Nayidenmond - Sandra Gernt - E-Book

Nayidenmond E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Liebe kennt kein Gesetz und keine Grenze ... Oshanta - sie sind Attentäter, kennen nichts als Zorn und Tod. Sie können und sie dürfen nicht lieben. Doch für Rouven wird einer von ihnen zum Verräter. Iyen rettet den jungen Mann vor seinen Waffenbrüdern, die ihn grausam gefoltert haben. Warum wurde Rouven entführt? Was verbindet diese zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten? Im Licht des Nayidenmondes wird verborgen, was hell und klar erschien, und offenbar, was im Dunkeln lag ...

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Nayidenmond

von

Impressum 

© dead soft verlag, Mettingen 2011

© the author

http://www.deadsoft.de

Cover: M. Hanke

Bilder:

Giraffe: Stephi – fotolia.com

Brücke: Chorazin – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-934442-75-7 (print)

ISBN 978-3-943678-72-7 (epub)

Personen und Orte sind frei erfunden.

Widmung

Für meinen Vater, der sehr tapfer sein muss,

und für Peter, der sehr tapfer gewesen ist.

1.

„Der Anfang der Dinge liegt in der Ewigkeit. Ewig ist der Neubeginn, aus dem immer Neues entspringt, in dem das Ende bereits begründet liegt.“

Aus: „Weissagungen des Ebano“

„Rouven!“ Die zornige Stimme von Prinz Barlev hallte über den Palasthof von Vagan, der Hauptstadt des Großkönigsreichs Kyarvit. Mit langen Schritten eilte er auf seinen jüngeren Bruder zu, der gerade inmitten einer Gruppe Adliger und Diener stand und half, einen verletzten Mann vom Pferd zu heben. Offenkundig waren sie auf einem Jagdausflug gewesen – ihre Kleidung und Waffen ließen keinen Zweifel daran –, der in einem Unglück geendet hatte. Mehr als die Hälfte der Männer war verwundet, zwei von ihnen so schwer, dass sie bewusstlos fortgetragen werden mussten. Die provisorischen Verbände konnten nicht verbergen, dass die Beine der Männer regelrecht zerfetzt worden waren. Auch eines der Pferde stand mit blutigen Flanken abseits und wurde gerade von einem Stallknecht versorgt.

Man erkannte die Ähnlichkeit der Brüder sofort: Sie hatten dunkles Haar, das sich in widerspenstigen Wellen und Wirbeln jedem Versuch höfischer Frisurenmode verweigerte; beide waren von schlankem, athletischen Körperbau und besaßen ein feuriges Temperament, das ihnen gerade durchzugehen drohte.

Barlev starrte aus dunklen Augen auf seinen etwas kleineren Bruder nieder, der mit ungewöhnlich grün schimmernden Augen wütend zurückblitzte.

„Was hast du jetzt wieder angestellt? Du solltest unsere Gäste auf die Jagd begleiten, es war nicht die Rede davon, sie umzubringen!“

„Herr, ein wilder …“, versuchte sich einer der Adligen zu Rouvens Gunsten einzumischen, doch Barlev schnitt ihm ungeduldig das Wort ab.

„Es war deine Verantwortung, du solltest eine sichere Route um den See herum wählen. Hast du sie zu den Grotten geführt? Weil die ja so viel schöner sind?“

Rouven versuchte zu Wort zu kommen und lief hochrot an, als Barlev ihn schon wieder niederschrie: „Wann wird es endlich in deinen Schädel gehen, dass Leichtsinn tödlich sein kann? Nicht nur für dich, sondern auch für alle anderen? Du bist zwanzig Jahre alt, kein Kleinkind mehr! Du bist eine Schande für unsere Familie, du hast nichts als Unfug im Kopf! Man hätte dir niemals selbst solch geringe Verantwortung für Mensch und Tier überlassen dürfen!“

Mittlerweile beobachteten alle, wie Prinz Barlev seinen Bruder vor der gesamten Dienerschaft demütigte.

„Man kann von Glück reden, dass offenbar niemand umgekommen ist! Und du bist unverletzt – hast du dich auf einen Baum retten können?“

„Es reicht!“, zischte Rouven. Er schaffte es gerade noch auszuweichen, als Barlev nach ihm ausholte. Der wurde davon nur noch zorniger, packte seinen Bruder am Arm und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Vier Suchtrupps sind wegen euch unterwegs, zwei Männer wurden schwer verwundet und Gott gebe, dass sie überleben und keine Gliedmaßen verlieren werden. Ein gutes Pferd wäre beinahe draufgegangen und das ist alles deine Schuld! Sei froh, dass Vater nicht hier ist, sonst könntest du dich auf weitaus mehr gefasst machen als eine kleine Ohrfeige!“

„Hör auf mich zu verurteilen, bevor du überhaupt weißt, was geschehen ist!“, begehrte Rouven auf. „Es war nicht meine Schuld, wir …“

Weiter kam er nicht. Barlev stieß ihm hart vor die Brust und grollte: „Natürlich, es war mal wieder jeder andere Schuld, nur unser Prinz Sonnenschein nicht. Ich schäme mich, dein Bruder zu sein!“

Als hätte man ihm ein Messer in den Bauch gerammt, verlor Rouven jegliche Gesichtsfarbe, die Spannung wich aus seinem Körper und er starrte Barlev verloren aus großen Augen an, in denen sich schieres Entsetzen spiegelte. Auch Barlev spürte, dass er zu weit gegangen war; mit einem Mal war sein Zorn verraucht. Er blickte sich verwirrt um, bemerkte erst jetzt, wo er überhaupt war und was er hier gerade getan hatte.

Rouven wich einen Schritt von ihm zurück.

„So“, sagte er tonlos, „ du schämst dich. Nun, dann bist du ja in allerbester Gesellschaft.“ Er wirbelte herum und lief durch die Menge der versammelten Diener, Knechte und Mägde davon.

„Rouven? Rouven, warte!“ Barlev eilte ihm nach, erwischte ihn gerade noch am Hemdsärmel. Doch Rouven riss sich los und rannte wortlos weiter.

Barlev kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und blieb so für einen Moment stehen. Dann ging er langsam in die andere Richtung davon.

„Herr?“, rief einer der Adligen, der bei dem verunglückten Ausflug dabei gewesen war; die anderen brachten ihn sofort energisch zum Schweigen.

„Nicht jetzt!“, zischte es von allen Seiten.

