Dawning Sun - Sandra Gernt - E-Book

Dawning Sun E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Joshs Leben gerät aus den Fugen, als er ausgerechnet von seinem besten Freund gegen seinen Willen geoutet wird. Statt sich in Ruhe auf das Abitur vorzubereiten, sieht er sich plötzlich nervösen Blicken und sogar Anfeindungen ausgesetzt. Als er angegriffen, brutal geschlagen und verletzt wird, scheint alles in Dunkelheit zu versinken - doch da zeigt sich ein winziger Schimmer Hoffnung ...

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Dawning Sun

Sandra Gernt

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2013

© the author

http://www.sandra-gernt.de

Cover: M. Hanke

Coverfoto: © Studio54 - Fotolia.com

Kurzzitat vom Songtext „Sleeping Sun“ © Warner Chappel und Nightwish

Erfundene Personen können darauf verzichten, aber im realen Leben gilt: Safer Sex!

Sämtliche handelnde Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. Auflage

978-3-943678-57-4 (print)

978-3-943678-58-1 (epub)

„Gib ab!“

„Hier rüber!“

„Luca steht frei, mach schon!“

„Lauf!“

„JAAA!“

Josh jubelte über sein dreiunddreißigstes Tor in dieser Handballsaison. Das vierte in diesem Spiel.

Seine Mannschaft jubelte mit ihm. Hendrik warf sich ihm um den Hals, Sebastian wuschelte ihm durch die hellbraunen ohrläppchenlangen Haare, Andi und Ruben klopften ihm den Rücken. Sofort ging es weiter, mit schnellen Pässen, vollem Laufeinsatz und rücksichtslosen Würfen auf das gegnerische Tor. Am Ende siegten sie mit 34:22, und damit eindeutig. Ein Schritt näher an die Spitze der Kreisliga. Applaus des Publikums, ausgelassene Freudentänze, Feierlaune und Jubelschreie … Alles wie immer. Nur für Josh nicht. Seit einer Woche war gar nichts mehr wie immer.

In der Kabine dauerte es nicht lange, bis die ersten Seitenblicke seiner Mannschaftskameraden in seine Richtung huschten. Man rückte von ihm ab, bemüht unauffällig. Das Lächeln verkrampfte. Unnatürliches glaub-nicht-ich-hätte-ein-Problem-Getue. Offene und verborgene Ablehnung. Einige wenige, die kein echtes Problem hatten, aber nicht wussten, wie sie sich in der Gruppe verhalten sollten.

Vor einer Woche war Josh geoutet worden. Gegen seinen Willen. Mitten auf dem Schulhof, damit es auch wirklich jeder mitbekam. Leon, diese falsche Ratte …

Josh ballte die Fäuste bei der Erinnerung an das Grinsen im Gesicht seines ehemals besten Freundes. Seit der fünften Klasse hatten sie fast täglich zusammengehangen. Sie waren gemeinsam durch Lateinprüfungen, Stimmbruch und die von ihren Eltern aufgezwungenen Tanzkursen marschiert. Josh war so sicher gewesen, dass Leon zu ihm stehen würde, komme, was wolle. Zu sehr hatte er geglaubt, dass wahre Freundschaft durch nichts zu erschüttern war. Andernfalls hätte er niemals sein so sorgfältig gehütetes Geheimnis offenbart. Verraten, dass er schwul war und bloß so getan hatte, als würde er den Mädchen hinterher schauen. Herrgott, sie lebten im 21. Jahrhundert! Es gab überall schwule Politiker, Schauspieler, Sänger. Schwule und Lesben tauchten wie selbstverständlich in Fernsehserien und Büchern auf. Alles kein Problem. Bis auf ein paar ewig Gestrige, die aus der Homophobie-Ecke nicht rauskommen wollten, waren doch alle aufgeklärt und tolerant …

Wach auf, willkommen im wahren Leben!,dachte Josh zynisch. Er hatte durchaus gewusst, dass es nicht so leicht sein konnte. Dass die Toleranz bei vielen nur Lippenbekenntnisse waren. Wozu sonst jahrelang geheim halten, wie er wirklich war? Wozu mitlachen, wenn sich seine Klassenkameraden über Tunten und Schwule ausließen? „Schwul“ mit lächerlich, schlecht, widernatürlich, ekelhaft gleichsetzten und es bei jeder Gelegenheit als Schimpfwort benutzten? Wenn selbst Erwachsene mit guter Allgemeinbildung und allgemeinem hohen Niveau unbedacht über Schwule herzogen, ohne zu merken, was sie da eigentlich sagten?

Sie hatten ihn ausgelacht. „Schwuli“ und „Homo“ genannt. Ihn geschubst, mit Worten und Blicken gedemütigt. Josh war schlagartig vom akzeptierten stillen Außenseiter zum Freak mutiert. Zum Alien geworden nach diesen schicksalhaften Worten, die Leon süffisant in eine von verächtlichen Untertönen belastete Diskussion über Homosexualität eingeworfen hatte:

„Der da is’ auch so einer.“

Mehr war nicht geschehen. Zunächst. Fünf Minuten hatten sie ihn ausgelacht und geschubst, danach waren sie zusammen zum Unterricht zurückmarschiert. Es wurde getuschelt. Gekichert. SMS verschickt. Leon hatte sich demonstrativ auf einen anderen Platz gesetzt. Das war alles.

