Blutpflicht - Sandra Gernt - E-Book

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Sandra Gernt

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Beschreibung

Gay Fantasy Najid und Luam werden in einem jahrtausendealtem Ritual ausgewählt, das Erbe der Drachen zu überbringen, ein lebendiges Drachenei, das ins Reich ihrer Vorfahren getragen werden muss. Auf ihrer Reise lernen sie sich kennen – und entdecken ein dunkles Geheimnis. Ca. 30.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 140 Seiten.

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Gay Fantasy

Najid und Luam werden in einem jahrtausendealtem Ritual ausgewählt, das Erbe der Drachen zu überbringen, ein lebendiges Drachenei, das ins Reich ihrer Vorfahren getragen werden muss. Auf ihrer Reise lernen sie sich kennen – und entdecken ein dunkles Geheimnis.

 

Ca. 30.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 140 Seiten.

 

 

 

 

 

Blutpflicht

Das Erbe der Drachen

 

von Sandra Gernt

 

 

 

 

 

 

 

Für Julia

Das Monster unterm Bett … Du weißt Bescheid.

 

Inhalt

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

 

 

Kapitel 1

 

retet näher! Das Orakel hat gesprochen!“

Unruhe entstand in der riesigen Menschenmenge, die sich vor dem heiligen Drachentempel versammelt hatte. Tausende Wandler waren aus der Umgebung hierher nach Ulaika geströmt, die heilige Stadt. Manche von ihnen waren zum ersten Mal hier und bestaunten das gewaltige Bauwerk, das in den Himmel ragte. Aus gewöhnlichem Stein bestand das Fundament und die Basis, doch die oberen Stockwerke und das gebogene Dach waren mit schwarzem, geschmolzenen Obsidian verkleidet, wodurch es im Licht der Sonne, die an diesem Sommertag heiß auf sie herabbrannte, weithin glänzten. Wie Drachenschuppen waren die Obisidianziegel geformt, und der Schwung des gebogenen Daches erinnerte an angelegte Drachenflügel. Ein Wunderwerk der Baukunst, nicht mehr und nicht weniger war dieser Tempel.

„Wie im Namen der Weisheit sollen wir näher herankommen? Da passt doch kein Furz mehr zwischen!“, rief eine alte Frau, die nahe bei Najid und seiner Familie stand. Die Frau war winzig, ihr schütteres Haar zu einem Knoten gebunden. Ihr durchsichtiger Witwenschleier flatterte halb gelöst im Wind, am liebsten würde Najid die Hand nach ihr ausstrecken, um ihr den Schleier zurechtzurücken. Doch das wäre unhöflich einer Fremden gegenüber und Recht hatte sie ja. Das Gedränge war so stark, dass man kaum atmen konnte. Näher an den großen hölzernen Balkon herantreten, auf dem die Priesterschaft von Ulaika versammelt war, erwies sich darum als unmöglich.

Dank der Spannung summte die Menge wie ein riesiges Bienenvolk. Es war die Zeit gekommen, die nur einmal in hundert Jahren kam. Einmal, und nur ein einziges Mal konnte ein Drachenwandler in seiner Lebenszeit darauf hoffen, zu den Auserwählten zu gehören – das Orakel achtete nicht auf das Geschlecht, doch nur starke Krieger, die das zwanzigste Jahr überschritten, das fünfzigste Jahr hingegen noch nicht vollendet hatten, wurden dafür berücksichtigt. Somit gab es viele, die niemals erwählt werden konnten. Die meisten Ulaikaner – die Kinder des heiligen Drachen – gehörten nie zu den Erwählten. Es änderte nichts an der tiefen Sehnsucht in ihren Herzen, dabei zu sein, die größte aller denkbaren Ehren übernehmen zu dürfen. Das Erbe der Drachen heimtragen.

