Die merkwürdigen Fälle des Hauptmann Merks - Steffen Mohr - E-Book

Die merkwürdigen Fälle des Hauptmann Merks E-Book

Steffen Mohr

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Beschreibung

Hauptmann Merks blickt auf eine 30-jährige Tätigkeit bei der Kriminalpolizei der DDR zurück. Er berichtet über seine spannende Ermittlungen in Mordfällen, die ihm teilweise unter die Haut gehen. Da ist ein Gastwirtsehepaar, das die Nähe zur Grenze in den 1950er Jahren für Schiebergeschäfte nutzt und ermordet aufgefunden wird. Ein erfolgreicher Großbauer, der seinen Eintritt in die LPG erklärt hat, stirbt bei einem Autounfall, sein Bruder verbrennt in der Scheune. Im Zug trifft Merks Erpresser und Erpressten und stellt einen Mörder. Auf der Eisenbahnfahrt von Polen erzählt ein deutscher Lehrer über den tödlichen Unfall eines Kollegen und erweckt Merks‘ Misstrauen. Der Vater eines Apothekers und Schmetterlingsammlers stirbt bei einem epileptischen Anfall, doch seine kleine Enkelin weiß mehr. Junge Leute wollen aus dem von den Eltern vorgezeichneten Leben aus Ordnung und Pflichterfüllung ausbrechen und sind doch noch nicht stark genug, mit den Wechselfällen des Lebens klarzukommen. Sechs spannende Kriminalerzählungen aus der DDR über erdachte Fälle, die so oder ähnlich hätten stattfinden können.

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Impressum

Steffen Mohr

Die merkwürdigen Fälle des Hauptmann Merks

Kriminalerzählungen

ISBN 978-3-95655-378-3 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien erstmals 1980 im Verlag Das Neue Berlin.

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Zu Anfang gleich ein Doppelmord

An manchen Tagen geht mir von frühmorgens an eine Melodie durch den Kopf, und an anderen Tagen wieder lässt mich die Erinnerung an ein weit zurückliegendes Erlebnis nicht los. Obwohl die Sache über Jahre, gar Jahrzehnte vergessen, im Alltag verschüttet und überdeckt gewesen war, taucht sie genau an diesem Tag mit so kräftigen und erstaunlich lebendigen Farben wieder aus der Vergangenheit hervor, dass ich mich unwillkürlich des genauen Datums vergewissere.

Früh um sieben in der Zinnastraße — gleich um die Ecke liegt meine Dienststelle, die Bezirksbehörde — begann es damit, dass ich aus Versehen in eine Schneepfütze trat. Der braune Matsch spritzte mir bis über den Sockenhalter; das wäre noch kein Grund zur Aufregung gewesen. Im Dienst ziehe ich sowieso meine Hauptmannsuniform an, und zur Not konnte ich eine Weile mit nur einer Socke hinter dem Schreibtisch sitzen bleiben. Was mich tatsächlich erschreckte, war der Umstand, dass mir mit einem Mal ein Bild aus der Vergangenheit vor Augen stand: mein erster Tatort, der Gasthof Waldidyll ...

... der Matsch vor der Tür. Ich war hineingestolpert. Hinter mir prustete jemand — war es der Major mit dem Hungergesicht? Ich verstand nicht, wie jemand an diesem Ort lachen konnte. Gleich darauf sah ich die Wirtsleute. Sie lagen im Hausflur. Dem alten Mann schien kurz vor seinem Tode ein unerhörter Witz erzählt worden zu sein. Sein Mund stand offen, als schüttele ihn ein Lachen. Und die Augäpfel hatte er nach oben gedreht, was das Amüsierte oder Verzückte seiner Züge noch unterstrich. Seine Glatze, blutüberströmt, glänzte im Licht der Flurlaterne. Ein paar Schritte von ihm entfernt die Frau. Die zog eine Miene, als sei ihr eine Gräte im Hals stecken geblieben. Es sah aus, als würde sie sich mit zusammengekniffenen Augen ganz darauf konzentrieren, den Fremdkörper wieder herauszubringen. Ich hätte vor Grauen aufschreien können ... Sie waren die ersten Opfer eines Mordes, die ich zu Gesicht bekam. Über achtundzwanzig Jahre ist das her.

