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Gay Fantasy Narn hat einen schweren Stand in seiner Gemeinschaft, denn er kann kaum hören und gar nicht sprechen. Somit taugt er nicht als Jäger. Es hindert ihn jedoch nicht, mutiger als jeder andere zu sein. Schon immer hat Dalil tiefe Bewunderung für Narn empfunden. Doch wie soll man sich mit jemandem anfreunden, der ferner als die Sterne zu sein scheint? Ca. 38.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 180 Seiten
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Gay Fantasy
Narn hat einen schweren Stand in seiner Gemeinschaft, denn er kann kaum hören und gar nicht sprechen. Somit taugt er nicht als Jäger. Es hindert ihn jedoch nicht, mutiger als jeder andere zu sein.
Schon immer hat Dalil tiefe Bewunderung für Narn empfunden. Doch wie soll man sich mit jemandem anfreunden, der ferner als die Sterne zu sein scheint?
Ca. 38.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 180 Seiten
von
Sandra Gernt
arn kauerte sich im Schutz des Abuo-Strauches nieder. Sharim und seine Freunde jagten ihn wieder durch den Wald. Es war ermüdend. Wann würden sie einsehen, wie sinnlos das war?
Die federartigen Blätter des Abuo kitzelten ihn im Nacken und er musste eine winzige Spinne von seiner Nase pflücken und sie ein Stück entfernt am Boden absetzen, wo sie hastig davonkrabbelte. Für ihn waren diese Hetzjagden sinnlos, furchtbar, demütigend und endeten sie mit seiner Niederlage, wurde es wirklich schlimm. Sharim achtete selbstverständlich darauf, dass niemand ihn ernsthaft verletzte. Gefährlicheres als blaue Flecken hatte er körperlich nicht zu befürchten. Die Erniedrigungen, die seelischen Wunden, die sie ihm zufügten, die gingen hingegen tief unter die Haut.
Genau das, was diese Kerle sich wünschten. Wenn sie ihn besiegt am Boden liegen sahen, zusammengekrümmt, zitternd, unfähig, sich gegen eine zwölfköpfige Bande zu behaupten, dann fühlten sie sich stark. Mächtig. Konnte man es ihnen verübeln, dass sie dieses Gefühl genossen und es sich wieder und wieder holen wollten?
Wohl eher nicht.
Narn bedauerte Sharim und seine Freunde dennoch. Wer das schwächste Mitglied der Gemeinschaft jagen und demütigen musste, um sich stark fühlen zu können, war eine bedauernswerte Kreatur. Durch und durch jämmerlich und schwach.
Es war Narn nicht gegeben, diese Gedanken in Worte zu fassen, sonst würde er nicht zögern, sie Sharim mitzuteilen. Er konnte lediglich zusammenhanglose Laute stammeln, in seiner Kehle war etwas missgestaltet, das sich nicht heilen ließ. Auch mit seinen Ohren war seit dem Tag seiner Geburt etwas nicht in Ordnung. Er war nicht vollständig taub, aber er hörte sehr viel weniger als alle anderen. Schrille, hohe Töne drangen zu ihm durch. Etwa lautstarkes Vogelzwitschern in seiner unmittelbaren Nähe, gelegentlich auch Surren von Insekten direkt neben dem Kopf. Das Kampfgeschrei der Horde, die nach ihm suchte, nahm er als breiiges Rauschen wahr, wenn es eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt ausgestoßen wurde. Und wenn die Trommeln dröhnten, weil sie ein Fest zu Ehren der Götter feierten, dann fühlte er es im gesamten Körper. Insgesamt herrschte zumeist Stille um ihn herum und schloss er die Augen, war die Welt für ihn erloschen wie eine Laterne, die ausgepustet wurde, oder ein Schmiedefeuer, über das man Wasser goss.
Seine Mutter unterhielt sich mittels Handzeichen mit ihm. Sie hatte viel Zeit mit ihm verbracht und endlos viel Kraft in ihn gesteckt und es auf diese Weise geschafft, ihm die Welt zu erklären. Narn hatte nicht bloß Zeichen für Dinge, die man berühren und sehen und riechen konnte, sondern auch für das, was unsichtbar war. Liebe etwa, oder Wut, oder Hass, oder die Götter, die diese Welt geformt hatten. Darum verstand er auch, was Macht bedeutete, und wie jämmerlich Sharim war. Genauso, wie er Angst verstand.
