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Die Astrologin hielt Goyatz noch einmal zurück. „Moment mal, ich muss Ihnen noch etwas sehr Wichtiges sagen ... Widder-Menschen sind wegen ihrer Ungeduld und Impulsivität eigentlich immer anfällig für Unfälle aller Art ... Schließlich noch, und das ist nicht gut, Uranus im Widder: Sie bringen oft Ihr Leben und das Ihrer Familie in Gefahr, vor allem dann, wenn Sie Auto fahren ...“ „Gott, nein...“ Goyatz war zusammengezuckt. Ricarda hatte die Hände vor die Augen gepresst. „Ich sehe in einigen Tagen Schreckliches mit Ihrem Auto passieren. Sie sitzen am Steuer, und da ...! Lassen Sie es in der Garage, treten Sie auf keinen Fall eine geplante Reise an!“ Eigentlich ist Günther Goyatz ein stahlharter Bauunternehmer, doch bei seinen anstehenden Investitionen verlässt er sich nicht nur auf objektive Finanzdaten, sondern er geht auch zu einer Astrologin, um sich beraten zu lassen. Die warnt ihn vor einer drohenden Katastrophe. Doch die Familie will die Geburtstagsfeier des berühmten Onkels in der DDR nicht versäumen. Also fährt man auch hin. Alles verläuft höchst harmonisch. Doch dann bricht das Unheil über sie herein ... Dieser Roman war ein Ereignis: Es war der erste deutsch-deutsche Kriminalroman und erschien 1989 bei Rowohlt und im Mitteldeutschen Verlag in Halle. Der BRD-Autor -ky und der DDR-Autor Steffen Mohr haben sich einen spannenden Kriminalfall ausgedacht, in den Westberliner und DDR-Bürger verwickelt sind, -ky schildert die Seite der Berliner, Mohr die Ermittlungsarbeit in der DDR. Anschaulicher kann man die Gegensätze in der damaligen deutschen Wirklichkeit nicht geboten bekommen.
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Seitenzahl: 318
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-ky (BRD), Steffen Mohr (DDR)
Schau nicht hin, schau nicht her
ISBN 978-3-95655-386-8 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 1989 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg und im Mitteldeutschen Verlag Halle.
Aus Furcht vor Verleumdungsanzeigen und Gespenstererscheinungen versichern die Autoren, dass jede Namensgleichheit mit lebenden und toten Personen unbeabsichtigt ist und auf reinem Zufall beruht.
© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins
William Shakespeare
Die Astrologin hielt Goyatz noch einmal zurück.
„Moment mal, ich muss Ihnen noch etwas sehr Wichtiges sagen ... Widder-Menschen sind wegen ihrer Ungeduld und Impulsivität eigentlich immer anfällig für Unfälle aller Art ... Schließlich noch, und das ist nicht gut, Uranus im Widder: Sie bringen oft Ihr Leben und das Ihrer Familie in Gefahr, vor allem dann, wenn Sie Auto fahren ...“
„Gott, nein...“ Goyatz war zusammengezuckt.
Ricarda hatte die Hände vor die Augen gepresst. „Ich sehe in einigen Tagen Schreckliches mit Ihrem Auto passieren. Sie sitzen am Steuer, und da ...! Lassen Sie es in der Garage, treten Sie auf keinen Fall eine geplante Reise an!“
Eigentlich ist Günther Goyatz ein stahlharter Bauunternehmer, doch bei seinen anstehenden Investitionen verlässt er sich nicht nur auf objektive Finanzdaten, sondern er geht auch zu einer Astrologin, um sich beraten zu lassen. Die warnt ihn vor einer drohenden Katastrophe. Doch die Familie will die Geburtstagsfeier des berühmten Onkels in der DDR nicht versäumen. Also fährt man auch hin. Alles verläuft höchst harmonisch. Doch dann bricht das Unheil über sie herein ...
Dieser Roman war ein Ereignis: Es war der erste deutsch-deutsche Kriminalroman und erschien 1989 bei Rowohlt und im Mitteldeutschen Verlag in Halle. Der BRD-Autor -ky und der DDR-Autor Steffen Mohr haben sich einen spannenden Kriminalfall ausgedacht, in den Westberliner und DDR-Bürger verwickelt sind, -ky schildert die Seite der Berliner, Mohr die Ermittlungsarbeit in der DDR. Anschaulicher kann man die Gegensätze in der deutschen Wirklichkeit nicht geboten bekommen.
Bürger der Bundesrepublik Deutschland
Günther Goyatz: baut nie auf Sand
Inge Goyatz: verliert ihr Herz an Marika Rökk
Julian Goyatz: schaut nur geradeaus und erblickt dennoch Gespenster
Nina Goyatz; mag Fontane und Nico
Nico: geht mehrmals unter
Bürger der Deutschen Demokratischen Republik
Arnold Roddahn: erfindet und wird unauffindbar
Hauptmann Klaus Merks: stößt auf vieles, was ihm nicht in die Hände fällt
Anett Bartuck: fährt Rad und wird hin- und hergerissen
Lisa: liebt ihren Papa und die Volkspolizei
Ulla: ist ein delikates Mädchen
Raskolnikoff: taucht unerwartet auf
Paul Zeiske: sperrt Schriftsteller ein und jagt einen Verdächtigen
Friedhelm: weiß mehr, als er der Volkspolizei verrät
Der Supermarkt brannte wie von einer Bombe getroffen, und die Vermummten hatten sich zum Kriegstanz an den Händen gefasst, voller Alk im Voodoo-Rausch, schrien ihre Wahnsinnslust hinauf zum Maienhimmel über Berlin: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt! Spraydosen, metallisch-kalt und geil wie Handgranaten, flogen in die Flammen, explodierten unter Höllenlärm. Das ging ab, ächt-äih, da steppte der Bär. Bürger, hört die Signale! Wie ein zerplatzender Feuerwerkskörper auch schossen die Plünderer mit ihren Einkaufswagen davon, brachten kistenweise Bier und Sekt und Wein in Sicherheit, um zu Hause, vor allem aber auf den umliegenden Straßen und Plätzen ihren großen Sieg über die verhasste Ordnung der anderen gebührend zu feiern.
Gegenüber mühten sich Julian und Floppy, die schwere Kuppelstange eines Bauwagens, Firma Günther Goyatz Berlin, in den Schacht eines Unimogs zu schieben, in dem sie wie in einem Schützenpanzerwagen, um zu retten, was zu retten war, bis hierher vorgestoßen waren, nach Kreuzberg-Mitte: Görlitzer Bahnhof/Skalitzer Straße. Der Eine Sohn des Unternehmers („Vor diesem Mob kapituliere ich nicht!“), der Andere der Mutigste ihrer firmeneigenen Fahrer, auch von einer ansehnlichen Prämie gelockt.
„Warum geht denn die Scheiße hier nicht rein in diesen Hundearsch!“ Immer wieder rutschte Floppy mit der Kuppelstange an der eisernen Öffnung vorbei, die sich ihnen unbeweglich-starr entgegenstreckte, und seine Assoziation war klar, seine fiebrige Erregung ebenfalls, denn sie hatten nur Sekunden Zeit. Aus der Oranienstraße stürmte eine Fighterschar heran, Desperados, schmal die Schlitze in ihren Wollmützenvisieren, steckten alles in Brand, was an den Straßenrändern parkte, waren ganz besonders wild auf Bau- und Lieferwagen. Wo wir sind, da ist das Chaos!
