Verräterseele - Sandra Gernt - E-Book

Verräterseele E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Eine einzige Entscheidung kann das gesamte Leben wenden … Elory lebt als Kriegsgefangener und Heiler recht friedlich in einem Ishtary-Kloster. Als Hochverräter kann er niemals mehr nach Hause zurückkehren. Eines Tages wird ein schwerverletzter Mann zu ihm gebracht – Kayliv, ein Krieger und Bote des Königs. Eine Reise ins Ungewisse beginnt, bei der sie einander unabdingbar vertrauen müssen – obwohl Elory niemals mehr einem Schwertträger vertrauen wollte und Kayliv Männer aus Unai im Allgemeinen und Hochverräter im Besonderen zutiefst hasst und verachtet … Ca. 71.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 350 Seiten

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Eine einzige Entscheidung kann das gesamte Leben wenden …

 

Elory lebt als Kriegsgefangener und Heiler recht friedlich in einem Ishtary-Kloster. Als Hochverräter kann er niemals mehr nach Hause zurückkehren.

Eines Tages wird ein schwerverletzter Mann zu ihm gebracht – Kayliv, ein Krieger und Bote des Königs. Eine Reise ins Ungewisse beginnt, bei der sie einander unabdingbar vertrauen müssen – obwohl Elory niemals mehr einem Schwertträger vertrauen wollte und Kayliv Männer aus Unai im Allgemeinen und Hochverräter im Besonderen zutiefst hasst und verachtet …

 

 

Ca. 71.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 350 Seiten

 

 

 

 

von

Sandra Gernt

 

 

 

Inhalt

 

Kapitel 1: Verrat

Kapitel 2: Alte Wunden

Kapitel 3: Unabänderlichkeiten

Kapitel 4: Aufbruch

Kapitel 5: Zwei Welten

Kapitel 6: Finsterschwarze Abgründe

Kapitel 7: Sicherheit

Kapitel 8: Wohltaten

Kapitel 9: Wunschträume

Kapitel 10: Vergebliche Hoffnung

Kapitel 11: Schatten und Licht

Kapitel 12: Gift

Kapitel 13: Erfüllte Hoffnung

Kapitel 14: Des Königs Post

Kapitel 15: Attacke

Kapitel 16: Erkenntnis

Kapitel 17: Göttergeschenke

Kapitel 18: Friedensverhandlungen

Epilog: 5 Jahre später …

 

Verrat

 

lory schlich durch das Unterholz.

Er war als Späher ausgeschickt worden, nachdem sein Truppführer Spuren gefunden hatte. Frische Spuren, die auf die Anwesenheit von zwei oder drei Reitern hinwiesen. In diesem Gebiet musste man mit kleinen Feindgruppen rechnen, die sich über die unsichtbare Frontlinie gewagt hatten, um eben das zu tun, was Elory gerade tat – den Feind ausspähen.

Es war bitterlich kalt. Die Wintersonnenwende war knapp einen Mond her und Schnee, Eis und Frost hielten das Land eisern im Griff. Dazu Sturmwinde, die die herabrieselnden weichen Flocken umherwirbelten und in ungeschützte Gesichter peitschten.

Entsprechend froh war Elory, sich durch das dicht gewachsene Waldstück schleichen zu dürfen. Hier lag der Schnee weit weniger hoch und die Winde erreichten ihn nicht mit voller Macht. Nicht so wie am Vormittag. Da war er mit seinen Gefährten über offene Ebenen und niedrige Hügel geritten, wie es im Ufergebiet des Nacu weithin zu finden war; jener breite Fluss, dessen Ufer zurzeit die Grenzlinie in diesem Krieg bildete.

Seine Gefährten hielten sich verborgen und Elory war angewiesen, sehr vorsichtig vorzugehen. Er sollte beobachten, sich vergewissern, ob es sich tatsächlich um Feinde oder Verbündete handelte und im ersteren Fall die Anzahl und Bewaffnung herausfinden, sofern möglich. Bloß keinen Kontakt aufnehmen und keinen Angriff riskieren. Elory war noch lange kein respektabler Krieger, und sollten es Feinde sein, würden diese üblicherweise sehr zügig zurück über den Fluss auf die eigene Seite verschwinden. Gerade die kleinen Spionagetruppen taten, was immer notwendig war, um Kämpfe zu vermeiden; schließlich wollten sie gerne lebendig nach Hause zurückkehren.

Das war auch Elorys unbedingter Plan. Fünfzehn Sommer waren für seinen Geschmack zu wenig, um schon zu sterben.

Rasch schlug er ein Sonnenrad, zur Abwehr böser Geister und dunkler Gedanken gleichermaßen. Es brachte Unglück, über den eigenen Tod nachzudenken. Die Schicksalsgöttin hatte ihre Lauscher überall, wie man sagte.

Er verharrte erschrocken, als er mit einem Mal Stimmen vor sich hörte. Da war er wohl mit seinen Gedanken davongewandert, das hätte schiefgehen können! Hoffentlich hatte man ihn noch nicht gehört. Das Stapfen durch den Schnee war nicht gerade lautlos zu nennen. Zum Glück geschah nichts, auch nach Minuten kam niemand in Sichtweite. Da die Stimmen sich nicht von ihm fortbewegten, hatten diese Leute wohl begonnen, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Es würde noch ein, zwei Stunden dauern, bevor es dunkel wurde, aber hier waren sie weit von allen Soldatenlagern, Siedlungen und Dörfern entfernt. Leider sprach das sehr für feindliche Späher.

Elory schob sich Fußbreit um Fußbreit voran, extrem darauf bedacht, möglichst keinen Lärm zu verursachen. Er musste die Männer nicht sehen, um diesen Punkt eindeutig zu klären. Zwar sprach das Volk der Tiyé, die auf der anderen Flussseite lebten, dieselbe Sprache wie Elorys Volk, die Unai. Doch es gab eine Handvoll eindeutiger Unterschiede in der Aussprache und Betonung sowie der Nutzung einiger Worte. Wenn er nah genug herankam, um sie belauschen zu können, würde er sie rasch zuzuordnen wissen. Glücklicherweise trug die klare Luft die Stimmen weit. Er wollte ihnen nicht näherkommen, als es zwingend notwendig war und eigentlich hatte er auch längst die Nase voll von diesem Auftrag. Elory wollte zurück nach Hause. Leider war das sehr, sehr weit entfernt von hier …

Noch einen Schritt näher, dann sollte er die Worte verstehen. Er roch kein Lagerfeuer, auch das sprach für Feinde. Kein Gelächter, lediglich ernste Männerstimmen, die über irgendetwas diskutierten. Elory beugte sich weit um einen Dornenbusch herum, nach wie vor im Schutz der dicht beisammenstehenden Bäume. In etwa zehn Schritt Entfernung konnte er eine Lichtung ausmachen. Gestalten bewegten sich. Ein Pferd schnaubte leise.