Narn hatte Angst. Natürlich fürchtete er sich davor, dass Sharim ihn finden und sein unsägliches Spiel mit ihm treiben würde. Niemand hinderte ihn, solange er Narn nicht ernstlich verletzte. Viele der älteren Männer fanden es sogar gut, denn die Spurensuche und Jagd waren eine herausfordernde Übung für die jungen Jäger. Ein Mitglied der Gemeinschaft zu jagen, das ausschließlich Frauenarbeit übernehmen, aber keine Kinder gebären konnte, galt unter diesen Umständen nicht als verwerflich. Darum wurde es auch nicht unterbunden und niemand sah einen Schaden darin. Außer Narns Mutter, deren Stimme nicht zählte – sie hatte vier Säuglinge tot geboren, Narn war das einzige überlebende Kind. Er war beschädigt, somit wertlos für die Gemeinschaft. Es hatte ihren Stand stark gemindert, ihr Mann hatte sie verstoßen, sobald Narns Unfähigkeiten deutlich geworden waren, weil er einen Krüppel nicht als Sohn anerkennen wollte. Sein Vater war von der Gemeinschaft fortgewandert, er wusste nicht, wer er war und ob er überhaupt noch lebte.
Narn atmete ruhig und gleichmäßig. Sein Blick war in die Höhe gerichtet, denn wenn sich die Gruppe heranschlich, stiegen unweigerlich Vögel aus den Baumkronen auf. Das Flattern ihrer Flügel und das Schwingen der Äste waren wichtige Warnzeichen. Außerdem hielt er die Handflächen flach auf die Erde gepresst. Sharim und die anderen hatten zwar mittlerweile gelernt, dass sie auch bei einem gehörlosen Beutetier nicht wie die Wilden durch den Wald trampeln durften, dennoch fing er manchmal die Schwingungen ihrer Schritte mit den Fingerkuppen auf, weil sie sich weniger Mühe bei der Pirsch gaben. Auch auf die Nase war er fokussiert. An einem heißen Tag wie diesem wurde geschwitzt und der Wind kam aus wechselnden Richtungen. Die Ausdünstungen seiner Feinde waren wertvolle Warnsignale. Im Moment empfing er keine Schwingungen und die Gerüche waren unauffällig. Trockene Erde, Pflanzen im vollen Saft, Mäuse, die für Menschen giftigen, rostroten Abuo-Früchte, irgendetwas, das in der Nähe verrottete. Regen und schwere Unwetter, die in der Ferne drohten. Kein menschlicher Schweiß, kein Raubtier.
Ein schriller Laut in der Ferne, etwa dreißig Schritt südlich stiegen Vögel auf. Narn spannte jeden Muskel an, doch er sah, wie seine Verfolger sich entfernten. Sie hatten seine Spur verloren. Dennoch blieb er regungslos unter dem Busch sitzen, denn er wusste, dass Sharim Ausdauer besaß und gerne auch bloß vortäuschte, er wäre bereits abgezogen. Mehr als einmal hatte er Narn auf diese Weise eingefangen und ihm mit stundenlangen Spielen gezeigt, wie sehr er den Triumph genoss. Spiele, bei denen Narn an Bäume gefesselt, mit Unrat beworfen, geschlagen wurde. Bei denen man ihn zwang, verrottete Früchte zu essen, von denen er erbrechen musste, oder etwas zu trinken, in das die Bande zuvor reingespuckt oder uriniert hatte. Spiele mit Käfern in seinem Haar, von denen er nicht wusste, ob sie giftig waren und ob sie vielleicht in sein Ohr kriechen würden. Manchmal wurde er auch bis an den Rand der Bewusstlosigkeit in das Wasser des großen Flusses getaucht.