„Aber wenn der junge Prinz uns doch allen das Leben gerettet hat! Ohne ihn stünden wesentlich weniger von uns noch aufrecht hier und es war nicht seine Schuld, dass wir auf diesen Eber stoßen mussten!“

„Herr, bitte, mischt Euch nicht ein“, flehte einer der Diener eindringlich. „Die Dinge hier in Kyarvit sind komplizierter, als es scheinen mag.“

Nach und nach löste sich die Menge auf, die Pferde wurden versorgt, die Verletzten waren längst in den Palast gebracht worden.

Niemand bemerkte den Beobachter, der unauffällig an einer Mauer gelehnt hatte und sich nun still zurückzog.

2.

„Wie Schatten werden sie kommen, so wie der Mond die Sonne verdunkelt, und Unheil über die Letzten bringen, so wie den Ersten es gefällig ist.“

Aus: „Weissagungen des Ebano“

Alles war ruhig im Palast des Großkönigs. Selbst die Wachen waren zu dieser Stunde, kurz vor der Morgendämmerung, so müde, dass ihnen die eine oder andere Nachlässigkeit unterlaufen mochte. Doch auch wenn sie ihrer Aufgabe alle Aufmerksamkeit gewidmet hätten und die Sonne bereits hoch am Himmel stehen würde, hätte niemand die drei Männer bemerkt, die sich an der Wehrmauer entlang schlichen und schließlich den Ostturm hochkletterten, als befände sich dort eine Leiter statt blankes Gestein. Sie gehörten der legendenumrankten Bruderschaft der Oshanta an, waren seit ihrer Geburt dazu ausgebildet worden, vollkommene Attentäter zu sein. Lautlos wie Schatten glitten sie durch ein Fenster. Sie wussten, zu welchem Schlafraum es gehörte.

Eine der dunkel gekleideten Gestalten glitt an das Bett heran, das sich mitten im Raum befand, einer sicherte die Tür, der Dritte blieb am Fenster stehen. Ihr Leben war beinahe ausschließlich dem Töten gewidmet – beinahe. Heute waren sie nicht gekommen, um den jüngsten Prinzen von Kyarvit zu ermorden, sie sollten ihn lediglich entführen und an einer verabredeten Stelle ihrem Auftraggeber aushändigen. Wer das war und was er mit dem Opfer zu tun gedachte, interessierte sie nicht.

Iyen beugte sich über die regungslose Gestalt. Der Halbmond lugte hinter einer Wolke hervor und warf sein Licht in den Raum auf das Bett. Prinz Rouven schlief nackt, er hatte in dieser lauen Sommernacht auch die Decke von sich geworfen.

So eine Verschwendung, dachte der Oshanta bedauernd. Der Prinz war mit seinen zwanzig Jahren wesentlich jünger als die sonst üblichen Opfer der Bruderschaft. Das Silberlicht enthüllte den Körper eines jungen Kriegers, der sich noch in der Entwicklung vom Jugendlichen zum Mann befand. Die wohlgeformten Muskeln, die sich im Dämmerlicht unter der hell schimmernden Haut erahnen ließen, zeugten davon, dass der Prinz an Waffen und Pferd ausgebildet worden war. Schon jetzt verdrehte er reihenweise Mädchen den Kopf; er hatte einen Ruf als leichtlebiger, charmanter Taugenichts, was er sich als siebzehnter Sohn des Königs durchaus leisten konnte. Er würde niemals einen Titel tragen, wenn nicht gerade eine Seuche seine Familie auslöschen sollte. Da war es fast ein Segen, dass er das Leben so genoss, statt sich vom Neid auf seine älteren Brüder zerfressen zu lassen. Noch drei, vier Jahre, und er wäre ein äußerst gut aussehender Mann geworden, bei dessen Anblick Frauen jeden Alters hätten schwach werden können. Dazu würde es nun nicht mehr kommen.

Verschwendung und sinnlos dazu … Er ist so weit vom Thron entfernt, wem könnte sein Tod wohl dienen? Iyen schob diese Gedanken zur Seite, Fragen nach dem Sinn, die ihn in jüngster Zeit häufiger quälten. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen.

Und trotzdem ist es Verschwendung!, dachte er trotzig. Eigentlich hatte die Entführung auf dem Jagdausflug vonstattengehen sollen, wo es viel leichter gewesen wäre, ihr Opfer zu betäuben und unbemerkt mitzunehmen, doch sie waren vorbereitet gewesen, Rouven aus dem Palast zu holen, sollte es notwendig werden. Es war schwieriger und riskanter; vor allem würde es nicht reichen, ihn kurz außer Gefecht zu setzen und davonzureiten. Iyen musste ihn in lang anhaltende Ohnmacht versetzen, ohne Rücksicht darauf, wie gefährlich das sein mochte. Er zog einen schmalen Dolch, doch bevor er ihn verwenden konnte, begann sich Rouven zu regen. Aufwachen und die Wachen alarmieren durfte er auf keinen Fall! Iyen ließ die Waffe fallen, presste seinem Opfer eine Hand auf den Mund, während er mit der anderen den linken Arm des Jungen über dessen Kopf fest umklammert hielt. Rouven riss die Augen auf, schrie erstickt gegen seine Handfläche, versuchte sich aus dem stählernen Griff zu befreien – vergebens. Als der erste Widerstand erlahmte, warf er den jungen Mann auf den Bauch herum, drückte sein Gesicht so in das Kissen, dass seine Schreie ungehört blieben. Rasch knebelte er ihn, nur Augenblicke später waren Rouvens Hände auf dem Rücken gefesselt und seine Beine gebunden. Kurze Kontrolle – alle Knoten saßen fest. Der Gefangene würde sich niemals befreien können, auch wenn Iyen noch einen Finger unter das Seil schieben konnte und deshalb keine Gefahr bestand, dass ihm die Gliedmaßen abgeschnürt oder die Haut wund gerieben wurde. Sie mussten ihn schließlich über eine weite Strecke transportieren – jede unnötige Verletzung würde sie nur aufhalten. Zufrieden rollte Iyen ihn auf die Seite und zückte den Dolch. Panisch starrte der junge Mann ihn an, versuchte stöhnend, ihm zu entkommen, als Iyen ihm ins Haar griff, den Kopf nach hinten zwang und ihm die Klinge an die Kehle setzte.

„Halt still, falls du leben willst!“, zischte Iyen ihm ungeduldig ins Ohr. Er drückte ihn mit dem freien Arm nieder, um seine Bewegungen kontrollieren zu können. Als Rouven für einen Moment erstarrte, schnitt Iyen ihm blitzschnell in die Haut, ein Stück unterhalb des Kinns. Es war eine oberflächliche Wunde, die nicht einmal eine Narbe hinterlassen würde, doch es genügte, um das starke Schlafgift, in das der Dolch getaucht worden war, wirken zu lassen. Ein gefährliches Gift, an dem das Opfer durchaus sterben konnte. Es gab nichts anderes, was so schnell und zuverlässig wirkte, also nahmen die Oshanta das Risiko hin.