Najid fieberte wie jeder andere auf dem großen Platz des himmlischen Mondes mit. Er glaubte nicht daran, dass ausgerechnet auf ihn die Wahl fallen könnte, er war ein Nichts, ein Niemand. Schwächer als seine Geschwister, langsamer, eine Enttäuschung als Krieger. Von Geburt an war er, der Jüngste, eine Enttäuschung gewesen. Zu früh geschlüpft. Unterentwickelt. Sie hatten ihm geholfen, so gut es möglich war, um ihn doch noch auf den Weg zu bringen, und er hatte gekämpft. Sich stets bemüht. Weil er nie aufgegeben hatte, sich zu bemühen, respektierten sie ihn. Liebten ihn, weil er eben zu ihnen gehörte. Familie war. Dennoch hinderte seine Schwäche ihn, höhere Ehren in der Gemeinschaft anzustreben, von der höchsten von allen ganz zu schweigen. Nein, er würde niemals heiraten und eine eigene Familie gründen. Und nein, er würde niemals auserwählt werden.

Najid fieberte für seine Geschwister mit. Einer von ihnen hatte die Ehre verdient, das Erbe zu überbringen. Seine Schwester Iraba besaß die schönste und anmutigste Drachengestalt des ganzen Landes, da waren sich alle einig. Sein Bruder Kamid war absolut furchtlos und dessen Zwilling Ukai, der mit ihm gemeinsam geschlüpft war, konnte weiter Feuer spucken als jeder andere, den Najid jemals beobachtet hatte. Nun gut, bis auf diesen einen Kerl, an den er nicht denken wollte, der war natürlich noch besser. Seiner Meinung nach musste einer von den dreien als zweiter Auserwählter aufgerufen werden. Alles andere wäre unnatürlich in seinen Augen. Er wollte nicht, dass es Luam wurde. Er gönnte es ihm nicht!

„Der erste Auserwählte, der das goldene Ei in das Land der Drachen tragen wird, hört auf den Namen …“

Shilaya, die oberste Priesterin, pausierte, bis vollkommene Stille auf dem Platz eingetreten war. Selbst der Wind schwieg für diesen Augenblick. Kein Vogel war zu hören, kein Insekt brummte. Absolutes Schweigen, sämtliche Blicke in die Höhe gerichtet.

„Luam! Luam, Sohn des Lor, Sohn der Karima. Flieg hinauf zu uns! Du bist der erste Auserwählte, der erste Träger des Erbes!“

Jubelrufe. Begeisterte Ausrufe. Enttäuschtes Stöhnen. Niedergeschlagene Blicke. Gewissheit. Verwirrung. Achtloses Schulterzucken.

„Natürlich ist es Luam, wer auch sonst, er ist der Beste von allen!“

„Mein Sohn ist viel besser, viel würdiger!“

„Wer ist das?“

Die Reaktionen der Menge waren vollkommen unterschiedlich, je nachdem, ob sie Luam kannten oder nicht, je nachdem, welche Chancen sie sich selbst ausgerechnet hatten, sie oder einer ihrer Lieben könnte der erste Auserwählte sein.

Najids Blick hing brennend vor Verbitterung an Luam, der nicht weit entfernt von ihm stand und sich von seiner Familie und seinen Freunden umarmen und feiern ließ. Unter ihren stolzen Ausrufen verwandelte er sich in einen prächtigen Drachen, grüngeschuppt, Grün wie seine Augen. Sein Körper leuchtete in der Sonne, als seine starken Muskeln sich anspannten, als er seine ledrigen Flügel ausbreitete und unter kraftvollen Schlägen aufstieg, um die Distanz zum Balkon zu überwinden. Er überwand die Macht der Erde, die ihn herabziehen wollte, mit schierer Kraft und Eleganz, was ohne Anlauf und in dieser Enge der dicht gedrängten Menschen eine großartige Leistung war. Anmutig landete er auf dem Balkon, während unter ihm Jubel ausbrach.

Wie sehr hatte Najid in diesem Moment der Schwäche gehofft, Luam würde sich blamieren! Er missgönnte ihm den Triumph, er hasste ihn für das, was dieser Mann Najids Geschwistern wegnahm. Oh, er hasste ihn für seine Arroganz, mit der er auf Najids Familie herabschaute! Sie wohnten dicht beieinander. Luams Familie stellte Töpferwaren her, unentbehrlich für den Alltag wie für Tempelrituale, während Najids Familie als Bauern arbeiteten und Nahrung auf den Feldern zogen. Irgendwie mussten die vielen Menschen in dieser Stadt schließlich ernährt werden! Und doch war Luam es nie müde geworden, Najids Brüder als Erdwühler zu bezeichnen und sie auszulachen. Als Jugendlicher war er derartig brutal zu ihnen gewesen, dass Najid seitdem abrupt die Richtung wechselte, wann immer er Luams Silhouette in der Ferne erblickte.

