5,99 €
„Es ist okay … Wenn es besser für alle ist, dann gehe ich gerne ins Altenheim.“ Tjure steht nicht zum ersten Mal vor dem Nichts. Niemand will ihn haben, es gibt keinen Platz für ihn, alle wollen ihn nur loswerden. Doch er erhält eine Chance und wird Hausmeister in einem Altenheim. Hier trifft er auf zahllose Menschen, die niemand mehr haben will, und gemeinsam mit Ingo, einem Pflegeauszubildenden, gibt er alles, um ihr Leben ein bisschen besser zu machen. Ingo musste neu anfangen. Irgendwo zwischen seiner schwierigen Familie und seinem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben hat er sich selbst verloren. Als er auf Tjure trifft, ist das wunderbar, denn einen guten Freund braucht schließlich jeder Mensch ganz dringend. Dann mischen sich allerdings auch andere Gefühle ein und er weiß nicht, was er damit anfangen soll. Ist das jetzt ein weiteres Problem? Oder vielleicht die Lösung? Gay Romance Diese Geschichte schließt chronologisch an „Liebe und andere Problemlösungen“ an. Es ist nicht zwingend notwendig, dieses Buch vorab gelesen zu haben, beide sind eigenständige Werke. Ca. 60.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 300 Seiten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
„Es ist okay … Wenn es besser für alle ist, dann gehe ich gerne ins Altenheim.“
Tjure steht nicht zum ersten Mal vor dem Nichts. Niemand will ihn haben, es gibt keinen Platz für ihn, alle wollen ihn nur loswerden. Doch er erhält eine Chance und wird Hausmeister in einem Altenheim. Hier trifft er auf zahllose Menschen, die niemand mehr haben will, und gemeinsam mit Ingo, einem Pflegeauszubildenden, gibt er alles, um ihr Leben ein bisschen besser zu machen.
Ingo musste neu anfangen. Irgendwo zwischen seiner schwierigen Familie und seinem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben hat er sich selbst verloren. Als er auf Tjure trifft, ist das wunderbar, denn einen guten Freund braucht schließlich jeder Mensch ganz dringend. Dann mischen sich allerdings auch andere Gefühle ein und er weiß nicht, was er damit anfangen soll. Ist das jetzt ein weiteres Problem? Oder vielleicht die Lösung?
Gay Romance
Diese Geschichte schließt chronologisch an „Liebe und andere Problemlösungen“ an. Es ist nicht zwingend notwendig, dieses Buch vorab gelesen zu haben, beide sind eigenständige Werke.
Ca. 60.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 300 Seiten.
von
Sandra Gernt
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Für Sarah
Du weißt, warum
„Neffe? Neffeeee!“
Es bollerte an der Tür.
„NEEFFEEE! Bist du wach? Und angezogen?“
Tjure starrte irritiert an die Decke. Eine weißgestrichene, aussagelose Zimmerdecke, die ihm keine Antworten schenkte.
Wo war er? Wieso war er so müde, dass es ihm die Knochen zerbröselte und das Hirn zerlegte? Wieso hatte er Staubgeruch in der Nase? Und wer zur Hölle war diese Frau, die ihn rief, als wäre sie seine Mutter, die ihn zum Schulbus scheuchen wollte? Wobei seine Mutter ihn niemals Neffe genannt hätte. Oder sich die Mühe gemacht hätte, ihn pünktlich zur Schule zu schicken.
Das konnte doch nur ein Albtraum sein!
Über ihm hing eine nahezu vollständig verblasste, vollkommen zugestaubte Zimmerlampe, die an ein Holzflugzeug erinnerte. Solche Sachen hingen in Kinderzimmern herum. Tjure war kein Kind mehr, sondern fünfundzwanzig. Nun gut, er fühlte sich definitiv nicht erwachsen …
„TJURE! Gib mir Antwort, verdammt! Bist du ins Koma gefallen?“ Die Frau dort draußen, die für die frühe Morgenstunde viel zu munter war – es musste noch verdammt früh am Morgen sein, so wie er sich fühlte – rappelte entfesselt am Türgriff.
Moment. Neffe? Eine Erkenntnis zündete durch Tjures Hirn. Es gab auf der ganzen weiten Welt nur eine einzige Person, die er als Tante bezeichnete. Tante Antje. Antje Stegemann war die Großcousine von Tjures Mutter. Damit war sie nicht seine Tante, aber irgendwie Familie. Urgroßtante vielleicht? Egal. Er hatte sie, ihren Mann Steffen, ihren Sohn Rudi und dessen Mann Dominik vor zwei Jahren kennengelernt. Auf der Beerdigung von Tjures Urgroßmutter. Die vier waren die einzigen vernünftigen Verwandten weit und breit gewesen, man hatte sich gut verstanden und Antje hatte spontan beschlossen, dass Tjure ihr Neffe war, und damit Feierabend.
Gestern Nacht war er in diesem Haus gestrandet und in einen zugestaubten, nahezu leeren Raum abgeschoben worden. Zum Übernachten. Ihm war alles egal gewesen, Hauptsache nicht unter der Brücke schlafen …
„TJURE!“ Tante Antje verlor hörbar die Geduld mit ihm.
„Ich bin wach“, rief Tjure hastig.
Er war nicht bloß wach, er war definitiv am Arsch. Das war er eigentlich chronisch, im Moment brach bloß alles zusammen.