Feuerwehren rasten heran, und die Männer gaben ihr Bestes, das Inferno mit Martinshörnern, Blaulichtgarben und Kommandosalven weiter anzureichern, wurden höhnend empfangen mit einem Hagel schnell herausgeklaubter Pflastersteine, schafften es aber dennoch in Windeseile, passende Hydranten zu finden und die Deckel hochzureißen. Wasser, marsch! Doch kaum hatten die Spritzen ihre ersten Sprühstöße ins Feuer gejagt, waren die Schläuche auch schon von einer Motorsäge zerschnitten.
Floppy sprang ins Führerhaus zurück, um den Unimog eine Handbreit nach vorne zu fahren, dann wieder zurückzustoßen und Julian die Chance zu geben, die Kupplungsstange so geschickt zu halten, dass es endlich klappte.
Aus ihren Wohnungen flüchteten sie, Mütter mit ihren Kindern und ältere Leute, hatten nur ihr Geld und die wichtigsten Papiere gegriffen. Türgitter polterten herunter; Geschäftsinhaber, Kneipenwirte und alle Erdgeschossmieter, die grad zu Hause waren, verschanzten sich, so gut es ging. Am Hochbahnhof brannte wie ein Freudenfeuer schon der Zeitungsstand, und auf einem von der Wand gefetzten Zigarettenautomaten trampelten Fallschirmspringerstiefel herum, den Geldschacht zu knacken. Gerade stürmte ein Chaoten-Kommando auf den Bahnsteig hinauf, riss die verhassten Fahrscheinentwerter vom Sockel und ließ sie auf die Gleise fallen. U-Bahn-Züge, Linie 1, hielten ratlos auf der Strecke.
Die Polizeibeamten ließen sich Zeit, rückten hinter ihren vergitterten Einsatzfahrzeugen nur langsam heran, die Plastikschilde hochgerissen gegen die Steine, setzten auf ihre Tränengasschwaden. Ihrem Einsatzleiter hatte ein Geschoss die ungeschützte Wade aufgerissen.
„Los, rein und ab!“
Julian und Floppy hatten es endlich geschafft, schwangen sich ins Führerhaus des Unimogs, der Profi ans Steuer, ein Macho, Quarterback der Berlin Rambos, weizenblondes Bürstenhaar und immer gnadenlos, hatte das Steuer umklammert. Wie seinen Joystick in der Spielhalle, als sie ihn geholt hatten. Krieg der Sterne, fertig zum Feuern. Schieß sie ab, die Schweine!
Schwarze Fighter liefen auf sie zu, einige mit Flaschen in der Hand, grünes Glas, Bocksbeutel, statt Weißwein allerdings Benzin. Zwei Einschläge am gelben Bauwagen hinten.
In die Taschen gefasst, Streichhölzer her, ein Feuerzeug!
„Gas geben, Floppy, Gas!“
Da springt einer der Vermummten vor den Unimog, streckt beide Hände nach oben, befehlend und bittend zugleich, halb Jesus und halb Guerilla-General, lässt die offenen Handflächen wie Signalscheiben kreisen: Halt!
Und Floppy nimmt den Fuß vom Gaspedal.
Hinter ihnen zischt es so, als würde man zugleich hunderttausend Streichholzschachteln entzünden.
Ihr Bauwagen.
Sie springen hinaus und ergreifen die Flucht, sehen, als sie sich noch einmal umdrehen, auch den Unimog nur noch als qualmende Fackel.
So etwas lässt sich nicht verdrängen, und Julian hatte das Bild wieder deutlich vor Augen, als sie ein gutes Jahr später, sein Vater und er, von Norden her durch den Tiergarten kamen, die Entlastungsstraße entlang, Brandenburger Tor und Siegessäule als Orientierungspunkte links und rechts, wie immer, preußisch-deutsche Glorie, dann, als tägliche Anschauung dafür, wie alles verspielt worden war, das Ehrenmal der siegreichen Roten Armee und, ein Stückchen tiergarteneinwärts, die austernähnliche Kongresshalle, US-Amerikas Symbol für die kulturelle Oberhoheit hier und heute. Was nun aber die gemeinte Assoziation eigentlich auslöste, war etwas anderes, folgte gleich am Kemperplatz, dem goldgelben Betonzelt der Philharmonie blickweit gegenüber: das Lenné-Dreieck, ein Zipfel DDR-Gebiet, Hauptstadt Berlin, zum 1. Juli dem Westen verkauft, aber vorher von Autonomen besetzt; Landnahme für eine eigene Kommune, eine innerstädtische Insel mit antibürgerlichen Werten und Normen, wie auch zur Rettung ökogrüner Natur vor Straßenbauern, Unternehmern, CDU. Die Westberliner Polizeisoldaten durften noch nicht zur Räumaktion blasen, selbstverständlich nicht die hochheilige DDR-Staatsgrenze verletzen, und die bittend konsultierten Amis, Briten und Franzosen waren so bekloppt nicht, diesen Job zu übernehmen.
„Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent sind da die Leute bei, die unsern Bauwagen angesteckt haben“, sagte Julian. „Und den Unimog ...“
Goyatz nickte. „Früher hätte man ’n KZ für so was gehabt.“
„Sag das bloß nicht zu laut, sonst ist es aus mit den Senatsaufträgen!“, warnte ihn sein Sohn. „Und ich kann mich auf keiner Liste mehr aufstellen lassen.“
„Aber denken wird man’s ja noch können. Das ist doch alles Abschaum hier!“ Goyatz ließ den Motor aufheulen.
„Hör auf!“ Julian, in seiner Psyche auf nichts weiter zentriert als auf eine steil nach oben führende politische Karriere, fürchtete das Stammtischdenken seines Vaters, wusste, dass es auch ihn belastete, wenn der Alte öffentlich für die Wiedereinführung der Todesstrafe plädierte („Rübe ab!“) oder für Ausländer, Aussiedler und Asylanten KZ-ähnliche Lager empfahl. Mochte er damit auch noch so vielen Bundesdeutschen richtig aus dem Herzen sprechen, die Meinungsmacher der gehobenen Stände aber ahndeten das durchweg mit gelben und mit roten Karten, und Julians politische Ziehväter waren viel zu klug und nicht dafür zu haben, selbst wenn sie ihre CDU immer wieder dazu anhielten, auch die braunen Wasser ganz am rechten Außenrand nach Wählern abzufischen. Doch er ließ andererseits auch keinen Zweifel daran, dass er immer wieder heftigste Emotionen gegen jene Kreuzberger Chaoten verspürte, deren Opfer sie geworden waren, zumal die Täter, natürlich, wie er meinte, niemals ausgemacht, eingefangen und verurteilt worden waren. Und ebenso natürlich hatte ihnen ihre Versicherung diesen Schaden noch immer nicht vollständig ersetzt, sich auf die berühmte „höhere Gewalt“ und ähnliche Formeln berufen. „Wenn ich am Steuer gesessen hätte, dann ... Aber sicher gut so, dass ich nicht ...!“
Das Zelt- und Hüttenlager am Lenné-Dreieck war von Polizisten abgeriegelt worden, die Erstürmung schien bevorzustehen, und Julian war der Meinung, dass die Besetzer schon mit der DDR verhandelt hätten, um sich notfalls in Sicherheit bringen zu können, mithilfe ihrer Leitern auf die Mauerkrone hinauf und dann ostwärts hinüber, hatte auch gelesen, dass die Autonomen selbst vom „Norbert-Kubat-Dreieck“ sprachen, damit einen der Ihren ehrten, der im letzten Jahr nach Demokrawallen verhaftet worden war; Selbstmord dann im Knast.