Es hatte keinen halben Tag gedauert, bis es rund war. Ihr Städtchen war zu groß, um Dorf geschimpft zu werden und zu klein, um einen Skandal auslassen zu können. Ja, der Sohn vom Stadtkämmerer und Elli, die mit dem Blumenladen an der Hauptstraße, ganz genau. Der lange Schmale. Der Handballer. Der Bruder von dem Sascha, der mit dem 1er-Abi und dem Motorrad. Der Enkel vom alten Fritz, der mit dem Schrebergarten, wo die Birnen und Äpfel über den Zaun wachsen. Der Josh, der ist auch so einer.

***

Am nächsten Tag hatten Lippenstift und Nagellack auf seinem Tisch gestanden. Josh hatte das Gekicher ignoriert, gefragt, wem die Sachen gehörten und sie dann stumm als Fundstücke zum Hausmeister getragen.

Mittags folgte das Gespräch mit seinen Eltern:

„Man erzählt sich da …“

„Es stimmt, Mama.“

„Seit wann denn?“

„Soweit ich weiß, schon immer, Papa.“

„Hast du einen … einen …“

„Nein, ich habe keinen Freund. Kann ich noch etwas Kartoffelgratin haben, bitte?“

Er hatte hingenommen, dass seine Eltern offenbar vormittags in seinem Zimmer herumgewühlt hatten und sich beglückwünscht, dass er das Tagebuch auf seinem Laptop noch in der Nacht gelöscht hatte. Kondome, Gleitgel, Sextoys oder Hochglanzbilder von scharfen Kerlen besaß er sowieso nicht, erst recht keine Schwulenpornos. Nicht einmal schwule Romane. Zu riskant, in der Stadt hätte er so etwas nicht unauffällig kaufen können, Einkaufsaktivitäten via Internet ließen sich viel zu leicht nachverfolgen. Die Kindersicherung, die ihn im Internet von jugendgefährdenden Seiten fernhielt, war nie entfernt worden und danach fragen wäre auffällig gewesen. Wie alle anderen auch hatte seine Familie ihm geglaubt, wenn er vage Andeutungen von Mädchen machte, die er toll fand. Mittels Erröten – die Panik, dass man ihm die Lüge von der Nase ablas, genügte dafür – und mit peinlich berührtem Grinsen hatte er Leon vorgegaukelt, er wäre mit einer Bekannten aus dem Tanzkurs im Bett gelandet. Saskia. Sie war ihm nachgelaufen, hatte ihm offensive Emails geschrieben, bei denen er heiße Ohren bekommen hatte, was selbst seine Eltern davon überzeugte, dass er ein normaler heterosexueller Junge war. In Wahrheit geriet er bei dem Gedanken an Saskia in Panik. Ihre kaum verhüllten Andeutungen, zu was sie alles im Bett bereit war … Nein, er hatte weder mit Jungen noch Mädchen jemals Erfahrungen gleich welcher Art sammeln können, wofür er jetzt dankbar war. Dass er jahrelang die Unterwäschemodels in den Katalogen seiner Mutter angehimmelt hatte, konnte ihm niemand nachweisen. Weitere Fragen hatten seine Eltern wohl nicht zu stellen gewagt und ihre schlimmsten Ängste waren hoffentlich vorläufig besänftigt.

Abends dann der große Auftritt von Sascha, seinem großen Bruder. Sascha war stets Joshs Held gewesen. Drei Jahre älter als er, wahnsinnig gut in der Schule, sportlich, beliebt und – meistens – ein netter Kerl. Sie hatten gestritten, sie hatten sich geprügelt, aber sobald es hart auf hart kam, war Sascha für ihn da gewesen. Sein Bruder hatte ihn verteidigt und beschützt, wenn es zu Rempeleien auf dem Schulhof oder auf der Straße gekommen war. Sascha hatte ihn durch die Oberstufenmathematik gerettet, seine Geheimnisse bewahrt und ihn auf seinem Motorrad mitgenommen.

Als an diesem Abend die Tür aufflog und Sascha wie ein Racheengel angerauscht gekommen war, da hatte Josh gewusst, dass es damit nun vorbei sein würde.

„Sag, dass das nicht wahr ist, Josh!“

„Würde es denn helfen, wenn ich lüge?“

„Ist dir eigentlich klar, was du uns damit antust? Was du MIR damit antust? Kannst du dir vorstellen, was ich die letzten Stunden durchmachen musste? Ich hatte ungefähr zehntausend Anrufe, glaub nicht, ich hätte an meine Vorlesungen denken können! Sämtliche Leute wollen wissen, ob du einen festen Freund hast. Ob du cruisen gehst oder dich in Darkrooms herumtreibst. Und vor allem natürlich, ob ich auch so einer bin.“

Josh hatte den Ausbruch stumm über sich ergehen lassen, den Kopf dabei gesenkt, um den Zorn auf Saschas Gesicht nicht sehen zu müssen. Die Verachtung in den dunkelbraunen Augen, die sie beide von ihrer Mutter geerbt hatten. Es tat so weh … Sascha hatte ihn gepackt und durchgeschüttelt, ihn mit Vorwürfen für etwas überhäuft, an dem Josh schuldlos war und schließlich schnaubend den Raum verlassen. Ihn zu fragen, was cruisen so ganz genau war, hatte Josh nicht gewagt. Es reichte, sich als Homo zu outen, als naiv und dumm wollte er nicht noch zusätzlich dastehen.