Mühsam unterdrückte Narn die Wut, die Scham der Erinnerungen, die Ungeduld. Während er Stunden um Stunden damit vergeudete, unter Buschwerk zu hocken, wartete seine Arbeit auf ihn. Mindestens zweimal in jedem Mondviertel lauerte Sharim ihm auf, sobald Narn ausgeschickt wurde, um Wasser zu holen oder Holz zu sammeln. Jeden dritten bis vierten Tag also drohte ihm eine solche Hetzjagd. Und selbst wenn die Häscher ihn nicht erwischten – mittlerweile war er sehr geschickt darin, das zu verhindern – hatte er anschließend den Schaden, denn es hagelte Schläge, wenn er seine Tagesaufgaben nicht erledigte, egal aus welchem Grund. Oft genug, dass er bis Mitternacht im matten Licht der Feuerglut oder einer einzelnen Laterne noch Körbe flechten oder Leder walken musste, statt schlafen gehen zu dürfen.
Ja, er war das niedrigste Mitglied der Gemeinschaft. In manchen Wintern hatte er schon tagelang nichts zu essen erhalten, sondern hatte seinen Anteil den Schwangeren, Kleinkindern und Alten geben müssen. Dennoch gehörte er dazu. Es war seine Familie. Sein Volk. Sein Leben. Seine Welt.
Heiß war es, die Luft drückte schwer und schwül auf ihm nieder. Bald würde es Gewitter geben, die die Luft reinigten. Vielleicht hatten Sharim und seine Kumpane deshalb beschlossen, die Jagd heute kurz zu halten?
Da – eine Bewegung, keine zehn Schritte von ihm entfernt.
Narn hielt den Atem an. Er verjagte nicht einmal den Moskito, der sich auf seinem Arm niedergelassen hatte und sich an seinem Blut gütlich tat. Die juckenden Beulen ließen sich leicht behandeln, daran waren sie alle gewöhnt. Das Insekt zu verscheuchen könnte einen Jäger auf ihn aufmerksam machen. Also verhielt er sich vollkommen ruhig, starrte in die Richtung, in der er den Feind vermutete. Da bewegte sich jemand überaus geschickt und sehr langsam, denn kein Vogel schreckte von seinem Platz hoch, keine Schwingungen verrieten ihn. Wären da nicht die leichten Bewegungen im Unterholz, die auf eine größere Kreatur hinwiesen, hätte Narn ihn nicht bemerkt. Sollte er fliehen? Ausharren?
Hm … Das war auf keinen Fall eine größere Gruppe, die da auf ihn zukam. Damit gab es praktisch nur noch eine Möglichkeit, wer das sein könnte. Narn zog sich vorsichtig noch tiefer unter den Busch zurück und verhielt sich vollkommen ruhig. Er ignorierte den Schweiß, der aus den offenen dunklen Haaren brennend in seine Augen rann, das heftige Jucken am Arm und den linken Oberschenkel, der in dieser Zwangshaltung zu krampfen begann. Nichts davon hatte Bedeutung.
Nach einer Weile teilte sich das Buschwerk vor ihm und eine schlanke Gestalt schälte sich heraus, das lange, dunkelbraune Haar zu strengen Zöpfen geflochten, mit bunten Holzperlen geschmückt und aufgesteckt, wie es für alle Jäger vorgegeben war. Der rote eingefärbte, sorgsam bestickte wollene Überwurf zeigte schon aus der Ferne: Es war Dalil, der dort am Boden kauerte und nach Spuren suchte. Im Gegensatz zu Sharim hatte er offenbar erkannt, welchen Weg Narn genommen hatte.
Jedes Mitglied der Gemeinschaft hatte dunkles Haar, dunkelbraune Haut, dunkle Augen. Sie unterschieden sich in der Form der Gesichter, dem Wuchs des Körpers, der Ausstrahlung und in den Farben der Kleidung. Mittels Pflanzensäfte und Beeren wurde die Pflanzenwolle beliebig eingefärbt.
Dalil war ein Mann in Narns Alter, also zweiundzwanzig Sommer. Aus ihm wurde Narn nicht schlau. Er gehörte nicht unmittelbar zu Sharims Gruppe der jungen Jäger, war Zeit seines Lebens ein Einzelgänger gewesen. Dennoch bildete er stets eine Art Nachhut, wenn Sharim auf die Hatz ging und Narn zu jagen begann. Zweimal war es ihm gelungen, Narn aufzustöbern, wenn Sharim ihn verfehlt hatte. Beide Male hatte Dalil ihn lediglich angestarrt und war dann fortgegangen, während Narn die Flucht ergriffen hatte. Ob Dalil ihn anschließend an Sharim verriet oder es ihm einfach bloß darum ging, die Beute zu finden, hatte Narn noch nicht erschließen können. Das war schon ein sehr merkwürdiger Kerl!
