicht länger vergeblich warten. Genau das würde meine Familie also denken. Dass ich tot bin und irgendein Vogel hat Lyks Kette in seinen Schlafraum getragen. Es ist das Gnädigste, das ich für sie tun kann. Ich meine, ich glaube nicht wirklich daran, dieses Abenteuer zu überleben und wenn doch, nun, dann kann ich ja immer noch nach Hause gehen und ihnen Freude bringen, statt sie jetzt mit Sorgen erdrücken zu müssen.“

„Ich verstehe.“ Wyr ließ die Flügel hängen und klang steinerweichend traurig. Für ihn waren Menschen ein nicht zu durchschauendes Mysterium und es tat Shias von Herzen leid, dass er nun ihm Kummer bereitet hatte. Darum streckte er die Hände nach ihm aus und drückte ihn tröstend an sich. Er erhaschte auch von Nayr niedergeschlagene Empfindungen. Für ihn war Shias‘ Familie der Inbegriff von Sehnsucht. Alles das, was Nayr bei seiner eigenen Familie niemals erfahren durfte – bedingungslose Liebe, die Nähe und offene Zuneigung gestattete – sah er in Shias‘ Familie verkörpert. Das Shias sich tot stellen wollte, um ihnen noch schlimmere Sorgen und Ängste zu ersparen, war für ihn unvorstellbare Grausamkeit für sämtliche Beteiligte. Zumal Shias nicht verbergen konnte, wie schwer das für ihn war.

Es bedeutete ihm allerdings die Welt, dass seine Freunde mit ihm fühlten. Für ihn da waren, auch wenn er eine Entscheidung traf, die sie nicht wirklich verstehen konnten. Sich auf diese Weise von seiner Familie entfernen zu müssen, zerriss ihm das Herz, das war für Nayr und Wyr offenkundig. Mit jeder Faser seiner Seele wollte er sich in die Arme seiner Mutter werfen. Seinem Vater in die Augen blicken, während dieser ihm stumm zunickte, um zu zeigen, dass er Shias‘ Taten billigte. Sich von seinen Brüdern zu Boden ringen lassen, bis keiner von ihnen mehr Luft bekam vor lauter Gelächter.

Er wünschte es sich so sehr, dass ihm das Herz vor Trauer in Stücke brach. Denn er war noch nicht zu Hause. Seine Weg war noch lange nicht zu Ende, im Gegenteil, das schlimmste Stück lag jetzt vor ihm. Vermutlich würde er seiner Heimat niemals wieder derartig nah kommen wie heute, darum wollte er am liebsten sofort weiterziehen. Denn nur dann konnte er den Schmerz verdrängen und hinter sich zurücklassen. Noch länger zu verweilen bedeutete Leid, das er nicht aushalten konnte oder wollte.

Nayr umarmte ihn, bis Shias sich gefangen hatte und in der Lage war, sich die Kette über den Kopf zu streifen.

„Wyr, bitte, überbring sie meinem Bruder. Du weißt ja aus meinen Erinnerungen, wie er aussieht und in welchem Bett er schläft“, sagte er und verfluchte sich selbst dafür, weil er es nicht schaffte, seine Stimme ruhig und beherrscht zu halten. Nayr blickte ihn sorgenvoll an, in seinen Gedanken die deutliche Frage, ob er ihm beistehen wollte. Shias wandte den Kopf von ihm ab, er war sich nicht sicher, ob er im Moment Mitgefühl ertragen konnte, ohne darunter zusammenzubrechen. Er löste sich darum aus Nayrs Armen, was sich ebenfalls falsch anfühlte. Zum Glück verstand Nayr, was in ihm vorging und bedrängte ihn nicht.

Shias wandte sich Wyr zu, um ihm die Kette zu übergeben. In diesem Moment schob sich der mittlerweile bekannte Schleier einer aufquellenden Vision über sein Bewusstsein. Ein Gefühl, als würde sein Kopf in eisiges Wasser tauchen, das sämtliche Nerven in seinem Körper prickeln ließ, während in der Ferne eine gewaltige Welle heranrollte. Er erstarrte, erwartete, wie gewohnt in Trance zu versinken, an die er sich anschließend nur dank Nayr erinnern konnte. Doch diesmal blieb er wach und seiner Selbst vollständig bewusst, während Bilder vor seinem inneren Auge zum Leben erwachten und sich wie in einem besonders intensiven Traum entfalteten.