„Hey, sei mal vorsichtig mit der Plane. Da wollen wir drauf schlafen, verdammt“, hörte er einen Mann sagen. Eindeutig ein Tiyéner.

„Jajaja, reg dich ab“, murrte … Verdammt! Das war doch derselbe Mann! Führte der Selbstgespräche, in denen er sich zur Sorgfalt mahnte? Das ergab überhaupt gar keinen Sinn! Es sei denn …

Die wissen, dass ich hier bin!, dachte Elory panisch. Er wollte zurückzucken. Sich irgendwie in Sicherheit bringen. Aber kaum hatte er den Kopf zurückgezogen, da huschte ein Schatten hinter einem Baumstamm hervor.

Elory wurde gepackt, rücklings gegen den Baum gepresst. Eine Messerklinge drückte sich gegen seine Kehle. In Todesangst nach Luft schnappend versuchte er, Abstand zwischen seinem Hals und dem scharfen Stück Stahl zu bringen. Nur nach und nach registrierte er das Gesicht des Mannes, der ihn gefangen hielt.

Schmal. Faltig. Verhärmt. Wettergegerbte Haut. Tiefe Ringe unter dunklen Augen. Unordentliche Stoppeln. Ein halbwegs gepflegter Schnauzbart. Elory schätzte ihn auf Ende Vierzig, Anfang Fünfzig. Ein Veteran, der schon alles gesehen hatte und entsprechend müde von der Welt und dem Krieg war. Niemand, der ihm Gnade gewähren, der sich von flehentlichen Bitten oder dem Anblick von Jugend und Unschuld erweichen lassen würde.

Sein Herz sank. Wie sollte er diesen Mann dazu bringen, ihn nicht sofort abzuschlachten?

„Was haben wir da?“ Der zweite Mann kam dazu. Er hatte hässliche Narben, als wäre ihm vor Jahren brennendes Lampenöl ins Gesicht gespritzt. Sie waren beide groß gewachsen und hager und trugen unauffällige Kleidung. Dicke Schichten aus Wolle und Leder, die dafür sorgten, dass sie bei der Witterung nicht erfroren. Dazu nur leichte Bewaffnung mit Kampfmessern im Gürtel.

„Ein verängstigtes Kaninchen, das haben wir“, brummte der erste Mann, ohne die Klinge sinken zu lassen. „Sieht tatsächlich nicht nach einem tapferen Krieger aus.“ Ohne Vorwarnung presste er die freie Hand gegen Elorys Mund, brutal genug, um den erschrockenen Schrei zu dämpfen. Es tat weh. Nicht einmal das hatte Bedeutung. „Ich frage dich das nur ein einziges Mal, Kleiner: Sind andere Leute, vollkommen egal wer, in Hörweite?“

Erschrocken schüttelte Elory den Kopf. Erst danach kam er ins Denken – war das jetzt ein tödlicher Fehler gewesen? Würde man ihn nun einfach umbringen?

Der feindliche Krieger gab ihn frei. Elory presste winselnd vor Angst die Augen zusammen, erwartete, dass der Kerl jetzt ausholte und ihm die Klinge in die Kehle rammte.

„Atmen, Kleiner“, hörte er dessen höhnische Stimme wie aus unendlicher Ferne und über das Rauschen in seinen Ohren hinweg. „Schön atmen. Wir sind noch längst nicht fertig mit dir.“

Unfähig, sich auf den Beinen zu halten, sackte er wimmernd in sich zusammen und landete im Schnee. Das allerdings bloß für einen Moment, denn er wurde gepackt und hochgerissen. Die beiden Feinde schleppten ihn zur Lichtung hinüber und warfen ihn dort zurück auf den Boden. Er landete auf einer Plane, offenkundig die, mit der der eine Krieger vorhin hantiert hatte.

„Dein Name?“, fragte der Narbige.

„Elory.“

„In Ordnung, Kleiner. Elory. Zieh deine Handschuhe aus.“

„Wa…?“ Verblüfft starrte er hoch.

„Mach einfach, wir haben nicht ewig Zeit!“, knurrte der schnauzbärtige Feind. Elory nickte, schniefte. Zerrte sich die wollgefütterten Handschuhe von den Fingern. Der Narbige packte sie beide, zog sie zu sich heran. Betrachtete sie aufmerksam.

„Kein Bauer“, sagte er sofort. „Die Nägel sind sauber und gepflegt. Hm. Wenig Schwielen. Die Rechte ist seine starke Hand. Er kann schreiben und reiten.“ Der Mann strich ihm prüfend über die Außenseiten der Finger, tastete über Elorys Handfläche, als wäre er eine Wahrsagerin aus dem fahrenden Volk. „Er trainiert mit Bogen und Klinge, aber noch nicht sehr lange.“ Elory wurde am Kinn gepackt, er musste seine Zähne zeigen, als wäre er ein Sklave auf dem Markt. Seine Muskeln an Oberarmen und Schenkeln wurden prüfend betastet. Dann nickte der Narbige schließlich und warf ihm die Handschuhe wieder zu.

„Junger Mann aus niederem Adel. Sehr, sehr jung. Anständig genährt, anständig gewachsen. Womöglich hat er eine Weile in einem Tempel gelebt, um erzogen zu werden“, sagte er. „Wäre er höherrangig, würde er uns mit Arroganz begegnen und wäre deutlich besser an den Waffen ausgebildet. Seine Zeit hat er früher am Schreibpult und auf Pferdeweiden zugebracht, könnte ich mir vorstellen. Auch den Ausbruch den Krieges dürfte er zunächst noch frei überstanden haben. Wann haben sie dich einberufen, Elory, hm?“

Er starrte den Mann völlig verwirrt an. Wie konnte der all dies über ihn wissen, nachdem er bloß einige Male über Elorys Hände gestrichen hatte? War er vielleicht doch ein Wahrsager? Wobei nicht alles der Wahrheit entsprach, doch nah genug herankam, um kein Zufall sein zu können.

„Wie ich sehe, war das ein Volltreffer in allen Punkten, Jego“, murmelte der Schnauzbärtige und klopfte seinem Gefährten grinsend auf die Schulter, bevor er sich wieder zu Elory wandte. „Seit wann musst du dienen, Kleiner, hm?“ Es klang halbwegs freundlich.

„Noch keine vier Monde“, erwiderte er, seltsam beschämt, obwohl seine Unerfahrenheit nun wirklich nicht seine Schuld war.

„Und aus welcher hübschen Provinz stammst du?“, wollte Jego wissen.