Diesmal stöberte Dalil ihn zumindest nicht auf, das Verwischen der Spuren war geglückt. Er marschierte tief über den Boden gebeugt an Narn vorbei, bemerkte ihn nicht. Als er fast außer Sicht war, zuckte er heftig zusammen. Narn spürte das Donnergrollen im Bauch, er sah den Blitz, der in weiter Ferne zuckte. Dalil zögerte. Dann gab er die Suche auf und eilte mit zügigen Schritten in Richtung Dorf davon.
Auch Narn zögerte. Sharim und seine Freunde würden spätestens jetzt ebenfalls aufgeben und heimkehren. Er musste auch nicht befürchten, dass einer von ihnen am Dorfrand herumlungerte und ihn attackierte, sobald er in Sicht kam. Diese Angriffe geschahen stets tief im Wald, niemals dort, wo die Älteren sie beobachten könnten. Möglicherweise würde er es also noch trocken nach Hause schaffen, wenn er sich jetzt beeilte.
Eine eisige Windböe blies ihm ins Gesicht. Fröstelnd zog er die ungefärbte Weste aus Pflanzenwolle enger um den Körper. In der Ferne zuckte erneut ein Blitz grell über den tiefschwarzen Himmel, und erste Regentropfen fielen auf den knochentrockenen, rissigen Waldboden. Es hatte sehr lange nicht geregnet. Furcht wallte in ihm hoch. Dieser Sturm würde schrecklich werden. Sehr viel schlimmer als alles, was Sharim ihm antun könnte. Das hatte er unterschätzt und jetzt musste er nach Hause laufen, so schnell er konnte. Hier draußen befand er sich in tödlicher Gefahr.
Bloß noch ein kleines bisschen warten. Dalil und den anderen einen Vorsprung geben. Lief er ihnen in die Arme, während sie noch weit außer Sichtweite des Dorfes waren, könnte Sharim auf die Idee kommen, ihn an den nächstbesten Baum zu fesseln und dort hilflos den Elementen ausgeliefert stehen zu lassen, um ihn erst morgen nach dem Sturm zu befreien. Bis dahin könnte er tot sein, erfroren oder umherfliegenden Ästen erschlagen.
Nein. Nur noch ein winzig kleines bisschen warten, dann würde er rennen, was seine Beine hergaben.
Dalil sah sich beunruhigt um. Sharim und seine Getreuen waren vollzählig im Dorf angekommen, jeder verschwand in Richtung von seinem Zuhause, um ihren Ehefrauen, Eltern und Nachbarn zur Hand zu gehen. Überall wurden hektisch die letzten Vorbereitungen für den Sturm getroffen, von dem bereits heute Morgen gewispert worden war. Die Zeichen waren stark gewesen, dass ein schwerer Sturm kommen und die anhaltende Hitze durchbrechen würde.
Solches Geflüster bekam Narn grundsätzlich nicht mit. Wie auch? Ausschließlich seine Mutter konnte sich intensiver mit ihm unterhalten, und die hatte zumeist andere Dinge zu tun. Natürlich spürte Narn irgendwann auch, dass ein Unwetter anstand, aber Dalil war sich sicher, dass niemand ihn gewarnt hatte.