Er sah sich selbst aus zwei Schritt Entfernung, die Kette seines Bruders in der Hand. Der Weidenzweig mit den drei Weidenkätzchen, Symbol der Frühlingsgöttin, verwandelte sich in einen silberfarbenen Anhänger einer jungen Frau. Dieser Anhänger glitt durch seine Finger, wuchs noch im Fallen heran, bis eine statuengleiche Gestalt vor ihm stand, groß genug, um ihm in die Augen zu blicken. Dann sprach sie zu ihm, mit einer Stimme wie brechendes Eis und heulende Frühlingsstürme:

„DU KANNST SIE NICHT ZURÜCKGEBEN, SHIAS, DENN JEDEN FUNKEN GLÜCK UND GÖTTLICHER SEGEN, TROST UND KRAFT, DEN SIE DIR SCHENKEN MAG, WIRST DU NOCH BENÖTIGEN AUF DEINER REISE, SO VIEL DRINGENDER ALS LYK.“

Das Bild wandelte sich abrupt. Shias erblickte sich erneut selbst, diesmal aus geringerem Abstand und dergestalt, dass dies auf jeden Fall Nayrs Perspektive sein musste. Er beobachtete sich selbst, wie er eine seiner magischen Nadeln zog und sie in dem Anhänger mit dem Weidenzweig versenkte, den er nun wieder in der Hand hielt, während die silberfarbene Göttin verschwunden war. Die Nadel verschmolz ungewöhnlich langsam mit dem Metall, während Shias in der Sprache der Nonnit flüsterte; keine Worte der Macht, wie es sonst für magische Beschwörungen üblich war, sondern lediglich einen Ausdruck seiner Absicht: „Sollte ich sterben, bevor es mir gelingt, diese Kette ihrem Besitzer zurückzugeben, so wird die Magie sie im Augenblick meines Todes heimtragen. Die Wasser dieser Welt werden mir dienen und Lyk Gewissheit schenken, auf dass er nicht länger warten muss.“

Der Schleier zerriss. Die Welle verebbte. Die Vision war beendet.

Shias, der die gesamte Zeit über unwillkürlich den Atem angehalten hatte, sog keuchend Luft in seine Lungen. Nayr war sofort bei ihm, fing ihn auf, bevor Shias in die Knie gehen konnte.

„Was ist? Was ist geschehen?“, zirpte Wyr aufgeregt und flatterte in seiner natürlichen Winzlingsgestalt über ihren Köpfen. Für ihn waren bloß zwei, drei Herzschläge vergangen und er hatte wohl nicht einmal etwas von dem Geschehen bemerkt.

„Eine Vision“, rief Nayr an Shias‘ Stelle und drückte ihn fest an sich. Die Schwäche war weniger ausgeprägt als sonst nach einer Vision, dennoch lehnte er sich nun wieder dankbar an ihn. „Eine sehr seltsame Vision noch dazu. Beim ersten Teil bin ich mir nicht sicher, ob das nicht ein Traum war. Sicherlich würde Göttin Nidis nicht persönlich mit uns gewöhnlichen Sterblichen reden?“ Sie erschauderten gemeinsam. Obwohl es bloß ein symbolisches Abbild gewesen war, hatte Shias eindeutig eine übernatürliche Präsenz gespürt.

„Ich schau mir das mal kurz in euren Erinnerungen an, ja?“, fragte Wyr und musterte Shias dabei aufmerksam. Gestern Abend war Shias vor ihm zurückgeschreckt, was der Brutalität geschuldet war, mit der ihn der Drache Lór misshandelt hatte. Diesmal hielt Shias still und begrüßte seinen Wyvernfreund, der ihn mit Umsicht und größtem Respekt magisch berührte und sich ansah, was für eine Vision das gewesen war.