Militärhubschrauber der NATO knatterten über ihre Köpfe, über Mauer und Tiergarten hinweg, über das Ödland des Potsdamer Platzes und die M-Bahntrasse, Hightech idiotisch, und auf der Mauerkrone hingen Grenzposten des Warschauer Paktes, das Kampfspiel zu verfolgen, wirkten mit ihren übergestülpten Gasmasken wie außerirdische Wesen.
Die Vermummten waren mit Eifer am Werke, hoben Panzergräben aus und verschanzten sich hinter immer neuen Stacheldrahtrollen, malten Plakate: „Zerschlagt die NATO!“, „Briten raus aus Nordirland“, „Pol Pot kontra Pol. Präs.“, verhöhnten die machtlosen Bullen, während sie ihnen die leeren Tränengaskartuschen vom Vortage zurückwarfen. Zeit blieb aber auch, den Touristen bemalte Pflastersteine zu verscherbeln, Souvenirs, Souvenirs, oder sich gegen Geld mit ihnen fotografieren zu lassen.
„Das ist ja alles unerträglich!“, sagte Goyatz, während er ein gewagtes Wendemanöver vollführte, um Julian vor der Staatsbibliothek absetzen zu können, dem Pendant zu Musiksaal und Philharmonie auf der anderen Straßenseite, golden-schlossgelb so wie diese, Kulturforum alles, menschenarm, j. w. d., am Rande, fürs europäische Übermorgen gebaut, wenn es denn je eins geben sollte.
Julian dankte, wollte den Tag intensiv nutzen, um mit seiner Arbeit ein gutes Stück voranzukommen, hin zum Diplom-Politologen, Thema waren die Gestapo-Quartiere in und um Berlin.
Goyatz aber überquerte den Landwehrkanal und fuhr auf gewohnten Pfaden Richtung Kurfürstendamm, die Potsdamer, die Bülow-, die Kleist- und die Tauentzienstraße entlang, an Türken-Basar und KaDeWe vorbei, bog gleich hinter dem Westberliner Herzstück Gedächtniskirche/Wasserklops nach links in die Meinekestraße ab, wo eine gute Astrologin wohnen sollte. Tipp eines Geschäftsfreundes. Die Nummer wüsste er nicht, es befände sich aber ein Kindermodenladen im Hause, „elefant’s knot“ oder so ähnlich, und die Dame arbeite streng auf wissenschaftlicher Grundlage, wobei sie sich nicht scheue, ihren Klienten auch einmal Unangenehmes zu sagen; Ricarda hieße sie im übrigen.
Goyatz wurde empfangen, saß der Grande Dame kerzengerade gegenüber, eingeschüchtert wie ein Konfirmand im Hause des Pfarrers, gar nicht polternd-schwadronierend wie sonst auf seinen Baustellen oder im Büro. Herb sah sie aus und dominant wie eine Tennissiegerin, hatte sich die langen Haare zigeunerschwarz gefärbt, sicherlich als Mittel zum Zweck. Ihr Arbeitszimmer war abgedunkelt und erinnerte ihn mit der ochsenblutschwarzen Seidentapete an das Kabinett eines gemütskranken russischen Großfürsten im Pariser Exil, war aber mit allerlei astrologisch-astronomischen Gerätschaften bestückt, der Sybilla Troiana zum Beispiel, einem mittelalterlichen „System der Häuser“, und Sternenkarten noch und noch. Dazu roch es nach Weihrauch und anderen Kräutern, halb Kirche, halb Museumsgruft.
Leicht stockend und mit recht gepresster Stimme trug ihr Goyatz vor, was ihn bewegte. „Ich weiß nicht so recht, was ich machen soll ... Im letzten Jahr hatte ich schon mal versucht, in Kreuzberg Fuß zu fassen, und ein Mietshaus gekauft. Unten sollte ein Restaurant rein, ein etwas besseres für westdeutsche Touristen. Nach der Besichtigungstour rein zu uns und gegessen und getrunken. Sicherlich ein Riesengeschäft. Dann aber haben mir die Chaoten alles angesteckt. Jetzt gibt’s nun wieder eine Chance, groß einzusteigen da, ich weiß aber nicht so recht, ob ich ... ? Vom Verstand her kann das ja auch keiner wissen, was da kommen wird, und darum hat mir ein Geschäftsfreund empfohlen, doch mal bei Ihnen ...“
Ricarda lächelte, ebenso Professorin wie Kabbala-Kundige, alles in einem, auch Hexe und Pfarrersfrau, Therapeutin und Mutter. Sie verstand ihr Geschäft.
Sie ließ sich von Goyatz das Geburtsdatum nennen, 3. April 1934, Widder demnach, und während sie zum Erstellen des Horoskops vor ihrem Computer Platz nahm, SESAM, mit hochwertiger und anwenderfreundlicher Astrologensoftware für alle Apple-Fabrikate, wie er den herumliegenden Prospekten entnahm, hörte er von einer Kassette die passende Musik.
„Hans-Joachim Behrendt ist das“, erklärte sie ihm. „Einmalig, wie er da seiner 39-saitigen Sandawa diese obertönigen <Shiva-Shakti-Klänge> entlockt! Wie das Sonnen-cis mit dem gis des Mondes verschmilzt!“
Erst diese Töne versetzten sie in die Trance, die notwendig war, das Kommende zu schauen, vergleichbar den Dämpfen, die der delphischen Pythia zu ihren Prophetien verholfen hätten.
Ja, er könne es in Kreuzberg ruhig ein zweites Mal versuchen, riet sie ihm schließlich, als sie mit Computerhilfe alle Faktoren auf die Reihe gebracht, kunstgerecht verknüpft hatte: das Tierkreiszeichen, die Position der Planeten zur Zeit seiner Geburt (18 Uhr 30 etwa), die günstigen und ungünstigen Positionen der Planeten zueinander (adversativ oder günstig) und den Aszendenten. Ein Widder sei ja schon generell als Persönlichkeit der geborene Führer, habe Mut und Energie. Nur sehe sie in der Zukunft die Gefahr bei ihm, dass er das große Projekt nach Idee und Planung in der Ausführungsphase zu leicht seinen Helfern überließe. „Also: Ja, Sie können es wagen, doch der Erfolg wird nur kommen, wenn Sie alles selber in der Hand behalten.“
Er bedankte sich und fragte, auf welches Konto er ihr Honorar denn überweisen dürfe, wollte schon aufstehen, doch sie hielt ihn mit einem düsteren „Moment noch mal ...!“ wieder zurück.
