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„Das hier", erklärte Sall, „fanden wir in dem hohlen Affenbrotbaum." Er legte eine beredte Pause ein und begann dann, das Kuvert mit einer feierlichen Ruhe zu öffnen. „Und hier haben wir den zweiten greifbaren Fakt aus Ihrem Lügenmärchen: einen Zettel!" Er hielt das linierte Blatt, aus einem Schreibheft herausgerissen, in seiner triumphierend erhobenen Hand. In deutscher Sprache und wieder aus vorgedruckten Buchstaben geschnitten und daraufgeklebt, las ich da: TÖTE DEN EVANGELISTEN. Dem Leipziger Journalist Karl Bondel ist seine Frau nach der Wende mit einem westdeutschen Arzt durchgebrannt, sein Arbeitsplatz ist auch gefährdet. Er will einfach ausspannen und bucht einen teuren Urlaub im fernen Senegal. Dort holt ihn seine DDR-Vergangenheit ein und er lernt seine Stasispitzel kennen. Er verliebt sich neu und gerät in äußerst lebensgefährliche Abenteuer.
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Seitenzahl: 217
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Steffen Mohr
Die Leiche im Affenbrotbaum
Kriminalroman
ISBN 978-3-95655-362-2 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 1992 im Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München (Nr. 02/2368 HEYNE BLAUE REIHE).
Figuren und Orte in diesem Buch sind reine Erfindungen zugunsten einer fantastischen Geschichte. Trotzdem gilt, was mir der Polizist Maguye Sall sagte: „... dass der Erzähler der unglaublichsten Märchen nie anders kann, als ein paar Funken Wahrheit in seine Lügen zu mischen.“
Allah möge mir verzeihen.
St. M.
© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Die ganze Nacht hatten mich die Moskitos geplagt. Auch die Klimaanlage hatte mit ihrem Schnaufen und Fiepen ihren Anteil zum Verschleiß meiner Nerven beigetragen. Schaltete ich sie jedoch aus, wurde mir unter der Bettdecke glutheiß. Zweimal war ich auf die Terrasse gegangen und hatte eine verfälschte Marlboro geraucht.
Fieber? Nein, Fieber fühlte ich Gott sei Dank nicht. Das würde dann kommen, wenn mir eine der Mücken von heute Nacht die Malaria tropica injiziert hatte. Das jetzt noch zu verhindern, war sowieso zu spät.
In meiner Kaffeetasse rührte ich herum wie ein eingeschlafener Roboter. Blickte lustlos schräg hoch in die Fächerpalmen, wo jetzt nach Sonnenaufgang die Fledermäuse in Reih und Glied wie taube Nüsse hingen. Fand weder eine Beziehung zu Butter noch Marmelade noch zu den knusprig heißen Baguettes. Frühstücken oder Kotzen, das war hier die Frage. Ganz nebenbei hatte ich zur Abwehr der Moskitos eine Literflasche gepanschten Weißwein geleert.
Einer der schwarzen Kellner lächelte mir vom Buffet aus aufmunternd zu. Wie alle Kellner trug er eine Art grünen Schlafanzug und schien so weit entfernt von mir, wie ich selbst von meinem Heimatland. Ich entwickelte einen Energiestoß von Charme und lächelte zurück. Rundum an den herrlich weißen Plastetischen mampften schwarze und weiße Leute ihr im Hotelpreis einbegriffenes Frühstück. Auch an meinem Tisch kauten zwei müde, kaffeebraune Huren, die mit Mannsbildern nichts mehr im Sinn hatten, nach getaner Nachtschicht ihre knackigen Brötchen. Das war beruhigend. Und so schlief ich, das Messer in der erhobenen Hand, ein bisschen.
Um so mehr erschreckte mich die Frage, von einem plötzlich neben mir aufpostierten Herrn gestellt. Er trug die Uniform der senegalesischen Polizeibeamten, hatte unglaublich viele Silberfäden in seinem dunklen Kräuselhaar und beugte sich bei seiner in tadellosem Deutsch gestellten Frage geradezu sklavisch an mein linkes Ohr herunter. Maguye Sall fragte: „Darf ich Sie an die Rezeption bitten, Herr Bondel?“ Als ich ihn aus meinen eben erwachenden Augen dummblau ansah, lächelte Monsieur Sall verbindlich, nicht so servil wie die Kellner, sondern eher mit delikatem Verständnis für meinen Kater. Er erklärte mir, ohne dass es die Huren hören sollten: „Mein Name ist Maguye Sall. Ich bin der Gendarm im Ort.“
In meinem Tran fragte ich zurück: „Woher können Sie so gut Deutsch, Monsieur Sall?“ Das war sicher die blödeste Frage, die ich stellen konnte.