Seine alleinerziehende Mama hatte ihn mit fünfzehn Jahren vor die Tür gesetzt, weil sie keinen Bock mehr auf ihn hatte. Sie wollte Party, Alkohol, Sex mit irgendwelchen Kerlen. Das alles hatte sie auch vorher schon gehabt, ohne Rücksicht auf Tjure zu nehmen, aber zumindest hatte sie ihm ein Dach über dem Kopf gegeben, an den meisten Tagen etwas zu essen, Klamotten, Schulbücher. Geld hatte sie durchaus, sie arbeitete in einer Drogerie als Verkäuferin. Woran es mangelte, war der geringste Funke Liebe für ihren Sohn. Nie hatte sie eine Gelegenheit ausgelassen, ihm mitzuteilen, welche Last er war, welch ein Klotz an ihrem Bein. Und überhaupt, Männer waren das Letzte und er sollte ja nicht so unschuldig tun, auch aus ihm würde ein Kerl werden.
Als sie bemerkte, dass er sich allmählich rasieren musste, wollte sie ihn plötzlich nicht mehr bei sich haben. Er wäre jetzt ein erwachsener Mann und müsse für sich selbst sorgen. Danke, prima! Er war in seiner Not zur Polizei gegangen, die zu vermitteln versucht hatte. Seine Mutter blieb hart, nannte ihn eine Zumutung, sie wäre traumatisiert von seiner Nähe, er wäre gewalttätig, sie käme nicht mehr mit ihm zurecht. Dabei würde er sich eher die eigenen Hände abschneiden, als jemals Gewalt gegen andere Menschen anzuwenden, und hatte seine Mutter selbstverständlich niemals angerührt. Leider hatte seine Version der Geschichte niemanden interessiert, er war nun auch offiziell das Problem. Von einem Beamten niedergeschrien zu werden, dass er bloß nicht rumheulen solle, mit solchen Hirnfürzen wie ihm würden sie jederzeit fertig werden, zählte noch immer zu seinen häufigsten Albträumen.
Das Jugendamt hatte ihn daraufhin in einem Wohnheim untergebracht, wo er nachts seinen gesamten Besitz in einer Sporttasche mit ins Bett nehmen musste, damit ihm nichts geklaut wurde. Die Schule hatte er geschmissen, als das Mobbing dort unerträglich wurde; seit er sechzehn war, arbeitete er. Regale auffüllen, Gabelstapler in Lagern umherfahren. Immerhin hatte er seinen Führerschein geschafft, auch wenn er sich kein Auto leisten konnte. Die letzten Jahre hatte er in Elmshorn in einer WG gewohnt. Ohne Mietvertrag, ohne Schutz, ohne irgendwas. Geld cash auf die Hand eines Kumpels, den er bei seinem ersten Aushilfsjob kennengelernt hatte.
Gestern Abend war er aus der Wohnung rausgeflogen. Weil Niklas, diese Verräterseele, spontan beschlossen hatte, dass seine Freundin bei ihm einziehen sollte. Das war offenkundig schon wochenlang geplant gewesen, aber der Scheißkerl hatte nicht den Mut gefunden, es Tjure mitzuteilen. Bis es dann eben soweit gewesen war und Niklas es notgedrungen brutal durchgezogen hatte, weil er nicht mehr zurückkonnte, wie er sagte. Leonie hatte es sogar leid getan, als Tjure fassungslos und einem Nervenzusammenbruch nach vor ihr gestanden hatte; aber sie konnte jetzt eben nicht mehr rückwärts rudern, ihre alte Wohnung war gekündigt, der Schlüssel übergeben. Zu dritt würde es nicht klappen, dafür war nicht genügend Platz, wie Tjure sehr wohl wusste. Niklas wollte Tjure erst noch ein, zwei Tage Bleiberecht lassen, dann hatte er es sich doch anders überlegt, weil ein harter Schnitt schließlich das Beste für alle war. Nicht dass zwei Tage irgendetwas geändert hätten, in der kurze Zeit war für sein eigentlich nicht vorhandenes Budget keine Wohnung zu finden. Insofern hatte Niklas also recht gehabt. Ein hartes Ende mit Schrecken, als noch zwei weitere Tage in Angst und Panik verbringen, wie es denn weitergehen sollte.
Tja. Mit fünfundzwanzig konnte er leider nicht mehr zum Jugendamt gehen. In irgendein Obdachlosenheim inmitten von Junkies, Alkoholikern, gestrandeten Existenzen, die sich garantiert brennend für seine beiden Sporttaschen interessieren würden, in dem sich sein weltlicher Besitz befand, da wollte Tjure auch nicht hin. Geld hatte er keins, denn er hatte Niklas, diesem Riesenarsch, am Vortag noch den Mietbeitrag gezahlt und Lebensmittel für die ganze Woche besorgt. Damit war er pleite, er verdiente ja quasi nichts, obwohl er den ganzen Tag schuftete. Somit konnte er auch nicht in irgendein Hotel. Freunde hatte er in dem Sinne keine, weil er nie etwas anderes tat als arbeiten, um zu überleben. Niklas war der Einzige gewesen, und das hatte sich jetzt auch erledigt.
Seine Mutter hätte er im Leben nicht angerufen, um sie um Hilfe zu bitten. Die Frau war tot für ihn, auf der Beerdigung seiner Urgroßmutter hatte er sie nicht einmal angesehen und sie ihn auch nicht.
Als er schon kurz davor stand, sich heulend mit dem Obdachlosenheim abzufinden, erinnerte er sich an Tante Antje und Onkel Steffen. Glücklicherweise besaß er die Handynummer seiner Tante und hatte ihr schluchzend und stammelnd die Lage geschildert. Sie hatten ihn sofort mit dem Auto abgeholt. Tante Antje hatte ihn mit Salamibroten gefüttert, Onkel Steffen einige Dutzend Vorschläge gemacht, wie man Niklas verklagen könnte, der hätte es verdient. Das hatte Tjure abgelehnt, er wollte niemanden verklagen, er wollte bloß überleben. Und dann war er in diesem Bett gelandet.
Darin konnte er nicht ewig bleiben.