„Ich muss Ihnen noch etwas sehr Wichtiges sagen ... Widdermenschen sind wegen ihrer Ungeduld und Impulsivität eigentlich immer anfällig für Unfälle aller Art, und früher oder später erleiden sie schwere Kopf- und Gesichtsverletzungen. Dazu sehe ich hier ...“ Sie blickte sehr konzentriert auf ihren grünlich flimmernden Schirm, „... sehe ich hier einiges, was mir gar nicht gefällt. Ihr Geburtsdatum verheißt da einiges, das uns ... Venus im Wassermann: Sie sind ein bevorzugtes Opfer des Schicksals, Ihnen passieren aus heiterem Himmel die seltsamsten Sachen ... Oder nehmen wir den Mars im Widder: Sie sind anfällig für Verletzungen durch irgendwelche Unfälle ... Schließlich noch, und das ist gar nicht gut, der Uranus im Zeichen Widder: Sie bringen oft Ihr Leben und das Ihrer Familie in Gefahr, vor allem dann, wenn Sie Auto fahren ...“
„Gott, nein ...“ Goyatz war zusammengezuckt.
Ricarda hatte die Hände vor die Augen gepresst. „Ich sehe in einigen Tagen Schreckliches mit Ihrem Auto passieren. Sie sitzen am Steuer, und da ...! Lassen Sie es in der Garage, treten Sie auf keinen Fall eine geplante Reise an!“
Als Goyatz das zu Hause beim Abendbrot erzählte, waren Gelächter und Proteste die Folge, denn zu sehr hatten sich alle auf den kleinen Ausflug gefreut, in die DDR, nach Ferch, südlich Berlins am Schwielowsee gelegen, ganz in Potsdams Nähe, wo ihr berühmter Onkel Arnie, Arnold Roddahn, auf seiner Datsche saß und alle Freunde und Verwandten aus Ost und West zur großen Fete eingeladen hatte, da er am Sonntag 75 wurde.
„Keiner kann doch abstreiten, dass die Sterne unser Leben bestimmen!“, beharrte Goyatz. „Jedenfalls starken Einfluss haben. Hätte Hitler damals diesem ... diesem ...?“
„Hanussen“, half sein Sohn ihm aus.
„... ja! Hätte er den nicht umbringen lassen, wer weiß, was dann aus Deutschland ...?“
Seine Tochter, und sie durfte das als einzige, tippte sich gegen die Stirn. „Der einzige Stern, der Einfluss auf dein Leben haben kann, ist der aus Hamburg, der zu drei fünfzig ...!“
„Wieso ...?“
„Weil vorhin ’n stern-Reporter angerufen hat und was über deine Kontakte zu zwei kriminellen Baustadträten wissen wollte ...“
Nina, 19, Abiturientin, in Jeansrock und Greenpeace-Shirt, frankophil, schlürfte genussvoll ihren Cidre, dachte an die Ferien in der Normandie, nahm das Ganze als kleinen Joke.
Julian, an sich immer auf Seiten seines Vaters, war um eine Kommentierung bemüht, die wissenschaftlich klang. „Natürlich hat jede Voraussage eines Astrologen Folgen für seinen Klienten, weil sie selbstverständlich dessen Verhalten verändern wird. Sagt mir einer voraus, dass ich meine Diplomarbeit verhauen werde, dann bekomme ich wahrscheinlich viel eher eine schlechte Note als ohne diese Voraussage, denn nun werde ich natürlich vor Angst schlecht schlafen können und immer weniger kapieren, und meine Gedanken werden immer wirrer werden. Self-fulfilling prophecy nennt man das ...“ Angetan von seiner Formulierungskunst, legte er seine Gabel beiseite und lehnte sich zurück.
Inge Goyatz zögerte mit ihrer Stellungnahme, musterte sich im Spiegel ihrer antiken Anrichte, freute sich über ihre Ähnlichkeit mit Sue Ellen, Dallas, J. R.’s Frau, fand sich attraktiver, war auch hin- und hergerissen bei der Frage, inwieweit denn Horoskope ernst zu nehmen seien. Vom Gefühl her: ja. Ihre Eltern, Betreiber eines Tante-Emma-Ladens, hatten sehr daran geglaubt, und ihre Freundinnen taten es durchweg mit ganzem Herzen, ebenso wie auch die Kolleginnen im Krankenhaus früher, die anderen Schwestern. Vom Verstand her: nein. Sie sponsorte eine kleine Galerie, Leibniz-, Ecke Mommsenstraße, und sie hatte eine Art Salon gegründet, Treffpunkt junger Literaten und Filmer, und von denen wusste sie, dass sie immer fürchterlich höhnten, wenn einer von seinem Horoskop zu reden begann. Es war unklug, den Herrn Diktator Ehemann zu reizen; andererseits aber hätte sie ihren überall gerühmten Onkel gerne aufgesucht, war doch damit bei jeder Party Eindruck zu machen.
„Deine Vorsicht ist natürlich richtig, Günther“, sagte sie schließlich. „Wenn mir das einer prophezeit hätte, dann würde ich auch nicht anders reagieren. Aber du brauchst ja gar nicht selber Auto zu fahren; Julian macht das. Dann kann doch nichts passieren! Komm, wer bist du denn, dass du dich von so was einschüchtern lässt!“
Goyatz war sauer, war kurz vor dem Lostoben. Da lebten sie alle drei in Saus und Braus - von seinem Geld, und als Dank dafür hatte er sich nun von ihnen dumm und dämlich kommen zu lassen. Wären sie seine Angestellten gewesen, hätte er sie schon gefeuert. Er sehnte sich in seine Chefetage zurück.
„Die Ricarda hat sich da noch nie geirrt“, beharrte er. „Und dann noch in die DDR, wo ...“
„Wie stehen wir denn da, wenn wir ohne dich in Ferch antanzen?“, rief seine Frau. „Wir fahren - und zwar alle!“
„Wir fahren nicht!“
Das Kind, ein vierjähriger Plagegeist, zappelte im Fahrkorb wie aufgedreht. Große braune Augen, die es von der Mutter hatte, füllten sich urplötzlich mit Tränen. Gleich darauf lachte es aus vollem Hals und patschte nach einem Zweig mit grünen Äpfeln oder der Mutter ins lange, seidige Haar.
Anett Bartuck hatte Mühe, den Lenker gerade zu halten. Mit einem Ruck warf sie die kastanienbraunen Strähnen, die bis auf den Gürtel herabfielen, zur Seite. „Ich hätte Lisa“, rief sie der Radfahrerin hinter sich zu, „doch über Mittag schlafen legen sollen!“
Mit ihrer Körperfülle hatte es Ulla Kernhof offenbar schwerer, gegen den Wind und mehr noch gegen die Hitze dieses dritten Juli anzukommen. Dicht an den beiden reiferen Mädchen brauste der Sonntagsverkehr zwischen Potsdam und Werder vorbei, Wartburgs und Ladas, Opel, Mercedes und BMW. Und immer wieder die kleinen ehrgeizigen Trabant, deren einziges, offenbar unter den Fahrern geheim abgesprochenes Ziel darin bestand, allen Westberliner Wagen zu zeigen, dass der Trabbi zu jeder Zeit auf eine Überholgeschwindigkeit von hundert und mehr beschleunigen konnte. Ulla schwitzte.
„Wenn du das Kind hingelegt hättst“, rief sie keuchend nach vorn, „wären wir noch später los. Aber im Seeblick gibt’s bloß bis zwei Uhr Mittag!“ Pustete hoch in ihr drahtig gelocktes Blondhaar, obwohl es da nichts hochzupusten gab bei dem kurz geschnittenen Bubikopf.
„Wie spät ist es eigentlich?“
Die zierliche Uhr wirkte auf Ullas Handgelenk wie der Marienkäfer auf einem Rhabarberstängel. „Dreiviertel!“, rief sie.