Er musterte rasch mein marmeladenbeflecktes Messer, meine für eine Gewalttat viel zu feinen und kleinen Hände, die vor der Abreise bei Hertie eben schnell noch gekauften weißen Sandalen, mit rasch hochwärts fliegendem Blick mein schlecht gekämmtes blondes Haar, etwas bedauernd das hinter mir auf der Lehne hängende weinrote Leineweber-Jackett, in dessen leger geschnittene Brusttasche jeder der hunderttausend Meisterdiebe hierzulande leichten Zugang hatte und danach, wieder plötzlich und diesmal fordernd meine germanisch blaugrauen Augen. „Bitte folgen Sie mir unauffällig“, befahl er leise.
Die Wendung mochte Monsieur Maguye Sall vielleicht in einem deutschen Polizeikrimi gelesen haben. Aber obwohl ich mich innerlich empörte - ein Weißer empört sich immer, wenn ihm ein Schwarzer etwas befiehlt, das ist phylogenetisch völlig normal -, stand ich sofort auf. Bevor ich dem Gendarmen nachtrabte, warf ich einen Seitenblick auf die Huren. Die jedoch schienen nichts gehört und gesehen zu haben. Jedenfalls zeigten sie mir bei meinem Abgang nur ihre von einer vielversprechenden Sonne beglänzten, bis in den jugendlichen Busen hinein nackten Schultern. Es musste jedem hier so vorkommen, als hätte mich jemand bloß ans Telefon gerufen.
Aus dem Radio an der Rezeption gellten die Schreie eines Fußballreporters. Gestern Abend hatte Marseille im Europacup irgendwelche Russen geschlagen, und nun lief die Wiederholung der wichtigsten Torszenen. Der etwa sechzigjährige Boy hinter dem Tresen blickte uns mit leuchtenden Augen entgegen. Zwei an den Hochtisch gelehnte Buschtaxifahrer hörten begeistert mit. Im Rahmen der Eingangstür streckten ein Dutzend oder mehr kraushaarige Tagediebe ihre Ohren in die faszinierenden Ätherwellen, übertraten jedoch nicht die Schwelle des feinen Hotels. Mein Begleiter, der mir mit wiegendem Schritt voranschlurfte, knurrte nur einmal etwas in der Landessprache und vollführte dazu eine eindeutige Handbewegung.
Die Burschen am Eingang verschwanden, als hätte sie Monsieur Sall mit einem unsichtbaren Fetisch entmaterialisiert. Ihnen nach hinkte eilends der Portier, nachdem er den Stecker herausgezogen und das Hotelradio unter den Arm geklemmt hatte. Wie alle anderen verschwand er hinter der hohen weißen Mauer zur Stadt hin. Nun suchten sicherlich alle mit vereinten Kräften nach der nächsten Steckdose.
Wie wir uns so mutterseelenallein vor dem gemütlichen Schlüsselbrett auf zwei Rohrstühlen gegenübersaßen, schlug der Gendarm einen verbindlichen Ton an. Er schnorrte eine meiner Marlboro, vente au Senegal, und erklärte: „Ich habe am Germanistischen Institut von Dakar einen längeren Kurs abgeschlossen. Leider klappte es später nicht mit einem Einsatz als Lehrer oder gar einem Ausflug nach Deutschland.“ Vor dem Begriff Deutschland setzte er eine Pause und sprach ihn aus, wie viele meiner Landsleute von Nordamerika bloß noch verklärt reden als >Den Staaten<. Er liebte die Deutschen also, das war ja nun nicht das Schlechteste.
„Wo liegt Ihre Heimatstadt Leipzig, Herr Bondel?“, fragte er. „In Rheinland-Pfalz oder Schleswig?“
„Können Sie mir zunächst erklären, weshalb Sie mich vom Frühstückstisch aus hierher ...“ Ich kriegte mit jedem weiteren Wort etwas mehr beleidigte Courage in meine Stimme.
Monsieur Gendarm riss mit einem Ruck beide Arme hoch und zeigte mir das Weiße in seinen Handflächen. „Keine Aufregung, mein Herr. Bitte bloß das nicht. Es handelt sich lediglich um ein paar Routinefragen. Von Ihren Antworten hängt ab, ob ich Sie daraufhin laufen lasse oder leider mit mir nehmen muss.“
Ich stellte mir kurz die Arrestzelle auf einem senegalesischen Polizeirevier vor. Aber ein Ostdeutscher oder Ossi, wie uns die ganze deutschsprachige Welt mit liebevoller Nachsicht nennt, kapituliert bereits an diesem Punkt einer Behördenbefragung und kommt, im Gegensatz zu dem viel weitläufigeren Wessi, nie auf den Satz, der etwa so oder ähnlich lautet: „Alle weiteren Auskünfte erteile ich nur in Gegenwart meines Anwalts.“ Wir hatten eben vierzig Jahre lang keine echten Rechtsanwälte, nur mehr oder weniger echte Linksanwälte. Also murmelte ich, mein unschuldigstes Gesicht aufsetzend und im Inneren auf jede List eingestellt: „Fragen Sie doch bitte, Monsieur. Es macht mir nichts.“
Über die jetzt schon glutheiße Schwelle des First-Class-Hotels huschte ein etwas zu großer Gecko. Wahrscheinlich war es aber ein vor Kurzem geborener Leguan, denn die Geckos sind scheuer. Der naive Leguan strolchte bis zu den Beinen unserer Rohrstühle hin, schnupperte nach dem Butterklecks auf meiner weißen Socke, flitzte jedoch gleich blitzartig nach draußen, als ich mit heftigem Ruck den Fuß fortzog.