Rouven erstarrte, schlagartig am ganzen Körper gelähmt. Fasziniert stützte Iyen ihn hoch und beobachtete, wie die Muskeln erschlafften, die hektischen Atemzüge immer flacher wurden, die in Todesangst aufgerissenen Lider erst flatterten, dann zufielen. Nur Augenblicke später lag Rouven in tiefer Ohnmacht wehrlos in seinem Arm. Bewusstlosigkeit und Schlaf interessierten Iyen weitaus stärker als der Tod. Wenn das Herz nicht mehr schlug und die Lungen nicht mehr atmeten, starb ein Mensch, da gab es kein Mysterium. Doch was brachte ihn dazu, einzuschlafen und todesgleich dazuliegen? Was bewirkte dieses Gift im Körper, um stundenlange Ohnmacht zu erzeugen? Wahrscheinlich würde er es nie erfahren. Iyen hob den jungen Mann hoch, einen Arm im Nacken, den anderen in den Kniekehlen, als wäre er ein kleines Kind. Seine Kampfgefährten, Bero und Jarne, nickten ihm zu. Bero, der am Fenster geblieben war, kletterte als Erster wieder den Turm hinab, während Jarne Rouven ein kompliziert aussehendes Geschirr aus schwarzen Lederbändern anlegte. Danach wollte er ebenfalls absteigen, aber Iyen hielt ihn zurück.

„Sieh nach, ob er in der Truhe dort seine Kleidung aufbewahrt, falls ja, nimm etwas für ihn mit.“ Jarne nickte und folgte, ohne nachzufragen, obwohl er der Führer ihrer kleinen Gruppe war. Er wusste, dass ein nackter Körper auf einem Pferd schwerer zu handhaben war; glatte Haut war nun einmal rutschig. Rouven besaß wunderbare Haut, samtig weich über den harten, schlanken Muskeln ...

Der Mond, der heute einen seltsam grünlichen Schleier trug, erhellte die Nacht. Das war gefährlich; nicht auszuschließen, dass einer der müden Wächter doch einmal nach oben blicken und sie sehen würde. Nun, das wäre dann sein Todesurteil. Jarne huschte an ihm vorbei, nachdem er mehrere Kleidungsstücke in dem Beutel auf seinem Rücken verstaut hatte, in dem er seine Ausrüstung trug. Lautlos und rasch kletterte er in die Tiefe. Iyen prüfte, ob die Knoten des Geschirrs festsaßen, dann ließ er Rouven hinab. Die Seile, die mit dem Ledergurt verbunden waren, hatte Jarne am Bettpfosten befestigt. Iyen justierte sie so, dass er den Bewusstlosen schnell herab lassen konnte, ohne ihn mit dem Kopf gegen den Turm zu pendeln, was schwere Verletzungen zur Folge gehabt hätte. Ein kurzer Ruck war das Zeichen, dass ihre Beute sicher angekommen war; Iyen löste die Seile, warf sie hinab und eilte dann selbst zurück in den Hof, jeden Spalt im Mauergestein nutzend. Jeder Oshanta konnte im Dunkeln klettern wie eine Katze, sie lernten es von frühester Kindheit an. Seine Gefährten hatten auf ihn gewartet. Er übernahm wieder den Körper des jungen Mannes, gemeinsam erklommen sie die Palastmauer. Die gesamte Entführung hatte keine Viertelstunde gedauert und war anscheinend unbemerkt geblieben.

***

Als die Sonne aufging, hatten die Drei bereits die Stadt verlassen und ihre Pferde erreicht. Es war geplant, in etwa vier Tagen am Bestimmungsort anzukommen. Mit Beros Hilfe zog Iyen dem Prinz Hose und Hemd über, fesselte ihm dann erneut die Hände, diesmal vor der Brust. Er verkniff sich ein Seufzen, als Jarne ihn mit einem Wink dazu aufforderte, Rouven zu sich in den Sattel zu nehmen und damit noch länger die Verantwortung für ihn zu tragen, von seinem Gewicht ganz zu schweigen. Zum Glück hatte er wenigstens einen dieser teuren Sättel der Steppenvölker, die breit genug waren und sogar Steighilfen besaßen, in die man die Füße setzen konnte. So etwas gab es noch nicht lange, eine wertvolle Erfindung!

Sie nahmen bei Entführungen stets nur dann ein weiteres Pferd mit, wenn das Opfer ein schwerer oder sehr großer Mann war, weil jedes zusätzliche Tier höhere Kosten, Verantwortung und mögliche Behinderung durch Verletzungen bedeutete. Iyen hasste dieses Gebot der Ältesten, es war seiner Meinung nach unsinnig. Ein Pferd mit zwei erwachsenen Reitern zu belasten, egal wie schlank und klein der Entführte sein mochte, war wesentlich riskanter. Doch er war ein Oshanta und gehorchte, wie es von ihm verlangt wurde. Warum allerdings immer er dazu verdammt wurde, ihre Opfer zu tragen – zumeist, wenn sie bereits tot waren – wusste er beim besten Willen nicht. Eines wusste er aber mit Sicherheit: Es würden mühsame Tage und Nächte werden, die ihnen bevorstanden, deutlich anstrengender als die Entführung selbst. Sie mussten nicht oft einen Gefangenen versorgen, ihn still und lebendig halten, und noch seltener über einen so langen Zeitraum hinweg.

Schade, dass man das Schlafgift nicht häufiger anwenden kann, ohne ihn umzubringen … falls er dieses Mal überlebt.

***

Sie waren den ganzen Tag geritten, hatten lediglich für die Pferde einige kurze Pausen eingelegt. Der Gefangene war irgendwann mittags erwacht, beinahe wäre er erstickt, als er sich übergeben musste. Da trug er noch den Knebel, von dem Iyen ihn gerade noch rechtzeitig befreien konnte, als er spürte, wie der junge Mann, der quer vor ihm im Sattel hing, zu krampfen begann. Von da an hatte Rouven sich beinahe stündlich übergeben, bis er nur noch blutigen Schaum spuckte. Gleichgültig, ob Iyen ihn über den Pferderücken legte oder aufrecht sitzen ließ, es wurde erst gegen Abend ein bisschen besser. So ging es häufig mit diesem Schlafgift, viele Menschen reagierten empfindlich darauf. Es war aber nun einmal das effektivste Mittel, darum verzichtete die Bruderschaft nicht darauf. Sie waren Mörder. Wer sie bezahlte, ein Opfer lebendig zu überbringen, musste wissen, dass die Oshanta weder Vorsicht noch Bedachtsamkeit kannten. Am besten wäre es gewesen, den Prinz irgendwo still liegen und ausruhen zu lassen. So viel Rücksicht gab der Zeitplan nicht her, also ritten sie, wenn auch langsam, weiter. Es war eine schwierige Entscheidung: Ließen sie ihn zu Kräften kommen, würde er überleben, aber sie kämen zu spät ans Ziel. Ritten sie weiter, war es wahrscheinlich, dass er starb. Ihr Auftrag war bereits jetzt gescheitert, sie wussten es.