„Vrasna.“

„Das ist ziemlich weit weg von hier, im Osten, ja?“

„Ja. Vom Land meiner Familie aus kann ich das Meer riechen, wenn wir Westwind haben.“

„Fein. Du wurdest also zu den Aufklärungstruppen an den Grenzfluss geschickt. Und deine Ausbilder haben dich allein losgejagt, damit du Spuren im Schnee folgst“, sagte Jego. „Kann es sein, dass deine Leute dich hassen? Dich unbedingt loswerden wollen?“

„Nein!“, rief Elory heftig und schüttelte den Kopf. „Dion und Zuyr kennen mich doch gar nicht! Ich wurde ihnen heute Morgen erst zugeteilt und wir sollten bloß …“ Er brach ab, weil er schon viel zu viel verraten hatte. Jego und dessen Gefährte wussten nun, dass zwei weitere Krieger dort draußen waren, kannten ihre Namen. Er stellte sich wirklich dumm an!

Die Männer lachten gutmütig, Jego tätschelte ihm die Wange.

„Die zwei haben sicher geglaubt, die Spuren seien schon einen Tag alt und wir wären längst wieder auf der anderen Flussseite. Was machen die beiden, während du deinen Hals riskierst?“, fragte er.

„Sie wollten ein Lager aufschlagen. Wir sollen den Fluss im Blick halten in dieser Gegend und in drei Tagen zum Hauptlager zurückkehren, zur Ablösung.“

„Wie weit sind sie von hier entfernt?“, fragte Jegos Gefährte.

„Zwei Meilen vielleicht.“ Elory senkte den Kopf und biss sich die Unterlippe blutig, um nicht loszuschreien. Wäre es klüger gewesen zu behaupten, dass sich seine Gefährten in Rufweite befänden? Hätte man ihn dafür getötet? Freigelassen? Was war richtig? Schweigen oder rückhaltlose Ehrlichkeit?

„Zwei Meilen, ja? Dann müssen wir uns bewegen. Sie werden unruhig werden, sobald es zu dämmern beginnt, und nach dir suchen. Ob sie dich nun lästig finden sollten oder nicht, sie sind für dich verantwortlich. Vielleicht schimpfen sie, vielleicht denken sie, du hast dich verlaufen oder bist in ein Loch getreten und hast dir den Fuß verdreht. Aber sie werden dich suchen, und dann dürfen wir nicht mehr hier sein.“

„Bitte bringt mich nicht um. Bitte! Fesselt mich an den nächsten Baum und lasst mich zurück, ich flehe euch an, bitte, ich … Nein!“ Elory versuchte zurückzuweichen, als Jego auf ihn zukam, doch er wurde von dessen Gefährten hinterrücks gepackt und ohne Schwierigkeiten niedergerungen. Er wehrte sich, so gut es ging, schrie, strampelte, schlug, trat um sich. Die Männer warfen ihn herum, fesselten ihm die Arme auf den Rücken, dämpften seine Schreie mit einem Knebel, banden auch seine Beine zusammen.

Als er dann noch immer um sein Leben kämpfte, versetzte Jego ihm schließlich einen Hieb in den Unterleib. Stöhnend klappte Elory zusammen, schlagartig zu schwach für jeglichen Widerstand.

„So, Kleiner, nun beruhig dich mal“, sagte der Schnauzbärtige amüsiert. „Wir bringen dich nicht um und wir fesseln dich auch nicht an einen Baum. Falls deine Kumpane nämlich ein bisschen langsam von Begriff sind, fällt ihnen zu spät auf, dass du fehlst und du hängst die ganze Nacht da herum. Bis sie dich morgen früh finden würden, wärst du längst erfroren. Wäre Verschwendung. Du bist zwar ziemlich nutzlos als Krieger, aber man kann sicherlich noch was mit dir anstellen, wenn du erst mal Erfahrung hast und ein bisschen abgehärtet bist. Nun gut, es ist nicht wahrscheinlich, dass du das noch erleben wirst, aber das soll nicht unsere Schuld sein.“ Er tätschelte Elory die Wange. Zu mehr als einem Augenrollen war Elory nicht fähig, ihm war übel von dem Fausthieb. Nie zuvor war er auf diese Weise geschlagen worden. Weil er als Kind kränklich gewesen war, hatte er auch von seinem Vater und seinen Erziehern kaum je Züchtigung erfahren.

„Wir nehmen dich mit“, sagte Jego und holte derweil die beiden Pferde. „Unser Herr wird dich befragen. Was danach mit dir geschieht, da will ich keine sinnlosen Versprechungen machen. Er ist aber keineswegs grausam.“

Elory kannte da gänzlich andere Geschichten. Verschleppte Krieger fand man in der Regel mit durchtrennter Kehle wieder, häufig genug mit fürchterlichen Folterwunden am Leib. Erschöpfung wusch über ihn hinweg. Es war hoffnungslos. Sein Leben war verwirkt. Hoffentlich würde es nicht zu lange dauern, bis er Erlösung fand!

 

 

Jego hatte ihn zu sich in den Sattel genommen. Das war mehr als unangenehm, denn er schrammte mit den Schenkel über den Sattelrand, und das bei jeder einzelnen Bewegung des kräftigen Wallachs, der sie trug. Der Mann hatte einen Arm locker um Elorys Brust geschlungen, um ihm Halt zu geben. Er hasste es! Hasste die Nähe. Das Mitleid, mit dem man ihn bedachte. Und wenn er schon einmal dabei war: Er hasste den Krieg, den Schnee und jegliche Art von Waffen und Ausrüstung.

Sie ließen die Pferde langsam ausschreiten und blieben am Waldrand. Erst als es dämmerte, bewegten sie sich auf den Fluss zu. Das war klug, denn niemand konnte genau sagen, wo sich Wachtruppen aufhielten, die den Fluss beobachteten und dafür sorgen sollten, dass nicht zu viele Feinde ihn überquerten. Im Schutz der Dunkelheit ging es durch das flache, recht munter dahinströmende Wasser, das nur stellenweise Zeichen zeigte, festfrieren zu wollen.

Auf der anderen Uferseite beschleunigten sie, entzündeten Laternen, um sich orientieren zu können. Elory fiel in eine Art Trance. Schmerz und Angst hatten ihn zu sehr erschöpft, um noch lange standhalten zu können, darum döste er immer wieder für einige Momente weg und schrak hoch, sobald sein Kopf herabsank. Mittlerweile quälte ihn deswegen auch sein Nacken. Der Knebel erschwerte ihm das Atmen und ihm war kalt, so bitterlich kalt …

Was würden seine Eltern denken? Sein Vater war stolz gewesen, als man ihn, Elory, an die Front geordert hatte. Seine Mutter hingegen hatte geweint und wollte dagegen vorgehen, weil er noch zu jung war. Elory selbst war eigentlich recht aufgeregt und vorfreudig gewesen. Er mochte die Idee, für sein Vaterland zu kämpfen und dafür zu sorgen, dass die bösen Feinde fortgejagt wurden. Das waren Ideen, die sich in einem überhitzten, düsteren Studierzimmer gut anfühlten – Kameradschaft, den ganzen Tag reiten, ein treues Schwert an der Seite, ein klares Ziel vor Augen, Ehre, Tapferkeit, Mannbarkeit … Alles hübsch verpackt mit dem Versprechen auf Abenteuer und sichere Heimkehr.

