Die Legenden von Avany: Shias' Prophezeiung - Sandra Gernt - E-Book

Die Legenden von Avany: Shias' Prophezeiung E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Der 2. Teil der Legenden! Shias und Nayr haben Frieden geschlossen und ziehen gemeinsam mit ihren Gefährten los, um den Feind zu finden, der ihre beiden Länder bedroht. Doch sie begegnen einem uralten Wesen der Macht, das ihre Hilfe benötigt und sie vom Weg abbringt. Denn die Umtriebe des Feindes werden Kräfte erwecken, die tausende Jahre schliefen und es könnte ganz Avany vernichten, sollten diese Kräfte tatsächlich auferstehen. Derweil entdeckt Shias, über welche Macht er gebietet – und was Nayr ihm bedeutet. Ca. 74.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 363 Seiten

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Gay Fantasy

 

Der 2. Teil der Legenden! Shias und Nayr haben Frieden geschlossen und ziehen gemeinsam mit ihren Gefährten los, um den Feind zu finden, der ihre beiden Länder bedroht. Doch sie begegnen einem uralten Wesen der Macht, das ihre Hilfe benötigt und sie vom Weg abbringt. Denn die Umtriebe des Feindes werden Kräfte erwecken, die tausende Jahre schliefen und es könnte ganz Avany vernichten, sollten diese Kräfte tatsächlich auferstehen. Derweil entdeckt Shias, über welche Macht er gebietet – und was Nayr ihm bedeutet.

 

 

2. Teil der Legenden von Avany

 

Ca. 74.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 363 Seiten.

 

Shias‘ Prophezeiung

Buch 2

von

Sandra Gernt

 

Kapitel 1: Friedlose Begegnungen

Kapitel 2: Silberlicht

Kapitel 3: Die Hüter der Magie

Kapitel 4: Die Wut des Wassers

Kapitel 5: Prophezeiungen

Kapitel 6: All die guten Dinge

Kapitel 7: Das Opfer der Nymphe

Kapitel 8: Respektiere das Alter …

Kapitel 9: Des Zweifels düstere Saat

Kapitel 10: Der Herr von Wyvernhöhe

Kapitel 11: Die Audienz beim König

Kapitel 12: Von Herren und Dienern

Kapitel 13: Warten auf das Licht

Kapitel 14: Die Hexenfaust

 

 

 

 

 

Friedlose Begegnungen

 

lles war besser, seit Frieden zwischen ihnen herrschte.

Nayr war so froh, dass er sich mit Shias ausgesprochen hatte. Ein tiefes Empfinden von gegenseitigem Verständnis herrschte seitdem zwischen ihnen. Zumindest war es das, was er empfand. Doch Shias verhielt sich, als würde es ihm genauso ergehen und darum vertraute er auf das, was sie sich erkämpft hatten.

Sie hatten Hallmark zurückgelassen, wo Gräfin Unbra sich zur Verteidigung rüstete, um die Burgfestung gegen die Männer von Fürstin Lira zu verteidigen. Es war solch ein Wahnsinn! Alte Feindschaften hin oder her, Nayr glaubte nicht einen Moment daran, dass die Fürstin aus eigenem Antrieb jeden einzelnen waffenfähigen Mann unter den Befehl der Flagge von Meritheim gezwungen hatte, um Hallmark anzugreifen. Fürstin Lira war zu vernünftig, um ausgerechnet im Krieg zwischen Omoy und Avany Soldaten abzuziehen, damit sie noch rasch vor ihrem Tod eine alte Fehde befeuern konnte. Das war vollkommen unsinnig!

Wyr hatte sich unter Shias‘ Mantel verkrochen und schlief bereits seit eineinhalb Tagen. Wie er sagte, war er vollkommen erschöpft von dem Treiben der Menschen und er wollte seine Ruhe haben. Darum marschierten sie zu Fuß durchs Land und kamen dementsprechend bloß langsam voran. Auf seltsame Weise fühlte sich Nayr befreit davon, auf eigenen Beinen laufen zu müssen. Kein Pferd, für das er zusätzlich verantwortlich war. Keine Panik, während Wyr sie magisch durch die Erde zerrte, immer in der Gefahr, dass sie verstümmelt oder getötet werden könnten, sollten sie unter den Wyvernflügeln herausrutschen.

Sie waren bereits gestern den gesamten Tag gelaufen und heute ebenfalls seit einer Weile unterwegs. Dank Eskas Magie war das Muskelreißen heute Morgen rasch beseitigt gewesen, zudem war das Wetter halbwegs freundlich und trocken. Dementsprechend herrschte gute Laune vor. Für den Moment fühlte sich der Krieg unendlich fern an. Wie etwas, das in einer Legende geschehen war und sie keineswegs betraf. Immerhin sangen die Vögel in den Bäumen, die Sonne schien warm vom Himmel, der Wind umschmeichelte sie sanft, statt grob an ihnen zu reißen. Die Wälder waren noch voll belaubt, auch wenn erste gelbe Blätter fielen, und noch nicht alle Felder waren abgeerntet. Wie sollte man inmitten von Leben und dem natürlichen Wandel der Jahreszeiten über Tod und Vernichtung und dem Wahnsinn der Menschen nachdenken wollen?

Sie plauderten darum leichthin über dieses und jenes, wobei es gerade Shias war, dem es gelang, Nayr nicht auszuschließen. Er erklärte Dinge, die Nayr nicht wusste, weil sie nie Teil seines Lebens gewesen waren, und er fragte nach, wie Nayr aufgewachsen war. Welche Geschichten man ihm erzählt, welche Legenden für ihn wichtig gewesen waren. Sie zogen durch einen dichten, dunklen Wald, in dem es bloß wenige Wege gab, da sie sich in einem Grenzlandgebiet aufhielten, wo es kaum Siedlungen oder Felder gab.

Gerade war Nayr dabei, lebhaft eine Anekdote wiederzugeben, wie ein großes Treffen von hochgeborenen Adligen, Botschaftern und Landesherrschern am Hof seiner Eltern stattgefunden hatte und er gemeinsam mit seinem Bruder in die große Halle gehuscht war, in dem Glauben, unbemerkt zwei Schalen vom Tisch mit den Süßspeisen stibitzen zu können. Bryan, der zu dem Zeitpunkt noch keine acht Winter gezählt hatte, war an der goldbestickten Tischdecke hängengeblieben und hatte mehrere Kristallschüsseln herabgerissen, die natürlich mit viel Lärm zu Boden gefallen waren. Rotes Beerenmus war umhergespritzt, hatte die kostbaren Gewänder der Herrschaften besudelt und Bryan hatte so sehr über die entsetzten Gesichter gelacht, dass niemand Nayr bemerkte, der vor Schreck erstarrt unter dem Tisch gesessen hatte. Während man seinen Bruder ausgeschimpft und fortgebracht hatte, konnte Nayr in Ruhe über seine Beute herfallen. Man hatte ihn erst entdeckt, als die Diener die Halle aufräumen wollten, tief und fest schlafend, mit einer halbleeren Schale Beerencreme im Arm.