„Tjure, mein Lieber, wir müssen reden. Es gibt Kaffee, frische Brötchen …“ Seine Tante, die nicht direkt seine Tante war, versuchte es jetzt mit Bestechung.
„Darf ich bitte vorher duschen?“, fragte er durch die geschlossene Tür.
„Natürlich. Ich lege dir Handtücher hin. Nimm bitte das Shampoo von Onkel Steffen, meines ist schweineteuer, das teile ich nicht. Du wirst mühelos erkennen, was wem gehört.“
„Okay.“
Er wartete, bis er hörte, dass sie die Treppe hinabgestiegen war. Dann befreite er sich aus diesem staubigen Deckenkokon, ging zum Fenster, öffnete die Jalousien, die sowieso nur zum Teil schlossen. Blickte hinaus auf den üppig blühenden Frühlingsgarten. Tulpen, Narzissen, Forsythien … Es sah schon sehr hübsch aus. Ein ganz anderer Anblick als das Grau in Grau, das Tjure von seinem WG-Zimmerchen gewohnt war. Durchaus beruhigend. Friedlich. Es wäre nett, jeden Tag auf einen solchen Garten blicken zu dürfen. Leider wäre es dumm, darauf zu hoffen. Er konnte ja wohl kaum auf ewig hier wohnen bleiben, nicht wahr? O Gott, wie sollte das bloß weitergehen?
In der Dusche schnupperte er kurz an den Shampooflaschen. Tante Antje benutzte Pfirsichduft, das war ihm sowieso zu süßlich. Da gefiel ihm die „Meeresbrise“ von seinem Onkel schon besser. Außerdem kostete diese Flasche bloß 1,79 Euro, statt 18,99 Euro, was man für Tante Antjes Produkt hinblättern musste. Tjure hatte das Zeug jahrelang in die Regale geräumt, er kannte sich aus.
Unten in der Küche erwartete ihn ein reich gedeckter Tisch. Selbstgebackene Vollkornbrötchen, selbst gekochte Kirsch-Johannisbeermarmelade, Honig, Kaffee, heiße Schokolade, Rührei, Salatgurken, Kirschtomaten … Ein richtiges Sonntagsfrühstück. So etwas kannte er ausschließlich aus dem Fernsehen. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine selbst gemachte Marmelade gegessen! Oder Rührei auf ein selbst gebackenes Brötchen gehäuft. Völlig verunsichert blieb er vor dem Tisch stehen. Durfte er das überhaupt? Sich hinsetzen und von diesen ganzen Köstlichkeiten etwas nehmen?
„Setz dich, Junge“, brummte Onkel Steffen. „Kostet das Gleiche wie rumstehen, ist bloß bequemer.“
„Nimm!“, kommandierte Tante Antje, kaum dass Tjure saß, und schob ihm Kaffee und heiße Schokolade hin. „Möchtest du noch etwas anderes? Ein Glas Orangensaft? Irgendwas anderes aufs Brot? Steffen und ich sind vernascht, wir mögen es morgens süß.“
„Das ist perfekt, danke.“ Nach wie vor hatte Tjure Hemmungen, einfach zuzugreifen, es fühlte sich irgendwie falsch an. Dennoch siegte der Hunger, deshalb machte er sich ein Brötchen zurecht. Eine Hälfte mit Marmelade, die andere mit Ei.
„O Gott, ist das lecker!“ Das Brötchen war perfekt, knusprig und gut. Tante Antje lächelte stolz und ließ ihn ganz in Ruhe essen, bis beim besten Willen nichts mehr reinging. Er war traurig, am liebsten hätte er noch für zwei Stunden auf diese Weise weitergefuttert. Leider passte wirklich kein Krümel mehr in ihn hinein. Auch seine Tante war fertig, während Onkel Steffen unterm Tisch mit seinem Handy spielte und darum deutlich langsamer vorwärtskam.
„Beachte ihn nicht“, sagte Tante Antje und trank den letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. Auf die war ein Drache aufgedruckt, mit dem Spruch: „Was mich nicht tötet, sollte jetzt besser schleunigst fliehen“. Der Drache war schon ziemlich verblasst, diese Tasse wurde offenkundig sehr geliebt. „Okay, Tjure. Alle Geister belebt? Oder brauchst du noch mehr Kaffee?“
Er schluckte nervös, obwohl sie freundlich lächelte und es keinen echten Grund für Angst gab. Oder vielleicht doch?
„Hey. Wir reißen dir nicht den Kopf ab. Du kannst schließlich nichts dafür, dass du bislang so viel Pech im Leben hattest. Das kann den Besten passieren! Tatsächlich hat mein Sohn, der Rudi, vor ein paar Jahren an genau dieser Stelle gesessen wie du jetzt, und befand sich in haargenau demselben Dilemma.“
„Na ja, nicht genau dasselbe“, brummte Onkel Steffen. „Rudi war von seinem Ehemann verprügelt und aus der gemeinsamen Wohnung rausgeworfen worden.“
„Was? Aber … Dominik ist doch so nett!“, rief Tjure entsetzt.
„Nicht Dom. Rudi war vorher mit einem anderen Mann verheiratet. David. Ich bereue wenig in meinem Leben, aber dass ich diesem miesen Schweinepriester nicht die Eier zerquetscht habe, das tut mir wirklich leid!“
„Schatz.“ Vorwurfsvoll schüttelte Onkel Steffen den Kopf, während Tjure staunte. Seine Tante war zart, wirkte wie ein hübsches, etwas in die Jahre gekommenes Elfchen. Sie auf diese Weise fluchen zu hören, das war schon etwas Besonderes.