***

In diesem Stil war es weitergegangen. Bis heute. Im Spiel war er einer von ihnen gewesen, sie hatten ihn angefasst wie sonst auch, hatten ihn behandelt als würde er weiterhin vollkommen normal dazugehören. Jetzt allerdings …

Josh wartete, bis die anderen aus der Dusche herauskamen. Er versuchte es nicht durch stundenlanges Wühlen in sämtlichen Taschen zu überspielen, sondern saß still mit seinem Handtuch und Duschzeug auf der Bank im Umkleideraum. Er wollte keine blöden Kommentare. Er wollte keine feindseligen Blicke. Er wollte seine Ruhe.

„Bis morgen, Josh. War’n tolles Spiel“, sagte Momo, alias Maurice, der als Letzter ging. Unbehaglich zog Josh sich aus und betrat den Duschraum. Es war seltsam, hier allein zu sein. Noch nie hatte er sich so verletzlich gefühlt, so angreifbar. Mit dem Kopf unter dem Wasserstrahl würde er nicht hören, sollte jemand kommen.

Ab sofort dusche ich zuhause!,dachte er. In Rekordzeit spülte er sich den Schweiß vom Leib und trocknete sich hastig ab. Die Haare konnte er zuhause waschen. Nun schnell anziehen, und …

„Hey, Joshua.“

Leon.

Josh versuchte, sich das Handtuch mit möglichst natürlichen Bewegungen um die Hüfte zu schlingen, bevor er sich zu seinem alten Freund umdrehte. Der hatte ihn kein einziges Mal je beim vollen Namen genannt, das konnte nichts Gutes bedeuten. Leon war mit Verstärkung angerückt – zwei Typen aus dem zwölften Jahrgang und Nico. Mit Nico hatte Josh sich ebenfalls immer gut verstanden, sie hatten oft zu dritt etwas unternommen. Waren ins Kino und Fußballspielen gegangen … Mit wild klopfendem Herzen wurde ihm klar, dass auch diese Zeiten vorbei waren. Nico war ein netter Kerl, solange man ihn nicht verärgerte. In mancherlei Hinsicht ein wenig starrsinnig und unflexibel, seine konservative Grundeinstellung und ziemlich negative Meinung über Ausländer und Nicht-Christen hatte Josh häufig verunsichert. Trotzdem, Nico war sein Freund.

Genauso wie Leon.

Er hatte beide verloren.

Die vier standen Schulter an Schulter, die Arme verschränkt, die Gesichtsausdrücke zwischen Verachtung und Amüsiertheit schwankend. Sie blockierten den Ausgang. In den Duschraum zu fliehen würde wenig helfen. Die Fenster befanden sich ungefähr eineinhalb Meter über dem Boden, genauso wie hier in der Umkleide.

Das ist nicht gut, oh, das ist gar nicht gut …

„Hi Leon“, sagte Josh schließlich. Er versuchte ruhig zu klingen. Abzuschätzen, was sie von ihm wollten. Es würde wohl etwas schlimmer werden als bloß Gelächter und Schubsen. Aber wie viel schlimmer, das war die Frage.

„Du hast dir mächtig Zeit gelassen. Wir hatten draußen auf dich gewartet, um dir zu deinem gewonnenen Spiel zu gratulieren. Als du nicht gekommen bist, wollten wir mal nachsehen, ob alles okay ist.“ Nico lächelte kühl. Seine dunkelbraunen Haare waren mit Gel und viel Geduld so gestylt, dass sie stets aussahen, wie frisch vom Wind zerzaust. Das fand er cool. Sein Blick aus dunklen Augen wirkte jedenfalls eisig.

„Nun? Wie geht es dir?“, fragte Leon drohend.

„Mir geht’s prima“, quetschte Josh mühsam hervor.

„Uns nicht. Mir zumindest gar nicht. Gero und Jannik glauben mir nicht, dass ich dich nicht gefickt habe.“ Leon wies auf die beiden Blondschöpfe, die ein wenig abseits von ihm und Nico standen.

„Tja. Das hast du nicht. Okay?“ Josh schluckte trocken. Es war, als hätte er eine ansteckende Krankheit, und jeder wollte sich überzeugen, dass er sich nichts von ihm weggeholt hatte.

„Gar nichts ist okay“, zischte Leon und trat dicht auf ihn zu. „Wie viele Jahre hast du mir auf den Arsch gestarrt? Wie oft hast du mir auf den Schwanz gestarrt, wenn wir irgendwo zusammen gepinkelt haben oder Schwimmen gegangen sind?“

„Ich habe nie …“, begann Josh verzweifelt. Ein Boxhieb gegen die Brust trieb ihn mehrere Schritte zurück. Es tat nicht einmal allzu sehr weh. Doch es war das Startsignal für die anderen. Josh ging zu Boden, krümmte sich unter Schlägen und Tritten zusammen, versuchte, seinen Kopf zu schützen. Er schrie vor Schmerz und Todesangst. Jemand hielt ihn nieder, von allen Seiten prügelten und traten sie auf ihn ein. Irgendwo unter der Wolke aus Panik und Atemnot, Tränen und Geschrei wurde ihm bewusst, dass die vier sich zurückhielten. Sie trafen ihn zumeist am Rücken, Armen und Beinen, nicht dort, wo es ihn gefährlich verletzen könnte. Tiefer als das Brennen und dumpfe Stechen seiner geprellten Muskeln ging der Verrat. Er hatte Leon vertraut. Er hatte ihn wie einen zweiten Bruder geliebt und bewundert. Sie waren sich so nah gewesen, wie sich Freunde nur kommen konnten. All das zerbrach unter Leons Schlägen und wüsten Beschimpfungen.