„Wie kann er der Beste sein?“, grollte er, was im Jubelgebrüll der Menge nahezu unterging. „Ersticken soll er an seiner dummen Arroganz!“

„Brüderchen.“ Kamid umarmte ihn lachend. „Luam war ein Dummkopf als Heranwachsender, aber das waren wir doch alle! Du hast ihn in den vergangenen Jahren ignoriert, sonst hättest du mitbekommen, dass aus ihm ein respektabler Mann gewachsen ist.“

„Es ist wahr, er hat sich sehr gebessert“, bestätigte Ukai. „Es war völlig klar, dass er ausgesucht wird, alles andere wäre seltsam gewesen.“

„Sag mir nicht, dass du ihm die Ehre gönnst, der erste Erwählte zu sein!“, rief Najid empört.

„Ich hätte sie gerne für unsere Familie gehabt, warum das Offensichtliche leugnen? Aber Luam ist ein guter Mann. Der beste von allen. Es war klar, dass er der Erste wird, das hast du selbst doch auch gewusst. Und nun freu dich für ihn! Es bringt Unglück, den Erbenträger nicht zu bejubeln und zu feiern!“

Beschämt wandte Najid sich um und blickte hoch zum Balkon, wo Luam inzwischen wieder in menschlicher Gestalt stand und mit strahlender Miene seinen Applaus genoss. Ja, es war kleingeistig von ihm gewesen, diesem Mann den Triumph so sehr zu missgönnen, er sah es ein. Das Orakel hatte gewählt und sich für den Besten entschieden. Warum die Wahl auf Luam gefallen war, wusste nur das Orakel selbst. Die Hohepriesterin teilte ihre Geheimnisse nicht, war niemandem Rechenschaft schuldig, doch man gehorchte ihrer Weissagung. Unabdingbar. Darum mühte sich Najid nun, sich von der Begeisterung der Menge anstecken zu lassen. Ebenso laut wie alle anderen zu rufen und zu klatschen. Er wollte kein Unglück für seine Familie riskieren, nur weil er selbst missgünstig und kleingeistig war.

Endlos schien es, dieser Freudentaumel, bis es irgendwann ruhiger wurde. Nach und nach hörten die Leute auf, diesen … diesen Kerl zu beklatschen, der mit seinen sechsundzwanzig Jahren in der Blüte seiner menschlichen Kraft stand, während seine Drachengestalt sich noch weiter formen und wachsen würde, und das für weitere drei Jahrzehnte. Drachenwandler konnten um die zweihundert Jahre alt werden, also viel älter, als dies gewöhnlichen Menschen möglich war. Von solchen Dingen wusste Najid allerdings auch bloß, weil die Händler es erzählten. Dies waren gewöhnliche Menschen, und sie reisten nicht unbedingt gerne in dieses Gebiet. Die Wandler von Ulaika hatten den Südwesten des Landes für sich, sie wurden gefürchtet. Die Gewöhnlichen hatten Angst vor Drachen. Dabei gab es kein friedfertigeres Volk an sie … Gerade weil sie sich von Kind an in den Kriegs- und Kampfkünsten in ihren beiden Gestalten fleißig übten, gab es keinen Grund für sie, tatsächlich kämpfen zu müssen. Weder die Länder noch den Besitz der gewöhnlichen Menschen begehrten sie für sich, und an Sklaven mit solch minderwertigen, schwächlichen Körpern hatten sie keinerlei Bedarf.