Innerlich seufzend blickte er auf das wimmelnde Chaos. Zweihundertachtzehn Menschen lebten in ihrer Dorfgemeinschaft. Das war viel, es gab kein größeres Dorf in hundert Meilen Umkreis, und sie waren die stärkste Gruppe aus dem Volk der Pansha’tua. Weil sie so machtvoll waren, hatte es seit über zwanzig Sommern keinen Angriff der verfeindeten Iniquatu mehr gegeben und sie konnten friedlich Handel mit ihren Verbündeten und den Nachbardörfern treiben. Ihre Häuser aus weißem Tuffu-Stein reckten sich stolz in die Höhe, eine trutzige Ansammlung, die sich kreisförmig um die Dorfmitte reihte. Yanu, der Dorfälteste, bewohnte selbstverständlich das größte Haus mit seiner Frau. Das Dach war frisch mit Bündeln aus getrocknetem Kolbengras eingedeckt, das am Ufer des großen Flusses geschnitten wurde. Dalil sah Yanu, wie er die schweren Sturmläden an die Fensteröffnungen anbrachte. Er stand bereits im siebzigsten Sommer und war somit tatsächlich einer der ältesten Menschen im Dorf. Andere Dorfbewohner trieben Hühner und die kleinen, zähen Auri-Ziegen, die noch nicht aus freien Stücken Schutz gesucht hatten, in die Ställe, und sammelten liegengebliebene Eimer und Werkzeuge ein, damit nichts im Sturm verloren ging.
Das Leben in Faja, dem endlosen Land zwischen Bergen und Meer, war rau. Die Waldböden zu karg, um großflächigen Anbau von Getreide zu ermöglichen, das Wetter wechselhaft. Die Sommer waren heiß und kurz, manchmal zu trocken, manchmal zu nass; die Winter hingegen zeigten sich grundsätzlich hart und kalt. Schwere Stürme stellten so früh im Sommer eher eine Ausnahme dar und fielen dann zumeist mit verheerender Macht über sie her. Auf einigen geschützten Waldlichtungen pflanzten sie Emmer und Einkorn, Linsen und Bohnen. Nussbäume und -sträucher gediehen gut im Wald und retteten sie oft genug vor dem Verhungern.
Gerade weil das Leben hart und schwierig war, musste jeder mit anpacken. Das war der Hauptgrund, warum Narn keinen guten Stand in ihrer Gemeinschaft hatte – man traute ihm nicht zu, seinen Teil leisten zu können. Dabei arbeitete er mehr als die meisten anderen, ohne je Respekt zu erfahren, wurde dafür als wertlos angesehen und niemand griff ein, um ihn vor Sharim zu beschützen. Dalil war die einzige Ausnahme, auf seine Weise. Viel konnte er nicht tun, denn er musste auch sich selbst und seine Familie schützen. Verhindern, dass er zum Ziel für Sharims Angriffe wurde. Das machte sein Leben recht kompliziert und anstrengend, aber daran war er gewöhnt und er kam zurecht.
„Dalil!“ Das war die Stimme seines Vaters. Gehorsam folgte er dem Ruf und fasste mit an, um die letzten Sturmsicherungsmaßnahmen durchzuführen. Regen hatte eingesetzt, und die ersten heftigen Windböen schlugen ihnen entgegen. Als es zu hageln begann, floh Dalil ins sichere Hausinnere. Narn war nicht aus dem Wald zurückgekehrt. Man konnte nur hoffen, dass er irgendwo sicheren Unterschlupf gefunden hatte.
„War die Jagd erfolgreich, Sohn?“, fragte sein Vater und klopfte ihm auf die Schulter. Jeder glaubte, er würde Sharim unterstützen, obwohl er nicht zum inneren Kreis der jungen Jäger zählte. Seine Familie war deswegen stolz auf ihn, und das würde er ihnen niemals wegnehmen wollen. Dalil schaffte es, zugleich sorglos zu lächeln und mit den Schultern zu zucken.
„Die Beute hatte sich gut versteckt“, entgegnete er leichthin. „Das Unwetter hat die Jagd beendet, bevor wir sie aufstöbern konnten.“
„Nun, das war ja nicht eure Schuld. Es ist gut, dass ihr vor Herausforderungen gestellt werdet. Wäre es zu leicht, würdet ihr nichts dabei lernen.“
„Wie recht du hast, Vater.“ Dalil fing seinen jüngsten Bruder ab, der wild kreischend durch den Raum lief und damit sichtlich ihre Mutter ermüdete, die mit dem Kochen des Essens beschäftigt war. Farl war gerade erst vier Sommer alt und entsprechend schwer zu bändigen. „Du störst Mutter“, sagte er streng und hob sich den kleinen Wildling auf die Arme. Farl starrte ihn mit großen Augen an. „Man stört die Frauen nicht. Ohne sie wären unsere Häuser, unsere Mägen und Herzen leer und wir müssten nackt laufen.“
„Gib ihn mir“, sagte sein Vater, pflückte ihm Farl aus den Armen und setzte ihn sich nah am steinernen Kamin auf den Schoß. „Ich erzähle dir eine Geschichte, wenn du brav bist.“
„Ja!“, rief der Kleine und klatschte begeistert in die Hände. „Erzähl von den Sturmgöttern!“
Anbri, Dalil zweitjüngster Bruder, kam still dazu und lehnte sich gegen das Knie des Vaters. Er war schon immer ein in sich gekehrter, nachdenklicher Junge gewesen, Dalil fand sich selbst in ihm wieder.