Da vorn musste man abbiegen von der Landstraße erster Ordnung, links über die Straße, an der Holländermühle vorbei, Fernfahrerstampe mit großspurigem Namen aus der Vorkriegszeit. Unsicher blickte Anett sich immer wieder um, fuhr im Rücktritt. Ulla schwenkte heftig den Arm mit der kleinen roten Uhr. - Denkste! Da hielt keins der vollgepfropften Familienetuis. Ost jagte West, und West jagte Ost, und auf den Rücksitzen zitterten ängstliche Mumien um ihr bisschen Leben.
Die Freundinnen stiegen ab, warteten mit zur Straße weisenden Vorderrädern. Klein-Lisa maulte: „Warum sind’n wir nicht mit’n Autos, Mami? Mit Papi seinem oder mit’m Trabbi von Ulla?“
„Aber Kind. Du warst doch selber dabei heute beim Frühstück, als der Anruf für Papa kam. Papa arbeitet nun mal als Kriminalhauptmann; und ein Kriminalhauptmann muss sofort aufspringen und rein in sein Auto und los, wenn jemand Hilfe braucht. Selbst nachts, selbst am Feiertag, Lisa.“
„Und warum sind’n wir nicht mit Ullas Auto?“
Anett freute sich über die Beharrlichkeit des Kindes. „Weil wir die neuen Fahrräder schon lange einweihen wollten, Ulla und ich, und weil es jedem Automenschen guttut, mal in die Pedalen zu treten.“ Straffte stolz ihre hübsche Figur und lächelte Ulla an.
Doch die fühlte sich, das hatte Anett nicht bedacht, durch diese vermeintliche Anspielung auf ihre Formen angegriffen. Drehte das Kugelgesicht beleidigt weg und gleich wieder Anett voll zu. Brummte in ihrer tiefen Stimmlage: „Tu doch nicht so, als ob dir die Arbeitszeit von Klaus schmeckt. Jedenfalls könnte dein Mann, auch wenn ihr nicht verheiratet seid, zu seinen Vorgesetzten Genossen auch mal kräftig nein sagen. Aber der ist doch so versessen auf seine Leichenfunde, dass ...“
Da lachte Anett. Lachte plötzlich und laut und lange, bis Lisa mitkreischte, und die wusste sicherlich nicht, worüber und warum. „Herzchen!“, perlte es unter Lachstößen aus Anetts ein wenig zu scharf geschnittenem Mund. Die großen braunen Augen blinkten Schadenfreude. „Herzchen - du! Kann ich vielleicht was dafür, dass du noch keinen gefunden hast? Oder dass keiner dich will?“
„Das ist die Höhe, Anett. Nein, so etwas darfst du mir als deiner besten Freundin nicht ...“ Zwei dicke Tränen schossen in Ullas Augen.
„Ich habe es ja auch nicht so gemeint“, schlug Anett einen milderen Ton an. „Ist vielleicht doch der falsche Job für dich, der im Lebensmittel-Delikat. Willst du nicht zu mir in die Buchhandlung kommen? Wir suchen gerade eine Verkaufskraft.“
Mühsam beherrscht gurrte Ulla: „Lieber verkaufe ich was Sinnvolles wie meine Döbelner Salami als deinen blöden Karl Marx und den noch blöderen Karl May.“ Doch dann war es aus. Die Tränen, bisher nur mühsam aufgehalten, perlten herab, und den ersten rollten weitere nach.
Der Tränenschleier verhinderte, dass Ulla nicht gleich die Lücke sah, die eben zwischen einem grünen Skoda L 105 und einem Opelkadett mit Hamburger Kennzeichen entstanden war. Rasch stieg Anett auf, zischte über die Landstraße und ließ die Freundin stehen. Der Modderweg, den sie nun, Kind vorm Bug, aufwärts nahm, jetzt trocken und rissig, bot dem neuen MIFA-Tourenrad wahre Bewährungschancen. Vorbei ging es an Ausläufern der Plantagen des VEB Havelobst, am Interjugendhotel, dann in eine Senke hinein und vorüber am Schriftstellerheim „Theodor Fontane“ links und Gewächshäusern rechter Hand, voll von rotem ungarischem Paprika - die breiten Folietüren standen offen -, hochan erneut auf die Schinkelkirche zu und, am Wegweiser ZUM PIONIERLAGER hinein in den Wald. Seeduft, glaubte Anett, zog ihr bereits in die Nase.
„Warum heißt’n Papa nicht Bartuck wie wir? Warum heißt’n der Merks?“
Anett antwortete der Tochter nicht, studierte scheinbar angestrengt die gelbe Entfernungstafel. Ferch, drei Kilometer, las sie da.
„Warum?!!“, brüllte das Kind, „heißt der Papa Klaus Merks?“
In diesem Moment öffnete sich der Schwielowsee, still und breit und ruhig, den Blicken der Radfahrerin. Hinten, nach einer weichen Uferbiege, erkannte man schon die großzügig angelegte Terrasse des Seeblick, „Worauf hat denn mein Kindchen Appetit?“, fragte Anett, nun zwischen wandernden Fußgängern das Rad hindurchlavierend. „Na, was will denn mein Lieschen essen und trinken?“
„Warum“, setzte der Quälgeist zum dritten Mal an, „heißt unser Papa ...“
Anett sah sich um. Etwa zweihundert Meter hinter ihr strampelte Ulla heran.
13.01 Uhr. Vor der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei fuhr mit quietschenden Bremsen ein sandbrauner Lada vor, ziemlich neu, doch schon sichtlich geschunden. Manchmal steuerte ihn Anett, meist jedoch, und so auch heute, Klaus Merks persönlich. Der seit einer Woche amtierende Leiter der Morduntersuchungskommission stieg aus dem treuen Gefährt. Griff eine alte Tasche vom Beifahrersitz, braunledernes Mittelding zwischen Hebammenkoffer und Werkzeugkasten. Knallte dann die Tür mit solcher Kraft, dass die Erdgeschossfenster hinter den schwarzen Stahlrollos zitterten.
Mit einem Sprung nahm der eins siebenundachtzig große Hauptmann die vier Stufen zum Portal, drückte den Summer und wartete. Vorsichtig, als steckten rohe Eier darin, hatte er die alte Tasche neben sich auf den Boden gestellt.
Die Sonntagsspaziergänger auf der anderen Straßenseite sahen in dem athletisch gebauten Mann mit der kurzen blonden Haarbürste sicher nicht mehr als einen leistungsorientierten Anzugsdeutschen - im hellen Sommeranzug übrigens, mit der unerlässlichen Bügelfalte. Ein paar krasse Widersprüche zu diesem kernigen Erscheinungsbild fielen erst aus der Nähe auf: kein Schlips nämlich und hellblaue Lackschuhe, denen es gutgetan hätte, wenigstens einmal wöchentlich geputzt zu werden. Vor allem aber verblüffte an dem groß gewachsenen Bürstenträger, dass sein Gesicht eine seltsam fiebrige, immer in Bewegung gehaltene Sensibilität auszeichnete. Die großen, derben - manche Frau hätte vielleicht liebevoll gedacht oder gefühlt: herrlich brutalen - Lippen wirkten eben nicht nur männlich, sondern auch nachdenklich. Das Verblüffendste war die für den mittleren Riesen Merks unerhört kleinformatige Brille im goldenen Gestell. Spätestens beim Anblick dieses eher auf einen musischen Spinner hindeutenden Sehgestells hätten die Leute ihre Assoziation an die Muskelprotze mit dem lustig-leeren Blick vergessen, an ihre Ampler und Schur und Weißflog und Thom. Sportler des Jahres besaßen bestenfalls den Körper, nicht aber das Gesicht von Merks.