Sie lachten alle gemeinsam, wie er schilderte, dass Arym, der als Halbwüchsiger bei den Arbeiten helfen sollte, ihn geweckt und in eine schmutzige Tischdecke gewickelt hatte, um ihn unauffällig aus dem Saal zu schaffen, was auch beinahe gelungen wäre, hätte Nayr nicht versucht, seine Beerencremeschale mitzunehmen, die ihm natürlich lautstark aus den Händen gefallen war – als Shias plötzlich abrupt stehenblieb. Er lauschte für einen Moment, dann lief er weiter, als wäre nichts gewesen.

„Kaum zu glauben, dass Fürst Amo kein Herz für zwei kleine Jungen gehabt hatte!“, rief er etwas lauter als notwendig. Nayr stutzte – Amo war der Fürst von Shemja, jener omoyischen Provinz, aus der Shias stammte. „Sicherlich hätte er auch für die Kinder der Bediensteten etwas zu Essen übriggehabt, wenn sie ihn gefragt hätten, statt sich unter dem Tisch verstecken zu müssen.“

Schlagartig wurde es Nayr kalt, als er begriff, was Shias da tat. Jemand folgte ihnen. Vermutlich mehr als eine Person. Ein Avanyer hätte sich ihnen längst genähert, da sie zu Fuß unterwegs und eine kleine Gruppe waren. Hier im Niemandsland musste man mit avanyschen Flüchtlingen, Grenzpatrouillen und eben omoyischen Soldaten rechnen und nur letztere hatten einen Grund, sich heimlich zu verhalten und sie zu verfolgen. Zu belauschen, um herauszufinden, auf welche Seite sie gehörten. Avanysche Soldatentrupps nutzten die Hauptstraßen, sie würden nicht durch die Wälder schleichen.

Alle Blicke flogen zu Eska. Drei Männer in bürgerlicher Kleidung, das war leicht mit Spionage zu erklären. Eine Frau hingegen …

Ihnen blieb keine Zeit, Maßnahmen zu ergreifen oder irgendetwas abzusprechen. Bewaffnete Männer drangen zwischen den Bäumen hindurch, kamen langsam auf sie zu, umringten sie von sämtlichen Seiten. Sie trugen omoyische Embleme. Ihre Blicke zeigten, dass sie Nayr und seine Gefährten nicht als Gefahr einschätzten.

Einer der Männer kam ohne jede Hast auf sie zugeschlendert. Er war blond, nicht allzu groß gewachsen, dafür sehr kräftig in den Schultern. Sein Alter von mehr als dreißig Wintern und die Ausstrahlung von Selbstbewusstsein und Autorität bezeugten, dass er der Anführer dieser rund zwanzig Mann starken Truppe sein musste.

„Den Vieren zum Gruß“, sagte Shias freundlich, baute sich auf eine Weise auf, als wäre er wiederum der Führer ihrer Gruppe, und neigte höflich den Kopf. Er wirkte vollkommen gelassen, als würde er für Nachbarn auf dem Weg zum Markt anhalten, um ein wenig zu plaudern.

„Möge Ludarn euch leuchten“, entgegnete der Mann und wies in ehrfürchtiger Geste zum Himmel, wie es sich gehörte, wenn man den Sommergott beschwor. „Sagt, gibt es Nachricht von der Heimat?“

Ein Ruck ging durch Shias, etwas war in seinem Blick. Etwas, was Nayr schon einige Male bei ihm beobachten konnte – jedes Mal, wenn ihn etwas packte, was aus der für ihn verlorenen Zeit stammte. Jene Zeit, an die er sich nicht erinnern konnte.

„Unser Herr, Fürst Amo, hüllt sich in Schweigen“, sagte er. „Das sollten gute Nachrichten sein.“

Jegliches wachsame Misstrauen schmolz im Gesicht des Feindes, er lächelte sogar knapp. Eine Parole war das also. Ein Zeichen, mit dem sich Omoyer untereinander verständigten.

„Fürst Amo ist ein freundlicher Herrscher, wie ich hörte. Dass er auch Frauen als Spione und Attentäter über die Grenze schickt, habe ich hingegen nicht gehört.“ Sein Blick irrte zu Eska.

„Im Krieg muss man sich sämtlicher Waffen und Listen bedienen, die tauglich sind, um den Feind zu besiegen“, sagte sie und lächelte lieblich. „Nichts scheint unverdächtiger als eine Gruppe, in der sich eine Frau befindet. Es öffnet uns jede Tür.“

„Ich bin beeindruckt. Nun, da ihr südwärts wandert, ist eure Aufgabe offenkundig erfüllt und ihr wollt nach Hause zurückkehren?“

„Wir können nicht frei über das reden, was wir hier im Feindesland getan haben“, sagte Shias bedächtig. „Es ist wahr, dass wir uns auf dem Weg zur Grenze befinden.“

„Es wäre mir eine Freude, euch Geleit anbieten zu können. Die ananyschen Hunde sind mit Patrouillen unterwegs und sie haben sich angewöhnt, mit Pfeilen zu schießen statt bloß zu beobachten. Ich könnte mir vorstellen, dass sie selbst bei einer Frau nicht zögern, erst zu schießen und anschließend nachzufragen, auf welche Seite man gehört.“

Shias‘ Blick irrte zu Nayr, doch sie konnten sich nicht absprechen, sie mussten das Possenspiel aufrecht erhalten.

„Ich bin überzeugt, dass wir in der kleinen Gruppe unauffälliger reisen. Gerade weil wir uns laut und unbekümmert verhalten, bezeugt dies unsere scheinbare Ahnungslosigkeit und harmlose Natur. Reisen wir mit zwanzig Schwerbewaffneten, schießt man hingegen mit Sicherheit auf uns. Wir müssen um jeden Preis zu Fürst Amo gelangen, unser Wissen über den Feind ist kriegsbedeutend.“ Es war nicht direkt Misstrauen, das in den Blick des Soldaten zurückkehrte, doch er musterte sie eingehend. Gerade Arym schien ihm zu missfallen, man erkannte zu deutlich, dass er kein Krieger sein konnte.

„Unterschätzt ihn nicht“, sagte Nayr. „Dieser Mann gewinnt das Vertrauen der Hochgeborenen im Handstreich und erfährt all ihre Geheimnisse. Die Dame hingegen weiß alles über die Schwächen des menschlichen Körpers und kennt Gifte und Heilpflanzen, die Ihr Euch nicht einmal vorstellen könnt. Es gibt viele Wege, einen Krieg zu gewinnen. Mit einem Schwert kämpfen zu können ist lediglich einer davon.“

Auch er wurde nun aufmerksam gemustert.