„Egal. Jedenfalls, der Rudi hatte zeitgleich seinen Job und seine Wohnung verloren und seine Ehe war ebenfalls am Ar… Ende. Und trotzdem ist er wieder auf die Beine gekommen. Quasi wie der Phönix aus der Asche gestiegen. Du brauchst dich also wirklich nicht zu schämen und es gibt keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben. Das wird wieder.“
„Meine Jobs hab ich ja noch“, murmelte Tjure unglücklich. „Ich hab bloß keinen Schimmer, wie ich das ab morgen machen soll. Hab ja kein Auto und mit dem Zug nach Elmshorn ist ohne Monatsticket echt total teuer und vom Bahnhof aus ist das noch ziemliche Rennerei. Ich müsste euch um etwas Geld anbetteln, aber ich zahl das zurück, versprochen! Weiß jetzt nur nicht, wie ich eine neue Bleibe auf die Schnelle klarmachen soll. Ich … ich mach einen Aushang in dem Supermarkt und schau natürlich im Internet …“ Er stockte, als er sah, wie Tante Antje und Onkel Steffen Blicke tauschten.
„Deine Jobs sind ja nicht unbedingt der Brüller“, sagte sie freundlich.
Beschämt blickte Tjure zur Seite. Er wusste es ja selbst, er war ein Versager.
„Bessere Jobs sind nicht drin“, murmelte er. „Hab ja nicht mal einen Schulabschluss.“
„Was ist mit Abendschule? Du könntest den Abschluss nachholen.“
„Will ich ja schon seit Ewigkeiten! Es geht nur nicht. Ich brauch zwei Vollzeitjobs, um Miete und Essen klar zu machen. Immer, wenn ich mal zehn Euro gespart habe, gehen die Schuhe kaputt oder es ist irgendein anderer Scheiß. Und abends schlaf ich manchmal schon beim Essen ein. Ich komm da nicht raus, ist einfach nicht drin.“
„Du räumst also in diesem Supermarkt Regale ein, und du arbeitest in einem Getränkeladen im Lager, ja?“, fragte sie weiter. „Wie viele Stunden malochst du?“
„Zehn Stunden am Tag, glaub ich. So ungefähr. Sechs Tage die Woche. Damit komm ich auf knapp tausend Euro im Monat. Manchmal ist es etwas weniger.“
„Bitte was?“ Onkel Steffen plusterte sich auf. „Es gibt einen Mindestlohn in Deutschland. Bei den Stundenzahlen, die du arbeitest, müsstest du mehr raushaben! Wie um Himmels Willen kannst du denn weniger bekommen?“
„Meine Chefs haben mich beide als Minijobber eingestellt. Zusammengenommen könnte ich eigentlich nur dreiundvierzig Stunden im Monat arbeiten. Weil es aber mehr zu tun gibt, lassen sie mich länger bleiben und stecken mir das Geld dafür unter der Hand zu. Also das ist der Deal. Wenn es nicht geht, dann bekomme ich einen Gutschein, dann kann ich billiger einkaufen. Das hilft ja auch. Meistens bitten sie mich aber bloß, ein bisschen zu warten, sie würden das verrechnen.“
„Was sie allerdings nie tun, oder?“, fragte Tante Antje mitfühlend. Tjure nickte mit gesenktem Kopf. Nein, er hatte seit Jahren nichts mehr verrechnet bekommen. Gott, er schämte sich so, er könnte gerade einfach losheulen!
„Hey, es ist nicht deine Schuld. Diese Arschlöcher wissen ja, dass du sie nicht verklagen kannst und du kannst ihnen auch nichts beweisen. Immerhin geht es um Schwarzgeld. Die lassen dich also mal so eben sechzig Stunden die Woche schuften und nutzen deine Notlage aus. Die Tatsache ist, dass du dich nicht wehren kannst, egal was sie tun. Nichts davon ist deine Schuld, Tjure. Du hattest leider eine Niete gezogen mit deiner Mutter, das ist das Urproblem.“
Sein Nacken schmerzte bereits, derartig verkrampft hielt er den Kopf zur Seite gewandt. Seine Mutter war die letzte Person, über die er jetzt gerade reden wollte!
„So ganz kommt das alles irgendwie nicht hin, oder?“, hakte Onkel Steffen nach, der auf seinem Smartphone herumhämmerte. „Du bist bei zwei verschiedenen Läden als Aushilfe auf 520-Euro-Basis eingestellt. Das sollte zusammen ja wohl 1040 Euro ergeben, nicht irgendwas knapp darunter. Dann sagtest du, du würdest zweimal Vollzeit arbeiten, das wären achtzig Stunden die Woche, nicht sechzig. – Versteh mich richtig, ich sag jetzt nicht, dass du zu wenig arbeitest oder so! Ich will das nur begreifen.“
„Dein Onkel ist Sachbearbeiter in der Personalabteilung der Stadtverwaltung“, warf Tante Antje ein. „Erklär es ihm bitte sehr ausführlich, sonst kann er heute Nacht nicht schlafen!“
Unwillkürlich zog Tjure den Kopf ein. Er war immer automatisch gestresst, wenn jemand etwas hinterfragte, das ihn betraf, und ganz allgemein, wenn er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Genau so mies hatte es sich angefühlt, als er den Mitarbeitern vom Jugendamt erklärt hatte, dass er die Schule ohne Abschluss beenden würde, weil er schlicht und ergreifend nicht mehr konnte. In der Schule war er das Lieblingsopfer gewesen, sobald die Hyänen rausbekommen hatten, was seine Mutter getan hatte. Hätten ihn damals nicht einige Leute unterstützt, ihm gesagt, dass er jetzt erst einmal zur Ruhe kommen müsse, den Abschluss könne er ja jederzeit nachholen … Wahrscheinlich wäre er weggelaufen und als Junkie unter der Brücke geendet. Verstehen konnte er diese Menschen jedenfalls, die beim besten Willen nicht mehr die Kraft zum Kämpfen hatten.