Nur wenige Monde später hatte er zu viele verstümmelte Leichen gesehen, um noch an diese Lügen zu glauben. Im Schnee bitterlich zu frieren, von den eigenen Kommandanten als Frontfutter bezeichnet zu werden, niedere Arbeiten erledigen, bis die Finger bluteten, statt an den Waffen ausgebildet zu werden – das war kein Abenteuer, das war ein Albtraum. Einer, der nun enden würde, noch bevor er selbst je tatsächlich hatte kämpfen dürfen. Nun, man würde seiner Familie nicht die Wahrheit erzählen. Wobei sein Vater sie eigentlich kennen müsste, schließlich war er selbst auch einbeordert worden, als junger Mann. Wohl einige Jahre älter als Elory, und er war heimgekehrt. Vielleicht hatte er vergessen, was ihm widerfahren war? Gewiss hatte er sich klüger angestellt. Über solche Dinge hatte er mit Elory nie geredet.

Er musste tatsächlich eingeschlafen sein. Mit einem Mal befanden sie sich mitten einem Lager. Es sah exakt genauso aus wie die Lager auf der anderen Flussseite, und die Krieger beschäftigten sich mit exakt den gleichen Arbeiten und führten exakt die gleichen Gespräche. Wäre nicht die minimal andere Aussprache, könnte Elory sich einbilden, sie hätten ihn zurück zu seinen eigenen Leuten gebracht.

Der Schnauzbärtige war mittlerweile verschwunden, wie er irritiert feststellte. Jego ritt allein mit ihm im Schritt durch das Lager, begrüßte hier und dort Freunde und Kameraden.

„Na, wieder wach, Kleiner?“, fragte er ihn, als er vor einem großen Zelt anhielt. Es klang recht freundlich, trotz des unverkennbaren Spotts in seiner Stimme. „Machst es richtig, immer schlafen, wenn man die Gelegenheit dazu hat.“ Er beugte sich vor und wandte sich an einen Wachposten vor dem Zelt. „Ist er drinnen?“

„Nein“, lautete die knappe Antwort. „Besprechung mit den Oberen. Bring den Gefangenen trotzdem rein. Er wird sich schon um ihn kümmern.“

Jego stieg ab und zerrte Elory aus dem Sattel. Mit wenig Mühe wuchtete er ihn sich über die Schulter, trug ihn in das Zelt. Innen sorgten geschlossene Kohlepfannen für ein bisschen Wärme und Laternen für dämmriges Licht. Elory wurde wie ein Sack Getreide auf dem Boden abgeworfen. Jego prüfte noch einmal seine Fesseln und den Sitz des Knebels.

„Du bist wirklich noch verdammt jung, hm? Ich glaube, selbst mein jüngster Sohn ist älter als du. Sind deine Leute so verzweifelt?“ Er schüttelte den Kopf und tätschelte ihm freundlich die Wange. „Wird nicht lange dauern. Du weißt sowieso nichts, was du verraten könntest. Unser Herr hat Wichtigeres zu tun, als jemanden wie dich über Stunden zu quälen. Viel Glück, Kleiner.“ Er erhob sich und ließ Elory zurück.

Noch bevor er das Zelt verlassen konnte, trat jemand ein. Seine Haltung machte sofort klar, was für ein hochrangiger, wichtiger Mann er sein musste. Die Rüstung schimmerte, das Wappen von Tiyé war in leuchtendem Silber auf schwarzem Grund eingeprägt: Ein auf die Spitze gestelltes Dreieck, in der Mitte ein Baum, umgeben von drei großen Punkten in jedem der Winkel. Die Punkte standen für die Gründungssteine des Königreiches.

Der Mann war hoch gewachsen, das Gesicht edel geschnitten, mit flachen Falten an der hohen Stirn und den Augenwinkeln. Dunkles Haar, das den ersten Raureif zeigte. Ein gepflegter Vollbart, ebenfalls angegraut. Der Blick war hart, als er über Elory streifte.

Jego ließ sich auf die Knie fallen.

„Herr!“, rief er respektvoll, die rechte Faust über dem Herzen geballt, den Kopf tief gesenkt. Auf diese Weise begrüßte man keinen einfachen Lagerkommandanten. Die trugen für gewöhnlich auch keine Wappen auf dem Brustpanzer. Elorys Ohren rauschten ein weiteres Mal von dem Sturm in seinem Bewusstsein – das musste König Antyim persönlich sein! Dessen Söhne waren zu jung, als dass dies ein Prinz sein könnte und … O ihr Götter!

„Seit wann fangen wir Säuglinge ein?“, fragte Antyim und wies missbilligend zu Elory hinüber.

„Seit die Bastarde ihre Säuglinge an die Front schicken, Herr. Er wurde als Späher losgejagt. Weiß nicht, wo das spitze Ende bei einem Schwert ist, das arme Ding. Niederer Landadel. Kann Lesen und Schreiben, also sollte er Euch sagen können, wo die Lager zu finden sind.“

„Gut. Habt ihr zwei sonst noch etwas Wichtiges beobachten können?“

„Nein, Herr. Weit und breit auf unserer Route war der Junge dort das einzige größere Lebewesen. Seine Gefährten waren rund zwei Meilen entfernt.“

„Du kannst gehen.“ Antyim nickte Jego zu. Der verneigte sich noch einmal respektvoll und ging dann, ohne sich um Elory zu kümmern oder ihn ein letztes Mal anzusehen. Während Elory nun wieder von Neuem Panik spürte und verängstigt von Kopf bis Fuß schlotterte, ließ der König sich Zeit. Er legte seine schwere Rüstung und die Waffen ab, leerte einen Trinkbecher, las versiegelte Briefe, die auf einem Tisch lagen. Von draußen drangen die Stimmen der Krieger hinein, metallisches Klirren, geschäftiges Treiben. Hier im Zelt war es still und Elorys unterdrücktes Wimmern die einzigen Laute.

Das schien auch Antyim zu bemerken, denn mit einem Mal warf er den Brief in seiner Hand auf den Tisch und kam zu ihm.