Am Vormittag — ich hatte meine Socke wieder trocken — blickte ich aus dem Fenster und bemerkte die rote Sonnenscheibe. Kreisrund war sie, wie von einem Zirkel gezogen. Wir schrieben Dezember, und damals war Februar. Doch als ich in dem schwarzen BMW der Morduntersuchungskommission zurück zum Revier fuhr, hatte ich aus dem Autofenster heraus dieselbe Sonne gesehen. Die gleiche Farbe und Gestalt — wie die Sonne sie übrigens häufig annimmt an solchen trüben Wintertagen.

Stunden später saß ich mit Oberleutnant Mai beim Mittagessen. Und der sonst recht schweigsame Mai wusste heute nichts Besseres, als von der kümmerlichen Ernährung nach dem Krieg zu reden. Er schwatzte von Roggenbrötchen und Rübensirup, lachte sogar darüber. Mir aber kam gleich wieder dieser Februar 1950 in den Sinn. Ich schob meinen Teller, auf dem noch das halbe Kotelett lag, zurück.

„Machst du ’ne Schlankheitskur, Gustav?“, fragte Mai. Das war eine deutliche Anspielung auf das Fässchen, das ich mit mir herumtrage. Ich bin kein großer Esser, nein, keinesfalls. Aber wie viele Leute von kleiner Statur neige ich im Älterwerden nun mal zur Rundlichkeit. Was kann man dagegen machen?

Ich sagte: „Jedenfalls bin ich in meinem Leben nicht so oft wie du Dienstwagen gefahren. Wart’s ab, du wirst eher fett als ich.“

Mai, der stolz darauf ist, noch ein Jahr bis zu den Fünfzig vor sich zu haben, während es bei mir schon ein Jährchen darüber ist, lachte gutmütig. Die Tatsache ist allen bekannt: Ich hasse nichts so sehr wie Autofahrten. Was ich mir, wenn es irgend geht, leiste, sind öffentliche Verkehrsmittel. Die Eisenbahn beispielsweise. Als Kind wollte ich Lokführer werden. Auch bin ich gern unter Leuten. Jetzt freilich, als Mai über meine Liebe zur Eisenbahn witzelte, erinnerte ich mich — zum wievielten Male eigentlich? — an den Vorgang Waldidyll ... Die alte Dampflok damals — war sie nicht viel ergiebiger als mancher Informationsspeicher, mancher Computer?

Und dann, nach Feierabend, kam es schließlich dazu, dass ich einem Fremden die ganze Geschichte von damals haarklein erzählen musste. Jedenfalls glaubte ich anfangs, dass ich meinen Zuhörer noch nie gesehen hatte ...

Ich war gerade herein und im Begriff, mir einen Tee aufzubrühen. Sah auf die Holländeruhr und dachte, dass in der Kaufhalle jetzt das Klingelzeichen ertönen müsste. Elisabeth, meine Frau, musste nun die Kasseneinnahmen abrechnen. Zwei Tage vor Weihnachten! Eine Heidenarbeit würde das für sie! Und beeilen musste sie sich außerdem. Denn für heute Abend, Uhrzeit ungewiss, hatte sich unser Sohn angekündigt. Klaus, der glückliche Oberleutnant zur See und unglücklich geschiedene Junge, wollte das Weihnachtsfest mit uns verbringen.

Da klingelte es. Vor der Tür stand ein baumlanger, weißhaariger Mensch in der Uniform der Marine. Sein Respekt einflößendes Louis-Trenker-Gesicht ein einziges Grinsen. Er hielt die Pfeife schief im Mund und schien mich auszulachen. Mein Jahrgang ist der, dachte ich, aber albern wie ein Schuljunge. Und ich ertappte mich dabei, dass ich ihm sein volles weißes Haar übel nahm. Was bin ich denn rein äußerlich schon für eine Respektperson? Ein kleiner dicker Hauptmann mit Fast-Glatze.