„Das Orakel hat gesprochen!“, rief einer der Priester. Najid konnte nicht erkennen, welcher von ihnen es gewesen war, er stand hinter Luam verborgen. „Der zweite Auserwählte steht fest.“

Wieder kehrte Stille ein. Wieder stieg die Spannung, das innere Fiebern, die Gewissheit, dass der richtige Name fallen musste. Es war ein Mitglied seiner eigenen Familie, Najid wusste es, er wusste es ganz einfach! So sicher, wie er noch nie in seinem Leben gewesen war. Wer würde es sein? Kamid? Ukai? Iraba? Einer der drei würde es werden und Najid würde so unglaublich stolz auf sie sein und ihre Eltern würden den Respekt der ganzen Stadt erfahren und sie würden eine Woche lang feiern und der Name des Erwählten würde in die große Ehrensteintafel eingraviert werden und somit unsterblich sein und …

„Najid! Sohn des Turak, Sohn der Lairea! Najid, flieg zu uns herauf! Du bist der zweite Erwählte, du bist auserkoren, das Erbe zu tragen!“

Er fühlte, wie jeder einzelne Muskel in seinem Leib erstarrte. Tiefer Schock, vollständiger Unglaube. Er hatte sich verhört! Er war in einen seltsamen Traum verfallen! Ein Dämon war aus den Tiefen hochgestiegen, um ihm Lügen ins Ohr zu flüstern! Er war … Warum starrten ihn alle an? Warum waren seine Geschwister, seine Eltern plötzlich bleich wie Nebelstreifen im Herbst? Warum herrschte noch immer völlige Stille, statt dass die Menge längst den neuen Auserwählten bejubelte?

 

 

„Das muss ein Irrtum sein“, hörte Luam die Priester hinter und neben sich wispern. Sie waren genauso von Unglauben erfüllt wie die Menschen dort unten auf dem Platz, bis auf denjenigen, der die Weissagung des Orakels laut verkündet hatte – und selbst der schien verwirrt. Die Einzige, die vollkommen gelassen blieb, war die Hohepriesterin, die ihre Weissagung gesprochen hatte, das Orakel höchstselbst.

„Kein Irrtum, Bor!“, sagte sie würdevoll. „Die Zeichen waren eindeutig. Najid, Sohn des Turak, Sohn der Lairea. Er ist der zweite Erwählte.“

„Aber … Er ist schwach! Er wird es nicht einmal schaffen, zu uns hinauf zu fliegen, sein Körper ist dafür nicht gebaut! Und schau, niemand macht ihm Platz, niemand kann es glauben!“

Es war ja auch nicht zu glauben. Najid war kleiner als ein männlicher Drachenwandler sein sollte. Viel kleiner. Kaum mehr als eineinhalb Schritt hoch maß er, selbst sechsjährige Kinder überragten ihn teilweise schon. Dazu war er schmächtig in den Schultern. Man konnte ihm seine körperlichen Makel nicht vorwerfen. Sein Ei wurde bei einem Brand in seinem Elternhaus beschädigt – Drachenwandler schlüpften aus Eiern, im Gegensatz zu gewöhnlichen Menschen, die lebendig, unreif und ohne schützende Hülle geboren wurden. Drachenwandler, die aus ihren Eiern schlüpften, entsprachen in ihrem Wachstum und ihren Fähigkeiten etwa dem von einjährigen gewöhnlichen Menschen – sie konnte bereits nach wenigen Tagen laufen, sie mussten nicht mit Milch ernährt werden und bald nach dem Schlüpfen begannen sie sprechen.

Najid war kaum lebensfähig gewesen, als er zu früh aus seinem zerbrochenen Ei gekrochen war. Dass er bei vollem Verstand war, hatte man sich lange kaum vorstellen können. Er hatte einiges an Körperkraft aufgebaut, doch den Mangel an Größe hatte er nie aufholen können. Wie seine Geschwister auch arbeitete er auf den Feldern der Familie und leistete seinen Teil für die Gemeinschaft. Als vollwertigen Wandler hatte ihn dennoch niemals jemand angesehen. Zugegeben, beim Schulunterricht hatte er gezeigt, wie gesund und rasch sein Verstand funktionierte. Von außergewöhnlichem Genie war er allerdings nicht. Einfach ein helles Köpfchen, ein wacher Geist, wie es viele gab. Das konnte also ebenfalls nicht die Erklärung sein, warum das Orakel ihn erwählt hatte. Die Priesterin wehrte die Fragen der anderen mit überheblichem Blick ab. Sie musste sich nicht erklären. Sie war das Orakel.