Aber die Spaziergänger wechselten weder Straßenseite noch gemächlichen Gang. Wie in preußischen Garnisonszeiten sah man zum Polizeigebäude nur mit geduckter Neugier hinüber. Das steckte nun mal im Deutschen tief drin.
Heiß war es. Kein Pförtner kam oder drückte wenigstens von innen die Sprechanlage. Dabei lief gegen das, was Merks in der alten Tasche mitführte, die Zeit. Auch privat lief sie gegen das, was er eigentlich vorhatte, falls er hier im Bezirksgebäude den Tötungsvorgang rasch abschließen konnte: ihr nämlich nachfahren und dem über alles geliebten kleinen Mädchen, das vier Jahre alt war - in den Seeblick, wo es bloß bis um zwei Mittagstisch gab.
Sicherheit über alles. Natürlich war Klaus Merks dafür. Aber offenbar hatten die Genossen da drin den Wachhabenden zu einem Kaffeekränzchen oder zur Besichtigung der daktyloskospischen Apparaturen eingeladen. So ging das nicht! Er wollte am Montag, in der Leitungssitzung - doch gehörte er nicht erst eine Woche zum Leitungskollektiv? Sollte man nicht erst durch fachliche Qualitäten überzeugen? Oh, die Genossen würden am Montag staunen, besonders der Alte (den alle den Alten nannten, was übrigens einen Dreck zu tun hatte mit einem Serienkrimi des Westfernsehens). Cheiloskopie hieß das Zauberwort. Chei-lo-sko-pie.
Die Luft flirrte. Über dem blauen Straßenpflaster tanzten filigrane Schwaden, spiegelten noch einmal die Struktur der Gehsteigplatten, unfassbar dünne Fata Morganen der Großstadtwüste. Entnervt vom ständigen Auf-den-Summer-Starren drehte sich Merks um. Konzentrierte den Blick jedoch nicht auf die Schaufenster und die daran vorbei wandelnden Familien, sondern mehr hinter die Goldrandbrille.
Sonntagmorgen, Frühstück mit Anett. Die Genossen drängten ihn, das Mädel zu heiraten, und natürlich gefiel sie ihm, in den fünf Jahren ihrer Bekanntschaft und auch durch Lisas Dasein immer besser. Aber er war ein gebranntes Kind, schon mal solide verheiratet. Damals Fregattenkapitän bei der Marine. Plötzlich der aufgeblasene Mantel- und Degenfechter vom Staatlichen Dorftheater, mit dem die Seine schlief. Scheidung. Irritationen im Dienst - doch darf ein Kapitän und schon gar ein Fregattenkapitän keine irritierende Persönlichkeit sein. Gerade noch den Absprung geschafft, Umschulung - zur Kriminalpolizei. Papa, dem berühmten Hauptmann Gustav Merks, war dabei viel zu verdanken. Kotzte ihn manchmal an.
Flirrende Pflastersteine. Kaum ein Wölkchen im Himmelsblau.
Also heute Morgen Frühstück mit Anett. Sie wohnten getrennt, aber nur fünf Minuten Fußweg voneinander entfernt. Der Schlaatz nannte Potsdamer Volksmund das Neubaugebiet. Mit Lisa im Gespräch über das Problem, ob nun die Henne das Ei legt oder der Hase. Anett im Morgenmantel, nichts drunter. Seine Finger unter dem Tisch auf Spaziergang an Anetts Schenkeln, dabei beim Kind den Versuch gestartet, ihr den Osterhasen auszureden. Schließlich war Lisa schon vier. Mittendrin der Anruf.
Am Ereignisort, Villa in Babelsberg, lag ein Fast-Opa, sichtlich unter Schmerzen verstorben, im feudalen Sessel gekrümmt. Wie achtzig wirkte der, zählte in Wahrheit aber erst fünfundfünfzig. Name Peter Liersch, Holzbildhauer und Nationalpreisträger dritter Klasse. Ein Fakt, den die um den Sessel herum tänzelnde Gattin ständig betonte. Obwohl sie die 110 alarmiert hatte, behinderte Ulrike Liersch nun mit ihren an alte indianische Totenklagen erinnernden Ausbrüchen die Arbeit der Techniker. Mit ihrer Gesichtsbemalung hätte sie auch gut zu den Frauen der Fachgruppe Indianistik beim Kulturbund der DDR gepasst.
Vor der Leiche auf einem durch drei Glasbeine gehaltenen Klubtisch, in denen kleine bunte Fische herumschwammen, zwei Rotweingläser, halb gefüllt. Es bereitete den Technikern keine Mühe, im Glas, das vor dem Toten stand, einen weißen Bodensatz festzustellen. Eine Packung „Obsidan“ - Blutdrucktabletten, die in hoher Dosis tödlich wirkten - lag leer im Kücheneimer obenauf. Die Liersch bezichtigte die „Förderschülerin“ (- Was war das bloß?) ihres berühmten Gatten, die sie schon lange als dessen Geliebte in Verdacht habe. Sie selbst sei in Berlin auf Lehrgang gewesen, künstlerisches Volksschaffen, Fachrichtung Holzschnitt, in der Nacht heimgekehrt, vorzeitig, unerwartet für ihn - und dann habe sie das vorgefunden! Mord! Die Täterin hieße übrigens Katrin Bühlig, Verkäuferin im Laden der PGH des Kunsthandwerks.
Zerwühltes französisches Bett nebenan, männliche und wahrscheinlich auch weibliche Geschlechtssekrete. Die Techniker nahmen Proben. Der Fotograf stellte seine Schildchen und knipste.
Klaus Merks waren zwei Dinge kurios erschienen. Erstens, dass die Ehefrau nicht einen Arzt, sondern gleich die Polizei verständigte. Zweitens, dass die „Obsidan“-Verpackung sozusagen greifbar nahe lag. Fragte die aufgelöste Gattin jedoch nicht nach solchen technischen Äußerlichkeiten.
Schonend erkundigte er sich bloß nach den Motiven der Bühlig. Die Liersch gab eine geplante Testamentsänderung an, zuungunsten der Schülerin des Holzmodelleurs. Konnte jedoch keinen Schriftbeweis erbringen.
Heulen und Tanzen und Fotoklick auf gestellte Schildchen, und dann nahm Merks die beiden Techniker zur Seite. In der Küche, wo sie eben mithilfe des bekannten Pulvers dem aus dem Eimer gezogenen Tablettenpaket Fingerspuren abgewinnen wollten, empfahl er den Jungs die cheiloskopische Methode.
Ziemlich neu für uns, meinten sie.
Sichern der Lippenspuren an den Weingläsern also, ebenso Abnahme eines Lippenabdrucks von Frau Liersch und, aus hygienischen Gründen zuletzt, einer Lippengrafik vom toten Preisträger. Denn ihm schwante was, wie dieser Fall eigentlich zustande gekommen, wie dieser Holzschnitzer vom Leben zum Tode befördert worden war. Und bei dem, was Merks dabei schwante, bewiesen die guten alten Fingerabdrücke nichts. Hatte die Täterin doch garantiert Handschuhe getragen.