Hier ging es aber bloß um ein paar Euro Verdienst bei ausbeuterischen Aushilfsjobs, sonst nichts. Also atmen. Die beiden wollten ihm helfen. Egal wie sehr Tjure es hasste, auf Hilfe angewiesen zu sein … Er war gerade darauf angewiesen.
„Also, Montag, Mittwoch und Freitag bin ich in dem Supermarkt“, sagte er. „Ich weiß gerade echt nicht, wie viele Stunden das regulär pro Woche sein müssten, damit ich genug für die 520 Euro im Monat zusammenbekomme. So zwölf bis fünfzehn vielleicht? Also an allen drei Tagen zusammen. Meistens werden es am Montag um die … Moment … Er furchte die Stirn. Noch nie hatte er das tatsächlich ausgerechnet oder auf die Uhr geschaut, wann er Feierabend machen durfte. „Also, ich komm da um sieben Uhr morgens an und gehe, wenn man mich heimschickt. Das ist dann aber spätestens um sechs oder sieben Uhr abends. Wow. Elf bis zwölf Stunden also. War mir gar nicht so bewusst … Mittwoch ist immer weniger, da bin ich oft schon um vier zu Hause. Und am Freitag ist es dann wieder total verrückt, weil die Leute uns das Zeug aus den Händen reißen und die Regale für den Samstagsansturm voll sein sollen. Da bin ich dann auch so bis sechs, sieben Uhr. An schlechten Tagen wird es schon mal bis Ladenschluss. Ach ja, und bei der Inventur helfe ich natürlich, aber die ist ja nicht so häufig.“
„Okay“, sagte Onkel Steffen in einem Tonfall, der klarmachte, dass gar nichts in Ordnung war. „Also circa dreißig Stunden jede Woche für Job eins. Eher mehr. Was ist im Getränkemarkt?“
„Da bin ich am Dienstag, Donnerstag und Samstag. Ich fange um sechs Uhr morgens an, und bleibe auch, bis man mich heimschickt. Also Samstag wird es jedes Mal richtig lang, da bin ich oft bis 22.00 Uhr beschäftigt, weil ja auch alles für Montag vorbereitet werden muss. Dienstag ist irgendwie immer tote Hose, da bin ich manchmal schon um zwei, drei Uhr fertig. Donnertag hingegen wird immer fürs Wochenende angeliefert und das ist schon krass, da bin ich eigentlich auch nie vor neun Uhr fertig. Samstage hasse ich am meisten. Und mein Chef, der Tony, der hasst mich jetzt auch, weil ich gestern Nachmittag abhauen musste. Wegen der Umzugssache. Ich habe mich noch gar nicht getraut, aufs Handy zu schauen, er hat mich gestern die ganze Zeit angebrüllt, als ich sagte, ich müsse sofort nach Hause …“ Er zitterte, stellte er überrascht fest. Gott, was für eine krasse Scheiße, er fiel hier gerade auseinander wie ein Kleinkind! Fehlte nur noch, dass er anfing zu heulen. Vor seiner Verwandtschaft, die er eigentlich gar nicht richtig kannte. Ihm war schlecht, so peinlich war ihm das Ganze!
„Tjure.“ Sehr behutsam legte Tante Antje ihm eine Hand auf den Arm. „Mir ist klar, in was für einer Notsituation du steckst. Was diese Leute mit dir machen, ist moderne Sklaverei. Du schuftest dich ins Grab und bekommst dafür nicht mal genug Geld raus, um dir irgendwas zu gönnen. Es hat gerade mal für ein Dach über dem Kopf gereicht, das man dir einfach wegnehmen konnte, weil du keinen Mietvertrag hattest. Darf ich dein Handy mal haben?“
„Wozu?“ Mit aller Kraft hinderte er sich daran, nun doch loszuheulen. Mitleid! Er wollte kein Mitleid! Verdammte Scheiße, er wollte wirklich kein Mitleid haben!
„Ich will sehen, was dieser Tony dir geschrieben hat. Er hat dir doch vermutlich was geschrieben?“
„Garantiert.“ Schwer atmend zog Tjure das Smartphone aus der Jeans und schaute drauf. Siebenundzwanzig Nachrichten. Alle von Tony. Oh. Und eine von Niklas. Er entsperrte, sah nach. „Niklas fragt, ob es mir gut geht und meint, es tut ihm wirklich leid und es ist kacke gelaufen, er hätte es mir vielleicht doch früher sagen sollen.“
„Ist es okay, wenn ich mich darum kümmere?“, fragte Tante sehr sanft. „Ich denke, du willst sowieso nichts mehr mit Niklas zu tun haben?“
„Der ist für mich tot.“
„Fein. Und Tony?“
„Schatz!“, sagte Onkel Steffen scharf und musterte Tjure dabei besorgt. „Junge, wenn sie mit deinem Chef spricht, bist du diesen Job los. Wir haben eine richtig gute Rechtsschutzversicherung, sollte der Typ sie wegen Beleidigung verklagen, da mach ich mir keine Sorgen, aber du willst den Job ja vielleicht …?“
„Du glaubst doch nicht, dass Tjure da weiter schuften geht? Schon im Supermarkt arbeitet er dreimal so viel wie er laut Vertrag dürfte, bei diesem Getränkeding ist es das Vierfache!“
„Ich will keinen Stress!“, stammelte Tjure aufgewühlt.
„In dem Fall solltest du mich machen lassen!“, entgegnete seine Tante. „Aushilfsjobs gibt es überall. In der Gastronomie sucht man wie blöd. Du kannst Zeitungen austragen, kellnern, Pakete ausliefern, Pommes frittieren … Du bist auf solch einen Sklaventreiber nun wirklich nicht angewiesen!“
„Okay … Krass … Okay …“ Tjure ließ zu, dass sie aus dem Raum stürmte. Mit seinem Handy. Er bebte noch immer von Kopf bis Fuß, dabei war gar nicht er das Ziel ihres gerechten Zorns.