„Bei der Göttin der Weisheit, du raubst mir den letzten Nerv!“ Er zückte ein Messer. Elory versteifte sich, versuchte vollkommen vergeblich, sich irgendwie zu schützen. Zu fliehen. Hilfe zu finden. Es gab kein Entkommen. In Todesangst schrie er in den Knebel – der ihm unvermittelt entrissen wurde. Kalter Stahl presste sich gegen seine Kehle. Eine Hand grub sich in sein Haar und fixierte ihn auf schmerzhafte Weise. Elory erstarrte vollständig.

„Hör mir zu, Kleiner!“, befahl Antyim. „Ich bin zu müde, um mich mit dir heute Nacht abzugeben. Immerhin muss ich erst auf die Schnelle deinen Willen brechen, damit du mir keine Lügen erzählst, sondern wahrheitsgetreu aufzeichnest, wo sich euer Hauptlager zurzeit befindet. Wenn ich das jetzt versuche, bist du tot, bevor du nützlich sein konntest. Ich kann leider nicht schlafen, wenn ich solches Gejammere hören muss. Können wir uns einigen? Du bleibst still, absolut still. Im Gegenzug verbringst du deine letzte Nacht auf dieser Welt ohne Knebel und mit einer Eisenschelle um den Hals statt Fesseln von Kopf bis Fuß. Lass dir allerdings gesagt sein, wenn du mit der Kette zu sehr klimperst, erledige ich dich und ärgere mich dann eben morgen früh, weil du so nutzlos warst. Hast du das alles verstanden?“

„Ja, Eure Majestät“, wisperte Elory. Er konnte den Blick nicht von diesem Gesicht nehmen. Ein wahrhaftiger König sprach zu ihm! Nicht einmal sein eigener König hatte sich je die Mühe gemacht, seine Existenz anzuerkennen, die wenigen Male, die sein Vater ihn mit an den Hof geschleppt hatte.

Antyim betrachtete ihn. Ein amüsierter Ausdruck trat in seinen Blick.

„Sei so gut und schrei nicht wieder, wenn ich dir jetzt die Fesseln zerschneide. Und unterlasse jegliche dummen Versuche, mich anzugreifen.“

Auf die Idee wäre Elory gar nicht gekommen. Sein Peiniger arbeitete rasch und geschickt und befreite ihn, ohne ihm die Haut zu ritzen. Kaum fand er sich ohne Fesseln auf der dicken Ölplane wieder, mit der der Boden des Zeltes ausgelegt war, wurde ihm auch schon eine Sklavenschelle um den Hals geschlungen. Sie saß locker genug, um nicht beim Atmen zu stören, war allerdings schwer und auch sonst wenig angenehm. Die Schelle war mit einer langen Eisenkette verbunden. Diese Kette ließ der König in ein Schloss einrasten, das wiederum an einem Haken hing, der in den Boden geschlagen wurde.

„Mein Schlaf ist leicht. Wenn du versucht, aufzustehen und den Haken rauszuzerren, um fliehen zu können, wird mich das sehr sicher wecken. Er steckt zu tief, um es ohne Weiteres zu bewerkstelligen. Du würdest dabei laut schnaufen und mit der Kette klimpern und mager wie du bist, schaffst du es sowieso nicht. Sollte es dir doch gelingen, werden die Wachposten rund um das Zelt mit dir fertig werden. Du darfst es jetzt gerne einmal kurz ausprobieren, damit wir das hinter uns haben. Nur zu!“ Er wies zum Haken. Elory betrachtete das schwere, stabile Konstrukt und schüttelte dann den Kopf.

„Vergebung, Eure Majestät. Ich sehe und erkenne die Wahrheit Eurer Worte. Kein Grund, mich vor Euch zu blamieren.“

Antyim stutzte, begann dann leise zu lachen.

„Darüber machst du dir Sorgen? Dass du dich blamieren könntest? Ihr Götter …“ Das Lachen endete in einem Seufzen. Man sah, wie erschöpft dieser Mann war. „Leg dich hin, Junge. Bete, wenn du magst, aber lautlos. Schlaf, wenn du kannst.“ Mit diesen Worten erhob er sich und kehrte zum Tisch zurück. Elory rollte sich bestmöglich zusammen und blieb mit dem Gesicht zum Zelteingang liegen. Ihm war kalt, doch es war nicht unerträglich. Er hatte Durst, das war deutlich schlimmer. Antyim schien kein grausamer Mann zu sein. Vielleicht konnte er ihn morgen früh bitten, ihm eine kleine Gnade zu gewähren. Ein winziges Stück Papyrus, auf dem er ein paar Abschiedsworte an seine Eltern schreiben konnte. Möglicherweise würde der König sich seiner erbarmen … Und ihm zusätzlich einen Schluck Wasser gewähren. Jetzt wollte er ihn auf keinen Fall belästigen.

Nach einer Weile rief Antyim einen der Wächter herein.

„Bring mir Essen!“, befahl er. „Und nimm das dort mit.“ Er wies auf die zerschnittenen Fesseln.

„Ja, Herr.“ Der Mann klaubte die Schnüre vom Boden, verschwand. Kehrte rasch mit einem Tablett zurück, auf dem sich eine große Schale mit Eintopf, Brot und ein Trinkbecher befand. Die Düfte nach warmen Essen drangen in Elorys Nase. Er hatte seit dem Sonnenaufgang nichts mehr gehabt. Umgehend begann sein Magen zu knurren, laut und vernehmlich. Erschrocken zuckte er zusammen – er sollte still sein und genau das wollte er ja auch! Die unwillkürlichen Reaktionen konnte er leider nicht verhindern.

Zum Glück schien Antyim sich nicht daran zu stören. Er aß in Ruhe, las weitere Briefe, blickte nicht einmal zu ihm herüber. Gut so! Irgendwann ließ auch der glühende Neid nach, der Elory erfasst hatte. Er war hungrig! Und hatte solchen Durst … Weil er seinen letzten Wunsch nicht vergeuden wollte – ohne zu wissen, ob man ihm einen gewähren würde – und ihm der Abschiedsbrief an seine Eltern wichtiger war als Nahrung, blieb er eisern still. Bat um nichts. Lenkte sich mit Lauschen ab, worüber die Krieger dort draußen sprachen. In erster Linie waren es Klagen über das Wetter, das Essen und die Langeweile. Die Front stand schon zu lange unbeweglich, nichts geschah, niemand griff an bei diesen kurzen Stunden Tageslicht und den ständigen Schneestürmen.

Antyim beendete sein Mahl, ließ das Tablett abholen. Dann stand er auf, löschte die Laternen bis auf eine einzige, und ging zu seiner Bettstatt. Sie bestand aus hölzernen Gestellen, die man zusammengeschoben und mit dicken Fellen und Decken ausgelegt hatte. So konnte der König schlafen, ohne sich mit der Kälte und den Unebenheiten des Bodens ärgern zu müssen. Es war womöglich nicht bequem, warm hingegen hatte er es ganz sicher. Schon nach wenigen Momenten hörte Elory ihn tief und ruhig atmen. Ja, Antyim war eindeutig sehr, sehr erschöpft gewesen. Krieg kostete Kraft.