Der Trenkertyp aber fragte über seinen Pfeifenstiel hinweg mit einer Bärenstimme, die sicherlich meilenweit vor jeder Hafeneinfahrt zu hören ist: „Hauptmann Gustav Merks — sind Sie das?“

Er spricht mich mit dem Dienstgrad an! dachte ich und registrierte, dass er den Rang eines Fregattenkapitäns hatte. Ich müsste ihn grüßen, fiel mir ein, die Hand zuckte schon nach oben. Fast im selben Augenblick bemerkte ich, dass im Haus, ein halbes Stockwerk höher, um die Ecke herum ein Stück Holzkiste sichtbar war. Und so wurde aus meinem Versuch eines militärischen Grußes eine lässige Handbewegung zur Treppe. Dazu bemerkte ich im Tonfall höchsten Erstaunens: „Schauen Sie doch nur, ein Wunder ist geschehen. Fast hätte ich für meinen hohen Besuch nichts zu trinken im Hause gehabt. Aber dort, auf dem Treppenabsatz, hat uns mein Sohn einen Kasten hingestellt. Im Stockwerk hat er sich freilich geirrt.“ Der Kapitän lachte, dass mir die Ohren wehtaten. Wir schüttelten uns die Hand. Seltsamerweise stellte er sich dabei nicht vor. Die halbe Treppe herab sprang Klaus herunter, in solchen Sätzen, dass der Bierkasten schepperte.

„Man darf eben keinen Kriminalisten zum Vater haben“, meinte er, als er mir zur Begrüßung auf die Schulter schlug. „Ihr kennt euch? Nein? Das ist Genosse Bahrbeck. Er schläft die Nacht bei uns und fährt morgen früh mit der Eisenbahn weiter nach Süden, wo er für seine Enkel den Knecht Ruprecht spielen wird.“

Drinnen, in der Küche, sah ich mir diesen Bahrbeck genauer an und fragte: „Fahren Sie nicht selbst? Oder hat Ihr Chauffeur bereits Weihnachtsurlaub?“

Bahrbeck schob seine Pfeife, die er übrigens kalt rauchte, in den gegenüberliegenden Mundwinkel und erklärte ruhig: „Ich habe was gegen Autofahren. Die Tour mit Klaus eben war eine Ausnahme.“

„Ausgezeichnet!“, rief ich und schlug nun meinerseits, wie Klaus vorhin mir, dem Dienstgradhöheren auf die Schulter. Er war mir sofort sympathisch.

„Erhard“, stellte er sich vor und lächelte, als würde er mich schon Jahrhunderte kennen. Irgendwo habe ich dich schon gesehen, dachte ich. Doch wo?

„Meinen Vornamen wissen Sie ja“, meinte ich.

Beim Bier, das er angewärmt trank und bei Brötchen, die ich schnell schmierte, stellte sich heraus, dass der Fregattenkapitän, also Erhard, eine Art väterlicher Freund meines Sohnes war. Als die Scheidung lief, hatte er ihm moralisch in. die Seite getreten. Der Junge ist zwar achtundzwanzig, aber in einer solchen Situation brauchte er so etwas wie einen Vater. Ich selbst wohnte zu weit weg und hatte in dieser Zeit als MUK-Leiter gerade einen verflixt kniffligen Vorgang unter den Fingern, diese Strychningeschichte.

Wir saßen in der Küche, dem einzigen Raum, in dem sich außer der praktischen, aber verdammt nüchternen Zentralheizung noch ein kleiner, gemütlicher Kohleherd befindet. Tranken Bier, mampften Brötchen — besonders Klaus hatte einen Bärenhunger — und ließen unsere Blicke abwechselnd zu dem Tannenbusch wandern, den Elisabeth mit Strohsternen behangen und auf das Küchenbüfett gestellt hatte. Wir redeten von diesem und jenem. (Im Grunde warteten wir auf die Hausfrau, denn ohne die weiß eine Männergesellschaft doch nie richtig, was sie in einer Wohnung anfangen soll.)