Iyen war froh, den jungen Mann endlich loszuwerden, als sie lange nach der Abenddämmerung begannen, sich ein Nachtlager zu richten. Rouven hatte ihm stundenlang halb bewusstlos im Arm gehangen, stöhnend vor Schmerz und Übelkeit. Auf Dauer wurde selbst ein schlanker Körper schwer, und sogar für einen Oshanta lästig.

„Bring ihn zum Fluss, er muss trinken, sonst überlebt er den morgigen Tag nicht. Nun gut, er schafft es wohl sowieso nicht“, sagte Jarne und fuhr sich über das kurze blonde Haar. Iyen unterdrückte den Impuls, ihm dieses kaltschweißige Bündel Elend vor die Füße zu werfen, mit einem Mach es selbst, ich hatte schon den ganzen Tag das Vergnügen, um dann gemütlich für die Pferde zu sorgen. Doch ein Oshanta jammerte nicht, und Jarne war der Anführer dieser Mission. Iyen war ihm zu bedingungslosen Gehorsam verpflichtet. Also neigte er ergeben den Kopf und nahm sich mit einem Finger den Griff der Laterne, die Bero ihm entzündet hatte und hinhielt. Er sagte nichts von seiner Erschöpfung und Verärgerung, sondern schleppte stumm den leise wimmernden Prinzen, für den leider keine Beschränkungen hinsichtlich des Jammerns galten, zum Wasser. Die Kleidung des jungen Mannes war durchgeschwitzt und besudelt. Missgelaunt zerrte Iyen sie ihm vom Leib – vielleicht etwas rauer als zwingend notwendig. Dann tauchte er Rouven erst einmal in den Fluss, wogegen dieser sich nur schwach wehrte, und wusch anschließend flüchtig die Sachen durch. Es war auch heute Nacht warm genug, der Stoff wurde bis morgen früh trocknen und der Prinz garantiert nicht erfrieren. Unsinnig, sich so viel Mühe geben zu müssen; doch noch hatte Jarne nicht den Befehl gegeben, ihn zu töten.

„Trink!“, befahl er und presste Rouven einen Wasserschlauch an die Lippen. Obwohl er durstig sein musste, schluckte der halb bewusstlose Junge nur langsam und wehrte schon bald ab. Iyen war gleichgültig, ob Rouvens sämtliche Innereien vom Übergeben wund und entzündet waren oder vielleicht sogar die nächste Attacke bevorstand – er brauchte Flüssigkeit, ob er sie wollte oder nicht.

„Trink, oder ich schlage dir die Zähne aus und stopfe dir den Schlauch in den Rachen!“, drohte er. Rouven schlug die Augen auf, blinzelte die Tränen fort und starrte ihn vorwurfsvoll an. Iyen war überrascht von so viel Widerstand. Er war sicher gewesen, dass der Gefangene auch seelisch am Ende seiner Kräfte sei. „Trink!“, befahl er wieder und drückte ihm den Wasserschlauch zurück an die Lippen. Mehr als drei Schlucke schaffte Rouven nicht und Iyen sah ein, dass es vorerst genügen musste. Als er ihn hochhob, um ihn zum Lager zurückzutragen, öffnete Rouven noch einmal die Lider und betrachtete ihn still. Seine Augen schimmerten wie dunkle Smaragde und beherrschten das schmale, ebenmäßige Gesicht, gerade jetzt, wo er so bleich war. Strähnen seines dunklen Haares klebten ihm an Stirn und Wangen. Iyen hob unwillkürlich die Hand und wischte sie fort. Unaufhörlich rannen Tränen über Rouvens Wangen, mussten ihn halb blind machen, und trotzdem suchte er Iyens Blick. Seine Lippen zitterten, als würde er zu sprechen versuchen. Iyen erwartete alles: Betteln um Hilfe, Gnade oder den Tod, vielleicht Flüche und Verwünschungen oder Fragen nach dem Warum, wo sie waren, wohin sie gingen, wer ihn zu all dem hier verdammt hatte. Als es Rouven allerdings gelang, einige heisere Silben hervorzustoßen, hätte Iyen ihn fast vor Überraschung fallen gelassen:

„Du bist ein guter Mensch“, sagte er, lächelte entrückt – und verlor das Bewusstsein. Fassungslos starrte Iyen auf ihn herab. Man hatte ihm schon alles Mögliche darüber gesagt, was und wer er war, als gut hingegen hatte ihn noch niemand bezeichnet.

Nimm dich zusammen, er hat fantasiert. Wahrscheinlich hat er dich mit einem Diener oder einem seiner zahllosen Brüder verwechselt.

Rasch trug er ihn zurück und legte ihn in der Nähe des Feuers ab, das Jarne mittlerweile entzündet hatte. Es würde Insekten anlocken, für den ausgezehrten Körper des Gefangenen war die Wärme allerdings besser, und auch Oshanta bevorzugten den Komfort von Licht und warmen Essen. Er warf Rouven eine Decke über, hängte die nasse Kleidung zum Trocknen auf und ging dann zu Bero, um ihm mit den Pferden und den anderen Arbeiten zu helfen. Der intensive Blick und die Worte des Jungen ließen ihn dabei nicht los, egal wie energisch er sie zu verdrängen versuchte und sich immer wieder ermahnte, dass Rouven nicht zu ihm, sondern zu einem Gespinst seines verwirrten Verstandes gesprochen hatte.

***

Nach dem Essen saßen sie zusammen am Feuer, pflegten schweigend ihre Waffen und Ausrüstung. Obwohl sie sich seit vielen Jahren kannten und häufig zusammenarbeiteten, verband sie keine Freundschaft – so etwas gab es für einen Oshanta nicht.