Er selbst konnte nicht schlafen, egal wie müde er auch sein mochte. Ein wenig dämmern, dösen, mehr war nicht möglich. Wann immer er tiefer in den Schlaf zu sinken begann, rissen ihn albtraumhafte Bilder hoch. Visionen von Folter, Blut, Tod. Ein Tod, bei dem er schrie, bis sein Herz endlich aufgab.

Ein, zwei Stunden mochten vergangen sein. Draußen im Lager war nun ebenfalls Ruhe eingekehrt. Dann erklang Hufgeklapper. Stimmen, die unterdrückt redeten.

„Herr?“, rief der Wachposten vom Zelteingang aus.

Mit einer einzigen, fließenden Bewegung glitt Antyim von seinem Lager hoch, wieder bereit für den Kampf, obwohl er kaum lange genug geruht haben konnte.

„Sprich“, entgegnete er.

„Brior ist angekommen und wünscht Euch zu sprechen.“

„Schick ihn rein.“ Antyim warf einen kurzen Blick zu Elory hinüber, ohne echtes Interesse. Es schien ihn nicht zu wundern, ihn wach vorzufinden. Da Elory nicht mehr lange leben würde, brauchte es auch keine weitere Vorsicht mit den Kriegsgeheimnissen.

Ein Krieger trat ein und bezeugte seinen Respekt.

„Ich bringe einen Brief, Herr. Fürst Tarek hat ihn von einem Späher erhalten, der sich ins Nordlager der Unaier einschleichen konnte. Dieser Brief wurde unter größter persönlicher Gefahr über die Grenze gebracht.“

„Gut gemacht“, murmelte Antyim und befragte den Mann noch einige Minuten über dieses und jenes, was den Kriegsverlauf, Truppen, innenpolitisches Geschehen hier in Tiyé betraf. Diesen Brior kümmerte es offenkundig nicht im Mindesten, dass ein Feind mit im Zelt lag. Elory könnte genauso gut ein Schemel sein. Oder eine Leiche. Genau das, was er in einigen Stunden sein würde.

„Geh, lass dir ein Zelt zuweisen“, befahl Antyim schließlich. „Morgen früh erhältst du neue Anweisungen.“

„Jawohl, Herr.“ Der Krieger verließ das Zelt. Antyim drehte und wendete den Briefumschlag, bevor er das Siegel brach und hineinschaute.

„Verschlüsselt“, knurrte er angewidert. Er warf die Dokumente auf den Tisch und kehrte zu seiner Schlafstatt zurück. Hm. Schade. Elory hätte gerne erfahren, was darin stand. Ihm gefiel die Idee nicht, dass Feinde bei ihnen erfolgreich spähten, obwohl ihm vollkommen klar war, dass sich so etwas nicht vermeiden ließ. Nun, wenn Antyim sich an das Entschlüsseln begab, würde er, Elory, sicherlich schon längst tot sein. Dann musste ihn das alles hier nicht mehr kümmern.

Wenn die Nacht doch endlich vorbei sein könnte … Er wollte nicht auf seine Hinrichtung warten müssen.

 

 

„Verflucht!“

Elory fuhr schlaftrunken in die Höhe. Wie auch immer das geschehen sein mochte, er musste tief eingeschlafen sein. König Antyim saß am Tisch, neben sich eine Laterne. Er war es gewesen, der gerade laut geflucht und mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen hatte. Glücklicherweise reagierte er nicht darauf, dass Elorys Kette durch die ruckartige Bewegung geklimpert hatte.

Ein Wachposten steckte den Kopf rein.

„Herr?“, fragte er.

„Nichts weiter. Ich habe Schwierigkeiten mit einer verschlüsselten Nachricht“, knurrte Antyim. Der Wachposten zog sich stumm zurück. „Nein, wirklich, was soll dieser Unfug denn bedeuten?“, fuhr Antyim im Selbstgespräch fort. „Kann doch nicht sein, dass kein einziger der normalen Schlüssel dazu passt.“

„Wenn es eine unaische Verschlüsselung ist, dann schon“, murmelte Elory, bevor er sich daran hindern konnte.

„Was?“ Ungehalten fuhr Antyim herum und starrte auf ihn herab. Man sah ihm an, dass er Elorys Anwesenheit vollständig verdrängt hatte und nicht allzu beglückt darüber war, sich an ihn erinnern zu müssen. Unwillkürlich duckte Elory sich zusammen und betete mit zusammengebissenen Kiefern, der König möge ihn augenblicklich wieder aus seinem Bewusstsein streichen und sich niemals mehr an ihn erinnern.

„So nicht, Bursche. Hoch mit dir!“ Antyim sprang auf, zerrte Elory brutal auf die Füße. „Weißt du irgendetwas über unaische Verschlüsselungstechniken? Ein unwichtiger Junge wie du? Der fünfte, sechste, achte Sohn irgendeines Landadligen, der auch nichts anderes als ein Bauer ist, nur mit mehr Recht am eigenen Land?“ Er schüttelte ihn grob und Elory erwartete, geschlagen zu werden, oder vielleicht auch zurück zum Boden geschubst, doch Antyim hielt ihn fest. Er packte Elory am Kinn und zwang ihn, zu ihm aufzublicken. „Nun los!“, befahl er, diesmal leise und drohend. „Was weiß ein Kleinkind wie du über Kriegsgeheimnisse?“

Ah. Jetzt war er zumindest kein Säugling mehr? Ein wenig Trotz erwachte in Elorys Brust, kaum mehr als ein Schmetterlingsflügelschlag.

„Ich weiß …“, begann er und stoppte sich harsch. Eieiei. Sein verletzter Stolz musste schweigen. Selbst dann, wenn sein eigenes Leben dadurch möglicherweise um einige Stunden verlängert werden könnte. Dies war der Feind. Er durfte nicht reden! Sein Blick irrte zum Tisch. Zu dem Umschlag. Dem Siegel, das er sofort erkannte. Dem scheinbar sinnlosen Buchstaben-Wirrwarr auf dem Pergament. Konnte es sein …?

„Ihr Götter, nein!“ Er riss sich los und glitt auf den Stuhl. Nahm das Pergament in die Hand. In seinem Kopf ratterten die Buchstabenkombinationen durcheinander und fügten sich zu neuen Wörtern zusammen. Schockiert blickte er hoch, als er eine Bewegung neben sich spürte. Antyim stand mit vor der Brust verschränkten Armen an seiner Seite und beobachtete ihn misstrauisch.