„Nun, ich kann euch selbstverständlich nicht unseren Schutz aufzwingen, wenn ihr diesen nicht wünscht, auch wenn ich es für sinnvoll halten würde. Gibt es andere Wege, euch behilflich zu sein? Benötigt ihr Vorräte? Ausrüstung? Waffen?“ Es musste ihm zwangsläufig merkwürdig erscheinen, dass sie keinerlei Gepäck bei sich trugen. Sie sollten sich zumindest leichte Tragbeutel beschaffen, in denen sie einige notwendige Dinge zum Überleben deponieren konnten, statt davon abhängig zu sein, dass Wyr und Shias solche Gegenstände jederzeit mittels Magie transformieren konnten.

„Nichts dergleichen, habt vielen Dank“, sagte Shias. „Wir ernähren uns von dem, was der Wald uns bietet und übernachten in Bauernhäusern. Die Gastfreundschaft wird uns selbst in kriegszerstörten Gebieten nirgends verweigert. Informationen wären hingegen willkommen, wie sich die Truppen derzeit an der Front bewegen. Wir wollen wirklich ungern in Schlachtengetümmel geraten. Und gibt es neue Wege über den Fluss mit seinen verfluchten Wächtern?“

Nayr sah, wie sich die winzige Beule unter Shias Mantel bei den letzten Worten bewegte. Also war Wyr wach und hörte zu. Das war beruhigend. Sollte das hier schiefgehen, war es immer gut, einen mythischen Freund an der Seite zu haben, der schlagartig um das Hundertfache anwachsen konnte, um sie in Sicherheit zu bringen.

Er zog die Karte von Avany hervor, die er für Shias angefertigt hatte. Es war eine der sehr wenigen Dinge, die er von seiner persönlichen Habe zurückbehalten hatte, weil er sie – ohne speziellen Hintergedanken – in die Manteltasche gesteckt hatte. Jetzt gerade war er sehr froh darüber. Sie hatte aufgrund von Regen und sonstigen Abenteuern gelitten, doch man konnte die Linien noch deutlich genug erkennen.

Der Hauptmann der Omoyer starrte auf die Karte nieder.

„Wir befinden uns ungefähr hier“, erklärte Nayr. „Dort ist der Grenzfluss.“

„Was für eine schöne Karte, so detailliert! Ich würde einiges dafür geben, hätte ich solch eine genaue Karte …“

„Sie gehört Euch! Wir gehen nach Hause und benötigen sie nicht mehr länger. Gebt uns die Informationen, die wir benötigen, um uns von den Kämpfen an der Front nach Möglichkeit fernhalten zu können.“

„Ihr seid ein Fürst“, sagte der Hauptmann und zuckte erschrocken zusammen. Es war eine Feststellung, keine Frage – offenkundig war Nayrs Tonfall zu sehr derjenige eines Adelsmannes gewesen.

„Hier draußen sind wir alle Brüder.“ Shias klopfte ihm begütigend auf die Schulter.

„Gewiss, gewiss …“ Der Mann wies auf den Bereich westlich von Chiar. „Hier konzentrieren sich aktuell die Kämpfe, bei diesem kleinen Fluss, der in der Ava mündet. Der Feind hat unsere Stellungen bei Chiar fortgedrängt. Wir halten die Dörfer Boksla und Nuhmed, wo wir die Bevölkerung weitestgehend ausgelöscht und ansonsten unter Kontrolle gebracht haben, und arbeiten uns langsam auf Tunsgard vor. Die Avanyer halten uns in diesem Talabschnitt stark beschäftigt, aber ihr Nachschub erlahmt allmählich, darum können wir uns sicherlich bald im Westen ausbreiten und hier diese beiden kleineren Fürstentümer angreifen. Die wollen wir mit Feuer, Brand und Schwert überziehen, also die Bauerndörfer, um den Kampfmut der Feinde zu schwächen, das hat sich bewährt. Wenn man mit harter Hand gegen die Bauerntölpel vorgeht, werden die Soldaten zwar erst einmal aggressiv, verlieren aber auch den kühlen Kopf und machen entsprechend Fehler. Wir warten eigentlich nur noch auf frische Rekruten und die Bogenschützen, die uns seit zwei Monden versprochen werden. Falls es uns gelingt, ein paar hochrangige Adlige mit ihren Familien gefangen zu nehmen, um Lösegeld zu erpressen, sind wir gemachte Leute, darauf freue ich mich richtig!“

Nayr fühlte schieres Entsetzen, als er mitanhören musste, wie stark die Omoyer vorangekommen waren. Bei den letzten Kriegsberichten war das alles noch sehr weniger düster gewesen. Zudem erlahmte der Nachschub ausschließlich deshalb, weil Hallmark mit den Soldaten von Meritheim beschäftigt war. Ein strategisch meisterhafter Zug des Feindes, sollte er hinter dieser Fehde stecken! Doch wie hatte er es geschafft, Fürstin Lira zu solch einem Wahnsinn zu überreden?

Es gelang ihm nicht, seine Gefühle aus dem Gesicht fernzuhalten oder sich in irgendeiner Weise zu kontrollieren. Die einzige Möglichkeit, die ihm also blieb, um sie nicht zu verraten: Er krümmte sich zusammen und markierte einen starken Hustenanfall.

„Seid unbesorgt“, hörte er Arym sagen, der ihm fürsorglich auf den Rücken schlug. „Das grässliche avanysche Wetter, sonst nichts. Er ist ein wenig erkältet.“

Shias pflückte ihm die Landkarte aus der Hand, er hörte, wie er mit dem Hauptmann weitersprach. Um nichts zu versäumen, hörte er schlagartig auf zu husten und atmete tief durch, bevor er um Verzeihung bat.

„Es überkommt mich in den unpassendsten Momenten, wie aus heiterem Himmel. Immer wenn ich denke, ich wäre endlich vollkommen gesund.“

„Solange es bloß ein wenig Husten ist, könnt Ihr Euch glücklich schätzen. Angeblich haben wir bereits zweitausend Mann an die Effra verloren.“

Effra war eine schreckliche Krankheit, die mit Fieberkrämpfen und blutigen Durchfällen einherging, bis man an Austrocknung und Schwäche starb. Es genügte, verdorbenes Wasser zu trinken und war eine übliche Schlachtfelderscheinung. Wo Leichen, blutige Wunden und hunderte Männer, die regungslos an einem Landflecken verharrten, zusammentrafen, war die Effra nicht weit.

„Die nach wie vor einzige sichere Möglichkeit, die Ava zu überqueren, ist hier vorne.“ Der Hauptmann tippte auf die Karte, an eine Stelle, die ungefähr zwanzig Meilen von dem Ort entfernt lag, den Wyr bewacht hatte. „Die Wassernymphe, die dort als Wächterin eingesetzt ist, konnte verwundet und zurückgetrieben werden. Sie ist anscheinend noch da, man hört ihren Gesang in der Nacht. Aber ihre Macht ist gebrochen und es ist vor allem tagsüber leicht, den Fluss dort zu überqueren. Die Avanyer haben schon mehrfach versucht, Barrikaden zu errichten, doch das konnten wir ihnen jedes Mal austreiben.“

„Tüchtig, tüchtig!“, murmelte Shias, während Nayr erneut verkrampft hustete. Sie mussten unbedingt zu diesem Flussabschnitt und etwas unternehmen, um die Omoyer zurückzuhalten! Es war unerträglich, dass sie ungehindert über die Grenze dringen konnten! Zudem war eine verletzte Flussnymphe ein barbarisches Verbrechen, dass Nayr selbst den Omoyern nicht zugetraut hätte. Diese Geschöpfe galten als Kinder der Frühlingsgöttin und waren somit heilig!