„Sie sind also Karl Bondel, wohnhaft in Leipzig, Karl-Liebknecht-Straße 263, von Beruf Journalist?“ Sall las die Textgrundlage aus meiner Hotelanmeldung und dem druckfrischen Reisepass ab, hielt beides jedoch in der weltweit verbreiteten Polizistenart, sodass ich keinen Blick darauf werfen konnte. Der Mann verstand sein Handwerk.
„Mon dieu!“, fuhr es ihm heraus. „Journalist!“ Er grinste breit: „Da muss ich ja vorsichtig sein. - Nun, können Sie diese Angaben bestätigen, Herr Bondel?“
„Ja. Trotzdem würde ich gern einmal wissen ...“
Er zeigte mir weiter sein geblecktes Gebiss. Tadellose, von keinem Zahnarzt versaute Arbeit der Natur. Durch die Zähne erfüllte er unbeirrt seine Fragepflicht: „Eingereist 26. Februar diesen Jahres aus Deutschland - ja?“
„Ja.“
„Geplanter Abflug und damit Beendigung des - aha, soso - touristischen Aufenthalts im Senegal am 20. März? Richtig?“
„Exakt. Ich muss ja schließlich wieder auf meiner Arbeitsstelle antraben.“
Er verlor kurz sein Lächeln und blickte mich für Augenblicke verständnislos an. Dann bleckte er wieder dieses Reklamegebiss, für das ihn die Colgate palmolivfarbene GmbH oder irgendeine andere Putzfirma in Deutschland mit Kusshand zum Fernsehen geholt hätte. Immerhin war er schon ein Mann in mittleren Jahren. „Bien“, sagte er. „Deutscher Fleiß - großer Preis! Ich schätze Ihre Einstellung.“
„Ohne Fleiß kein Preis“, korrigierte ich. „Und nun sagen Sie mir bitte endlich, warum ...“
Er klappte den grünen Pass zu. Mit einer sanften Geste strich er über den kleinen aufgedruckten Goldadler. „Über der Savanne“, meditierte er, „fliegen viele Milane, auch Falken, Kormorane und Pelikane. Ich aber hätte gern einmal in Deutschland die vielen Adler gesehen.“
Zu solchen idyllischen Vorstellungen über seine Heimat konnte ein echter Deutscher nur schweigen. Monsieur steckte meinen Pass in die adrette Außentasche seiner dunkelblauen Jackettbrust und fragte: „Wo hielten Sie sich heute Nacht auf, Herr Bondel? Bitte seit gestern Abend genau und, wenn möglich, mit Uhrzeit und eventuellen Zeugen. Es geht um ...“
Aus Anstand sprach er den Satz nicht zu Ende, sondern machte die international bekannte Geste des Halsabschneidens. Auf einmal ritt mich der Teufel. Da ich mich nicht des geringsten Verbrechens schuldig fühlte, legte ich ihm eine fantastische Geschichte hin. Die kam mir wie aus der Pistole geschossen.
„Nach Einbruch der Dunkelheit - wann das genau war, können Sie leicht dem französischen Abreißkalender da an der Wand entnehmen - entfernte ich mich heimlich aus dem Hotel. Zeugen dafür gibt es keine, denn ich vermied es, von irgendjemand beobachtet zu werden. Ich nahm nicht den Weg hier an der Rezeption vorbei, wissen Sie, sondern stieg zwischen dem Toilettenhäuschen und dem Swimmingpool über die Mauer. Der dahinter aufragende Affenbrotbaum bot mir eine leichte Gelegenheit, an einem seiner herabgebogenen Äste leise wie auch gefahrlos auf die Straße zu gelangen.
Über die Rue d'Aubert, die ich wegen der dort patrouillierenden Militärpolizei möglichst rasch überquerte, erreichte ich auf zahllosen schmutzigen Nebenstraßen den Hafen. Es gelang mir, die selbst zu dieser Stunde gewaltige Menge von Menschen abzuwimmeln, die mich anbettelten oder mir einen dieser bunten Armreifen verkaufen wollten. Im Dunkel eines abgelegenen Uferstücks, wo immer ein paar reparaturbedürftige Pirogen im Wasser schaukeln, traf ich meinen Mann. Er hockte im Schutz der überhängenden Palmenwedel auf einem der Kähne, dessen garantiert farbenfreudige Bemalung ich nicht erkennen konnte. Genauso wenig natürlich meinen Kurier, zumal er in der Art der Tuaregs einen riesigen Schal um das Gesicht geschlungen hatte. Es war aber sicher kein Tuareg, denn ich habe hier noch keinen einzigen gesehen.