In spätestens drei Tagen sind wir den Kleinen los, dachte Iyen. Eher früher, er wird die Nacht kaum schaffen. Und dann? Warten auf den nächsten Mord. Und den Nächsten. Und dann wieder warten …

Wenn er nur wüsste, wohin er gehen sollte, wäre Iyen schon vor langer Zeit geflohen. Seit seiner Geburt war er zum Oshanta ausgebildet worden, er war ein vollkommener Attentäter. Nur wenige überlebten die harte Ausbildung, die so viel mehr bedeutete als nur Umgang mit Waffen und Körperbeherrschung. Ihre Fähigkeiten waren Legende, ihr Name der Inbegriff des Schreckens. Wer ihre mit Metallperlen gezeichneten Gesichter erblickte, wusste, dass er verloren war. Wenn sie keinen Auftrag hatten, warteten sie in der geheimen Festung der Bruderschaft. Sie trainierten dort ihre Fertigkeiten, halfen bei der Ausbildung – dem Zerbrechen – der Jungen oder spionierten in den Hauptstädten, verborgen in dunklen Gassen, und erhaschten jedes Anzeichen von Unzufriedenheit, Aufruhr oder Rebellion, damit die Bruderschaft stets wusste, was im Land geschah.

Das Spionieren war angenehmer als alle anderen Optionen. Doch selbst das war kein Grund, das Dasein als Oshanta ertragen zu wollen. Iyen hasste es, seit er denken konnte, dem Leben der anderen zusehen zu müssen. Zu wissen, dass er davon ausgeschlossen war, es immer sein würde. Viele Oshanta wurden irgendwann des Wartens und Mordens müde und brachten sich selbst um.

Vielleicht sollte ich das ebenfalls tun, dachte er distanziert und wog innerlich alle Argumente ab, die dafür oder dagegen sprachen. Noch hatte er Hoffnung auf ein anderes Leben. Albern, aber nicht auszuschließen. Auch, wenn ich nichts anderes kann, als töten.

Iyen ließ seine Gedanken davonschwimmen, zu müde, um sie weiter zu verfolgen, und prüfte derweil seine zahlreichen Wurfdolche. In der Ferne beherrschte Wetterleuchten den südlichen Himmel, dort, wo Iyen das Baj-Gebirge vermutete. Das Gewitter würde sich nicht bis hierher in die Niederungen verirren, da war er sicher, egal wie sehr er sich nach Regen und Abkühlung sehnte.

Jarne stand auf und schlenderte zu Rouven hinüber, der in tiefen Schlaf gesunken war.

„Er ist hübsch“, sagte er zu niemand im Besonderen. „Schade drum. Er wird den Weg nicht schaffen. Wahrscheinlich sieht er nicht einmal den nächsten Sonnenaufgang.“ Er stieß mit dem Stiefel gegen Rouvens Kopf und schob ihn so, dass man sein Gesicht besser sehen konnte. Der Gefangene murmelte etwas, erwachte aber anscheinend nicht. „Wirklich, ein hübscher Junge.“

„Nimm ihn dir doch“, erwiderte Bero gelangweilt. „Er ist keine Frau, du darfst ihn haben.“

„Das könnte ihn umbringen“, murmelte Iyen. Er wusste, dass die Sache bereits entschieden war. Jarne verlangte selten etwas für sich persönlich, aber wenn, dann konnte ihn niemand mehr davon abbringen.

„Er wird sowieso sterben. Das Gift hat ihn zu sehr geschwächt, er kann diese Reise nicht schaffen. Wir sind angehalten, ihn lebendig zu übergeben, falls es misslingt, ist das kein Versagen. Wir sind nun mal Mörder“, versetzte Jarne ausdruckslos. Der Blick aus diesen kalten, grauen Augen ließ Iyen erschaudern, was ihn sehr irritierte. Auch, dass sein Magen sich zusammenkrampfte, verwirrte ihn. So viel hatte er doch gar nicht gegessen, dass ihm deshalb übel werden konnte?

„Wir müssen versuchen, den Auftrag zu erfüllen, Jarne.“

„Der ist gescheitert, sieh ihn dir an. Ich habe allerdings nicht vor, ihn umzubringen, nur ein bisschen spielen. Morgen reiten wir weiter. Mit oder ohne ihn.“

Inzwischen hatte Bero Rouven zu sich gedreht und die Decke fortgeworfen. Er löste die Fußfesseln, rangierte sich sein wehrloses Opfer passend, sodass es auf den Knien lag, das Gesäß emporgereckt.

„Ich habe eine bessere Idee!“, sagte er vielsagend grinsend. Währenddessen begann sich Rouven still zu regen. Iyen saß so, dass er ihm ins Gesicht sehen konnte.

Der umnebelte, verständnislose Blick des jungen Mannes klärte sich schlagartig, als ihm bewusst wurde, in welche Haltung man ihn gezwungen hatte.

„Iyen, du bringst die Pferde zum Fluss. Sie hatten nicht genug Wasser“, befahl Jarne. Sein Tonfall machte deutlich, dass jeder Widerspruch tödlich wäre. Iyen wandte sich gehorsam um und ging zu den Pferden hinüber, seltsam erleichtert, nicht mit ansehen zu müssen, was auch immer jetzt geschehen würde. Ein schriller Schrei ertönte in seinem Rücken, der Iyen durch Mark und Knochen schnitt.

„Hör nur, wie er quiekt! Wie ein Schwein!“

„Lass mich auch mal.“

„Geduld, er zappelt gerade so schön!“

Die Schreie verebbten zu qualvollem Wimmern. Während er mit den Pferden zügig zum Fluss schritt, warf er einen Blick über die Schulter. Er sah, dass Jarne aufstand und nun Bero zugange war, mit einer Brutalität, die er diesem sonst so leidenschaftslosen Mann nicht zugetraut hätte. Auch von Jarne hätte er nicht erwartet, dass er so etwas einem Lebewesen – egal ob Opfer oder nicht – antun könnte. Anscheinend waren die beiden sehr lange nicht mehr bei den Huren gewesen, die einzige Art Frau, die ein Oshanta haben durfte. Beros kahler Schädel glänzte im Feuerschein, der stämmige Mann gab Laute von sich, die Iyen abstießen.

Die Schreie des Jungen wurden wieder leiser, mischten sich mit krampfhaftem Schluchzen. Iyen schottete sich von all dem ab, ließ es nicht an sich heran. Mitleid war ihm vollkommen fremd, was ihn störte, war die sinnlose Grausamkeit.

Ich sollte mich nicht einmischen. Vielleicht ist es besser, dass der Junge schon heute Nacht stirbt. Der Ritt morgen wäre kaum weniger quälend für ihn geworden … Hm, oder eher gesagt, kaum weniger tödlich.