„Hm“, brummte er dann. „Götter sprechen für gewöhnlich tatsächlich nicht mit uns Sterblichen und sie vermeiden es grundsätzlich, in die Schöpfung einzugreifen, es sei denn, sie steht als Ganzes in Gefahr, vernichtet zu werden. Nun ist das Artefakt eine göttliche Gabe, die Schöpfung als Solches ist definitiv bedroht und dein Part in diesem Spiel, Shias, ist nicht von geringer Bedeutung. Also ja, ich kann mir gut vorstellen, dass Nidis persönlich das Wort an dich gerichtet hat. Danken wir ihr mal im nächsten Gebet, dass es lediglich um diese Kleinigkeit ging, die Kette noch nicht sofort an Lyk zurückzugeben, würde ich sagen. Es hätte ja auch etwas Großes sein können.“ Wyr schien ebenfalls erschüttert und gab sich ungewöhnlich ernst.

„Ihre Stimme war nicht gerade lieblich“, murmelte Nayr. „Heißt es nicht, die Frühlingsgöttin wäre die sanfteste und lieblichste unter den Vieren?“

„Ihr Segen ist das Wiedererwachen des Lebens nach der winterlichen Starre. Dafür braucht es unendlich viel Kraft und teilweise auch Gewalt, um Eis und Schnee auszutreiben, und nichts an Schwangerschaft und Geburt ist sanft oder lieblich zu nennen“, entgegnete Wyr. „Schau dir Shias‘ Erinnerungen an, er hat zahllosen Lämmern auf die Welt geholfen. Ich selbst spreche ja auch nur von den Erfahrungen und Beobachtungen meiner Vorfahren … Für meinen Teil bin ich froh, dass mir die Verantwortung von Mutterschaft erspart bleiben wird.“ Wyr schüttelte sich heftig, bevor er erneut in die Luft hochflatterte.

Shias konnte ihm bloß zustimmen, er war ebenfalls froh. Zu zahlreich waren die Geschichten von Frauen, die im Kindbett verstarben, zu viele Mutterschafe hatte er verenden sehen, verblutet oder zu erschöpft nach komplizierter Geburt. Er wollte auch gar nicht zu genau darüber nachdenken, warum die Göttin persönlich zu ihm gesprochen hatte. Es hatte ihn in dem Moment nicht allzu sehr mitgenommen, weil er es vor lauter Schock gar nicht realisieren konnte. Besser, wenn man es dabei beließ.

Stattdessen tat er, was er zuvor in der Vision erblickt hatte, und versenkte eine seiner Nadeln in Lyks Kette, um sie magisch für den Fall seines vorzeitigen Todes zu sichern. Auf diese Weise musste er sich zumindest keine Gedanken mehr machen, dass seine Familie ahnungslos bleiben musste, sollte er irgendwo in der Wildnis sterben. Es fühlte sich gut an, diese Sicherheit zu haben. Auf diese Idee hätte er tatsächlich selbst kommen müssen, es war naheliegend genug! Lyk würde seine Kette jedenfalls zurückbekommen, auf die eine oder andere Weise, dass war nun gewiss. Vielleicht würde er sie ihm ja auch tatsächlich persönlich übergeben und ihn dabei in die Arme schließen. Das war Shias‘ große Hoffnung. Der Traum, an dem er festhalten wollte.

„Wir sollten weiterziehen“, sagte er, sobald er fertig war und die Kette wieder sicher unter seinem Hemd verstaut hatte. „Der Tag geht dahin und wir haben noch nicht viel erreicht heute.“

„Ich habe nie wirklich verstanden, warum Menschen solch ein Gewese um ihre Geburtsketten machen“, sagte Wyr nachdenklich, während er ein Frühstück für sie zurechtzauberte, das sie auch im Laufen zu sich nehmen konnten. „Von heute an werde ich dies mit anderen Augen sehen. Es ist offenkundig mehr als eine alberne Tradition, wenn selbst die Götter sie ernst nehmen … Nayr, sag, wann bist du eigentlich geboren?“

„Im Sommer“, entgegnete Nayr und zog seine eigene Kette hervor. Eine besonders schöne, kostbare Arbeit aus Gold, die eine Schriftrolle symbolisierte, besetzt mit winzigen Edelsteinsplittern. Shias hatte sie schon häufig genug bewundert, solch ein wertvolles Stück war einem avanyschen Prinzen würdig. „Ich bin am neunzehnten Tag des Heumonds geboren, der Bjerv geweiht ist, dem Schutzheiligen der Schrift und der Schreibkunst.“

„Ah. Und deshalb bist du eher ruhig und nachdenklich und gelehrig?“, fragte Wyr.