Als sie endlich aufhörten, schien ein ganzes Zeitalter vergangen zu sein. Stöhnend blieb Josh liegen, wo er war, in embryonaler Schutzstellung. Ihm wurde bewusst, dass er weinte. Und dass er völlig nackt war, sein Handtuch war verloren gegangen. Heftige Scham gesellte sich zu Schmerz, innerer Taubheit und eisiger Furcht. Josh hatte nicht gewusst, dass man so viel auf einmal empfinden konnte. Sollte er nicht unter Schock stehen? Wie gerne hätte er jedes Denken und Fühlen aufgegeben!

„Jetzt wisst ihr’s. Ich hatte nie was mit diesem dreckigen Homo und jeder, der was andres sagt, ist dran!“ Leons Stimme schwebte irgendwo über ihm. Sie klang nach Befriedigung.

Bitte, lasst es vorbei sein!,flehte Josh innerlich.

„Der liegt da, als wolle er gefickt werden“, murmelte jemand.

OhGottohGottohGottohGott …

„Guck mal, da hat einer ’ne Flasche stehen lassen. Wollen wir dem Homo einen Gefallen tun und es ihm so richtig nett besorgen?“

Joshs Kopf schnellte ohne sein Zutun in die Höhe. Er starrte auf Nico, der mit einer leeren Wasserflasche in der Hand und einem widerlichen Grinsen im Gesicht auf ihn zukam.

„Bitte nicht, nein!“ Josh hielt abwehrend die Arme hoch, versuchte auf die Beine zu kommen, zu fliehen, nach hinten wegzurutschen. Irgendwas.

„Halt still, du Wichser.“ Er wurde im Nacken gepackt, mit dem Kopf nach unten gezwungen, während ein anderer ihn auf die Knie drehte und an den Hüften hochzwang. Josh schrie aus voller Kehle, er wehrte sich wie wild, schlug um sich, zappelte, wand sich. Mit aller Kraft presste er die Pobacken zusammen, sobald er den Plastikverschluss der Flasche an der Haut spürte.

„Nun entspann dich doch, du Süßer!“, rief einer seiner Peiniger lachend, mit einem ekelerregend hohen Falsett. Ein Schlag traf Josh unvorbereitet. Es klatschte, heftiges Brennen breitete sich über Po und Rücken aus. Ein Gürtel, sie schlugen ihn mit einem Gürtel!

„Noch mal, er spannt dagegen!“

Josh brüllte, als sie ihn wieder und wieder schlugen. In unbeherrschter Panik buckelte er gegen die Arme an, die ihn am Boden hielten. Sie lachten. Ließen ihn toben, schreien und betteln, bis ihn die Kraft verließ. Atemlos lag er da, unfähig zu denken oder zu handeln. Sein pumpendes Herz, das rauschende Dröhnen in seinem Kopf, der Kampf um Luft war alles, was sein Universum beherrschte …

Bis glühende Qual seine Welt zerriss. Machtlos zuckte er unter dem Schmerz, wimmerte bloß, unfähig sich zu wehren.

„Der is’ so eng, das geht gar nich’ rein.“

„Hört auf.“

„Komm, schieb mal mit. Ja, geil! Jetzt geht’s!“

„Hört auf.“

„Hab dich nich’ so, ist doch bloß Spaß. Schau, ihm gefällt’s, er quietscht vor Lust.“

„ICH SAGTE: HÖRT AUF!“

Das war Leon, wurde Josh mit Verspätung bewusst. Das brennende Reißen und Drücken stoppte und verschwand. Sie ließen ihn los.

„Das reicht, ihr Penner! Bei seinem Gebrüll ist’s ein Wunder, wenn nicht gleich die Bullen hier aufkreuzen. Irgendjemand schließt die Turnhalle ab, oder?“

Josh blieb wimmernd auf den Knien liegen, versuchte allerdings, die Tränen abzuwischen, die ihm die Sicht nahmen. Er sah Beine, die von ihm zurücktraten. Seine Angreifer verschwanden durch die Tür, einer nach dem anderen. Leon war der Letzte. Er drehte sich noch einmal zu ihm um. Sein Gesicht war ernst, der Ausdruck, mit dem er Josh musterte, zeigte nichts mehr von Verachtung, Wut oder Befriedigung. Er wirkte eher erschrocken. Einen langen Moment zögerte Leon, es schien fast, als wolle er zu ihm gehen.

„Nun komm endlich!“, rief jemand. Leon atmete tief durch, dann löste er den Blick von Josh und verschwand.

Was folgte war Stille, nur von gelegentlichem Schluchzen durchbrochen.

Er war allein.

Er hatte überlebt.                                                   

Jetzt musste er bloß noch aufhören zu zittern. Josh schloss die Augen und überließ sich dem Schock, der gewaltsam über ihn hinwegschwappte wie eine riesige Welle.

~*~

Josh wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte, als er Schritte hörte.