„Ihr habt uns sehr weitergeholfen. Wie ist Euer Name? Ich will Euch lobend erwähnen, wenn wir dem Fürsten Bericht erstatten“, fuhr Shias fort. Der Hauptmann errötete vor Freude und Stolz.

„Yskar, Herr. Ich tue nichts als meine Pflicht.“

„Würde jeder seine Pflicht tun, werter Yskar, hätten wir längst wieder Frieden und die Bauern könnten auf den Feldern stehen, statt Schwerter schwingen zu müssen.“ Shias drückte ihm die Karte in die Hand und neigte den Kopf. „Lasst Euch nicht von Pfeilen durchbohren. Am Ende zählt nicht die Anzahl der Toten, sondern wie viele den Krieg überlebt haben, wie schon mein Vater stets zu sagen pflegte. Mögen die Vier Euch und Euren Mannen zulächeln.“

„Und Euch desgleichen, Herr.“ Yskar verneigte sich vor Shias und gab seinen Leuten dann einen Wink. Wenig später marschierten sie wieder allein unter den Bäumen dahin. Als sie sicher sein konnten, dass die Soldaten außer Hörweite waren, blieb Nayr stehen. Er musste jetzt dringend tief durchatmen, um nicht zu schreien. Diese Begegnung war unerträglich gewesen!

 

 

Shias konnte gut verstehen, wie Nayr sich gerade fühlen musste, zumal sie dem Feind jetzt eine detaillierte, wertvolle Landkarte überlassen mussten, um weniger verdächtig zu erscheinen. Er war Omoyer und dennoch hätte er Yskar am liebsten blutig und wund geschlagen, als dieser nebensächlich von eingenommenen Dörfern und verwundeten Nymphen gesprochen hatte. Wie seelenlos musste man sein! Wie verroht und innerlich erkaltet, um über den Tod hunderter und tausender Menschen auf beiden Seiten achtlos die Schultern zu zucken, weil einzig die Fortschritte auf einer Landkarte von Bedeutung waren!

Nayr war außer sich und auch Eska und Arym wirkten erschüttert. Wyr gesellte sich zu ihnen und schüttelte so heftig den winzigen Drachenkopf, dass er Rauchwölkchen wie Fäden verteilte.

„Was macht der Krieg bloß mit den Menschen?“, fragte er anklagend. „Dieser Yskar war kein böser Mann, das konnte ich fühlen. Warum war er dann so gleichgültig, so … Ich weiß es gar nicht! Als wäre es ihm wirklich egal, was mit den Avanyern passiert.“

„Mit Frauen und Kindern, mit Alten, Krüppeln und Kranken, die wehrlos in ihren Häusern leben und keinem Omoyer jemals Schaden zugefügt haben …“ Nayr hatte Tränen in den Augen, es nahm ihn zu sehr mit. Er musste die Bilder vor Chiar vor sich sehen, ein Erlebnis, das tiefe Wunden bei ihm gerissen hatte, wie Shias wusste.

„Herr, man lernt als Soldat, auf diese Weise zu denken“, sagte Arym und legte Nayr eine Hand auf die Schulter. „Unsere Leute sind da nicht anders. Man lernt, den Feind als etwas zu sehen, das wie eine Made zerquetscht werden muss.“

„Ich will nicht länger darüber nachdenken müssen“, sagte Nayr und schüttelte Aryms Hand ab. „Ich weiß, ich muss stärker werden, aber im Moment kann ich kein Verständnis für feindliche Soldaten aufbringen lernen. Lasst uns möglichst schnell zur Ava gelangen und nachschauen, was mit der Nymphe geschehen ist. Für die Toten von Boksla und Nuhmed können wir nichts tun. Die Nymphe hingegen muss geheilt und der Flussabschnitt gesichert werden, damit die Omoyer in ihrem Vormarsch gestoppt werden können.“

„Ich werde das persönlich übernehmen, und das mit Freude!“, grollte Wyr und flatterte auf, um zu imposanter Größe heranzuwachsen. Shias seufzte innerlich. Lieber würde er weiter zu Fuß laufen, als unter Wyvernflügel an seine Gefährten gequetscht zu werden. Aber er sah ja ein, dass Eile Not tat, also ertrug er es, von Klauen gepackt, an Schuppen gedrückt, von ledriger Dunkelheit bedeckt zu werden und zu spüren, wie sie kopfüber in die Erde eintauchten. Vielleicht gewöhnte er sich eines Tages noch an diese Art zu reisen!

 

 

Silberlicht

 

ayr schreckte hoch, als ihn jemand berührte. Es war Arym, der ein magisches Licht in der Hand hielt und nachsichtig über ihn lächelte. Sie hatten sich in ein Buschwerk zurückgezogen, als sie den Fluss erreicht hatten. Wyr hatte es magisch zu einem Schutzbereich umgebaut, wo sie lagern und ausruhen konnten, bis die Nacht hereingefallen war. Weder Tier noch Mensch konnte in diese Schutzzone eindringen, selbst vor Insekten und Käfern waren sie geschützt. Von außen sah man nichts, es war einfach bloß Grünzeug, genauso wenig spannend wie das andere Gebüsch links und rechts von ihnen. Nayr hatte nicht einschlafen wollen, er ärgerte sich ein wenig, dass die Müdigkeit ihn doch überwältigt hatte. Die Orientierungslosigkeit missfiel ihm, die dazu gehörte, wenn man mitten im Schlaf herausgerissen wurde.

Zum Glück hielt es nicht lange an. Shias klopfte ihm auf die Schulter und drückte ihm einen magisch leuchtenden Ast in die Finger, den er vermutlich selbst hergestellt hatte.

„Magst du etwas essen?“, fragte er und wies auf einige Schalen, die auf dem Boden standen. „Es ist noch früh, die Sonne ist gerade erst untergegangen.“

Nayr nickte, streckte sich. Die Decken, auf denen er gelegen hatte, waren sehr bequem gewesen. Wyr ließ sie soeben wieder zu Laub und Zweigen zerfallen. Eska reichte ihm heißen Tee, der half, die Lebensgeister zu erwecken. Nach einem einfachen, köstlichen Mahl aus Linsen, Bohnen und Kräuter waren sie alle bereit, sich ihrer Aufgabe zu stellen.