Normalerweise brachten sie Entführungsopfer um, wenn sie ihren Auftrag, egal aus welchem Grund, nicht erfüllen konnten. Es war Teil jeden Kontrakts. Wer die Oshanta holte, war bereit, den Tod des Opfers hinzunehmen.

Eigentlich kein Fehler, den letzten Wert des Jungen noch zu nutzen. Trotzdem ...

Iyen fühlte sich hin- und hergerissen, als er am Ufer stand. Einerseits wollte er so rasch wie möglich zurückkehren, anderseits lieber noch weiter fortgehen, um die Schreie nicht mehr hören zu müssen. Die Übelkeit nahm zu, rasch zwang er einen Schluck Wasser herunter, wodurch es allerdings nicht besser wurde. Wie es schien, drohte er krank zu werden. Ein Schicksal, vor dem selbst ein Oshanta nicht gefeit war.

Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, packte die Pferde an den Führstricken, auch wenn sie noch nicht fertig waren, und drängte sie zurück. Er fuhr zusammen, als er bei seiner Rückkehr das unverwechselbare Klatschen eines Lederriemens auf nackter Haut hörte; das Lachen seiner Kampfgefährten; Rouvens erbarmungswürdiges Geschrei. Jarne und Bero standen über dem jungen Mann und vergnügten sich nun auf andere Weise.

„Warum foltert ihr ihn?“, fragte Iyen kopfschüttelnd.

„Er wird sterben. Selten, dass wir ein gesundes, jugendliches Übungsobjekt für die Verhörkunst haben, warum soll sein Tod nicht also noch irgendeinem Sinn dienen?“, erwiderte Bero, ohne aufzusehen. Iyen glaubte ihm kein Wort, dazu schwang zu viel Befriedigung in seiner Stimme mit.

„Hier, nimm die Nadeln. Halt ihn fest, genau so!“, fügte Bero an Jarne gewandt hinzu.

Die Schreie verstummten abrupt. Bero und Jarne hatten Rouven nach der Art der Oshanta gefoltert, wenn sie einen widerspenstigen Gefangenen zum Reden zwingen wollten: höchstmöglicher Schmerz, geringfügiger körperlicher Schaden. Neben fingerlangen Nadeln, die kunstvoll in die Nervenzentren gestochen wurden, hatten sie ihm oberflächliche Messerschnitte und gezielte Schläge mit Lederriemen und Stöcken zugefügt und warteten nun, dass er wieder zu Bewusstsein kam.

Es ist Unrecht, dachte Iyen teilnahmslos. Er wollte es nicht mit ansehen, wenn es gleich weitergehen sollte, obwohl er selbst schon mehr als einmal einem Mann die Genitalien mit Nadeln gespickt oder ihn so lange mit wohldosierten Peitschenhieben bedacht hatte, bis der Gefangene alles sagte, was er wusste.

Er hält uns kein Geheimnis vor. Er kann nicht selbst bestimmen, wann die Folter endet, indem er verrät, was er schützen wollte. Es ist Unrecht, ihn so sehr zu quälen.

Da waren sie wieder, die Gedanken über Sinn, Recht und Gerechtigkeit, die Iyen nicht in Ruhe ließen, ewiges Denken und Analysieren, wofür man ihn in seiner Kindheit immer wieder bestraft hatte, bis er lernte, es nicht mehr offenbar werden zu lassen. Er setzte sich ans Feuer zurück und mühte sich, seinen Geist vollkommen zu leeren. Ein Oshanta fragte nicht nach dem Sinn seines Daseins, seines Auftrages oder sonst irgendetwas, was in dieser Welt geschah. Er gehorchte dem Ranghöheren, führte aus, was von ihm verlangt wurde und hielt sich an die Gesetze der Bruderschaft. Mehr nicht. Wobei es keinerlei Brüderlichkeit unter ihnen gab.

Warum war er trotzdem wütend?

Iyen riskierte einen Blick zu Rouven. Der junge Mann starrte ins Leere, weder wirklich wach noch ohnmächtig. Blut sickerte über seine Schultern, vermutlich von den Schnittverletzungen auf seinem Rücken. Iyen konnte nicht erkennen, wie schwer die Wunden sein mochten.

Eine Mücke ließ sich auf dem Arm des Jungen nieder. Iyen starrte auf das Insekt, kämpfte gegen den Impuls, es zu erschlagen, damit es Rouven nicht noch mehr Schmerz zufügen konnte, so lächerlich ein Mückenstich im Vergleich zu der erlittenen Folter auch sein mochte. Etwas an dieser Erkenntnis wühlte ihn auf.

Ich hätte nicht fortgehen dürfen, dachte er, überrascht von dem Zorn, der plötzlich in ihm kochte. Es ist Unrecht. Es ist gegen den Kodex. Dieser Gedanke weckte ihn aus der Trance, in die er sich versetzt hatte. Sein Verstand sagte ihm, dass er einen Fehler beging, wenn er sich gegen die beiden stellte. Sein Instinkt trieb ihn, den Jungen zu retten, bevor es zu spät war. Ruckartig stand er auf, packte Jarne, der gerade zu einem Stock gegriffen hatte, am Handgelenk, hielt ihn eisern fest, während er ihm die Schlagwaffe entwand und ins Feuer warf.

„Es reicht“, sagte Iyen laut. „Es ist nicht unser Auftrag, ihn zu töten. Es verstößt gegen den Kodex, ein Opfer leiden zu lassen.“

„Das gilt für das Töten eines Opfers“, widersprach Bero.

„Der Kodex sagt: Ein Opfer soll nicht mehr als vermeidbar leiden müssen. Er sagt nichts darüber, ob damit Tod, Folter oder Befragung gemeint ist. Wir sind keine Ältesten, die den Kodex interpretieren dürfen. Jarne, du sagtest, dass du ihn nicht zu stark misshandeln willst. Vermutlich hast du nun unseren Auftrag gänzlich zunichte gemacht.“ Bero und Jarne musterten ihn abschätzig, zuckten dann aber die Schultern und erhoben sich.

„Wer übernimmt die erste Wache?“, fragte Bero sachlich, als hätte er gerade lediglich eine Waffenübung beendet. In seinem Ton schwang etwas mit, das deutlich sagte: ich schon mal nicht.