Der Mann sprach kein Wort, sondern reichte mir bloß das verschlossene Kuvert, das ich noch im Laufen öffnete. Im schwachen Schein des Lichts an meiner Armbanduhr entzifferte ich den in deutscher Sprache verfassten Inhalt der Botschaft. Da ich dabei die Uhr vor Augen hatte, weiß ich, dass es genau dreiundzwanzig Uhr siebzehn war, westafrikanischer Zeit natürlich. Auf dem von einer Cocaflasche aufgeweichten Zettel stand: >Als Teilnehmer der deutschen Herbstrevolution von 1989 bist du den Aufständischen herzlich willkommen. Frage im Nightclub nach Giselle. Alles Weitere erfährst du von ihr. Der revolutionäre Rat.< Ich aß das Papier, während ich mich eilig zur Stadt zurückwandte, in kleinen Stücken auf. Es schmeckte nach rohem Fisch und Leim ...“
Monsieur Maguye Sall sprang so heftig auf, dass der Rohrstuhl nach hinten kippte. Sein plötzliches Geschrei lockte mit einem Schlag den verschwundenen Rezeptionsboy, das Radio mit dem plärrigen Fußballspiel und den ganzen Haufen Fans von Olympique Marseille vor die Tür. Der abgewrackte Weltempfänger, bemerkte ich erst jetzt, besaß eine zusätzliche Batteriebedienung.
„Monsieur Bondel!“, schrie der Gendarm und fuchtelte mit dem Notizblock, auf den er eben noch den Anfang meines unglaublichen Geständnisses mitgeschrieben hatte. „Wenn Sie sich lustig machen wollen über unsere inneren Angelegenheiten, werfen wir Sie aus dem Land! Wenn wir hier einen kleinen Aufstand haben, so ist das unser Problem und nicht das Ihre!“
Mit überschnappender Stimme rückte er gegen die Neugierigen vor: „Otez-vous de là, gare!“ Er scheuchte sie wieder fort wie einen Schwarm Hiegen.
„Noch eine Marlboro“, befahl er, als wir unter uns waren. Er griff sich ungeniert drei Zigaretten aus meiner Schachtel. Wahrscheinlich hatte er wie alle Werktätigen in diesem Land mehrere nikotinabhängige Schwiegerväter zu ernähren. „Feuer“, schnaufte er, ohne mich anzusehen.
Ich schenkte ihm mein Feuerzeug nicht, wie das in dieser Situation vielleicht mancher meiner Stammesbrüder getan hätte. Seine Wut hatte mir zu einem unerhörten Überlegenheitsgefühl verholfen.
„S'il vous plait, Monsieur“, sagte ich, indem ich ihm mein Wegwerf-Bic unter das Stäbchen hielt. „Sie dürfen gern meine Flamme küssen.“
Er verstand das Wortspiel in seiner Aufregung vollkommen falsch. Gierig drei Züge in einem pfaffend, murmelte er: „Die Huren in diesem Hotel sind ausschließlich für Leute wie Sie da. Es bringt dem Staat Devisen.“
Dann jedoch schlug er das erste Blatt seiner Notizen zurück, sah mir bedauernd in die Augen und sagte, indem er teilweise seine Aufzeichnungen zitierte: „Herr Bondel, ich habe Sie in Ihrem eigenen Interesse um den Nachweis eines Alibis für die vergangene Nacht befragt. Sie erzählten mir daraufhin eine Aventure à la Baron Münchhausen. Aber Ihre Lügengeschichte enthält einige wahre Fakten. - Hier ist der erste!“
Der brave Mann vom Senegal hielt mir blitzschnell ein verschmuddeltes Briefkuvert vor die Nase. Er hatte es aus seiner Seitentasche gezaubert. Als ich danach greifen wollte, rückte er samt Stuhl ein paar Zentimeter zurück.
Auf dem Umschlag erblickte ich eine aus Zeitungslettern geschnittene Adresse, die meinem derzeitigen Aufenthaltsort völlig glich. Sie lautete: MONSIEUR BONDEL, HOTEL D'AUBERT, ZIGUINCHORE.
„Das hier“, erklärte Sall, „fanden wir in dem hohlen Affenbrotbaum, dessen Erkletterung Sie vorhin so anschaulich schilderten.“ Er legte eine beredte Pause ein und begann dann, das Kuvert mit einer feierlichen Ruhe zu öffnen, die jedem orthodoxen Priester beim Schwenken des heiligen Kelchtuches zur Ehre gereicht hätte. „Und hier haben wir den zweiten greifbaren Fakt aus Ihrem Lügenmärchen: einen Zettel!“
Er hielt das linierte Blatt, aus einem Schreibheft herausgerissen, in seiner triumphierend erhobenen Hand. In deutscher Sprache und wieder aus vorgedruckten Buchstaben geschnitten und daraufgeklebt, las ich da: TOETE DEN EVANGELISTEN.