Nicht noch mal! Nein!,schrie es in ihm.

Versteck dich, war der beherrschende Gedanke. Mit aller Macht versuchte er seinen Körper zu zwingen, sich zu bewegen, doch das Einzige, was er vollbrachte war, dass er flach auf dem Bauch zu liegen kam.

Scheiße, der Hausmeister … Der ruft den Notarzt, die Polizei, danach weiß es jeder … Leon bringt mich um, wenn ich ihn verpfeife …

Überfordert drehte er den Kopf zur Seite, bedeckte ihn schützend mit den Armen und verharrte so. Er wollte nichts und niemanden sehen! Sollte es Nico sein, der weitermachen wollte, würde er es früh genug erfahren.

Die Schritte wurden langsamer, zögerlich. Es klang nicht nach Herrn Schröder, dem übergewichtigen sechzigjährigen Hausmeister. Die Schritte waren zu leicht, keine Schlüssel klapperten, kein Summen irgendwelcher Radiohits.

Kam vielleicht doch einer von den vieren zurück? Leon?

Der Gedanke ließ Joshs Inneres zusammenkrampfen. Noch immer zitterte er unkontrollierbar, obwohl er ansonsten allmählich zur Ruhe kam. Zumindest sein Herz schlug wieder im normalen Bereich und er konnte frei atmen.

„Hallo?“

Eine Stimme, die Josh kannte, aber nicht sofort zuordnen konnte. Er hielt den Kopf von der Tür abgewandt und wartete auf das Desaster, das unweigerlich folgen würde – er lag mitten im hell erleuchteten Raum, ausgeschlossen, dass man ihn übersah.

„Hal… Scheiße!“

Die Schritte näherten sich hastig. Jemand kniete neben ihm nieder, warme Hände berührten Josh an Kopf und Rücken.

„Scheiße … Hey, hörst du mich?“

Das war Tom. Thomas Schneider aus seinem Jahrgang, mit dem Josh einige Fächer zusammen hatte. Was wollte der denn hier? Tom war ein Goth, oder vielmehr ein Freak. Niemand kam mit ihm zurecht, nicht einmal die beiden anderen Goth-Typen von der Schule.

Tom rüttelte sacht an Joshs Schulter. Es brachte die Panik zurück, die Angst vor Schmerz und vor Gewalt, der er nicht entkommen konnte. Stöhnend versuchte er die Hände abzuschütteln. Der Laut endete in einem kläglichen Winseln.

„Langsam, Mann … Josh? Joshua?“

Mit erbarmungsloser Kraft zwang Tom ihn, sich zu ihm umzudrehen, gleichgültig, wie jämmerlich Josh dagegen zu protestieren versuchte. „Ich will dir helfen. Ganz ruhig. Du bist nicht am Kopf verletzt, oder? Komm schon, hab keine Angst. Ich tu dir nichts, ich will nur helfen. Nur ein bisschen noch. Es geht leichter, wenn du den Arm locker lässt. Du schaffst das, spann dich nicht dagegen. Ja genau, so ist es gut. Ich pass auf, bin ganz vorsichtig. Schön langsam. Nicht erschrecken, ich muss dich an der Hüfte anfassen …“ In gleichmäßig ruhigem Ton sprach Tom unentwegt auf ihn ein, bis Josh auf dem Rücken lag. Die Kälte des gefliesten Steinbodens biss in seine Wunden. Es dauerte endlos scheinende Minuten, bis er still liegen bleiben konnte, ohne sich zu krümmen, hektisch um Atem zu ringen oder zu wimmern. Hilflos blickte Josh durch Tränenschleier in das schmale, oval geformte Gesicht, das von schwarzen langen Strähnen umrahmt wurde, während der größte Teil der übrigen Haare kurz geschoren war. Es schwebte über ihm, die restlichen Details wurden erst nach und nach erkennbar. Tom trug, so wie eigentlich immer, schwarze enganliegende Kleidung, mit Nieten besetzt. Darüber einen Ledermantel. Seine Ohrringe waren auffällig: links ein ägyptisches Ankh – das Symbol von Lebenskraft, Tod und Wiedergeburt; rechts ein riesiger Skorpion, dessen Stachelschwanz sich seitlich bis zur Ohrmuschel hochstreckte. Beide waren aus Silber geformt. Josh sah es nicht, war sich aber sicher, dass Tom seine Ringe trug, in Drachenform und Schlangen, die sich selbst in den Schwanz bissen. Im Gegensatz zu den anderen Goths, die Josh bislang begegnet waren, schminkte er sich nicht, umgab sich nicht mit Totenköpfen und schien sich von der allgemeinen Szene fernzuhalten. Gab es hier in der Stadt überhaupt eine Szene? Bis zur Kreisstadt war es nicht weit …

Blaugrüne Augen betrachteten Josh voller Sorge. Das war mehr Emotion, als Tom je zuvor öffentlich gezeigt hatte. All diese unwichtigen Details drängten sich in Joshs betäubtes Bewusstsein.