„So sagt man.“ Nayr zuckte mit den Schultern. „Nicht jeder glaubt daran, dass der Charakter allein vom Geburtsheiligen bestimmt wird. Auf mich trifft es zweifellos zu, Schreiben und Lesen ist für mich sehr erfüllend. Bei vielen, die ich kenne, ist es auch so. Es soll aber kein Schicksal sein, eher eine Möglichkeit, und Menschen können sich verändern. Insbesondere, wenn ihnen Schlimmes widerfährt.“

„Lasst uns laufen“, fuhr Shias dazwischen und griff sich seine Frühstücksschale. Ein kritischer Blick in den Himmel zeigte, dass das Wetter heute wohl freundlich und trocken bleiben würde, wenn auch eher kalt. „Es ist ein langer Marsch von hier bis nach Radinburg, nahezu sechs Stunden. Die Tage werden bereits kurz, wir sollten nicht unnötig trödeln.“

„Weise Worte“, zirpte Wyr und flatterte auf seinen Kopf, um sich tragen zu lassen. „Bislang gefällt mir Omoy besser als erwartet, muss ich sagen. Der Mangel an Magie ist nicht zu schmerzhaft. Ich fühle mich nicht geschwächt, höchstens ein bisschen müder als gewöhnlich. Landschaftlich gibt es ja keinen spürbaren Unterschied, wir könnten genauso gut in Avany sein. Na ja, und es regnet gerade nicht. Das gefällt mir tatsächlich am Besten hier. Also, ich mag deine Heimat, Shias. Sie hat außerdem einen guten Klang.“

„Klang?“, fragte Shias verblüfft.

„Ja, natürlich. Für mich ist der Klang wichtig, den ein Landstrich besitzt. Meine Ohren sind sehr empfindlich, ich mag es nicht, zu viele Misstöne hören zu müssen. Aber hier ist alles gesund, stark und harmonisch. Die Bäume flüstern zu dieser Zeit im Jahr natürlich bloß ein schläfriges Lied vom nahenden Winter und dem Bedürfnis, das Blätterkleid abzustreifen, damit man sich zur Ruhe begeben kann. Die Insekten und Vögel verstummen nach und nach, viele größere Tiere machen sich bereit für den Winterschlaf. Das alles klingt gut und richtig. Nicht als wäre die Erde leer und wüst, kein schmerzliches Stöhnen unter einem zu harten Joch der Menschenhände. Ich habe jedenfalls wirklich nicht erwartet, dass Omoy eine solch schöne Melodie besitzen könnte.“

„Dabei wussten wir doch schon, dass auch etwas Gutes auf diesem Flecken Land wachsen kann.“ Nayr grinste Shias neckisch an, wofür er einen Boxhieb gegen die Schulter erhielt. Es brach den Bann, den die Vision über sie gelegt hatte, diese schockierte Gefühl von Ehrfurcht, Angst und Unglauben – hatte tatsächlich eine Göttin zu ihnen gesprochen? Es schien so absurd …

Wyrs anhaltendes unschuldiges Geplapper über Erdklänge und Baumgeflüster und Flussgemurmel begleitete sie auf ihrem Weg durch den Wald in Richtung Radinburg. Zum Glück war dieser Weg lang genug, um sich Gedanken zu machen, wie Shias dort vermeiden wollte, von den Leuten erkannt zu werden. Ohne Magie war das jedenfalls nicht möglich, so viel war gewiss.