„Geht schlafen, ihr beide, ich bin noch munter“, sagte Iyen. Jarne blickte ihn forschend an, bis Iyen hinzufügte: „Ich habe nicht vor, ihn gnädig zu töten. Wenn offensichtlich wird, dass er im Sterben liegt, werde ich euch wecken.“

Jarne nickte ihm zu. „Ob und wie es weitergeht, entscheiden wir morgen früh. Falls er sich erholen sollte, reiten wir zum Nasha-Tal.“

Es dauerte noch eine endlose Weile, bis die Männer sich das Blut abgewaschen und schlafbereit gemacht hatten. Iyen legte Holz nach, damit das Feuer nicht erlosch, vermied dabei jeden Blick auf den Gefangenen, der keinen Laut mehr von sich gab. Geduldig wartete er eine Viertelstunde lang, nachdem die beiden sich niedergelegt hatten, bis er sich sicher sein konnte, dass sie fest schliefen. Dann erst kniete er neben Rouven nieder, legte ihm die Decke über und hob ihn hoch. Der junge Mann stöhnte gequält, als er bewegt wurde, warf den Kopf hin und her, ohne dabei aufzuwachen. Zum Glück rührten sich auch seine Kampfgefährten nicht. Er wusste selbst nicht, warum er so heimlich vorging; es war eigentlich selbstverständlich, dass er den Gefangenen versorgte. Für gewöhnlich wusste er immer genau, warum er etwas tat oder unterließ, es war geradezu beängstigend, was hier mit ihm geschah. Zweifel standen ihm nicht zu. Mitgefühl noch weniger. Ein Oshanta kannte nur seinen Auftrag!

Sein Leid berührt mich. Seltsam. Was macht ihn anders?

Rouven wimmerte leise und riss ihn damit aus seiner Verwirrung.

„Nein …“, flüsterte er.

„Ruhig!“, zischte Iyen und brachte ihn eilig zum Fluss zurück. Der Mond war mittlerweile aufgegangen, seltsam groß prangte er am wolkenlosen Himmel, und auch der grünliche Schleier war wieder da. Sein Licht tauchte die Welt in milden Glanz, der alle Dinge weich zeichnete, selbst das erstarrte Grauen im Gesicht seines Opfers. Iyen durchschnitt ihm die Handfesseln, legte ihn nieder und untersuchte die zahllosen Wunden, die den Körper überzogen. Es war selbst mit der Laterne zu dunkel, um sicher zu sein, doch Iyen gelangte zu dem Schluss, dass keine der Verletzungen für sich genommen tödlich war; lediglich viele und grausam schmerzhaft. Er steckte den Dolch weg, den er bereitgelegt hatte für den anderen Fall – er hätte Rouven ohne zu zögern von seinem Leid erlöst und morgen früh dann Jarnes Zorn auf sich genommen. Es war keineswegs sicher, dass er auch nur die nächste Stunde überleben würde, einen Grund, ihn umzubringen, gab es deshalb noch nicht.

Der Einfachheit halber ließ Iyen den jungen Mann in den Fluss gleiten und im kalten Wasser untertauchen, um das Blut und alle anderen Spuren seines Martyriums abzuwaschen. Rouven erwachte davon, schnappte keuchend nach Luft, wehrte sich schwach gegen Iyens Griff, als dieser ihn wieder herauszog und in die Decke wickelte.

„Nein“, wimmerte er leise, starrte panisch zu ihm hoch.

„Ich tue dir nichts“, brummte Iyen und hob ihn auf. „Keiner tut dir noch etwas heute Nacht. Schlaf, solange du kannst, morgen geht es weiter.“ Er meinte eigentlich die Weiterreise, zu spät wurde ihm klar, wie Rouven die Worte deuten könnte.

„Nicht“, stieß der junge Mann hervor und begann lautlos zu weinen. Dass er überhaupt genug bei Verstand sein konnte, um irgendetwas zu verstehen, war mehr, als Iyen ihm zugetraut hätte. Hatten sie die jugendliche Kraft des Prinzen unterschätzt? Möglicherweise hätte er die Reise doch überstanden? Er blickte von dem elenden Geschöpf in seinen Armen zu dem Lager, das etwa zwanzig Schritt entfernt lag. Sollte Rouven morgen Abend noch leben – was eher Wunschdenken war – dann würde ihm vermutlich die gleiche Folter drohen. Jarne und Bero waren zu zweit, er würde sie nicht aufhalten können, falls sie dazu entschlossen waren. Bei so viel Spaß, wie die beiden gehabt hatten, musste man davon ausgehen.

Nein, morgen werden wir nicht weiterreiten. Jedenfalls nicht mit dir zusammen und gewiss nicht zum Bestimmungsort. Iyen sah wieder auf Rouven herab.

Ich sollte ihm das Schlafgift geben und dann das Genick brechen, dachte er. Sinnlos, ihn noch länger zu quälen.

Müde schleppte er den Jungen zurück ans Feuer, legte ihn seitlich zu Boden. Was für ein langer, vergeudeter Tag das gewesen war! Ihm und Rouven wäre viel erspart geblieben, hätte er ihn bereits heute Mittag getötet. Oder direkt in seinem Schlafgemach.

„Verschwendet, deine Jugend, deine Schönheit, deine Kraft“, murmelte er. Selten hatte er sich so erschöpft gefühlt wie heute. Kein Oshanta sollte nach lediglich einer schlaflosen Nacht so müde sein ...

Iyen griff nach dem vergifteten Dolch und setzte sich dann neben Rouven nieder. Der junge Mann blickte ihn an, mit erschreckender Klarheit, die keinen Zweifel daran ließ, dass er wusste, was folgen würde. Ob er ihn gehört hatte?

„Ein leichtes Brennen ist alles, was du noch spüren wirst“, sagte Iyen mit einer Sanftheit, die ihn selbst überraschte. „Ich muss dich nicht einmal schneiden, ich nutze eine deiner offenen Verletzungen. Du wirst einschlafen und einfach nicht mehr aufwachen.“ Er stützte ihn im Nacken hoch, drückte ihn so an sich, dass er ihm Halt geben und trotzdem ins Gesicht blicken konnte. Es schmerzte, das Zittern des Jungen zu sehen und zu spüren. Wie gerne hätte er ihm die Angst genommen!

„Fürchte dich nicht, ich schwöre, du wirst nicht mehr leiden müssen.“ Zögernd strich er ihm über die Wange.

Warum tue ich das?

„Ich will leben“, flüsterte Rouven, so leise, dass Iyen den Sinn der Worte nur erraten konnte.

„Ich bin ein Oshanta, meine Hände bringen nichts als den Tod.“

„Ich will leben!“ Rouven fuhr auf, klammerte sich an ihm fest.

Iyen konnte den Blick kaum ertragen, mit dem er durchbohrt wurde.

Was ist denn los mit mir?!