Rasch, doch nicht ohne Sorgfalt ließ Maguye Sall Kuvert und Zettel wieder verschwinden. Sein Ton war jetzt leiser, eindringlich und, wie ich genau spürte, auch drohend.
„Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, dass der Erzähler der unglaublichsten Märchen nie anders kann, als ein paar Funken Wahrheit in seine Lügen zu mischen? Einerseits wirkt er damit glaubhafter. Andererseits straft ihn Allah damit. - Und Ihnen, Herr Bondel, sei Allah nun gnädig. Denn Sie haben einen Mann getötet.“
Ich brauchte ein paar Augenblicke, um Salls Vorwurf zu begreifen. Zunächst glaubte ich an einen Scherz. Dann vermutete ich eine blumige Redensart. Bis ich in seinem ebenholzschwarzen Gesicht, das mir im Dämmer und Hitzedunst der Rezeptionshalle noch dunkler erschien, wieder den nachhaltigen und jetzt sehr vorwurfsvollen Blick ertastete. Er meinte alles wirklich ernst! Ich sollte die Idiotie verzapft haben, als Ossi nach Schwarzafrika zu reisen und ausgerechnet dort einen neuapostolischen Geistlichen umgebracht haben!
Ich kriegte keinen Ton heraus und gaffte Monsieur Sall bloß mit offenem Mund an. Ob er mein Schweigen nun als das halbe Geständnis eines Mörders nahm oder nicht, war schwer zu sagen. Jedenfalls schien es so, denn er rückte den Stuhl wieder näher. Indem die streng uniformierten Knie fast an meine flattrigen Leineweber-Hosen stießen, murmelte er: „Ich nehme an, dass Sie da in eine Geschichte hineingezogen wurden, für die Sie nicht allein die Schuld tragen. Aber sehen Sie bloß einmal die Tatsachen. Seit Tagen kontrolliert unsere Militärpolizei heimlich diesen Affenbrotbaum. Es ist ein toter Briefkasten der Putschisten. Und heute vor Sonnenaufgang finden wir dort dieses Kuvert. Durch den Vergleich mit den Hotelanmeldungen stoßen wir noch in der Nacht auf die Namen und Berufe der Deutschen, die im d'Aubert wohnen. Wir finden heraus, dass Sie, Herr Bondel, friedlich in Ihrem Zimmer schnarchen. Wir stellen aber auch fest, dass einer von Ihren Landsleuten fehlt und sein Bett unberührt ist! Der Beruf dieses einen ist auf der Anmeldung angegeben als Evangelist. Herr Dirk van der Lohe also aus 5420 Lahnstein in der Pfalz. - Er fehlt!“
Der Gendarm kannte sogar die Postleitzahl des vermutlichen Opfers auswendig. Mehrere Argumente schossen mir zu meinen Gunsten durch den Kopf. Ich versuchte sie trotz der aufsteigenden Hitze des Vormittags gut zu sortieren.
„Hören Sie“, sagte ich, „ich kenne mich ja nicht im Nachtleben eines Evangelisten aus. Aber Sie haben hier tatsächlich einen Nightclub, der nach Touristen geradezu hungert, und die Hure kostet in der Provinz für den halben Kalendertag sicher nicht mehr als die Damen in der Hauptstadt, doch selbst die kriegt man für fünfzig Mark. Das wäre mein erster Vorschlag zur Güte.
Weiterhin könnten Sie, ehe Sie mir etwas unterstellen, doch den geistlichen Bruder dieses Herrn van der Lohe befragen, der im Zimmer bei mir nebenan sein evangelistisches Haupt aufgebettet hat. Vielleicht weiß er, in welchem Buschdorf sein Kollege gerade die nächtlichen Exerzitien abhält?
Und drittens denke ich, dass es von meiner Seite aus ziemlich blöd gewesen wäre, einen Mordauftrag dort liegen zu lassen, wo ich ihn fand, noch dazu mit meiner vollen Urlaubsadresse. - C'est tout!“
Der Gendarm hatte mir mit der sprichwörtlichen Geduld des schwarzen Mannes zugehört. Unvermittelt blitzte es jetzt aber grellweiß in seinen Augen. Die Pupillen zur Decke gedreht, fast mit den rollenden Augäpfeln eines Blinden, herrschte er mich an: „Den Evangelisten Schnützle habe ich selbstverständlich befragt. Vor Ihnen! Er ist konsterniert über die Abwesenheit seines Bruders! - Wofür halten Sie uns eigentlich, Herr Bondel? Meinen Sie, ein Neger ist dümmer als Sie?“
Mein Gott, wann würden die Neger lernen, dass nicht wir Ostdeutschen, sondern die Wessis das Wort Neger mit Genuss gebrauchten? Wir kriegten in der Schule ja schon eine Betragensfünf, wenn wir einen Russen nicht Sowjetmensch nannten.