 

Totenklagen

 

s war bitterlich kalt geworden. Arym half, Feuersteine in die Höhlen zu tragen, wo die Menschen sich dicht an dicht drängten, um es warm zu haben. Die mühsam erbauten Häuser wurden nicht genutzt. Der nächste Angriff konnte jederzeit erfolgen und die Höhlen waren so viel besser zu verteidigen.

Die Feuersteine waren eine gute Sache. Sie waren von den Transformationsmagiern aus dem Gestein geformt worden, von dem es hier oben mehr als reichlich gab, im Gegensatz zu Bäumen, die Holz liefern könnten. Was sie erschaffen hatten, war ein Zwischending aus Holz und Gestein. Es rauchte nicht, wenn man es entzündete, gab viel Wärme und Licht ab und verzehrte sich kaum. Auf diese Weise brachte ein einzelner Feuerstein genau so viel wie ein ganzer Baum und hielt um Vielfaches länger an. Das war wichtig, denn niemand wusste, wie lange sie hier noch ausharren mussten, mit Kindern und Alten und so viel Angst im Herzen. Der einzige Nachteil der Steine war ihr Gewicht – man brauchte vier bis fünf starke Männer, um einen von ihnen zu bewegen. Diese Mühe machten sie sich gerne, denn wenn dies die Nacht war, die Shias ihnen prophezeit hatte, dann würde sie extrem lang und hart werden.

„Fürchtet nicht die ewige Nacht, Eska, Arym, denn ihr werdet das Licht wiedersehen! Wartet mit den Hütern auf das Licht!“

So hatten die prophetischen Worte geklungen, und sie alle beteten, dass dieses Versprechen sich erfüllen würde. Das zumindest der größte Teil von ihnen noch lebendig sein würde, wenn der neue Morgen zurückkehrte. Leider gab es noch eine andere Prophezeiung, die sich an Omur, den Führer der Nonnit, gerichtet hatte. Sie hatte klar gemacht, dass es auch Tote zu beklagen geben würde – „Wenn der Himmels sich grün verfärbt und der erste Hauch des Winters das Land begrüßt, wähle weise, wessen Leben du bewahrst. Der Verlust des einen zerreißt dein Herz. Der Verlust des anderen zerreißt die Welt. Folge der Angst, nicht dem Herzen.“

Es schien klar, dass Omur ein Mitglied seiner Familie würde opfern müssen. Seine Frau oder eines seiner Kinder möglicherweise. Wen er stattdessen retten musste, welche Wahl das Schicksal genau von ihm abverlangte, welche Umstände dafür zusammenkommen würden mit all den Feinden dort draußen, die sie niedermachen wollten, das war ungewiss. Seit Tagen sprachen die Leute über fast nichts anderes mehr und heute, da der erste Frosthauch in der Luft lag, hatte sich das noch erheblich verstärkt.

Arym ging für seinen Teil davon aus, dass es Eska sein würde, die von ihm gerettet werden musste. Sie allein besaß Magie von solcher Wichtigkeit und Macht, dass ihr Verlust Bedeutung für die Welt haben könnte. Der Tod eines jeden anderen Anwesenden in diesem Tal wäre für sich genommen tragisch und herzzerreißend. Doch letztendlich waren sie alle ersetz- und verzichtbar. Das schloss auch ihn selbst ein. Wichtig für die Welt war er sowieso nicht. Ob allerdings irgendjemand um ihn weinen würde, falls er heute Nacht starb? Er hoffte, dass einige der Nonnit ihn in den vergangenen Tagen zu schätzen gelernt hatte. Ani schien ihn zu mögen. Sie war die weibliche Führerin der Gruppe, was auf ihren magischen Talenten und insbesondere ihrer Persönlichkeit zu beruhen schien. Mit Omur war sie wohl nicht verbunden, häufig genug sah man die beiden heftig streiten. Sie stand auf Augenhöhe mit ihm, kümmerte sich um Gesundheit und Seelenwohl der Menschen und war diejenige, die am häufigsten das Gespräch mit Arym suchte und seine Dienste an jene vermittelte, die ihn brauchten.