Er holte sein Schnitzwerkzeug und setzte sich zu den dreien. Seine Augen waren noch gut genug, um im schwachen Licht des Kaminfeuers arbeiten zu können, während die Sicht seines Vaters bereits nachgelassen hatte. Somit war es seine Aufgabe, für Holzschalen, Besteck und Werkzeug zu sorgen, das jeder von ihnen täglich benutzte. Es waren nur noch seine Eltern, er und die jüngeren Brüder daheim; die älteren Geschwister waren aus dem Haus gegangen, hatten geheiratet, eigene Familien gegründet. Auch er sollte das bald tun. Ein Gedanke, der ihm wenig gefiel. Wie üblich schob er ihn beiseite, konzentrierte sich auf die Arbeit und die Erzählungen seines Vaters. Mindestens tausend Mal hatte er bereits die Geschichte von den Sturmgöttern gehört, die sich ein Wettrennen lieferten, wer am schnellsten von ihnen war, und dadurch die Winde entfachten; die mit Feuerspeeren warfen, um zu sehen, wer am weitesten kam, und die Trommeln schlugen, um sich gegenseitig anzutreiben. Die Wolkenfrauen waren verärgert über die jungen Raufbolde, schütteten Wasserfässer aus, um ihnen das Gemüt zu kühlen, und bewarfen sie mit Eiskieseln, wenn die wilden Götter vor lauter Übermut die Wolkengärten zu sehr verwüsteten.
Egal wie oft er diese Geschichte schon gehört hatte, es fühlte sich jedes Mal heimelig an, der Stimme seines Vaters zu lauschen, in die Flammen des Kamins zu blicken, die Wärme zu spüren, den Duft des Essens in der Nase zu haben, das seine Mutter gerade kochte, während draußen der Wind ums Haus heulte. In dem kleinen Kessel über dem Kamin brodelte der würzig duftende Gemüseeintopf mit Aaliwurzeln als Hauptbestandteil, kleine Brotfladen warteten ausgebacken auf dem Tisch. Dazu würde es einen Bohnensalat mit Waldminze, frischen, scharf schmeckenden Löwenzahnblättern und in Honig gerösteten Ziegenkäsestücken geben.
Er hatte es sicher und warm und gleich würde er sich den Bauch füllen. Narn hingegen hockte irgendwo dort draußen im Wald fest, nass und halb erfroren, und Inja, seine Mutter, würde sich die ganze Nacht um ihn Sorgen machen müssen.
Hoffentlich ging es ihm nicht zu schlecht dort draußen …
s regnete nicht bloß, es schüttete. Eisige Fluten, die alles durchdrangen. Baumkronen, Blattwerk und auch das dichteste Gebüsch. Narn war längst nass bis auf die Haut. Die Sturmböen waren zu stark, dadurch wurde es lebensgefährlich, sich hervorzuwagen, um in Richtung Dorf zu laufen. Für ihn umso mehr, weil er kein warnendes Knacken hörte, sollte über seinem Kopf ein Ast abbrechen. Schon zwei Bäume waren in seiner unmittelbaren Nähe umgefallen und er wusste, er musste sofort raus aus dem Wald, wenn er diese Nacht überleben wollte.