Was Erhard und mich bald näherbrachte, war der ähnliche Weg, den wir gegangen waren von Anfang an. Also mit achtzehn, neunzehn noch an die Ostfront, dann Gefangennahme, danach Antifaschule in der Sowjetunion, ohne dass wir dabei groß umdenken mussten, etwa die in der jetzigen Literatur so beliebte Wandlung vom Bürger zum Sozialisten machen. Erhard und ich stammten beide aus Proletenhäusern. Vielleicht liebte er deshalb seine Schifffahrt und ich meine Eisenbahn. Beides war für Jungen unseres Schlags der große Traum. Von Autos wurde in einem Arbeiterhaushalt gar nicht erst gesprochen. Raus aus der Antifaschule und rein in die Sowjetische Besatzungszone und Parteiauftrag: „Du wirst Volkspolizist!“ Kein Widerspruch, hieß es. Wir wissen, Polizei habt ihr nie gemocht als Proletenjungen, aber die Polizei, die wir aufbauen, wird eine andere sein. Deshalb, Gustav Merks, schlag dir den Lokführer rasch aus dem Kopf. Ja, und dann begann Bahrbeck wie ich als Streifenpolizist, als Unterwachtmeister, und dann ...

„Wie bist du aber bei der Kripo gelandet?“, unterbrach Bahrbeck meine ausführlichen Erinnerungen an Schieber und Saboteure, an die alten Inspektoren und Amtmänner, an die bestechlichen Wachtmeister, die ihren Beruf schon seit Kaisers Krönung ausübten, an unsere Einsätze am Hallischen Tor, dem Schwarzmarktzentrum, auf dem ein Brot für hundertzwanzig Reichsmark gehandelt wurde.

„Das ist eine Geschichte ...“ Ich nickte. „Ja, das ist vielleicht eine Geschichte ...“ Und ich hatte wieder die grässlich zugerichteten Wirtsleute vor Augen. „Klaus“, sagte ich, „wenn dich die Memoiren eines Veteranen langweilen, geh ruhig ins Wohnzimmer. Sieh Fernsehen, lies was. Oder streck dich lang, sicher bist du von der Fahrt müde.“

Klaus biss in ein Brötchen und entgegnete mit vollem Mund: „Ich höre heute also sicher zum dritten Mal den Vorgang Waldidyll, Vater. Stört mich eigentlich gar nicht. Hier ist es doch warm und gemütlich. Außerdem bin ich gespannt, welche Namen du für deine Täter und Zeugen heute erfindest ...“

„Die Sache ist frei erfunden?“, fragte Erhard.

„Natürlich nicht“, sagte ich. „Aber die Namen der daran beteiligten Leute kann ich selbstverständlich nicht nennen. Du verstehst ...“

„Klar!“. rief der Fregattenkapitän. Und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Sein selbstkritisches Lachen dröhnte so sehr, dass ich um die Tassen im Küchenschrank bangte.

Der Vorgang Waldidyll war schuld daran, dass ich Kriminalpolizist wurde. Und obwohl er mein erster richtiger Fall gewesen ist, war er doch gleichzeitig einer der merkwürdigsten in meiner fast dreißigjährigen Polizeipraxis. Die Eisenbahn spielt darin natürlich eine Hauptrolle ...

Auch an diesem Februarmorgen des Jahres 1950 wollte ich, wie üblich, den Arbeiterzug benutzen. Der ging einige Minuten nach sechs von der Kreisstadt A. ab und fuhr direkt in die Stadt W. hinüber. Es war der einzige Durchläufer, mit dem man in einer guten Viertelstunde W. erreichte. Die späteren Züge machten einen Umweg über G., wo man umsteigen musste. Dass ich den Durchläufer nahm, hatte freilich den Nachteil, dass ich meist eine halbe Stunde zu früh in der Dienststelle erschien. Doch konnte das, wie meine Geschichte gleich beweisen soll, auch ein Vorteil sein.