„Ich halte mich versteckt“, sagte Wyr. „Nymphen fürchten Wyvern. Leider nicht zu Unrecht, wie ich zugeben muss. Einige meiner Vorfahren fanden es wohl unterhaltsam, grausam mit ihnen umzugehen. Gerade mit den Wassernymphen hatten sie wenig Gnade. Wie ihr ja wisst, ist Wasser das Element, mit dem wir am wenigsten zurechtkommen und nun ja – Wassernymphen besitzen Kräfte, mit denen sie einen Wyvern durchaus in die Knie zwingen können, obwohl sie insgesamt eher weniger mächtig sind.“ Er verkroch sich in Shias‘ Manteltasche, wodurch er näher am Geschehen war, als würde er sich unter dem Stoff verbergen.

„Ich sorge dafür, dass du vor Wasser geschützt sein wirst“, sagte Shias, wandelte einen Zweig zur Nadel und schob diese vorsichtig in den Mantelstoff, ohne Wyr zu berühren. Danach marschierten sie gemeinsam zum Ufer.

„Ruf du nach ihr.“ Eska nickte Shias zu. „Du besitzt den stärksten Zugang zum Wasser von uns allen.“

Das entsprach der Wahrheit. Nicht nur, dass Shias am Tag der Schutzheiligen der Quellen geboren war, er sollte auch machtvolle Wassermagie besitzen, was er bislang noch nicht ausgenutzt oder näher erforscht hatte, soweit Nayr wusste.

„O Nymphe des Wassers!“, rief Shias und streckte sein Licht vor. Da der nächtliche Himmel von dichten Wolken bedeckt war, konnte man bloß wenig erkennen. Ihre magischen Lichter waren wie Glühwürmchen in der Dunkelheit und halfen, zumindest Umrisse und Silhouetten auszumachen und die Ava als mattes Glitzern vom Ufer zu unterscheiden.

„O Nymphe, Wächterin der Ava! Wir sind Freunde der mythischen Geschöpfe Avanys und wollen dir helfen! Wir hörten, du wurdest von feindlichen Menschen verletzt. Lass uns dir beistehen, damit Avanys Grenzen vor den Soldaten aus Omoy sicher sind!“

„Ein Kind des Wassers.“ Vor ihnen erhob sich eine zarte Frauengestalt aus dem Fluss. Sie leuchtete silbrig aus sich selbst heraus, wie die Ava, wenn Mondlicht auf sie fiel. Ihr Haar war wie silbernes Wassergras und bedeckte ihren bloßen Oberkörper. Wie eine außergewöhnlich schöne, junge Menschenfrau erschien sie, und zugleich auf kaum zu begreifende Weise fremdartig. Es mochte am silbernen Leuchten liegen, aber da war noch mehr, eine deutliche Ausstrahlung, die bewies, wie alt sie bereits war, wie unmenschlich. Zugleich erschien sie Nayr vage vertraut zu sein. „Ein Wasserkind, geboren in Omoy, und dennoch auf der Seite der Verteidiger dieser Uferseite.“ Sie streckte die Hand nach Shias aus, zögerte dann allerdings. „Ein Wyvern ist bei dir.“

„Das ist wahr, o Nymphe“, entgegnete Shias. „Er hält sich verborgen, um dich nicht zu erschrecken. Ihm tut es leid, was seine Vorfahren deinem Volk angetan haben.“

„Ich spüre die Wahrheit in deinen Worten. Du musst dich nicht verstecken, Wyvern. Auch wenn ich geschwächt bin, ich weiß, ich muss dich nicht fürchten. Du bist ebenfalls ein Wächter der Lebensader dieser Lande.“

Wyr krabbelte etwas misstrauisch aus der Manteltasche hervor und Shias‘ Körper hinauf, bis er sich auf der Schulter niederlassen konnte. Er hielt sich angespannt, war sicherlich bereit, beim geringsten Zucken der Nymphe sofort hochzufliegen. Immerhin könnte sie ihm mit ihrer Wassermagie leicht Schmerzen zufügen.

„Wir sind Nachbarn gewesen, ja“, sagte er. „Bis ich mich entschloss, mein Schutzgebiet mit einem permanenten Zauber zu beschützen und diese Menschlein hier auf ihrer Mission zu begleiten. Sie wollen den Feind stellen, der Avany und Omoy gleichermaßen bedroht.“

„Das war weitsichtig von dir, Wyr.“ Sie nickte, hielt ihn ebenso gespannt im Blick wie er sie. „Ich spüre Erstaunen von euch“, fuhr sie fort, schaute zu Nayr und seinen Gefährten hinüber. „Wasser durchdringt alles, auch eure Gedanken. Ich kenne eure inneren Wesen, eure Seelen, Absichten, Erinnerungen und selbstverständlich auch eure Namen. Im Kampf sind Nymphen selbst von Unbegabten leicht zu bezwingen, wie die Soldaten von Omoy kürzlich erst bewiesen haben. Unsere Macht liegt im Wissen und anderen Gebieten … Ja, Eska, du darfst deine dir eigene Macht nutzen, um mir Heilung zu schenken. Ich wurde sehr geschwächt. Musste mich zurückziehen und den Fluss im Stich lassen, um nicht vernichtet zu werden. Ich singe nur noch in der Nacht, um einzelne Omoyer zu mir zu locken.“

„Was soll das bringen?“, fragte Nayr. „Besteht nicht die Gefahr, dass sie dich dann töten?“

„Nur diejenigen, die reinen Herzens sind, können meinen Gesang vernehmen“, erwiderte sie lächelnd und watete näher ans Ufer heran, damit Eska mit ihren Nadeln an sie heranreichen konnte. „Andere, die ihnen folgen wollen, verwirre ich hingegen. Die Männer, die ich berühre, bestärke ich in dem, was sie sind. Egal für welchen Herrscher sie kämpfen müssen, mit ihrer Einfühlsamkeit und dem Mut, das Richtige zu tun, können sie manche böse Tat verhindern und Gutes vollbringen, für ihre Kameraden ebenso wie für die schuldlosen Opfer des Krieges. Es ist nicht genug, um Avany zu retten. Jeder einzelne Tropfen ist von Bedeutung, darum gebe ich, was ich habe … Oh, das tut gut, Kind.“ Sie lächelte Eska an, strich ihr sanft über den Kopf. „All die Schmerzen, die du in dir trägst, lassen keinen Raum für Liebe. Öffne dich wenigstens der Freundschaft, Kind der Erde.“

Sie bewegte sich auf Arym zu, berührte ihn an der Wange. Nayr sah das Staunen im Blick seines Freundes, als das Nymphenlicht Aryms Gesicht erhellte.