Mittlerweile hatten sich Najids Geschwister halbwegs von ihrem Schock erholt. Kamid und Ukai verwandelten sich und sorgten so mit schierer Körpermasse als blaugeschuppte Drachen für Platz. Die gesamte Familie gehörte zu den Blauschupplern. In ihrer menschlichen Gestalt besaßen sie schwarze Haare und blaue Augen, auch auf Najid traf dies zu, und auf Iraba. Die platzierte sich hinter ihren Brüdern und drängte die Menge damit noch weiter zurück.

Interessiert beugte sich Luam gemeinsam mit den Priestern über die Balkonbrüstung. Was trieben die drei da?

Najid kletterte in menschlicher Gestalt auf den Schuppenschweif seiner Schwester, bevor auch er sich verwandelte. Er wirkte beinahe wie ein Kind im Vergleich zu ihr, doch man konnte nicht leugnen, er war von dieser makelhaften Kleinwüchsigkeit abgesehen ein vollständiger und recht hübscher Drache.

Der Kleine nahm Anlauf, schlug heftig mit den Flügeln. Er sprintete über Irabas Schuppenrücken, sprang auf den ersten seiner Brüder über, rannte flügelschlagend weiter. Da war kein Schwanken, keine Unsicherheit – diese Übung machten die Vier nicht zum ersten Mal. Als er den Kopf des zweiten Bruders erreichte, richtete dieser sich ruckartig auf, und Najid hob sauber ab. Er glitt durch die Luft, nutzte den minimalen Aufwind, schlug noch mehrfach kräftig mit seinen Flügeln, und landete dann vielleicht nicht elegant, aber sicher auf dem Balkon. Das war für seine Möglichkeiten sehr beachtlich gewesen!

Sehr langsam richtete er sich auf, verwandelte sich dabei zurück in seine menschliche Form. Wie es üblich war, hatte seine Kleidung sich mitverwandelt, was extrem praktisch war und das gesellschaftliche Zusammenleben stark vereinfachte. Andernfalls würde ständig jemand nackt auf dem Marktplatz stehen.

Najid wirkte verunsichert, sein Blick irrte von einem Priester zum nächsten, übersprang Luam, als wäre dieser eine Ziegelmauer, und fixierte schließlich das Orakel.

„Eure Heiligkeit“, sagte er leise, zeigte dabei keinerlei Furcht. „Ich würde niemals wagen, an der Weisheit des Orakels zu zweifeln. Offenkundig muss ich mich also verhört haben, oder es gibt einen zweiten Najid in unserem Reich, denn ich kann unmöglich einer der Auserwählten sein.“

„Junger Mann.“ Sie musterte ihn streng. Ihr Name war Nulay, wenn Luam sich richtig erinnerte. Wichtig war das nicht. Sie war keine Frau. Sie war das Orakel. „Mein lieber Najid, Irrtum ist nicht gegeben. Die Zeichen waren laut und sehr eindeutig. Du bist der zweite Auserwählte. Es gibt überhaupt niemanden, der besser geeignet wäre, den Weg gemeinsam mit Luam zu beschreiten. Dafür gilt es zu verstehen, dass der erste Erwählte stets derjenige ist, der am besten das Erbe beschützen kann. Der zweite Erwählte ist derjenige, der das Beste aus dem ersten Beschützer herausholt. Ihn dazu bringt, seine Aufgabe auf genau die richtige Weise zu erfüllen. Darum sind die zweiten Erwählten häufig Frauen. Das hat keinen zwingenden romantischen Hintergrund, obwohl sich schon einige Male Erwählte unterwegs ineinander verliebt haben. Es gibt zahllose Möglichkeiten, wie man einem Gefährten beistehen kann und ihn dazu bringt, das Beste zu vollbringen. Genau dies wird deine Aufgabe sein.“

„Aber … wir mögen uns gar nicht leiden“, murmelte Najid und blickte zu Boden. Das versetzte Luam einen leichten Stich. Ja, er hatte sich als Heranwachsender gegenüber Najid und seiner Familie schrecklich verhalten. Das hatten die meisten getan, aber wohl niemand deutlicher als er. Najid war zwei Jahre jünger als er. Es gehörte zu seiner ersten Erinnerung, die Erzählung seiner Eltern von dem Jungen, der um mehrere Monde zu früh geschlüpft war. Das Bedauern für die betroffene Familie, denen ein Feuer das Haus und den Besitz und den jüngsten Sohn geraubt hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---