In diesem Augenblick schritt ein mir wohlbekannter, etwas entkräftet, aber nicht völlig zerknittert wirkender Anzugdeutscher in die Halle. Es war kein anderer als der junge van der Lohe. Sein aufgeschwemmtes Gesicht war höchstens noch mit einem zerflossenen französischen Rundkäse oder einem von hässlichen Wolkenballen entstellten Vollmond zu verwechseln. An seinen zappeligen Gliedern und dem ewig smarten Anzug identifizierte sich van der Lohe jedoch leicht als der entartete Lahnsteiner Weinbauernsohn mit dem feuerroten Igelhaar und der ungesündesten Haut, die mir jemals begegnete, die aber nun einmal ein unverwechselbares Detail seiner Erscheinung darstellte. Wahrhaftig schämte sich Dirk van der Lohe nicht, sobald er sich ohne uns zu registrieren, auf die Theke geflegelt hatte, einen nach allen Ingredienzien gepanschten afrikanischen Weins stinkenden Rülpser loszuwerden.
„Portier! Mein Schlüssel!“, rief er. Und setzte dem ersten Rülpser ein nicht eben genierliches Dacapo nach.
„Die Toten sind auferstanden“, sagte ich ruhig zu Monsieur Sall. An den war nun zur Abwechslung die Rolle des Menschen mit dem vor Erstaunen geöffneten Mund gefallen. Kaum seiner enttäuschten Gefühle mächtig, sprang er auf Lohe zu.
„Wo waren Sie diese Nacht?“, schrie er ihn an.
„Hej, Boy“, sagte der Evangelist lässig. „Frage nicht viel und gib mir den Schlüssel raus. Und warum tragt ihr heute im Hotel so hübsche blaue Uniformen?“
Monsieur Sall reichte mir mit einem Ruck meinen Pass zurück. Er entfernte sich wiegenden Schritts vom Ort seiner erhofften Verhaftung. Als daraufhin schlagartig der ganze Haufen Fußballfreunde in die Halle zurückströmte, tanzend und palavernd, denn das Spiel war 2:0 gewonnen, trat im allgemeinen fröhlichen Geschrei noch einmal Stille ein. Hans-Georg Schnützle, der zweite Evangelist, im Gegensatz zu van der Lohe hager und bitter, lief von der Frühstücksterrasse direkt auf seinen flegelhaften Bruder zu.
Er klebte ihm nicht nur eine. Er klebte ihm nicht nur zwei. Er boxte ihn unter der begeisterten Anteilnahme des versammelten Anhangs von Olympique Marseille zu Boden und versetzte ihm mehrere Tritte aufs weiße Hemd. Danach stellte er Lohe, gleich einer Marionette, wieder neben sich hoch.
Unbegreiflich erschien mir allerdings die plötzlich an mich gerichtete Erklärung. „Bruder Dirk“, sagte Schnützle mit schmelzenden Augen, „hat heute Nacht auf eigene Faust Seelen gewonnen für den Herrn.“
„Ist das verboten?“, fragte ich und erhob mich nun ebenfalls.
„Nein“, lächelte jetzt auch, den Schmutz abklopfend, van der Lohe süß, „ich habe nur meine Kompetenz überschritten. Aber der Heiland freut sich.“
Ähnlich dem schwarzen Gendarm drehte ich mich wortlos um und ging zum Frühstückstisch zurück. In meinem Kopf schwirrte alles durcheinander.
Warum, in aller Teufels Namen, musste ich unerfahrener Mensch bloß ins tiefste Afrika reisen? Zwei Fragen gingen mir, als ich wieder unter den fledermausgefüllten Palmen saß und meine Marmelade auf Brötchen strich, nicht aus dem Kopf. Die erste war: Wer hatte ein Interesse, den Lahnsteiner Evangelisten zu töten? Die zweite, vielleicht viel wichtigere, erwog ich bloß nebenbei: Wem kam es dabei zupasse, mich als seinen Mörder hinzustellen? Mark Richter? Den Kämpfs? Dem verrückten Simonsen- Pärchen? Meine Güte, wir waren doch alle Deutsche.
Hinter der weißen Mauer erwachte das Leben der Rayonstadt Ziguinchore. Über die geflieste Frühstücksterrasse huschte keck der kleine Leguan. Ich warf dem hübschen Tier ein Stück Käse zu.
In Gedanken kletterte ich die frei schwingende Stahltreppe hinauf, die zum oberen Stockwerk des Hotels führte. Von dieser mehr oder weniger absturzsicheren Feuerleiter ging es in gleicher Höhe, in der die Fledermäuse unter den Palmfächern schliefen, nach links und rechts ab zu den Zimmern. Auf der linken Seite waren eine Handvoll frankofone Dienstreisende einquartiert. Sie interessierten mich nicht.