„Du hast unendlich viel zu geben und behältst nichts für dich. Achte auf dich, Arym. Indem du forderst, was dir zusteht, stärkst du den Quell, aus dem du schöpfst, ohne dich selbst zu verraten. Fasse Mut!“

Sie wandte sich Nayr zu. Ihr Lächeln vertiefte sich und nun wusste er plötzlich, warum sie ihm so bekannt erschien – ihr Gesicht war das von Iaryn, seiner Amme, die für ihn Mutterersatz gewesen war, von der Stunde seiner Geburt bis zu seinem siebten Lebensjahr. Sie zu verlieren hatte ihn mehr geschmerzt als der Tod seiner wahren Mutter, der Königin. Er erinnerte sich nun, Nymphen zeigten niemals ihre wahre Gestalt, sondern erschienen in jener menschlichen Form, die man mit der Erinnerung an eine vertrauenswürdige, freundliche Frau verband.

„Wut ist in dir, und solch starke Zweifel, Nayr. Das ist nicht notwendig, Prinz von Avany. Du bist, was du bist, das muss dich nicht in Stücke reißen, sondern mit Stolz erfüllen! Glaube an dich, und dein Licht wird hell leuchten.“ Sie legte eine Hand auf sein Herz und betrachtete ihn noch einen Moment länger, liebevoll lächelnd, wie Iaryn es stets getan hatte. „Ich verstehe deine Angst, verlassen zu werden, denn nahezu jeden, den du liebtest, hast du verloren. Hab Vertrauen in die Kraft deiner Freunde zu überleben. Es lohnt sich, sie zu lieben.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, was prickelnde Schauer durch seinen Körper rieseln ließ – keineswegs vor Verlangen, sondern wohltuend, als wäre er mit dem Gesicht in belebendes, kühles Wasser getaucht, nachdem er sich einen langen Tag auf dem Kampfplatz mit seinen Ausbildern abgemüht hatte. Verblüfft sah er ihr nach, als sie sich von ihm abwandte und auf Shias zuging. Das hier war so fremdartig gewesen, er wusste nicht einmal, ob es wunderschön oder erschreckend war.

„Grauenhaft ist, was du durchlitten hast, Shias“, flüsterte sie. „Ich sehe, was du verloren hast. Was dir fortgenommen wurde. Mehr als die Fähigkeit, Schmerz zu fühlen, was für sich genommen bereits an Leid kaum zu überbieten war.“

„Bitte, erzähle mir davon, o Nymphe!“, rief Shias mit schwankender Stimme. Sein Flehen trieb Nayr Tränen in die Augen, die er beschämt fortblinzelte.

„Das darf ich nicht! Es würde dich zerreißen, denn du bist noch nicht bereit, dich zu erinnern. Wenn du es bist, wird die Erinnerung von allein zurückkehren. Versichern kann ich dir, dass Fynn kein Traum war. Der junge Mann, an den du dich in winzigen, zerfetzten Momenten erinnerst, er war dein Freund und Kamerad, für kurze Zeit zumindest. Er ist tot, auch das ist wahr.“

Shias‘ Blick quoll über vor Trauer; ein Anblick, der kaum zu ertragen war. Nayr ging zu ihm, ergriff seine Hand. Die Nymphe ließ es zu, lächelte lediglich, während sie Shias über die Wange streichelte. „Kind des Wassers, fürchte dich nicht vor diesem Element, über das deine Meister dich nicht belehren können. Was immer du wissen musst, du trägst es längst in dir. Magie ist keine Gefahr, sondern dein Geburtsrecht. Öffne dich dem Wasser und öffne dich deinen Gefährten. Du wurdest an ihre Seite gezwungen und hast dich doch längst entschieden, genau dort stehen zu wollen. Dieser Krieg hat nichts mit Avany oder Omoy zu tun, dafür alles mit dem Willen einer einzelnen Macht.“

Ihre Worte waren Rätsel, die seltsamerweise danach klangen, als müsse man die Lösung längst kennen. Bevor Nayr sich für eine der vielen Fragen entscheiden konnte, die ihm durch den Sinn zogen, hob die Nymphe erneut die Hand – und begann zu singen. Liebliche Klänge, beruhigend wie das ewige, muntere Murmeln des Flusses und das Rauschen des Regens.

Schon nach wenigen Momenten wurde Nayr bewusst, dass er bewegungsunfähig war. Er konnte atmen, doch ansonsten nicht einmal willentlich die Lider schließen oder den Kopf wenden. Seinen Gefährten erging es offenkundig nicht anders, und selbst Wyr schien zu erschlaffen. Der Wyvern zuckte jedenfalls nicht zurück, als die Nymphe ihn erst berührte, dann nach ihm griff und ihn von Shias‘ Schulter hob. Angst wallte ihn Nayr hoch – hatte die Nymphe sie betrogen? Ihr Vertrauen erschlichen? Was hatte sie vor?

„Fürchtet euch nicht“, sagte sie lächelnd und hob Wyr in die Höhe, als wollte sie einen funkelnden Edelstein genauer betrachten. „Es wäre unsinnig, euch Schaden zufügen zu wollen und meine kärgliche Macht reicht nicht aus, einen Wyvern zu bezwingen. Nicht einmal einen solch jungen wie diesen hier. Niemals würde ich mir wünschen, den Tod über ihn zu bringen. Nein, ich bitte euch alle darum, mir Vertrauen und Gehör zu schenken, denn ich habe etwas über das Wirken des Feindes zu erzählen, das ihr wissen müsst. Dazu möchte ich euch an einen Ort mitnehmen, der für einen Wyvern zu gefährlich ist. Zwar könnte ich die Macht des Wassers von ihm fernhalten, doch es wäre besser, wenn Wyr zurückbleibt und die Wacht über die Ava für mich übernimmt. Er ist besser geeignet, als ich es jemals war.“

Sie wischte mit der freien Hand durch die Luft und löste auf diese Weise den seltsamen Bann, der sie befallen hatte. Behutsam reichte sie Wyr an Shias, der ihn in seinen Händen barg. Wyr räusperte sich auf seltsame Weise und warf einen Blick in die Runde.

„Die Nymphe hat mir auf stumme, magische Weise berichtet, was sie euch zeigen will. Geht mit ihr, habt Vertrauen. Ich bleibe hier und sichere den Fluss. Wenn mein Zauber fertig ist, wird kein Omoyer mehr an dieser Stelle durchbrechen können. Heimkehren hingegen ist für sie möglich, sie bleiben also nicht in Avany gefangen, was eher fatal für sämtliche Beteiligte wäre.“

„Ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet, o Wyvern.“ Die Nymphe beugte sich vor und gab Wyr einen zarten Kuss auf die Schnauze, und wenn Nayr sich nicht sicher wäre, dass dies eigentlich unmöglich sein sollte, würde er jetzt glauben, dass Wyr vor Verlegenheit errötete. Er flog auf und verschwand in der Dunkelheit.

„Kommt mit mir“, bat die Nymphe und wandte sich dem Fluss zu. Sie hob die Hände, begann sie auf seltsame Weise zu bewegen, als wollte sie die Luft wie einen Brotteig kneten und verflechten. Das Wasser stockte. Im silbrigen Licht, das von der Nymphe ausging, sah Nayr, wie sich eine Welle hochtürmte und zu einem Wirbel auszubilden begann.