Eine knappe Meile bis zum Dorf. An einem gewöhnlichen Tag war das nicht viel, das erledigte er im Dauerlauf. Narn war gestählt von der harten Arbeit, die er täglich leisten musste, dazu wieselflink von den häufigen Hetzjagden. Für gewöhnlich entwischte er Sharim allein durch seine Schnelligkeit. Bei diesem Sturm würde ihn Schnelligkeit allein nicht retten. Ein umstürzender Baum, den er nicht hörte, würde ihn erschlagen. Ein fallender Ast könnte ihn stark genug verletzen, dass er ohnmächtig oder bewegungsunfähig liegenblieb und dann an Unterkühlung starb.
Genau das war sein Verderb gewesen, die Sorge vor dem, was geschehen könnte. Wäre er einfach gerannt, als er beobachtet hatte, wie Dalil die Suche nach ihm abgebrochen hatte, statt ihm und den anderen einen Vorsprung geben zu wollen, wäre er jetzt heil und sicher zu Hause.
Einen langen Moment zögerte Narn, ob er es nicht einfach riskieren sollte, und wenn es schiefging – nun, wen kümmerte es? Ja, seine Mutter würde um ihn weinen. Sie liebte ihn, daran hatte er noch nie zweifeln müssen. Leider war sie weit und breit die Einzige, die ihn liebte. Auch das war ein Fakt, an dem kein Zweifel bestehen konnte. Alle wären erleichtert, ihn loszuwerden. Er war eine Last für die Gemeinschaft. Kein vollkommen nutzloser Esser, das nicht, doch er brachte zu wenig Nutzen, um damit auszugleichen, was er beanspruchte. Kleidung und Essen, Wasser, Werkzeug und Raum, das musste an ihn verschwendet werden. Manchmal auch Heilkräuter und Verbände, wenn er sich verletzte, was besonders schmerzlich war. Dafür arbeitete er zwar, so viel es ihm möglich war, aber wenn er fort wäre, müsste man ihm keine wertvolle Nahrung mehr abgeben, die von anderen Leuten dringender benötigt wurde.
Er könnte leicht die Götter herausfordern, von denen seine Mutter gelegentlich sprach. Das gehörte zu den Dingen, die sie ihm trotz aller Mühe nicht verständlich machen konnte. Es saßen unsichtbare Geister in sämtlichen Dingen – im Himmel, in den Wolken, in der Sonne, in der Erde, im Wasser, in der Luft und im Feuer anscheinend besonders ärgerliche Vertreter. Diese Geister taten, was sie wollten und manchmal waren sie gut zu den Menschen und manchmal waren sie es nicht. Narn nahm das hin, er wusste, es gab Dinge, die er nicht sehen konnte und dennoch waren sie da. Warum seine Mutter so oft und so viel von den Göttern sprach, hatte er hingegen noch nie begriffen.
Die Sturmgötter könnte er also herausfordern. Versuchen, heil zum Dorf zu gelangen, und wenn er starb, dann war es eben so. Allzu lange würde seine Mutter nicht um ihn weinen, dazu bereitete er ihr zu viel Kummer, bedeutete zu viel Schande.
Also, worauf wartete er eigentlich noch?
Narn kauerte beinahe bäuchlings unter einem niedrigen Gesträuch. Er fürchtete sich vor dem Sturm. Natürlich hatte er Angst vor diesen entfesselten Gewalten, er war schließlich nicht dumm! Das Heulen durchdrang sogar seine stumpfen Ohren, er hörte und er hasste diese Art von Lärm. Doch es war nicht diese Angst, die ihn zögern ließ, einfach loszurennen und zu hoffen, heil im Dorf anzukommen. Es war die Vorstellung, wie Sharim über seiner Leiche stehen würde, sollte es Narn erwischen.
Ja, er sah ihn genau vor sich, diesen grobschlächtigen Kerl. Keiner war größer oder stärker als er und mindestens einmal zu oft hatte man ihm gesagt, er wäre der Beste von allen. Es gab nichts, was man ihm nicht durchgehen ließ, solange er niemanden ermordete oder zum Krüppel schlug. Die schönsten Holzperlen, Federn und bestickten Kleidungsstücke waren für ihn reserviert. Für Sharim war das weicheste Hirschleder gerade noch gut genug, das beste Stück vom Braten gab man bei Feierlichkeiten nicht dem Dorfältesten, sondern ihm.