Die liebe Sonne prasselte mit spürbar wachsender Kraft auf den rechten Hügel des Hauses und die sieben grünen Türen, hinter denen meine Landsleute wohnten. Diese Türen fesselten meine Aufmerksamkeit. Sie beschäftigten mich so sehr, dass ich nicht bemerkte, wie ein zweiter Mann die außer meiner unwichtigen Person total leere Frühstücksterrasse betrat. Er musste von der Rezeption hergekommen, besser gesagt: hergeschlichen sein. Als er mich endlich ansprach, saß er an einem Tisch schräg hinter mir, dicht am Pool.
Ich schrak zusammen. Das Dumme ist, dass wir bei solchen Überraschungen unser Unterbewusstsein ertappt sehen. So, als ob ein Fremder unsere Gedanken lesen kann, was nach Wim Wenders bekanntlich erst 1999 möglich sein wird. Er hat mich eine Weile stumm beobachtet, sagte ich mir. Möglicherweise hat er mitbekommen, zu was für hässlichen Unterstellungen meine ostdeutsche Seele fähig war.
Meine Gedanken waren etwa die:
Zwei Doppelzimmer, fünf Einzelzimmer. Als erbärmlicher Gottloser musste ich den beiden Sektenpriestern vorkommen, von denen der eine gleich neben der Treppe wohnte, der andere im letzten Zimmer, dicht hinter mir. Dabei glaubte ich an ein höheres Wesen und hatte stets weniger Vorurteile gegen die Kirche gehegt, als das im atheistischen Teil Deutschlands für meinen Job gut war.
Als Wilder, den es zu bekehren galt, erschien ich wahrscheinlich auch dem biederen Tierarzt und seiner jungen Frau, diesem Wohlstandspärchen aus Bielefeld mit dem dynamischen Namen Kämpf. Ihr Zimmer war das zweite, gleich hinter dem nachtaktiven Gottesdiener Lohe. Es stand einen Spalt offen, und ich hörte die Kauffrau zu den Vormittagschansons von Radio Dakar trällern.
Dann folgten die Einzelquartiere des älteren Geschwisterpaars Mark und Lu Richter. Sie kam aus dem Osten, wohnte wohl auch noch da. Aber die Anlehnung an ihren Bruder, einem Konzernmenschen aus Deutschlands altem Herzen, stand ihr, verbunden mit einer geradezu selbstquälerischen Vornehmheit, ständig im Gesicht geschrieben. Für die Richters musste ich einfach Dreck sein.
Obwohl — stop! Halt einmal! Hatte mich nicht ausgerechnet Richter zu dieser Tour in das Aufständischennest eingeladen? Im Jeep war ein Platz frei gewesen, ein Mitreisender wurde gesucht, um den Preis unseres Ausflugs kostengünstiger zu gestalten... Wie typisch: Ausgerechnet die Reichen sparten immer bei Kleinigkeiten. Da sollte mal schön der Plebs die Gemeinkosten mittragen.
Neben den Einzelzimmern der Richters lag das Liebesnest von Clarissa und Eric Simonsen. Irgendwelche Jungunternehmer in Sachsen. Aber stammten die wirklich daher? Oder gehörten sie zu einer verkrachten Westhandelskette? Jedenfalls soff Eric, griff wahrscheinlich auch nach härteren Drogen. Unverständlich, dass die schöne Clarissa, ein Weihnachtsengel mit Wasserstoffhaaren, bei ihm blieb. Beide Yuppies trugen Streit wie Liebesgeräusche sozusagen durch alle Türen. Was sollte ich schon den Simonsens wert sein? Ich hatte doch nichts zu verkaufen.
Neben ihnen befand sich mein Zimmer, danach kam das von Missionar Schnützle. Ich gelangte zu dem Schluss, dass jeder meiner Stammesangehörigen nicht mit der Wimper gezuckt hätte, wenn mich morgen ein schwarzafrikanisches Gericht zum Tode verurteilte. Ossis waren dumm. Ossis waren faul. Ossis waren fähig, einen Geistlichen zu ermorden. Und am meisten dachten Ossis, die keine Ossis mehr sein wollten, in dieser Weise über ihre Blutsbrüder. Der Falter weiß nicht, dass er einmal Raupe war.
Aber wer, verflixt noch mal, hegte von denen tatsächlich die Absicht, einen der Missionare umzubringen? Ich fasste einen Entschluss. Ossis, sagte ich mir, sind wenigstens solidarisch. Und schon gar, wenn es um ein Menschenleben geht.
Ich erhob mich von meinem Plastesitz, um die Treppe hinauf zu steigen und Schnützle zu warnen. Aber - noch mal halt und stopp mal! - hatte der senegalesische Polizist nicht behauptet, Schnützle bereits verhört und somit informiert zu haben? Vielleicht hatte Sall ihm jedoch nicht die ganze Wahrheit gesagt, hatte ihm nicht den Brief gezeigt, den ich kannte. Mit einem der bedrohten Evangelisten musste ich reden, das gebot eine selbstverständliche Achtung vor ...