„Wisset, dass einst, als die Welt noch jung war, die Götter bestimmten, dass die Menschen nicht über die Magie gebieten sollten. Diese Macht sollte anderen Völkern vorbehalten bleiben. Lasst mich euch an einen Ort führen, wo ihr verstehen werdet, was in den uralten Zeiten geschah. Nur dann könnt ihr erkennen, welche Gefahr uns im Heute droht.“

Sie schritt auf den Wirbel zu, der sich auf eine Weise verhielt, wie es für Wasser unmöglich sein sollte – statt abzufließen, drehte es sich weiter im Kreis, bildete eine Art Tunnel, groß genug, um Raum für die Nymphe zu bieten.

„Kommt, folgt mir“, rief sie über die Schulter.

Nayr sah zu seinen Gefährten, die zögerten, ins Ungewisse zu gehen. Er vertraute diesem Geschöpf hingegen und lief auf sie zu. Wyr hatte sich für sie ausgesprochen und wenn sie etwas über den Feind wusste, stellte sich die Frage gar nicht erst, dann mussten sie dort in den Wirbel hinein!

Er spürte Shias dicht hinter sich und gewiss waren auch Arym und Eska bei ihm. Sie balancierten über Flusskiesel und schritten über weichen, nassen Boden – die Ava war trockengefallen, ihr Wasser konzentrierte sich auf diesen einen Wirbel. Wie es wohl den Fischen darin erging? Und wohin der Tunnel wohl führen konnte?

 

 

Es war seltsam unheimlich, dieser Nymphe in das wirbelnde Wasser hinein zu folgen. Unter ihren Füßen platschte und spritzte es bei jedem Schritt und die sich träge umherwälzenden Massen leuchteten im Silberlicht dieser mystischen Gestalt. Wer die Macht besaß, einen ganzen Fluss aus seinem Bett zu heben und zu einem Tunnel zu formen, wer die tiefsten Gedanken und Erinnerungen eines jeden Lebewesens kannte, ohne es berühren zu müssen, wer mit seinem Gesang selbst einen Wyvern kontrollieren und mit seinen Worten manipulieren konnte, müsste eigentlich stärker und mächtiger als selbst die Drachen zu nennen sein! Wie war es möglich, dass eine Nymphe – eine Angehörige eines Volkes, das als schwachmagisch und harmlos galt – zugleich von solcher Macht beseelt und vollkommen wehr- und hilflos sein konnte? Selbst zur Illusion war sie fähig, denn sie trug das Gesicht seiner Mutter, lediglich um zwei Jahrzehnte verjüngt.

„Macht ist niemals nur das, was man besitzt, Shias“, hörte er ihre Stimme in seinem Geist. „Es ist noch viel mehr das, was einem gegeben wird. Die Macht eines Königs beruht darauf, dass seine sämtlichen Untertanen daran glauben, er wäre der bedeutendste Mann im Reich und ihm allein gebührt das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen. Über euch habe ich Macht, weil ihr mir Vertrauen gegeben habt. Der Fluss gehorcht mir, weil Wasser sich niemals widersetzt, wenn man es in neue Bahnen zu lenken versucht. Es passt sich an und folgt dem Weg, der ihm gegeben wird. Hätte der Wyvern mir nicht zugehört und erkannt, dass ich die Wahrheit spreche, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, mich auf jegliche Weise zu quälen oder auch zu vernichten. Und Soldaten, die nicht davor zurückscheuen, einer schwangeren Frau ein Schwert in den Bauch zu stoßen, würden niemals einer Nymphe vertrauen und ihr gestatten, Macht über sie zu erlangen. Für sie ist es leicht, meinen Körper zu verletzen. Am Anfang konnte ich die Männer von Omoy noch aufhalten, weil sie jung und schuldlos herankamen und erst durch den Kampf verrohten. Mittlerweile werden die neuen Krieger von Veteranen begleitet, die sich mir mühelos widersetzen können. Ich bin nicht die einzige Schwachstelle bei der Verteidigung der Ava. Noch weiter flussaufwärts gibt es zahlreiche Orte, an denen der Fluss überquerbar geworden ist.“

„Erschreckt nicht“, sagte sie laut. „Ihr dürft die Wasserwände nicht berühren, sonst brecht ihr die Magie, die sie bannen und ich wäre nicht in der Lage, euch alle vor dem Ertrinken zu retten.“

„Wo ist dieser Ort, von dem du gesprochen hast?“, fragte Nayr. „Ist es weit entfernt? Wir haben Pflichten.“

„Ich weiß von dem, was ihr euch freiwillig auferlegt habt. Genau darum führe ich euch und der Weg ist weit und doch nah. Habt Vertrauen! Ihr müsst begreifen, wie die Magie zu den Menschen kam, die ihnen von den Göttern verwehrt worden war.“

„Es gibt bloß ein einziges Volk, das Magie besitzt“, sagte Eska. „Die Nonnit. Sie und ihre Nachfahren.“

„Die Nonnit, sie sind die Ältesten. Sie waren die ersten Menschen, die in dieser Welt lebten. Im Vergleich zu denen, die danach kamen, sind sie kleiner, ihre Haut dunkler, das Gesicht rau, die Bärte der Männer wild. Sie lebten damals in deutlich geringerer Zahl inmitten von Nymphen, Drachen und zahlreichen anderen Völkern, die ihr heute höchstens noch aus Legenden kennt. Diese Menschen besaßen keine Städte. Teils zogen sie als Jäger durch die Wälder, sammelten, was sie fanden und weideten Tiere auf grasbewachsenen Hügeln, teils ließen sie sich nieder und versuchten, die Erde zu beackern, um damit ein Auskommen zu finden. Als sich das Wetter wandelte, kälter und trockener wurde, die Felder verdorrten, das Obst an den Bäumen nicht reifte, da wanderte eine große Gruppe von ihnen fort, in Richtung des Nordmeeres, um neue Lande zu suchen. Weil der Hunger zu stark wurde, jagte man jene davon, die nutzlos erschienen – die Alten, die Kranken, die Krüppel. Ihr habt gesehen, was aus ihnen wurde, der Herr des Winters nahm sie unter seinen Schutz und erschuf das Volk der Tunnelkobolde.“

Wie lange schritten sie nun wohl schon durch diesen Tunnel aus Wasser? Das tiefe Rauschen der wälzenden Massen, das Shias zunächst gar nicht wirklich wahrgenommen hatte, war mittlerweile zum alles durchdringenden Strömen angewachsen, das Urängste weckte und zugleich so … so lebendig war. Es war ein Wummern wie von tausend Trommeln, ein Rauschen wie ein Wald im Sturm und ein belebendes, starkes Gefühl, für das er keinen Namen und keinen Vergleich kannte. Wenn das die Essenz des Wassers war, dann gab es wohl keine andere Macht, die ihr gleichkommen konnte. Dies war der Ursprung allen Lebens!