„Junge, es gibt in diesem Haus gar nicht so wahnsinnig viele Regeln“, brummte Onkel Steffen und klopfte ihm beruhigend den Rücken. „Eine – und das ist die Wichtigste – lautet: Wenn deine Tante einen Satz mit Kann ich, Darf ich, Soll ich beginnt, lautet die Antwort grundsätzlich: Ja, selbstverständlich! Das ist das Geheimnis, um in diesem Haus ein gutes, zufriedenes Leben zu führen.“ Er schob Tjure seine Tasse mit Schokolade hin, die inzwischen höchstens noch lauwarm war. „Ich hasse Schokolade am Morgen. Das würde ich Antje natürlich nie verraten. Du siehst aus, als bräuchtest du noch einen kräftigen Schluck.“
Tjure nickte und nahm die Tasse an.
Durch die Tür, die zur Küche führte, hörte man Fragmente von dem, was seine Tante in das Handy grollte.
„… verantwortungslos … moralisch unter aller Sau … beinahe auf der Straße … so was darf sich nicht mal Freund schimpfen … wag es ja nicht …“
„Da geht Niklas dahin“, kommentierte Onkel Steffen vergnügt, während er auf seinem eigenen Handy herumdaddelte. „Dem brauchst du nie wieder zum Geburtstag zu gratulieren.“
War vermutlich kein Verlust, auch wenn es der einzige Freund gewesen war, den Tjure auf der großen weiten Welt hatte. Nach einigen Momenten der Stille ging es im Nebenraum weiter.
„… Paragraph … Sittenwidrig … Sie können froh und dankbar sein … Ordnungsamt … Gewerbeaufsicht … Polizei … Strafanzeige … Mein Mann arbeitet in der Personalabteilung, glauben Sie ja nicht … Sie werden … Anwalt … Ich sag es Ihnen jetzt noch mal im Guten, mein Lieber … Nein, ich schraube garantiert nicht an meinem Tonfall … Erwähnte ich die Gewerbeaufsicht schon? … Glaube Sie mal, das bin ich, wenn ich gut gelaunt und freundlich bin! Die andere Seite wollen Sie gar nicht erst kennenlernen! … Ja, exakt … Arbeitszeugnis … Rückwirkend für die letzten vier Jahre … Sie haben es erfasst … Oh, ich kenne mich da wirklich aus … Anwalt … laut Strafgesetzbuch … Vielen Dank und einen erholsamen Sonntag wünsche ich Ihnen!“
Gefolgt von einem sehr lauten: „Du mich auch, du Wichser!“
„Das hat sie hoffentlich erst gesagt, nachdem sie das Gespräch beendet hat“, brummte Onkel Steffen, nach wie vor vollkommen entspannt und mit irgendwelchen Artikeln irgendeiner Online-Zeitung beschäftigt. Die Tür öffnete sich, Tante Antje kehrte zurück. Ruhig und friedlich, lächelnd, lediglich die leicht geröteten Wangen verrieten, dass sie gerade zwei Menschen verbal den Kopf abgerissen hatte.
„So. Dein Kumpel Niklas hat ein bisschen geheult, aber er überweist die anteilige Miete für den Restmonat auf mein Konto und ich gebe dir das Geld dann. Dein Ex-Chef war ein bisschen frech, bis ich ihm klar gemacht habe, wie geschäftsschädigend es wäre, wenn ich ihm Gewerbeaufsicht, Ordnungsamt und drei verschiedene Lokalzeitungen auf den Hals hetze. Zufällig kennen Steffen und ich jede Menge Mitarbeiter und diverse Chefredakteure der Pressevertretung, wir sind beide in so vielen Vereinen und wohltätigen Organisationen … Du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen, bekommst ein ausgezeichnetes Arbeitszeugnis und eine Auszahlung der angefallenen Überstunden. Dabei wird er dich natürlich gnadenlos über den Tisch ziehen, aber ich habe schon angemerkt, dass er nicht zu geizig sein sollte, wenn er nicht meine Ungeduld heraufbeschwören will.“
„Okay“, fiepte Tjure unglücklich. Er war dankbar. Herrgott, ja, natürlich war er unglaublich dankbar, dass er nicht mehr zu diesem Laden hingehen musste. Trotzdem beschämte es ihn, weil er nicht in der Lage war, für sich selbst zu kämpfen. Er war schließlich kein Baby mehr, oder?
„Ich bin gerade gut im Lauf“, fuhr seine Tante gnadenlos fort. „Willst du bei dem Supermarkt auch kündigen? Wir werden eine Wohnung für dich finden, aber das wird hier in der Gegend sein, nicht da oben in Elmshorn. Es würde also keinen echten Sinn machen, an dem Job festzuhalten, du kannst dir hier bei uns was suchen.“
„Ich muss da doch eine Kündigungsfrist einhalten, oder? Vier Wochen, soweit ich weiß.“
„Hast du noch Urlaub übrig?“, fragte Onkel Steffen.
„Urlaub? Ich habe keinen Anspruch auf Urlaub, ich bin doch Minijobber!“
„Du hast Anspruch auf Urlaub, mein Freund, natürlich! Bei drei Tagen für denselben Arbeitgeber in der Woche sind das zwölf Tage bezahlter Urlaub im Jahr. Wie viele Jahre warst du in dem Supermarkt tätig?“
„Sechs“, sagte Tjure und blinzelte verwirrt. Niemand hatte je mit ihm über Urlaubsansprüche gesprochen. Er hatte überhaupt noch nie Urlaub gehabt und war bloß einmal für mehr als einen Tag krank gewesen. Corona hatte ihn umgeworfen, eineinhalb Wochen hatte er flach gelegen und sich dafür einiges anhören dürfen. Bittere Vorwürfe, weil er sich leichtsinnig angesteckt und so lange krank gefeiert hatte, während andere Leute viel schneller wieder arbeiten gekommen waren.