„Du siehst übel aus“, murmelte Tom, als das Schweigen zwischen ihnen wuchs. „Hast du ein Handy? Soll ich jemanden anrufen?“ Bei diesen Worten richtete er sich etwas auf und zog seinen Mantel aus. Zudem fand er in einer Ecke das Handtuch, das er vorsichtig unter Joshs Kopf legte. Wärme umhüllte Joshs ausgekühlten Körper. Dankbar schloss er die Lider, es tat gut, nicht länger entblößt daliegen zu müssen. Alles war so irreal. Eben hatte er Handball gespielt, oder? Ihm wurde Toms Duft bewusst, eine Note, die er nicht definieren konnte. Angenehm, weich, ein bisschen kratzig. Er gefiel ihm.

Behutsam legte sich eine Hand an Joshs Wange und forderte so seine Aufmerksamkeit zurück.

„Wurdest du vergewaltigt?“

Josh dachte darüber nach, während er in diesen sanften Augen versank. Mit Verspätung wurde ihm klar, dass er reagieren sollte und schüttelte leicht den Kopf.

„Zusammengeschlagen“, krächzte er mühsam. „Gedemütigt. Ist nicht schlimm.“

Auf der Suche nach Halt tastete Josh um sich. Er wollte aufstehen. Sich anziehen. Nach Hause fliehen. Herr Schröder würde sicherlich gleich erscheinen. Der Hausmeister, der direkt gegenüber der Schule wohnte und auf die Sporthalle schauen konnte. Möglicherweise besoff er sich gerade, wie gerüchteweise behauptet wurde, aber irgendwann würde er wohl herkommen und abschließen wollen.

Tom stützte ihn ab. Leise fluchend und zischend schaffte Josh es, sich hinzusetzen. Es schmerzte höllisch. Jeder einzelne Fausthieb, Tritt, und Gürtelstriemen machte sich gleichzeitig bemerkbar. Sein Hintern brannte unerträglich, Sitzen war ausgeschlossen. Tom fing ihn auf, als Josh seitlich wegsackte. Hilflos keuchend lag er an der Brust seines Retters und versuchte, sich zu sammeln. Sein Blick fiel auf eine Wasserflasche. Blut klebte am Verschluss. Sein Blut. Es befleckte den schwarzgefliesten Boden, dort, wo er eben gelegen hatte. Josh begann erneut zu zittern wie ein Malariakranker.

Tom trat die Flasche mit einem angewiderten Schnauben weg und drehte dann Joshs Kopf vorsichtig so, dass er ihm ins Gesicht schauen konnte. Tom hatte wirklich schöne Augen! Er spürte das kühle Metall der Ringe. Die Wärme der Hände. Wie es sich wohl anfühlen würde, Tom zu küssen?

Fokussieren fiel Josh seltsam schwer, vor allem wollten die Gedanken nicht zusammenbleiben, drifteten stattdessen in sinnlose Wunschträume ab, die er nie zuvor gehegt hatte. Alles war sinnlos. Wie lächerlich wenig notwendig war, einen gesunden Menschen zum heulenden Bündel Angst zu prügeln!

Ich sollte nach Hause, sonst macht Mama sich Sorgen. Ich bin hier nicht sicher.

„Du musst ins Krankenhaus“, sagte Tom eindringlich. „Du stehst unter Schock. Die Verletzungen könnten gefährlich sein, vielleicht ist was gebrochen.“

„Nein.“ Josh hatte nicht die Kraft für Erklärungen, er konnte nicht einmal den Kopf schütteln. Er wusste nur mit absoluter Sicherheit, dass er niemandem erzählen würde, was in diesem Raum geschehen war. Niemals.

Mit zusammengebissenen Zähnen löste er sich von Tom. Dabei verlor er den Mantel. Präsentierte seine zerschlagene, blutende Nacktheit. Egal, er musste raus hier! Nach Hause. Dahin, wo er sicher war.

Seine Entschlossenheit trieb Josh voran, bis er die Bank erreichte, wo seine Sachen lagen. Er wollte sich nach seinem Shirt bücken. Glühender Schmerz flammte durch seinen Unterleib und ließ ihn erstarren. Selbst Schreien war unmöglich. Zornigrote Kreise tanzten vor seinen Augen, seine Knie sackten weg. Ihm war übel. Alles wurde schwarz.

Tom war bei ihm, bevor Josh zusammenbrechen konnte. Starke Arme schlossen sich warm und schützend um ihn.

„Es ist alles okay“, flüsterte Tom, der über ihn gebeugt war und ihn sacht wiegte. Sie kauerten beide auf dem Boden, Josh lag mit dem Oberkörper über Toms Beinen. Schon wieder? Seine eigenen Beine waren hochgelagert, das Handtuch wärmte ihn. Wollte er sich nicht anziehen?

Josh fuhr zusammen. Er war bewusstlos gewesen. Auch wenn es sich gerade anfühlte, als würde er aus dem Tiefschlaf erwachen, er befand sich nicht zuhause in seinem Bett. Alles war wahrhaftig geschehen, kein Albtraum. Er hörte sich selbst schluchzen und begriff, dass er gerade in den Armen eines nahezu Fremden lag und wie ein kleines Kind weinte. Wie lange wohl schon?