Irritierend für ihn war Anis Überzeugung, dass er ein Pareu sein musste. Ein Mensch, dessen Seele im falschen Körper geboren wurde. Sowohl Ani als mittlerweile auch alle anderen Nonnit hielten ihn für eine Frau, die versehentlich in einem Männerkörper gefangen war. Man ließ ihn Frauenarbeiten erledigen, was ihn überhaupt nicht störte, übergab ihm die Verantwortung für kleine Kinder, was er gerne tat, und versuchten ihn sanft zu überzeugen, dass er ohne Weiteres Frauenkleidung anlegen könnte. Das wiederum lehnte er strikt ab, genau wie die Annahme als solches. Er glaubte fest daran, dass Pareus existierten, fand es unvorstellbar, welches Leid damit verbunden sein musste, freute sich, dass die Nonnit auf diese unterstützende Weise damit umgingen. Wenn sie bloß zuhören würden, sobald er sagte, dass sie ihn missverstanden …

Nun, Eska wurde ebenfalls als Pareu angesehen, man fand es großartig, weil sich auf diese Weise zwei vertauschte Seelen gefunden hatten. Möglicherweise war es für sie einfacher, mit ihrer harten, männlich-brutalen Art Anerkennung zu finden, vielleicht war es ihr auch einfach egal, was die Leute über sie dachten, jedenfalls protestierte sie nicht dagegen.

Ob Eska weinen würde, sollte Arym heute Nacht sterben? Er bezweifelte es zumindest sehr.

Es war schrecklich, auf diese Stunde der Wahrheit warten zu müssen. Auf den nächsten Angriff, nachdem der erste bereits unerträgliche Opfer verlangt hatte. Auch wenn es zunächst einmal nur ein Schwertkämpfer und eine Heilmagierin gewesen waren, zusätzlich zu fünf weiteren Menschen – bei der geringen Anzahl der Verteidiger war der Verlust jedes Einzelnen mehr, als sie sich leisten konnten. Vom menschlichen Verlust sprach man da noch gar nicht.

Durch die Luft hatte einer der feindlichen Magier die Angreifer herangetragen, bis Eska äußerst brutal kurzen Prozess mit ihnen gemacht und danach die Leichen zurückgeschleudert hatte. Augenblicklich wurden sie von einer magischen Kuppel beschützt, die Eska erschaffen hatte, und sich über diesen Talkessel spannte, mit lediglich schmalen Schlitzen, die einen Luftaustausch zuließen. Unter der Kuppel waren sie erst einmal vor Überraschungen gefeit, sogar gegen die Kälte half es – und dennoch war es bitterlich kalt und feucht, dass es bis in die Knochen zog und schmerzte. Sobald die feindlichen Magier diese Kuppel attackierten und zerstörten, würde es gewaltigen Lärm erzeugen und sie somit vorwarnen.

Bis es soweit war, konnten sie nichts weiter tun, als zu warten. Warten auf die grünen Lichter, die sonst anscheinend bloß im hohen Norden den Nachthimmel erhellten. Warten, dass der Feind sich rührte. Warten, auf welche Weise Eskas Leben bedroht werden würde.

Arym wusste, er würde für sie kämpfen. Er war kein Krieger, doch auch er würde verteidigen, wen er liebte. Natürlich würde er auch für das Leben der Nonnit-Kinder verteidigen, die man ihm anvertraute, mit all jenen Schlägen und Tritten, die ihm in den letzten Tagen gelehrt worden waren. Aber er würde sich jederzeit vor Eska werfen, wenn es ihm möglich sein sollte. Es gab schließlich keine Garantie, dass Omur in der Schicksalsstunde die richtige Entscheidung treffen konnte. Dass er tatsächlich sein Herz missachtete, wenn seine Frau oder eines seiner erwachsenen Kinder vor ihm stand. Dass er einen seiner Liebsten sterben lassen würde, nur um Eska zu retten.

Arym würde ihn dafür nicht verurteilen. Müsste er zwischen Nayr und Eska entscheiden, würde er vielleicht auch die falsche Wahl treffen. Zumal Omur Eska nicht einmal leiden konnte, ihre Anwesenheit bloß ertrug, weil ihm keine andere Wahl blieb.