„Antje, ich denke, da steht die nächste Zwangsbelehrung an“, sagte Onkel Steffen feierlich. „Verdirb auch diesem Sklaventreiber den Sonntag.“
„Wie heißt der gute Mann, der gleich nicht mehr dein Chef ist?“, fragte Tante Antje vergnügt und ließ die Fingerknöchel knacken.
„Achim Weiß. Er steht unter SuMa in der Telefonliste“, entgegnete Tjure eingeschüchtert. „Ist das denn wirklich rechtens? Ich will keinen Stress und …“
„Lass mich nur machen.“ Sie tätschelte ihm die Schulter, nahm ihm das Smartphone wieder ab und kehrte in die Küche zurück. Wie betäubt saß Tjure auf seinem Stuhl und blendete das Gespräch im Nebenraum tapfer aus. Herr Weiß tat ihm leid. Sklaventreiber hin, Ausbeutung her, niemand hatte verdient, dass eine Antje Stegemann über ihn herfiel …
„So, er schickt ein allumfassendes Mea Culpa, war ganz verwirrt, dass du nie deinen Urlaub genommen hast. Dieser dämliche Arsch! Die Kündigungen müssen natürlich noch schriftlich eingereicht werden, da kann dir dein Onkel gleich mit zur Hand gehen. Herr Weiß akzeptiert die Kündigung anstandslos, zahlt dir ebenfalls die Reststunden aus und weil du noch so viel Urlaub übrig hast, brauchst du da auch nicht mehr hinzugehen. Damit haben wir dich erst einmal aus der Zwangsversklavung befreit und können sehen, dass du wieder auf die Füße kommst. Und das möglichst zügig. Ich freu mich natürlich, dir auf jegliche Weise beizustehen, aber Steffen und ich, wir sind an unsere persönliche Freiheit gewöhnt, allzu lange wollen wir keine Dauergäste im Haus haben, sorry.“ Sie drückte ihm das Smartphone wieder in die Hand, tätschelte ihm erneut freundlich die Schulter und griff zu ihrem eigenen Handy, um den nächsten Anruf zu tätigen. „Rudi, mein Schatz! – Ja, mir geht es bestens, danke. Deinem Vater auch. Komm doch bitte heute mit Dom zum Mittagessen. – Nein, das war kein Vorschlag. – Ist mir echt scheißegal, mein Herzblatt, Sonne meines Lebens. – 13.00 Uhr ist absolut perfekt. – Weil du es bist. Ja, Lasagne ist kein Problem. – Nun gut, ich back auch einen Apfelkuchen. Übertreib es nicht! Hab dich auch lieb. Tschüss!“
Sie lächelte zufrieden. Tjure würde sich jetzt noch mehr fürchten, wenn das überhaupt möglich wäre. So blieb er still sitzen, wagte es nicht, sich zu bewegen und wartete völlig betäubt ab, was ihr als Nächstes einfallen würde.
„Werde ich eigentlich dringend benötigt?“, fragte Onkel Steffen. „Also jetzt im Moment. Ich hab ein Treffen mit den Leutchen vom Kleingärtnerverein.“
„Ich wäre dir so dankbar, wenn du das heute ausnahmsweise mal ausfallen lassen könntest, Schatz. Du müsstest bitte ein paar Teile für mich einkaufen. Während Tjure und ich Kuchen backen und die Lasagne vorbereiten, könntest du vielleicht auch ein bisschen die Bude aufräumen. Du weißt, ich mag es ordentlich, wenn die Jungs heimkommen.“
Onkel Steffen blickte sich mit gefurchter Stirn in dem blitzsauberen Wohnzimmer um, wo eigentlich nur der Esstisch abgeräumt werden müsste. Jedenfalls in Tjures Augen. Er lächelte, nahm sein Handy, tippte kurz.
„Hab abgesagt. Nächste Woche dann wieder. Was muss ich kaufen?“
„Guter Mann. Fahr los, ich schick dir den Einkaufszettel aufs Handy.“
Bei der Gelegenheit erfuhr Tjure, dass die Supermärkte in den großen Touristenhochburgen wie Büsum während der Saison auch sonntags geöffnet hatten. Was beinahe eine Stunde Fahrt pro Tour bedeutete, von Buntvik aus.
„Kommst du, Tjure? Du kannst schon mal die Äpfel schälen.“
Konnte man mit liebevoller, mütterlich-familiärer Fürsorge und Zuwendung unheilbar beschädigt werden? Tjure war sich momentan gar nicht so sicher, ob er den heutigen Tag überleben würde …
Rudi und sein Mann Dom waren überpünktlich und brachten Blumen mit.
„Hallo Mama, für dich. Falls wir irgendwas falsch gemacht haben und es nur noch nicht wissen“, sagte Rudi zur Begrüßung und überreichte ihr den Strauß mit einem Kuss auf die Wange. Er hatte dichte brünette Locken. Das war offensichtlich ein genetisches Familiending, denn Tante Antje besaß ebenfalls einen Kopf voll Pudellocken und auch Tjure war damit gestraft. Nur dass seine wilde Pracht hellblond war. Seine Tante lachte und tätschelte Rudi die Wange.
„Ich hätte garantiert keinen Apfelkuchen gebacken, wenn ich sauer auf euch wäre, oder? Ihr erinnert euch sicher an Tjure?“
Er würde so gerne unter den roten Teppichvorleger schmelzen, nur um der allgemeinen Aufmerksamkeit entfliehen zu dürfen. Dieser Tag war bislang emotional unglaublich anstrengend gewesen.