Lohe schlief sicher seinen Rausch aus. Also kam mein Besuch nur infrage bei ...
„So laufen Sie mir doch nicht weg, Herr Bondel!“
Es kam, wie geschildert, zu meinem Ertappungsreflex. Halb aufgestanden, plumpste ich wieder herab und drehte gleichzeitig den Stuhl herum. Die Stimme hatte sanft geklungen, vielleicht etwas zu schleimig. Nun sah ich in das lächelnde Gesicht von Paul Kämpf, der locker mit einer siegelberingten Hand auf die Sitzlehne klopfte. Es war der Takt, zu dem sein junges Weibchen da oben im Zimmer trällerte. Durch Kämpfs gewaltige Ohrläppchen schimmerte die Sonne. Ich wünschte dem kleinen Dickmann angesichts seiner blanken Dreiviertelglatze einen Strohhut für diese Temperaturen.
„Habe ich Sie etwa erschreckt? Ach nein, das wollte ich wirklich nicht. - Gestatten?“ Paul Kämpf rückte behände an meinen Tisch.
„Sie sind Ostdeutscher, nicht wahr?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, wedelte er beide Hände nach oben, als wollte er eine sterile Flüssigkeit davon abschütteln. Gleichzeitig redete er fort, mit diesem kicherigen Unterton: „Weiß ich doch auch, nicht wahr. Weiß ich. Es war ja mehr als rhetorische Brücke gedacht, meine Frage. Ich habe nämlich sozusagen ...“
Kämpf warf einen scheuen Blick in das erste Stockwerk hinauf.
„Ich habe sozusagen ein privates Problem. Meine Frau ist im Osten groß geworden. In Sachsen. Wussten Sie das?“
„Kompliment“, sagte ich. „Man hört es Ihrer Frau nicht mehr an.“
„Nun. Ev lebt schließlich schon zwölf Jahre in Hamburg. Damals, sie war gerade achtzehn, gelang ihr über die Elbe die Flucht nach dem Westen. Schwimmend, bei Nacht und Novembernebel. Das müssen Sie sich mal vorstellen.“
„Ich kann es mir vorstellen.“
„Es ist ein Unterschied, wissen Sie, ob man von hundert Fluchten in den Zeitungen liest oder eine selbst erlebt hat.“
„Standen Sie mit der Kerze am anderen Ufer?“ Da ich an Kämpfs Gesicht sah, wie ihn mein Zynismus verblüffte, setzte ich hinzu: „Wie lange, wollte ich Sie eigentlich damit fragen, kennen Sie denn Ihre Frau?“
„Zwei Jahre“, sagte er hastig und hatte sich von meiner Unverschämtheit noch nicht ganz erholt. „Voriges Jahr haben wir dann ... Sie, Herr Bondel, sind etwa in meinem Alter, nicht wahr? ... Sehen Sie, das Problem besteht doch nicht darin, dass wir uns fünfzehn oder zwanzig Jahre jüngere Frauen suchen.“
„Wieso: wir? Woher wollen Sie wissen, dass meine Lebensgefährtin fünfzehn Jahre jünger ist als ich?“ Seines kicherigen Untertons satt, hackte ich dazwischen. „Doch Sie haben recht. Beate war fünfzehn Jahre jünger. Sie ging - warten Sie mal - vor exakt vier Monaten und zehn Tagen nach dem Westen. Mit unserem kleinen Sohn. Und einem Westmann natürlich. Einem Arzt.“
Wieder fächelten seine Hände. „Ich bin bloß Tierarzt, Herr Bondel. Und ich wollte Ihnen garantiert nicht zu nahe treten.“
Im gleichen Moment, als ich ausgeredet hatte, bedauerte ich mein Mitteilungsbedürfnis. Der Stau war einfach zu groß gewesen. Da fuhr ich nun wegen meiner privaten Misere nach Afrika. Hatte auf Abschalten, Abwechslung und nette Bekanntschaften gehofft in diesem noblen Klub unter Palmen. Wie es der Reisekatalog bildreich versprach. (Singles müssen sich nicht einsam fühlen. Unsere Animateure kümmern sich um sie.) Hockte eine Woche lang genervt von Pärchen und Kindern - besonders von Kindern, die mich alle an meinen Vierjährigen erinnerten! - im heißen Sand. War mit keinem vernünftigen Menschen ins Gespräch gekommen. Nahm nach acht Tagen Touristensnobismus dankbar den Vorschlag Richters zu einem Dreitageausflug ins Landesinnere an. Was aber kam mir am ersten Morgen unserer Ankunft entgegen?
Ein Bezichtigungsschreiben. Und ein Verhör.
„Hören Sie.“ Kämpf berührte mit dem Finger, der den Siegelring trug, eins meiner Knie. „Sie geben doch nicht etwa der deutschen Einheit die Schuld, dass Ihre Freundin Sie verließ? Es ist ein grober Fehler, wissen Sie, alles immer mit der politischen Brille ...“