Genau darum wollte Arym heute Nacht bereit sein. Sein Leben war wertlos. Er würde es freudig opfern, sofern die Angst ihn nicht völlig hemmte. Er würde es für Eska tun. Für sie und das Versprechen auf eine Zukunft.

 

 

„Kommt her“, bat Ani und winkte sie alle zu sich heran, raus aus den Höhlen. Noch war die Sonne nicht vollends untergegangen, obwohl sie bereits unterhalb der Felswände stand und es im Tal entsprechend dämmrig und noch deutlich kälter als zuvor geworden war. Kein einziges grünes Licht war am wolkenlosen Himmel zu sehen.

„Wir müssen den Frieden nutzen, der uns gewährt wird, um Abschied von unseren Toten zu nehmen“, sagte Ani. Die Leichen jener Opfer des Angriffs waren am felsigen Boden aufgereiht. Weiße Tücher verhüllten ihre Körper und Gesichter. Unförmige Gestalten waren es, wie übergroße Lumpenpuppen, die Riesenkinder achtlos zurückgelassen hatten.

Eska war froh, dass sie die Gesichter der Toten nicht sehen musste. Keine Augen, die sie anklagend anstarrten, weil sie zu langsam gewesen war. Die anderen hatte sie retten können, den Angriff gestoppt, indem sie die Feinde mit ihrer Gedankenkontrolle überwältigt hatte. Für diese sieben Menschen jedoch war sie zu spät gekommen. Aschurel war unter ihnen, eine junge Heilmagierin. Eine Frau, die noch ihr gesamtes Leben vor sich gehabt hätte. Auch Brego hatte es erwischt, hinterrücks, ohne die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Der Krieger hatte auf Eska gehört, als sie vorschlug, den Frauen und älteren Kindern Selbstverteidigung zu lehren, so gut es in kürzester Zeit möglich war. Dank ihm mochten sich die Chancen der Wehrlosen verbessert haben, sollten die Feinde durchbrechen. Feinde, die deutlich gemacht hatten, dass sie auch Säuglinge und Greise töten wollten, denn es ging um nicht weniger als die totale Vernichtung der Nonnit.

Was genau der Feind damit bezweckte, war unklar. Vielleicht ging es tatsächlich bloß darum, keine weiteren magiebegabten Menschen mehr dulden zu wollen, damit er, der Unbekannte, keinen Rivalen zu fürchten brauchte?

Dicht an dicht drängten sich die Überlebenden, berührten die Angehörigen, die neben den Leichen knieten, die Gesichter verhärmt, die Augen voll Trauer. Der Schmerz höhlte sie von innen aus. Eska sah einen der Krieger dort knien, Bregos Bruder. Er hatte bislang kaum zwanzig Winter gelebt, doch jetzt, wo er dort am Boden kauerte, den Kopf tief gesenkt, schien er uralt zu sein, die Augen und die Stirn mit Falten gekerbt. Kummer, Schlaflosigkeit und Angst forderten ihren Tribut. Selbst die Kleinkinder sahen elend aus, bleich und hohlwangig. Viel zu still klammerten sie sich an ihre Eltern. Ein kleines Mädchen hatte die Mutter verloren. Sie sollte zu jung sein, um zu begreifen, was „tot“ bedeutete. So still, wie sie neben dem eingeschnürten Körper ihrer Mutter saß, wusste sie es ganz genau.

Ani ergriff das Wort. Sprach über das Leben derjenigen, die zu früh aus ihrer Mitte gerissen wurden. Über die Lücken, die sie hinterließen, die nicht gefüllt werden konnten. Darüber, dass man sich auf ewig an sie erinnern würde. Es waren gute Worte. Ob sie irgendetwas änderten, echten Trost spendeten, ließ sich für Eska nicht feststellen. Es war für sie unerträglich, ihr zuhören zu müssen. Für sie fühlte sich jedes Wort wie eine Anklage vor einem Richter an. Sie hatte zugelassen, dass diese Lücken gerissen werden konnten. Sie hatte versagt. Noch einmal würde sie das auf keinen Fall zulassen!