Erschöpfung breitete sich aus, als es ihm endlich gelang, sich zusammenzunehmen. Josh fühlte sich wie ausgewrungen. Es tat gut, einfach still dazuliegen und körperliche Nähe zu spüren. Tom hielt ihn so vertraut, so beschützend … Ihm wurde klar, wie sehr ihm das seit Jahren gefehlt hatte. Als er ungefähr vierzehn war, hatten seine Eltern mit der albernenSchmuserei, wie sein Vater es nannte, aufgehört. Sascha war seit dem Abi und jetzt mit seinem Informatikstudium immer beschäftigt und wenig daheim. Von Leon, seinen Handballkameraden und allen anderen Freunden hatte Josh sich körperlich stets ferngehalten. Eine hastige Umarmung, ein Schulterklopfen nach einem Tor, mehr hatte es nie gegeben. Josh war neunzehn, schwul und ungeküsst. Unglaublich, dass er tatsächlich erst zusammengeschlagen werden musste, um wenigstens einmal von einem Kerl gehalten zu werden …

Hör auf, du Spinner. Er hilft dem armen Opfer, mit dem er Mitleid hat.

„Wie spät?“, stieß er heiser hervor.

„Fast acht.“

Das Spiel hatte um achtzehn Uhr geendet.

Josh fluchte stimmlos. Tom half ihm, sich aufzusetzen. Diesmal ging es deutlich besser. Vielleicht waren die Schmerzen genauso müde wie er selbst und ließen ihn deshalb ihn Ruhe? Er spürte die Blicke des Goth, als er sich mit steifen, langsamen Bewegungen anzog. Bei der Unterhose und der Jeans brauchte er Hilfe, genauso bei den Socken. Es war beschämend, aber nicht so sehr, wie es sonst gewesen wäre. Er wusste ganz sicher, dass Tom ihn weder begehrte noch abstoßend fand. Seine Anwesenheit fühlte sich neutral an, wie bei einem Arzt oder Krankenpfleger. Genau das war wohltuend.

„Danke“, murmelte Josh, als er in seine Sneaker schlüpfte. „Für alles.“

Tom lächelte scheu und griff nach seinem Mantel.

„Ich kam vorbei und bemerkte vier Typen, die aus der Halle kamen und ziemlich hektisch miteinander diskutierten“, murmelte er hastig, den Blick zur Seite gewandt. „Einer sah aus wie Leon, wegen der roten Jacke und den blondierten Haarsträhnen. Ich war mir nicht wirklich sicher, fand nur komisch, wie die nach hinten zur Halle wiesen und sich gegenseitig beschimpften. Und dass das Licht noch brannte, kam mir auch nicht richtig vor. Als sie weg waren, dachte ich, ich schau mal nach …“ Es klang fast, als wollte er sich entschuldigen, hergekommen zu sein.

„Hör mal, du solltest vielleicht doch besser ins Krankenhaus. Wenn dir der Kreislauf nachher wieder abgeht, das kann gefährlich sein.“

Tom besaß eine angenehme Stimme. Schade, dass er im Unterricht fast nie sprach. Und großartig, dass er solch ein Einzelgänger war. Es stand nicht zu befürchten, dass Tom etwas von dem Geschehenen irgendjemandem erzählen würde. Josh konnte sich jetzt übers Wochenende erholen. Am Montag … Er würde Leon, Nico und den anderen aus dem Weg gehen. Tom würde sich von ihm fernhalten. Es bestand gute Aussicht, dass alles irgendwie wieder in Ordnung kommen würde.

Wenn ich es mir oft genug vorspreche, werde ich es sicher glauben!

„Josh? Krankenhaus?“

„Nein, ich – bitte nicht. Ich will einfach nur nach Hause“, flüsterte er kläglich.

„Bist du zu Fuß hier?“

Josh nickte. Draußen war es dunkel. Dunkel und kalt, wie es sich für einen vierzehnten Januar gehörte. Bei dem Gedanken, da raus zu müssen, hätte er schreien können.

„Ich fahr dich nach Hause.“

Tom führte ihn voran, schob ihn energisch durch die Hallentür nach draußen. Eisige Luft, orangefarbenes Straßenlaternenlicht, Stille. Josh war dankbar, dass er nicht den knappen Kilometer bis nach Hause laufen musste, sein Körper fühlte sich an, als hätte ein Panzer darauf geparkt. Das reißende Brennen in seinem Unterleib, im Wechsel mit glühendem Pochen, war die Hölle. Schon die wenigen Schritte zum Wagen, den Tom auf dem Schulhof geparkt hatte, genügten, um ihn an die Grenzen seiner Kraft zu treiben, und ohne Hilfe hätte er es nicht geschafft.

Tom fuhr einen klapprigen Ford, der mehr Rost als Lack besaß. Der Beifahrersitz war vollgekramt mit Büchern und Zeichenutensilien. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Josh sich dafür interessiert und gefragt, ob er die Zeichnungen ansehen dürfe. Er besaß wenig eigenes Talent und bedauerte es sehr, denn er liebte die Malerei. Heute begnügte er sich damit, sich ächzend und wimmernd auf die Pobacke zu setzen, die weniger zerschlagen war, die Tasche mit seinen Sportsachen zu umklammern und seitlich verdreht aus dem Fenster zu starren.

Ein Taschentuch lag plötzlich auf seinem linken Oberschenkel. Josh wischte sich die beschämenden Tränen ab und schnäuzte die Nase frei.