„Willst du hier ein Schauspiel aufführen?“, fragte der König. „Erzähl mir nicht, du könntest diese Nachricht im Kopf entschlüsseln, ohne dir Notizen machen zu müssen. Selbst wenn du wüsstest, wie diese Kodierung funktioniert … Was ich mir nicht vorstellen kann.“

„Ich habe sie selbst entwickelt“, murmelte Elory und prüfte, was er bislang herausgelesen hatte. „Majestät. Dies ist ein Original, keine Abschrift. Das Siegel stammt von meinem Vater.“ Er wies auf den Umschlag.

„Dein Vater ist also Wotar, Freiherr von Iskabach in Vrasna? Das ist schon mehr als niederer Landadel“, entgegnete Antyim.

„Ich habe nie behauptet, niederer Adel zu sein. Eure Männer haben das daraus geschlossen, weil mir das hochherrschaftliche Auftreten fehlt.“

„Ein verzeihlicher Fehler, denn du benimmst dich tatsächlich wie ein Bauer“, sagte Antyim geringschätzig. Dass er aufrecht stehen musste, weil Elory den einzigen Stuhl besetzt hielt, obwohl er derjenige mit der Sklavenschelle um den Hals war und der Besitzer des Stuhls ein König, sagte wohl alles dazu, wie recht er hatte … Elory errötete beschämt, doch er wusste nicht, wie er den Fehler ändern sollte, ohne sich noch mehr ins schlechtestmögliche Licht zu rücken.

„Ich war ein schwaches, krankes Kind“, sagte er rasch. „Den größten Teil meines Lebens habe ich in einem Ishtary-Kloster zugebracht.“ Die Göttin der Heilkunst war beliebt in Unai und ihre Priesterschaft hoch angesehen. Es war nicht selten, dass überzählige Kinder von hochgestellten Familien den Klöstern übergeben wurden. Oft genug verbrachten sie ihr gesamtes Leben dort, andere lediglich ihre Kindheit, bis die Eltern sich besannen, dass es einen besseren Nutzen für ihren Nachwuchs gab. „Vor drei Jahren hat mein Vater mich zurückgeholt, da in den Berichten des Klosters erkennbar war, dass ich nützliche Talente besitze.“

„Wildfremde Menschen also, die sich aus deiner vertrauten Umgebung rausgerissen haben, weil es zweckdienlich für sie war?“, hakte Antyim nach.

„Nein, nein. Meine Mutter hat mich immer wieder besucht und manchmal mehrere Tage im Kloster zugebracht, und ich war regelmäßig auf dem Landgut meiner Eltern. Sie waren mir nicht fremd, und ich liebe sie sehr. Ich war nur eben sehr krank gewesen und hätte dort nicht überleben können, als ich ein Kind war“, erzählte Elory. „Mein Vater war der höchste Kryptografierer am Hof von König Emiel. Genau dafür hat er auch das Land in Vrasna und den Titel erhalten. Auch nachdem er sich von diesen Pflichten zurückgezogen hat, wurde er regelmäßig gebeten, neue Verschlüsselungen zu entwickeln. Als die Fortschrittsberichte des Klosters über meine Erziehung deutlich machten, dass ich ähnlich wie er veranlagt bin, holte er mich nach Hause. Ich habe ein eigenes System entwickelt. Es wurde nie eingesetzt, soweit ich bislang wusste – aber hier ist es.“

„Und das alles offenbarst du mir willig, ohne dass ich dafür Gewalt einsetzen musste?“ Antyims Miene drückte noch mehr Misstrauen aus. „Du magst erbärmlich jung sein – wie alt bist du?“

„Fünfzehn, Eure Majestät.“

„Fünfzehn. Was im Namen der Weisheit hast du dann an der Front verloren? Egal … Du magst sehr jung sein, bist weltfremd und behütet erzogen worden, beweist Naivität. Dennoch scheinst du intelligent zu sein. Dir ist schon klar, wer genau dein Feind ist?“

Verblüfft starrte Elory ihn an. „Eure Majestät, Ihr seid der Feind meines Königs. Selbstverständlich weiß ich das! Ich weiß, dass wegen Eurer Feindschaft alle Menschen in Unai und Tiyé ebenfalls verfeindet sein müssen und niemand vom anderen Gnade erwarten darf. Aber das hier … das hier!“ Er wedelte energisch mit dem Pergament. „Das geht zu weit. Seht, mein Verschlüsselungskode war immer nur eine Spielerei. Er lässt sich auf zwei Weisen lösen. Die eine ist offensichtlich und lockt denjenigen, der versucht, den Kode zu knacken, auf eine falsche Fährte. Man denkt, man hat ihn verstanden und erhält auch tatsächlich eine Botschaft. Die ist gefälscht. Die wahre Botschaft ist eine gänzlich andere, und man erkennt sie nur, wenn man weiß, wie der Kode funktioniert.“ Er griff nach dem Tintenfass und der Schreibfeder des Königs und nahm den Umschlag, in dem die Botschaft gesteckt hatte, um darauf herumschmieren zu können, und kopierte die gesamte Botschaft in fliegender Hast. „Seht. Im Mittelpunkt der erste Buchstabenreihe steht die Zahl 7, seht Ihr das?“ Er wies auf die Zahl, die sich beinahe unsichtbar zwischen zwei Ls versteckte. „Man streicht jeden siebten Buchstaben aus, im gesamten Dokument.“ Er führte das aus, übertrug die verbliebenen Buchstaben auf die untere Hälfte des Umschlags. „Im Mittelpunkt der zweiten Reihe steht eine 3. Man nimmt nun also den dritten Buchstaben in dieser Reihe – ein ‚e‘ – und fügt ihn im gesamten Dokument hinzu. Nach jedem dritten Buchstaben erfolgt ein zusätzliches ‚e‘.“ Auch das führte er aus. „Im Mittelpunkt der dritten Reihe steht eine 1. Jetzt wird noch einmal jeder erste Buchstabe weggenommen. Und so weiter.“

König Antyim stellte ihm weiteres Material zur Verfügung, sodass Elory seine Dekodierung fortführen konnte. Nach wenigen Minuten las sich das, was übrig geblieben war, folgendermaßen: „Sammelt die Truppen von Fürst Arasthes im Tal der Dreibrück für einen Entlastungsangriff aus dem Süden. Der Angriff beginnt im Morgengrauen des zweiten Tages nach dem Mù-Fest.“

Mù war der Gott des Winters, Schnee und Eis waren ihm heilig. Sein Festtag war logischerweise die Wintersonnenwende.