„Fallt nicht zurück, ihr würdet verloren gehen“, sagte die Nymphe und blickte kurz über die Schulter. Shias bemerkte, dass er langsamer geworden war und beeilte sich, wieder zur Gruppe aufzuschließen.

„In dieser Zeit, als die Welt sich wandelte, sind viele Drachen in den Schlaf übergegangen, denn sie fanden nicht mehr genug Nahrung. Auch andere Völker wanderten aus, verschwanden im Nebel der Zeit, gingen ohne Spuren zu lassen verloren aus dem Wissen und den Erinnerungen derjenigen, die zurückblieben. Dieser Wandel dauerte über hunderte und tausende Jahre an. Am Ende kehrten Sonne und Wärme zurück und das Land blühte erneut auf. Es brachte Menschenvölker aus dem Norden heran. Sie hatten sich verändert, waren größer und stärker geworden als jene, die ausgeharrt hatten. Sie verdrängten die Nonnit in die Berge, beanspruchten die sonnigen, fruchtbaren Täler für sich selbst. Sie schlugen heilige Bäume nieder und töteten somit reihenweise Baumnymphen, denn sie wussten nichts von ihrer Heiligkeit. Sie vernichteten Wassernymphen in großer Zahl, weil sie Wasser für sich und ihr Vieh benötigten. Sie nahmen, was sie begehrten, ohne zu fragen, ob es für sie bestimmt war, denn ihnen fehlte jedes Wissen, und lachten über das, was ihnen erzählt wurde, denn sie hielten es für Aberglauben und Kindergeschichten. In dieser Zeit knieten die Nonnit nieder und flehten zu den Göttern. Sie wollten die neuen Menschenvölker nicht vertreiben, denn das wäre, als wolle man das Meer mit der Kraft der Hände zurückhalten. Sie wollten ihr Land nicht zurückerobern. Sie wollten lediglich sich selbst und ihre Kinder beschützen und das Überleben der verbliebenen mythischen Geschöpfe garantieren. Es war dieser selbstlose Wunsch, der die Götter dazu trieb, die Bitte zu erhören. Sie sandten ein heiliges Artefakt, das den Nonnit den Zugang zur Magie gewährte. Mit dieser Magie wurden sie zu den Hütern der schwachen mythischen Völker, wie etwa den Nymphen. Das Artefakt befindet sich im Herzen von Avany und es zieht alle Magiebegabten zu sich. Darum leben wir Mythischen fast ausschließlich in Avany, während bereits in Omoy unsere Namen nur noch Legenden sind.“

„Der Feind will das Artefakt?“, fragte Nayr schockiert. „Geht es darum?“

„Du hast es richtig erkannt“, erwiderte die Nymphe. „Es kann missbraucht werden, um einem einzelnen Sterblichen die Macht eines Gottes zu verleihen. Die Hüter ahnen nichts davon, sie wissen nicht, dass ein Feind die Hände nach dem ausstreckt, was sie bewahren. Sie können es noch vor ihm und allen anderen verbergen. Doch seine Macht wächst, während ihre schon lange schwindet. Seit Jahrhunderten sind die Nonnit gezwungen, sich mit anderen Menschen zu mischen, damit die Gabe nicht gänzlich verlorengeht. Sie hassen, was daraus entsteht, sie hassen Kinder unreinen Blutes. Dennoch müssen sie dieses Übel ertragen und hinnehmen, dass ihr Volk schwindet.“

Sie verharrte für einen Moment und wies nach vorne, in die Dunkelheit.

„Ihr müsst das letzte Stück ohne mich gehen“, sagte sie. „Ihr werdet dort auf die Hüter treffen. Seid gewarnt, sie werden euch erst einmal nicht freundlich begegnen. Ihr müsst sie davon überzeugen, dass eure Ziele die gleichen wie ihre sind. Sie können euch vieles über den Feind erzählen und ihr, ihr könnt ihnen helfen. Eure Magie ist machtvoller als die ihre, Eska und Shias, gerade weil ihr gemischten Blutes seid. Die Hüter haben nicht mehr länger die Kraft, das Artefakt vor dem Feind zu beschützen. Seid auch gewarnt, dass einige der Hüter nicht mehr das reine, selbstlose Herz besitzen, mit dem ihre Vorfahren die Götter bewegen konnten.“

„Ich bin nicht sicher, ob es klug ist …“, setzte Eska an. In diesem Moment wurden sie von einer Wasserwelle getroffen. Sanft und unaufhaltsam zugleich schob das Wasser sie all in die Dunkelheit hinein, zwang sie, weiterzulaufen, und als sie schließlich stolperten und übereinander fielen, trug es sie weiter und weiter. Unaufhaltsam.

 

 

Die Hüter der Magie

 

rwachen war ein freudloses Geschehen.

Nayr fror erbärmlich. Er war durchnässt, und jeder einzelne Knochen in seinem Körper schmerzte. War er etwa krank? Er konnte sich nicht erinnern und er wollte auch gar nicht wissen, was genau mit ihm los war.

Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass er gefesselt worden sein musste. Es war ihm jedenfalls unmöglich, die Hände vom Rücken zu nehmen oder sich in irgendeiner Weise zu bewegen. Und dieses Winseln und Wimmern, das er hörte … Es kam zum Teil von ihm. Allerdings nicht alles davon. Jemand war in seiner Nähe und demjenigen erging es genauso elend wie ihm.

Langsam öffnete er die Augen. Noch während er begriff, dass er auf lehmgestampftem Boden lag und eine Öllaterne mattes Licht spendete, kam die Erinnerung zurück. Die Nymphe. Der Wassertunnel. All die Dinge, die sie erzählt hatte. Die Warnung, dass die Nonnit sie nicht freundlich willkommen heißen würden.

Er erinnerte sich nicht an das, was danach geschehen sein musste. Vielleicht war er ohnmächtig geworden, als die Wasserwelle ihn umgeworfen hatte? Jedenfalls wüsste er nicht, dass er unfreundlichen Menschen begegnet war, die ihn und seine Gefährten überwältigt und gefesselt hatten. Als er den Kopf wandte, soweit ihm das in seiner Seitenlage möglich war, entdeckte er Arym. Der war es, der sich quälte und schmerzgeplagt wimmerte.

„Arym!“, wisperte er. „Bist du verletzt?“

„O ihr Götter! Herr!“ Arym krümmte sich, schob sich damit näher an ihn heran. „Ich fürchtete, Ihr wärt tot! Ich hatte nach Euch gerufen und es kam keine Antwort!“

„Bist du verletzt?“, wiederholte Nayr geduldig.

„Nein, Herr, ich glaube nicht. Die Fesseln schmerzen und es ist erbärmlich kalt. Wie geht es Euch?“

„Gleichermaßen. Kalt und sehr unbehaglich, nichts Schlimmeres als das. Ist Eska bei dir? Shias? Ich kann sie nicht sehen.“

„Eska liegt neben mir.

---ENDE DER LESEPROBE---