Die Techniker stürzten sich mit Begeisterung auf die neue Ermittlungsmethode, gerade in der DDR bekannt geworden, irgendwo in Brasilien entdeckt, schon in Japan praktiziert, aber auch, wie man unsicher hörte, schon in der Volksrepublik Polen zur Überführung von Tatpersonen praktiziert. Stürzten sich eifrig auf cheilos, was zu gut deutsch heißt: die Lippe. Frau Liersch musste sich schon dazu bequemen, einige Augenblicke still zu sitzen und keinen Laut von sich zu geben, als ihr einer der Techniker mit dem Spurenträger über den Mund fuhr.
Dann endlich durfte sie wieder reden. - Wo die Bühlig wohne? - Sprudelte aus dem Gedächtnis die Adresse des Mädchens hervor. Gab zur Vorsicht noch ein Café in der Altstadt an, wo die Person sich herumtreibe. Wohnungsanschrift und Caféadresse überließ er den Jungs und begab sich zusammen mit dem eingetroffenen Leichentransport zur Gerichtsmedizin. Befehl für die Mannschaft: die Liersch und die Bühlig auf die Hundertelf zuführen! Dabei getrennte Vorräume! (Hundertelf hieß knapp das Vernehmungszimmer in der Bezirksbehörde.)
Mit einer Leiche im Rücken durch die Stadt zu fahren, hat besonders am Sonntag vormittag etwas Gemütliches. Man weiß zumindest genau, dass einem von hinten nicht irgendwelche dummen Fragen gestellt werden. Den sandfarbenen Lada wollte der Fotograf nachbringen.
Warten, für Merks viel zu langes Warten in der Gerichtsmedizin. Dabei fuhr Ostermeier, Oberarzt Martin Ostermeier, selbst den Sonntagsdienst. Der war ein flinker Leichenaufschnippler - oder, wie es neulich in einem internen Bericht der Bezirksbehörde hieß: ein sowohl rascher wie auch zuverlässiger Diagnostiker. Nach einer Stunde erst, in der er erfolglos versuchte, Anett zu Hause zu erreichen oder den Seeblick zu kriegen, rief ihn Martin in den Sektionssaal. Wie immer schallten die Worte des Arztes übernatürlich laut in dem gefliesten Raum.
„Ventrikel-Septumdefekt“ nannte Ostermeier den schweren Herzfehler des Toten. Ein Wunder, dass sich die Leiche - pardon, der Herr Peter Liersch - bis zum fünfundfünfzigsten Lebensjahr gehalten habe. So ein Defekt könne nach großer physischer oder psychischer Anstrengung immer zum Tod führen. Man betrachte doch bloß das Loch zwischen den beiden Herzkammern ...!
Euphorisches Doktorlatein am aufgepuzzelten Herzen des Nationalpreisträgers.
„Der Mann hier“, grinste Ostermeier, „ist durch Überanstrengung beim Beischlaf mit seiner Geliebten gestorben. Schöner Tod.“ Die in durchsichtigen Handschuhen steckenden Finger des Gerichtsmediziners stülpten genüsslich Herzklappen um, Vorkammern auf und pulten in den Koronargefäßen.
„Hast du Gift im Magen-Darm-Trakt gefunden?“
Martin grinste. „Bis jetzt wusste ich nicht, dass Erlauer Stierblut tödlich wirkt.“
„Also -“ Merks straffte sich - „ist das dein endgültiges Ergebnis: kein Gift, zum Beispiel eine Tabletten-Überdosis im Körper der Leiche?“
Ostermeier hob die Schultern: „Endgültig? Endgültig ist gar nichts, Klaus ...“
Stand also Giftmordanzeige mit nachgewiesenem Präparat gegen das vorläufige Gutachten des Gerichtsmediziners, krankheitsbedingter Tod. - Scheißspiel! Warum öffneten die Genossen da drin nicht die Tür?
Der Blick, den der nun endlich aufs Tapet tretende Wachhabende empfing, alter Mann im Rang eines Hauptwachtmeisters, stand keinem Leiter der Morduntersuchungskommission und auch sonst keinem abgeklärten Vierundvierziger an. Eher einem Rowdy kurz vorm Zuschlagen mit der geballten Faust. Merks schubste den Türöffner fast beiseite, wie er, die Tasche an sich gepresst, vorbeistürmte. Schnauzte leise, doch intensiv: „Die Polizei kennt keine Sonntagsruhe. Merken Sie sich das.“
Vom Fahrstuhl aus, der keine Anstalten machte herunterzugleiten, rief Merks den nunmehr wie auf Pantoffeln hinter seine Glasscheibe schleichenden Hauptwachtmeister an: „Ist Hundertelf besetzt?“
Was so viel hieß wie: Wurden in meiner Abwesenheit Personen zugeführt?
„Jawoll, Genosse Hauptmann!“, schnarrte der Angefragte. „Sogar zweifach. Haben aber beide Personen laut Befehl in verschiedene Räume verteilt.“
„In Ordnung“, nickte Merks befriedigt. Besser, die Liersch und die Bühlig sahen sich nicht gleich. Dann: „Verdammte Scheiße! Können diese Idioten denn nicht den Fahrstuhl schließen, wenn sie im vierten aussteigen!“ Entsann sich seiner Ausbildung als Vollmatrose, wo es tagtäglich sprungauf, sprungab in die Wanten ging, der unvergesslich schönen Zeiten auf dem Segelschulschiff „Wilhelm Pieck“. So jagte er, Tasche vorsichtig angeklemmt, hinauf in den fünften Stock. Den nannte man den Giftturm. Die Labors befanden sich da oben, und in die musste Merks, bevor er das Weiberduett in der Hundertelf vernehmen wollte.
Dem treuen Thoralf, Genossen Oberleutnant Mende also und Chefchemiker im Haus, waren zuerst die cheiloskopischen Indizien zu übergeben, die vom Ereignisort und die vom Verstorbenen. Danach musste man weitersehen. Je schneller Thoralf die Lippenmuster identifizierte, umso rascher würden die Vernehmungen beendet sein. Vielleicht noch eine Chance, Anett zum Seeblick nachzufahren?
Tolle Sache, sinnierte Merks, diese neue Methode zur Identifizierung durch Lippenabdruck. Da recherchierten Kriminalisten in aller Welt seit Locard ein Dreivierteljahrhundert lang mit Hilfe von etwa hundert Merkmalen, die der Fingerabdruck beweist. Auf einmal stießen einige kluge Brasilianer und Japaner auf die unterschiedliche Individualität der menschlichen Lippe. Und plötzlich bekam man rund tausend Identitätsmerkmale zur Überführung eines möglichen Täters!
Stürmte die Stufen hoch und freute sich, dass wieder eine neue Ermittlungsmethode in den alten Kripostall einzog. Der Vorgang heute bot jedenfalls die beste Möglichkeit, endlich ein klares Exempel dafür zu statuieren, dass man flexibel und ohne allzu lange auf Erfolge im Ausland zu warten neue Gedanken in die Kriminaltechnik einfließen lassen muss.