Dreibrück war ein schmaler Flusslauf bei der Grenzstadt Bual. Hier lagen große Armeeteile der Tiyé-Krieger und belagerten die Stadt. Wenn Bual fiel, lag die Reichsstraße nach Unai ungeschützt da und die Feinde konnten ungehindert vormarschieren. Ein Angriff aus dem Süden, wodurch ein schroffes Bergmassiv überquert werden musste, und das mitten im Winter, würde Tiyé weit zurückwerfen. Es würde insbesondere aber auch unglaublich viele Opfer fordern, und zwar auf allen Seiten, weil der Kampf sich dann zwangsläufig in die Stadt hinein bewegen würde, die sich dann zwischen den Angreifern und Verteidigern befanden, ohne Aussicht, entkommen zu können.

„Nun, es herrscht Krieg, Junge. Ich rechne schon sehr lange mit einem solchen Angriff, die Front ist seit Wochen unbeweglich, das schlechte Wetter hat die Vorstöße praktisch zum Erliegen gebracht“, sagte Antyim. „Warum erregt dich das? Dein König opfert die Bürger von Bual, um das Reich zu schützen und mir einen womöglich kriegsentscheidenden Schlag zu versetzen.“

„Wie ich schon sagte, es ist bloß die halbe Botschaft!“, rief Elory und hämmerte wieder auf die ursprüngliche Nachricht, von seinem eigenen Vater kodiert. Nun, der tat auch nur, was ihm befohlen wurde, er war nicht der Kriegsstratege von König Emiel. „Jeder, der halbwegs geübt in der Kryptografie ist, kann den ersten Kode ohne Schwierigkeiten brechen. Der entscheidende Twist ist dieser harmlose Pfeil im Mittelpunkt des Textes. Er sieht aus, als wäre ein Schnörkel unsauber geschrieben worden, nicht wahr?“ Er wies auf die Stelle. „Er weist nach links. Das bedeutet, man muss nach der vollständigen Dekodierung die Buchstaben auf einer linksgerichteten Spirale anordnen und dabei alle abstreichen, die sich nicht in Vierpäckchen einordnen lassen.“ Elory führte seine Worte aus. „Danach folgt man der Anweisung am Ende der letzten Zeile, unten rechts.“ Auch dort befand sich ein Schnörkel, wieder linksgerichtet. Ein weiteres Mal sortierte Elory die Buchstaben neu an, wiederholte es mit unten links, oben rechts, oben links. Zuletzt erschien die neue Botschaft:

„Während Bual fällt, greifen wir zeitgleich Kyer und Mondrak an.“

„Warte …“, murmelte Antyim. „Dein König lässt diese Botschaft meinen Spionen zukommen. Wartet, bis ich nach Bual ziehe, um den feindlichen Truppen aus dem Süden in den Rücken zu fallen und die drohende Niederlage somit in einen glorreichen Sieg für Tiyé verwandeln will. Und während meine Kräfte dort gebunden sind und Emiel seine eigenen Leute opfert, marschiert er heimlich in Tiyé ein?“

Mondrak war die Königsstadt von Tiyé. Kyer wiederum ein grenznaher Handelsposten von starker strategischer Bedeutung. Wer diese beiden Städte hielt, hatte die Vorherrschaft in Tiyé für sich entschieden.

Elory saß wie erstarrt und versuchte zu begreifen, was das alles bedeutete. Der Krieg war vor zwei Jahren ausgebrochen. Zuvor hatte es eine lange, schwierige Diplomatenschlacht gegeben, die genau das zu verhindern versucht hatte. Es ging dabei um alte Bündnisversprechen, die gebrochen worden waren, um die Tatsache, dass Antyim nach dem Verständnis des Hochadels der umliegenden Länder als illegitimer Thronfolger angesehen wurde und eigentlich seinem Vetter Orbat die Macht zugestanden hätte, und noch viele andere Befindlichkeiten, Handelsstreitigkeiten und Probleme, die entstanden, wenn sämtliche Könige und Hochfürsten auf diesem Kontinent miteinander verwandt und untereinander verheiratet waren. Tatsächlich war Antyim ebenfalls ein Vetter zweiten Grades von König Emiel. Familienbande vereinfachte das Ganze keineswegs …

„An wen ist der Brief adressiert gewesen?“, fragte Antyim und griff nach dem Umschlag, den Elory von oben bis unten vollgekrakelt hatte.

„Es stand nichts drauf“, entgegnete Elory, was Antyim selbstverständlich wusste. „Aber mein Vater empfängt seine Befehle von Kirlan, Fürst von Vrasna. Der wiederum gehört zu den ersten Vertrauten des Königs. Es wird also ein königlicher Gesandter zu meinem Vater gekommen sein, der ihm befahl, an den Hof von Kirlan zu eilen. Der wird meinem Vater persönlich die Botschaft genannt haben, die es zu verschlüsseln galt. Mein Vater hat es getan und sich vielleicht deshalb für meine Konstruktion entschieden, weil sie so irreführend sein kann mit dem, was offensichtlich erscheint. Es ist einfach anzuwenden, wenn man weiß wie, und fast unmöglich zu knacken, wenn man dieses Schlüsselwissen nicht besitzt.“

„Das Ergebnis hat er versiegelt und Fürst Kirlan hat es dann verbreitet. Womöglich gibt es gleich mehrere solche Umschläge, nur um sicherzustellen, dass sie in meine Hände gelangen.“ Antyim dachte sichtlich angestrengt nach. „Dies alles muss schon mondelang in Vorbereitung sein. Man verlegt nicht ohne Weiteres solch große Truppenteile hierhin und dorthin und plant dann den entscheidenden Schlag, ohne dass meine Leute irgendetwas davon bemerken, und …“ Er stockte. „Ihr Götter! Genau diese Situation muss Emiel schon vorbereitet haben, noch bevor er mir den Krieg erklärt hat! Sodass es mich mitten im Winter erwischt, wenn meine Männer langsam ermüden. Der wochenlange völlige Stillstand, der Sehnsucht nach einem großen Befreiungsschlag weckt, und im richtigen Moment erreicht mich ein Brief, der mich ins totale Verderben reißen soll. Ich werde getötet oder gefangen genommen, die Königsstadt überfallen und schon gehört Emiel auch Tiyé. Was macht es schon, wenn zehntausende Krieger fallen! Bleibt nur die Frage, was es mit dir auf sich hat, Sohn von Wotar, Freiherr von Iskabach. Wie war dein Name doch gleich?“

„Elory, Eure Majestät.“ Unter dem regelrecht schneidenden Blick des Königs wurde es ihm kalt. Das Misstrauen war mehr als spürbar.

„Es ist schwer zu glauben, dass ein Kind wie du an die Front geschickt wird. Sohn eines Freiherrn, der einen solch wichtigen Dienst für den König geleistet hat!

---ENDE DER LESEPROBE---