Anscheinend sah man ihm das an, denn Rudis und Doms Blicke wurden sehr ernst und besorgt, als sie ihn musterten.
„Mama, riecht hier irgendetwas angebrannt oder bin ich das?“, fragte Rudi laut. Seine Mutter starrte ihn für einen Moment an, bevor sie in die Küche marschierte – es roch definitiv nicht angebrannt, sondern ausschließlich köstlich. Rudi kam zu ihm und legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter.
„Hey. Soll Dom vielleicht eine kurze Runde mit dir um den Block drehen? In der Zeit könnte meine Mutter mich in alles Wichtige einweihen“, fragte er.
Schon wieder könnte Tjure vor Dankbarkeit heulen, doch diesmal fühlte es sich weniger entsetzlich an, darum nickte er hastig.
„Okay. Viertelstündchen. Mehr geht nicht, dann wird gegessen, komme, was wolle“, murmelte Dom, während Rudi bereits in die Küche eilte. Tjure schlüpfte in Schuhe und Jacke und atmete zutiefst erleichtert durch. Eine winzige Pause. Das würde helfen!
Dom sagte nichts, begleitete ihn einfach nur. Das Schweigen fühlte sich gut an. So wohltuend. Regelrecht heilsam. Zu wissen, dass er jetzt nicht zu reden brauchte, nichts zu erklären hatte, auch nicht zuhören musste, während andere über ihn sprachen … Brillant. Rudi konnte Dom dann nachher in alles einweihen, das war Tjure egal. Hauptsache, er konnte kurz mal atmen! Erst als sie wieder vor der Tür des schmucken nordischen Einfamilienhauses standen, ergriff Dom das Wort. Er war Krankenpfleger, arbeitete im häuslichen Pflegedienst. Genau wie Rudi war er um einige Jahre älter als Tjure, so um die dreißig, Mitte dreißig vielleicht. Rudi stammte eigentlich aus der IT-Branche, arbeitete aber seit einigen Jahren in Buntvik in einem Altenheim als Hausmeister. Viel mehr wusste Tjure gar nicht über die beiden, außer dass sie verheiratet waren und einen kleinen Hund namens Balu besaßen, den sie heute zu Hause gelassen hatten.
„Antje ist wundervoll, aber wenn sie auf Kriegspfad ist, wird es schnell zu viel“, murmelte Dom. „Hab keine Sorge. Sie ist auf deiner Seite und egal worum es geht und egal wie drastisch es scheint, was sie tut, sie meint es ausschließlich gut.“
„Ich weiß, Mann“, wisperte Tjure. „Ich hab trotzdem Schiss, was ihr als Nächstes einfallen könnte.“
„Lob ihr Essen. Sie kocht wirklich irrsinnig gut, darum ist das ein leichter Job. Der Rest wird sich finden, okay?“ Dom legte ihm eine Hand auf den Rücken, was sich tröstlich anfühlte. Gemeinsam kehrten sie ins Haus zurück, Dom besaß einen eigenen Schlüssel.
„Ihr seid pünktlich! Sehr schön. Der Tisch ist bereits gedeckt. Dom, hilf doch bitte kurz Rudi, der schlägt gerade die Sahne für den Apfelkuchen auf.“ Tante Antje huschte energiegeladen mit einer riesigen Auflaufform Lasagne in Richtung Wohnzimmer. Tjure setzte sich, froh, dass Rudi auf diese Weise Gelegenheit bekam, seinen Liebsten in Kurzform zu informieren, worum es gerade ging. Er blieb außen vor, hatte seine Ruhe und konnte sich aufs Essen freuen. Was er tatsächlich tat, nachdem er mitgeholfen hatte, es zuzubereiten. Die Koch- und Backstunde mit seiner Tante war ehrlich gesagt recht angenehm gewesen. Er konnte eigentlich nur Nudeln, Reis und Pellkartoffeln selbst kochen, worüber er für gewöhnlich irgendwelche Fertigsaucen aus der Tüte kippte, weil das alles war, was er sich leisten konnte. Sie hatte ihm viele Tipps gegeben und erklärt, ohne ihn dabei zu überfordern, das war schon gut gewesen.
Das Essen verlief harmonisch. Rudi und Dom erzählten von ihrer Arbeit, zeigten Fotos und Videos von Balu, der zum Quietschen niedlich war, und ließen Tjure ganz in Ruhe essen und zuhören, ohne ihm irgendwelche Fragen zu stellen. Als jeder von ihnen satt genug war, um platzen zu können, räusperte sich Tante Antje.
„Tjure hat ein Problem“, sagte sie sanft. „Es war vollkommen selbstverständlich, loszueilen und ihn vor der Obdachlosigkeit zu retten. Schließlich war das unverschuldet und er hatte keine Möglichkeiten, anderweitig unterzukommen. Es gab auch beim besten Willen keine Alternative dazu, ihn aus seinen bisherigen Beschäftigungsverhältnissen rauszuholen. Das hat den charmanten Vorteil, dass er im Laufe der nächsten vierzehn Tage mehrere tausend Euro bekommen wird, die seine Chefs ihm bislang vorenthalten haben. Geld, von dem er sich zwei, drei Monate finanzieren könnte. Oder er kann es sparen und hat Ressourcen für andere schlechte Zeiten. Wie gesagt, das war alles alternativlos. Aber nun, Tjure, mein Lieber. Dein Onkel und ich sind es gewohnt, unter uns zu sein. Wir sind sehr eingespannt mit unseren Jobs, Vereinen, Hobbys und Ehrenämtern, wir hängen gerne mit Nachbarn und Freunden ab und wir lieben es, spontanen Sex zu haben, wo immer wir gerade wollen.