Und riss die schwer gehende Tür auf - ZUTRITT FÜR NICHTCHEMIKER VERBOTEN! Aber das war nur ein Witz von Thoralf Mende, üblicher Speziquatsch der technischen Intelligenz im Turm. Auch die Physiker gegenüber hatten ein Strahlenwarndreieck an ihre Tür gepappt. Thoralf, teigiger Teint und feminines Begrüßungsgebaren, aber, wenn man ihn länger kannte, ein Mann von Draht, schwappte seine Handfläche in die des Hauptmanns und kam sofort zur Sache: „Habt ihr Magna Jet Black genommen?“
„Genau jenes Pulver“, konnte Merks ihm bestätigen.
Übergab seinem Chemikus die Daktyloskopierrolle. Feines, auf ein der Malerrolle vergleichbares Gerät gezogenes Papier also, mit dem sie am Ereignisort die Spuren abgenommen hatten.
„Halt mal, Klaus“, stoppte Thoralf den geplant stürmischen Abgang des Ermittlungsführers. „Bring mir doch auch von der Lady - also von seiner Geliebten - noch ’nen Abdruck!“
„Geht paletti“, versprach der lange Hauptmann.
So musste sich die von den Ereignissen der letzten Stunden kaum gezeichnete attraktive Katrin, ehe Merks mit ihr das Gespräch begann, erst einmal mit einem Lippenroller ins Gesicht fahren lassen. Das Ergebnis brachte, von Merks herbeibefohlen, der alte Wachmann von der Pforte hinauf in den fünften Stock. Diesmal bewegte sich der Fahrstuhl wie geschmiert.
„Dreizehn Uhr neunundzwanzig“, brummelte der Hauptwachtmeister vor sich hin, als er in Höhe der ersten Etage seine Taschenuhr herauszog. Als er im Turmgeschoss ankam, hatte er ausgerechnet, dass er noch einunddreißig Minuten Dienst zu schieben hatte. Fast mühelos war ihm diese Rechenoperation geglückt, doch (um der Wahrheit die Ehre zu geben) mehr fast als mühelos. Auf solche braven Männer wie ihn waren die im Volksmund beliebtesten politischen Witze gemünzt, und alle entstanden sie in den Polizeietagen.
„Es ist bereits eine Minute vor halb zwei“, erklärte der Kellner den beiden Frauen, die mit dem Kind an einem der rustikalen Freisitze saßen. Vom Wasser her zog eine erfrischende Brise.
Ulla betupfte ihren schwitzenden Nacken. Der junge Kellner lächelte, während er ihr als erster die Speisekarte reichte. Es war ein nachdrückliches und bezauberndes Lächeln, was Ulla verblüffte.
Denn immer war es Anett, die von Kellnern, Schaffnern, Verkehrspolizisten oder Museumsführern zuerst angehimmelt wurde.
„Wenn die Damen sich also bitte entschließen wollten - es gibt bei uns nämlich bloß bis um zwei Mittagbrot.“ Der Kellner blieb neben ihnen stehen und sah auf den See, die Möwen, die angetäuten und die draußen schwimmenden Segelboote. Lediglich ein leises Wippen seines Tabletts verriet die Ungeduld.
Mittagbrot war freilich eine charmante Untertreibung für die Speisenauswahl, die beide Frauen sofort mit freudigem Staunen studierten. Rehmedaillon mit Preiselbeeren, Soße bearnaise und Pommes frites 9,45 M. Zartes, ausgelöstes Entenfleisch, dazu Rotkraut und Schwenkkartoffeln 4,95 M. Großes Wiener Schnitzel, Röster und Buttererbsen 5,30 M. Rumpsteak mit Kräuterbutter, Croquetten, Sahnespargel 8,85 M. So ging das weiter und fort, die Karte hinauf und herunter, und sogar Pilze waren im Angebot. Nämlich: Zartes Filetsteak mit Waldpilzen in Rahmsoße, Kartoffelkörbchen oder Pommes frites nach Wahl 8,65 M.
„Pilze!“, rief Anett. „Die gibt es ja selbst im Interhotel nur zweimal im Jahr!“
„Gut funktionierender Liefervertrag mit der GPG“, erklärte der nette Kellner. „Wir pflegen direkte Beziehungen zu den Erzeugern, meine Dame.“
Irgendwie erschien Anett dieser schlanke, von der Haarfarbe bis zu den Schuhen schwarz schillernde Mensch ein wenig zu höflich, ein wenig zu weibisch auch. Dazu kam, dass er einen Pferdeschwanz trug, den er freilich sauber in den hinteren Hemdkragen gesteckt hatte. Ulla jedoch, die er wieder als einzige mit einer angedeuteten Verbeugung würdigte, fühlte es kräftig unter den schweren Brüsten pochen.
Sie fasste sich ein Herz und fragte, ihre kleinen Augen, wie sie hoffte, zu interessanten Schlitzen verengend, mit tiefer Stimme, als sei die Frage selbstverständlich wie der Umstand, dass jetzt Juli und brütende Hitze herrschte: „Der Seeblick ist wohl privat?“
„Aber nicht doch!“
Nun wirkte sein Lächeln beinahe süffisant. Doch sensibel, wie dieser Kellner mit der guten Figur nun einmal war, bemerkte er auch Anettes misstrauisches Kopfrucken. Mehr für Anett, die er klar als politisch Gebildete erkannte, nicht als Fünfhundertprozentige, ach was, aber immerhin als eine, die jedem unbegründeten Jubel über historisch veraltete Eigentumsformen in der Gesellschaft abhold war, sagte er: „HO sind wir, meine Damen. Schlicht und einfach HO. Doch dass wir fast immer Pilze zu bieten haben, liegt an den unbürokratischen Kooperationsbeziehungen unserer Gaststättenleiterin. - Tja, so geht das! Oder wie sagte neulich Herr Gorbatschow? Ein Vorzug des Sozialismus besteht in seiner Fähigkeit zu lernen!“
„Ich will ’ne Bockwurst mit viiiiel Senf!“. setzte sich Lisa lautstark in Szene.
Durch das Kind wurden die Frauen, die, jede auf ihre Weise, über den intelligenten, flotten oder auch flattrigen, schlagfertigen oder auch nur in seinem schmalen Metier mit Zitaten bewaffneten Kellner nachdachten, wieder auf den Boden der Wirklichkeit gebracht. Sie bestellten. Natürlich das Steak mit Waldpilzen, zweimal und einmal Kinderportion. Dazu drei Birnen-Orangen-Juices.
Der schwarz glänzende mit dem in den Kragen gesteckten Zopf nickte, notierte. „Geht das auch - Kinderportion?“, fragte, halb lauernd, halb fordernd Anett.
„Aber gewiss. Zum halben Preis.“ Wedelte den Notizblock zurück ins Täschchen und meinte, wieder vorwiegend Ulla anzirzend: „Kinder sind doch das Schönste, was wir machen können, meine Dame.“ Dann tanzte er ab.
Ulla sah Anett mit Augenfünkchen an: „Er hält Lisa für mein Kind ...“
Während Lisa das Beklettern der langen Sitzbänke probte, sahen die Frauen verblüfft dem wendigen Servierer nach. Anett entschlüpfte, während sie sich eine blaue KENTON anbrannte: „Das gibt’s in keinem Russenfilm.“
Ullas Gedanken liefen auf anderen Pfaden. Ein Mann, klopfte ihr Hirn im Rhythmus ihres Herzschlags. Ein gut aussehender und außerdem noch intelligenter Mann.