„Wenn ich dich heute Nacht leben lasse, stirbst du morgen, entweder unterwegs oder durch ihre Hand.“ Er neigte den Kopf in Jarnes und Beros Richtung. Rouvens Griff erschlaffte, als ihn die letzten Kräfte verließen. Iyen ließ ihn wieder behutsam zu Boden gleiten und betrachtete ihn aufgewühlt. Noch immer sah Rouven ihn an, vorwurfsvoll und enttäuscht, was Iyen vollends verwirrte – was genau hatte dieser Mann bloß von ihm erwartet? Wo waren die Verzweiflung, die Todesangst, eventuell noch der Zorn?

Rouvens Augen rollten nach innen und er versank einmal mehr in gnädiger Bewusstlosigkeit. Iyen könnte ihn jetzt erlösen, müsste ihn noch nicht einmal vergiften. Widerstrebend legte er ihm die Hände um den Hals, platzierte sie sorgfältig, bis ein einziger Ruck genügen würde, um ihm das Genick zu brechen. Aber statt ihn zu töten, dachte Iyen über die seltsame Augenfarbe des jungen Prinzen nach, seine enorme Widerstandskraft. Die Worte, die er zu ihm gesagt hatte: Du bist ein guter Mensch.

Wenn Rouven das nun nicht in geistiger Verwirrung, sondern bewusst zu ihm gesagt haben sollte, was bedeutete das dann?

Du lässt ihn leiden, ermahnte er sich selbst und versuchte, es endlich hinter sich zu bringen. Doch seine Hände weigerten sich. Er konnte es nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er ein Opfer nicht töten.

„Ich möchte so gerne, dass du überlebst“, flüsterte er erstaunt und berührte ihn erneut an der Wange. Iyen hatte geglaubt, keinerlei Gefühle außer Zorn zu besitzen. Dieser Junge bewies ihm gerade das Gegenteil – und das überforderte ihn.

Was soll ich tun? Lasse ich ihn am Leben, stirbt er morgen unter unnötigen Qualen. Kurz dachte er nach, ob er Bero und Jarne dazu bringen konnte, Rouven in Ruhe zu lassen. Doch selbst wenn sie das tun würden, was würde es nutzen? Dann würden sie ihn eben töten, um ihn loszuwerden und von dem fehlgeschlagenen Auftrag berichten zu gehen. Er müsste ihn von hier forttragen, um ihn in Sicherheit bringen, aber das war undenkbar ... Oder? Iyen stockte der Atem bei diesem Gedanken.

Es wäre unlogisch ... Ich würde alles verlieren ... Der einzige Weg ... Schon lange ... Es ist ...

In seinem Kopf tobte ein Sturm, alles war Chaos und – Angst. Wann hatte er sich je ohne erkennbaren Grund gefürchtet?

Eigentlich war es unwichtig, ob der Junge überlebte oder nicht, er wollte bereits seit Langem der Bruderschaft entfliehen. Der Sinnlosigkeit seines Daseins. Jetzt hatte er zumindest einen Grund, es zu versuchen.

Noch einmal blickte er hoch zum Himmel, berechnete die Stunden, die ihm bei einer Flucht wahrscheinlich als Vorsprung bleiben würden, dann hinüber zu Bero und Jarne, hinab auf Rouven. Langsam stand er auf und packte seine Ausrüstung zusammen, plünderte ein wenig von den Vorräten seiner ehemaligen Kampfgefährten. Es war ausgeschlossen, sie im Schlaf zu erschlagen: Auch wenn ein Oshanta keine Freundschaft kannte, er fühlte eine gewisse Verbundenheit mit diesen Männern. Sie konnten nichts dafür, dass er, Iyen, von solch einem Wahnsinn befallen worden war. Er kniete neben ihnen nieder, lautlos und darauf bedacht, sie nicht zu wecken, zog von beiden je einen ihrer Dolche und steckte sie neben ihren Köpfen in den Boden. Das war eine Kriegserklärung, eine deutliche Nachricht: Ich hätte dich töten können und habe es nicht getan. Suche mich, ich fürchte dich nicht.

Sie würden verstehen, was das bedeutete.

Iyen bewegte sich ruhig, suchte ohne Hast alles zusammen, was er für die Flucht brauchen würde. Er nahm noch Kleidung für Rouven mit, wickelte den jungen Mann wieder in seine Decke und hob ihn auf sein Pferd. Ein letzter prüfender Blick. Dann war er bereit, sein Leben zurückzulassen.

3.

„Wenn die Ungleichen einander anziehen können, müssen sie von gleicher Natur sein.“

Aus: „Weissagungen des Ebano“

Rouven erwachte dadurch, dass er von irgendjemandem hin und her gerollt wurde. Er stöhnte, als ihm die Schmerzen bewusst wurden: Sein gesamter Körper schien in Flammen zu stehen. Hätte man ihm jetzt den Tod angeboten, hätte er sich freudig dafür bedankt.

„Still“, befahl eine harte Stimme. Rouven erkannte sie, doch es dauerte noch einen schmerzlich langen Augenblick, bis er sich an das Gesicht des Oshanta erinnerte, der ihm geholfen hatte – und an all das, was davor und danach geschehen war. Panik flutete seine Adern. Rouven bäumte sich auf, wurde von starken Händen zurückgehalten. Er schrie, bis seine Stimme brach; ein Hustenkrampf schüttelte ihn durch, was die Panik nur noch mehr steigerte und ihn rasch zurück in den Abgrund der Ohnmacht stieß.

Beim nächsten Erwachen war die Erinnerung sofort wieder da, die Schmerzen hingegen fort. Rouven versuchte die Augen zu öffnen. Sie gehorchten ihm nicht. Alles war von Nebeln umwoben ...

Muss wohl ein starkes Schmerzmittel bekommen haben, dachte er distanziert. Aber hatte der Oshanta ihn nicht töten wollen? Was geschah mit ihm, warum schaukelte die Welt so sehr? Rouven driftete dahin, lauschte der Stille in sich, fern von Schmerz und Todesangst.

Ich werde getragen, dachte er irgendwann zusammenhanglos. Lag er wieder auf dem Pferd? Wahrscheinlich. Also hatte der Oshanta ihn am Leben gelassen. Leben, um spätestens beim nächsten Sonnenuntergang unter den gierigen Händen der beiden anderen Attentäter zu sterben. Rouven dachte darüber nach, doch jedes Mal, wenn er versuchte zu verstehen, was das wirklich bedeutete und was genau es mit ihm zu tun hatte, trieben die Gedanken wieder fort wie Treibholz im Fluss.