„Holunderweg 18“, murmelte er, als er Toms Blick spürte. Der Motor dieser alten Karre startete überraschend willig. Sofort sprang der CD-Player an. Josh brauchte einen Moment, um die Frauenstimme als Tarja Turunen zu identifizieren und „Sleeping Sun“, einen älteren Nightwish-Song, zu erkennen. Es verwirrte ihn, dass Tom solch gefühlvolle Balladen hörte – standen Goths nicht eher auf härteres Zeug? Aber nun, was wusste er schon von diesen Leuten, außer, dass sie sich dunkel kleideten und fasziniert von Finsternis und Tod waren? Und selbst damit war er sich nicht sicher.

„Ich kann’s ausmachen“, sagte Tom und hob bereits die Hand zum Ausknopf.

„Nein!“ Rasch fing Josh ihn ab. Tom keuchte leise und zuckte vor ihm zurück. Ob ihm die Berührung unangenehm war? Vorher hatte er doch auch keine Probleme gehabt, den Homo anzufassen?

„Ich mag das Lied, lass es bitte.“ Josh krampfte die Hand vor Verunsicherung in den Stoff der Sporttasche und gab sich dann mit geschlossenen Lidern der Musik hin. Alles, was vom Schmerz ablenkte, war gut. Die Stimme der Sängerin kroch ihm regelrecht unter die Haut, sie ließ ihn schaudern.

… Sorrow has a human heart …

Leid hat ein menschliches Herz … Diese Strophe hatte er schon immer geliebt. Wie lange hatte er den Song nicht mehr gehört! Ja, es gab kein Leid, das nicht von Menschen verursacht wurde. Josh beschloss auf der Stelle, seine alten Nightwish-CDs zu suchen.

… shores of a solar sea …                      

Die Lichter der Straßenlaternen sahen tatsächlich aus wie Sonnenmeere, umgeben von Dunkelheit. Seltsam, das war ihm nie zuvor aufgefallen. Von Schlafen und Weinen sang die Sängerin nun.

Schlafen und Weinen, das klang verlockend.

Tom hielt an. Voller Bedauern öffnete Josh die Lider und zwang sich, seinen Retter anzusehen.

„Danke. Ich … das kann ich nicht gut machen“, stammelte er unbeholfen. „Es tut mir leid, dass ich …“

„Mir nicht.“ Tom wich seinem Blick aus. „Es tut mir leid, dass man dich … dir wehgetan hat. Dass ich da war, um zu helfen, nicht.“

„Danke.“ Josh suchte hektisch nach irgendetwas, was er sagen könnte. Was er anbieten könnte, um sich wirklich erkenntlich zu zeigen. Ihm fiel nichts ein. Verlegenes Schweigen zog die Minuten ins Endlose, und noch immer starrte Tom aus seinem Seitenfenster. So freundlich und besorgt er eben noch gewirkt hatte, so kalt und verschlossen verhielt er sich jetzt.

„Wir … wir sehen uns dann am Montag“, murmelte Josh schließlich und kletterte mühsam aus dem Wagen. Ohne Gruß oder weitere Worte fuhr Tom davon.

Die Einsamkeit drückte ihn nieder, darum humpelte Josh so rasch es ging zur Tür des schmucken Einfamilienhäuschens seiner Familie.

~*~

Seine Eltern saßen im Wohnzimmer bei den Fernsehnachrichten. Josh wusste, er durfte sich nicht von Nahem zeigen, sonst würde seine Mutter sofort wissen, dass es ihm dreckig ging und nachbohren. Also steckte er nur den Kopf durch die Tür und rief:

„Bin wieder da!“

„Wie war das Spiel?“, fragte sein Vater, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen. Er hatte die Krawatte abgelegt, trug aber noch die teure Anzugshose und das Hemd, mit denen er den Tag im Rathaus verbracht hatte. Josh kannte ihn nicht anders als so. Korrekt, sachlich, effektiv.

„Ah – das Spiel … wir haben gewonnen und noch ein bisschen gefeiert. Sorry, ich hab vergessen anzurufen, es war ein tolles Spiel.“

„Okay, prima.“

Sein Vater streckte nachlässig den Daumen in die Höhe, während seine Mutter ihm zumindest ein Lächeln zuwarf.

„Es ist ein wenig von dem Weißkohlauflauf von heute Mittag übrig, falls du Hunger hast“, sagte sie.

„Okay. Bin oben.“

Josh schloss die Tür und atmete tief durch. Das war gut gegangen! Essen wollte er nicht. Duschen hingegen schon. Er war ausgekühlt und fühlte sich schmutzig.

Nachdem er sich fast kriechend die Treppe in den ersten Stock hochgequält hatte, zögerte er kurz. Das Badezimmer besaß keinen Schlüssel.

Aber seine Eltern waren unten beschäftigt und Sascha mit Sicherheit auf Tour, wie jeden Freitagabend. Also holte er sich frische Kleidung und schlich zurück ins Bad. Dafür brauchte er endlose Minuten, sein Körper protestierte gewaltsam gegen jede einzelne Bewegung. Das Ausziehen geriet zur Mutprobe. Josh fürchtete den Schmerz, und den Anblick, der sich ihm bieten würde. Es war noch schlimmer als gedacht: wohin er sah, alles war zerschlagen, gerötet, geschwollen, voller schwarzblauer Flecke. Lediglich Bauch, Unterleib und das Gesicht hatten diese Schweine ausgelassen.

Die blutbefleckte Unterhose war glücklicherweise aus schwarzem Stoff, seiner Mutter würde hoffentlich nichts auffallen. Josh stieg mit zusammengebissenen Zähnen in die Dusche.