Irgendwann trat eine junge Frau vor, fast noch ein Mädchen, und begann das Lied von der Totenklage zu singen, das die Gemeinschaft bereits auf dem Marsch vom Dorf hierher gesungen hatte. Es war ein hohes, unendlich trauriges Lied, erfüllt von solchem Schmerz, dass Eska unwillkürlich zu weinen begann. Auch alle anderen weinten und es wurde zudem stetig dunkler, darum verzichtete sie darauf, die Tränen fortzuwischen, wie sie es sonst getan hätte.

Sie fuhr zusammen, als sich plötzlich eine Hand in die ihre schob und sie fest drückte. Arym stand neben ihr, auch seine Augen schwammen, und er suchte vielleicht Trost oder glaubte, seine Nähe würde ihr helfen. Gerne hätte sie ihn fortgejagt, oder sich wenigstens von seiner Hand befreit. Doch gerade, als sie eine entsprechende, möglichst unauffällige Bewegung wagen wollte, wurde ihr klar, wie dringend sie ihn tatsächlich in diesem Moment brauchte. Wie tröstlich seine Nähe war. Darum drückte sie lediglich seine Hand auf die gleiche Weise und stand still, bis es endlich vorüber war.

„Sie haben zu Curn gebetet, als Herrn des Winters und des Todes“, wisperte sie Arym zu. „Mit diesem Lied flehen sie ihn an, gnädig zu den einsamen Seelen zu sein und sie heimzuführen, damit sie sicher sind.“ Er nickte stumm, den Blick nach unten gerichtet. Er hatte diese Menschen größtenteils besser gekannt als sie, mehr Zeit mit ihnen verbracht, mit ihnen gemeinsam gegessen und gearbeitet. Sicherlich traf ihn der Verlust darum noch härter als sie.

Auf Anis Zeichen hin knieten die Transformationsmagier nieder. Unter dem Klagegesang der Gemeinschaft verwandelten sie die Körper der Toten. Normalerweise wurden aus ihnen Bäume geformt. Weil sie zu hoch im Gebirge waren und Bäume hier kaum noch wachsen konnten, wurden sie zu farbigem Felsgestein gewandelt. Ein jeder der etwa kürbisgroßen Steine besaß eine andere Färbung, alle waren jedoch Varianten von blau-grau oder rot. Zudem waren ihre Namen und Gesichter als Reliefs im Gestein verewigt. Wenn die Gemeinschaft dieses Tal irgendwann verlassen konnte – Eska glaubte fest daran, dass der Tag kommen würde, denn andernfalls hätte der Feind gesiegt und jeden einzelnen Nonnit getötet, was sie um keinen Preis zulassen würde – dann konnte man diese Steine mitnehmen, als Erinnerung an die Verstorbenen.

Während sie noch beieinander standen, viele von ihnen mit den Tränen kämpften oder ihnen einfach freien Lauf ließen, hörten sie in der Ferne rauen Männergesang. Es war kein Kriegsgröhlen, dafür klang es zu traurig.

„Was tun sie?“, fragte Omur alarmiert und starrte zum Ausgang des Talkessels, als könnte er von hier aus sehen, was im feindlichen Lager getrieben wurde.

„Das gleiche wie wir“, entgegnete Arym sanft. „Auch die Feinde haben Kameraden verloren, Freunde, Brüder. Omoyer beten zu denselben Göttern wie Avanyer und Nonnit. Genau wie wir betrauern sie ihre Toten, genau wie wir glauben sie, das Richtige zu tun.“

„Wenn es doch einen Zauber gäbe, um diese Männer vergessen zu lassen, welche Befehle man ihnen erteilt hat“, murmelte Ani. „Wir könnten Frieden schließen und mit ihnen gemeinsam feiern und trauern und beten, bevor sie zurück nach Hause gehen, um dort ihre Felder zu bestellen und in ihren Werkstätten zu arbeiten und ihre Familien in die Arme zu schließen, von denen sie viel zu lange getrennt waren.

---ENDE DER LESEPROBE---