Der Bahnsteig war schwarz von Gestalten, die wegen der Kälte von einem Bein auf das andere traten oder sich die Hände rieben. Jeder stand so dicht wie möglich an der Bahnsteigkante, denn wenn der Zug einfahren würde, brauchte man einen günstigen Ausgangspunkt für den sofort einsetzenden Kampf um einen Platz in den überfüllten Wagen. Ich habe oft nur einen Notsitz auf dem Waggondach erwischt und war froh darüber. So etwas kann sich heute keiner mehr vorstellen. Es fehlte damals an allem, auch an Eisenbahnplätzen.

Eine der älteren Arbeiterinnen aus der Seidenspinne von W., die ich vom Sehen her kannte, sprach mich an: „Na, Wachtmeister — immer noch keine Wohnung in W.? Wenn ihr nicht mal ’ne Wohnung kriegt — als Genossen! Was soll da unsereins sagen ...“

„Hör her“, sagte ich etwa. „Ich bin überhaupt nicht scharf darauf, dort zu wohnen, wo ich arbeite. Du weißt, dass Mutter, Alice und ich hier in A. ganz gut zurechtkommen mit den beiden Zimmerchen. Andersrum wäre besser: Hier in A. wohnen bleiben und arbeiten!“

Sie meckerte ein gedämpftes Lachen in ihren dicken Wollschal und zwinkerte verständnisvoll. „Mach mir nichts vor. Was interessieren einen jungen Mann schon Mutter und Schwester, hm? Aber Elisabeth, die hübsche Verkäuferin — wegen der würdest du sicherlich gern hierher?“

Ich war vierundzwanzig damals und viel zu stolz, etwas Derartiges zuzugeben. An diesem Morgen kam ich gerade von Elisabeth. Ihre Mutter, mit der sie — beide waren schlesische Umsiedler — das Dachzimmer beim Bäcker auf der Spiegelgasse bewohnte, war drei Tage zu einer Verwandten gefahren. Nach dieser Nacht mit Elisabeth durchschauerte mich trotz der beißenden Kälte, die auf dem Bahnsteig herrschte, noch ein warmes männliches Gefühl, und ich antwortete der Frau deshalb: „Dienst ist Dienst, Muttel. Und Schnaps Schnaps. Und Elisabeth wird eben so lange warten müssen, bis ich eine Beförderung erhalte und in die Kreisstadt versetzt werde.“

„Du wirst das schon schaffen.“ Sie nickte. „Du ganz bestimmt“, meinte sie in einem Ton, als spräche sie darüber, dass Silvester in diesem Jahr garantiert auf den 31. Dezember fallen würde. Sie wusste nicht, wie bald sie recht bekommen sollte.

Auf dem von sparsamen Lichtern beleuchteten Gleisbogen kam nun die Lokomotive in Sicht, ein klobiges, schwarzes, stumpfnasiges Ungeheuer, und brachte mit Gefauche und Gepfeife, eine heiße Rauchfackel ausstoßend, plötzlich Bewegung in die Massen. Fast schien es, als würden die ganz vom am Bahnsteig Stehenden in das übermannshohe Kolbengestänge stürzen. Türen krachten noch während der Einfahrt zur Seite. Auf die beliebtesten Plätze, gewissermaßen die Außenlogen, auf die Puffer zwischen den kreischend zum Stehen kommenden Wagen, setzte eine wahrhaft artistische Hetzjagd ein. Direkt vor meinen Platz glitt langsam eine Waggontür. Ich riss sie auf, und mit dem anderen Arm die Alte umschlingend, sprangen wir auf den Perron. Umarmt mussten wir auch weiterhin bleiben, ein ungleiches Liebespaar. Denn die Nachdrängenden erlaubten keine wesentliche Änderung unserer sozusagen in einem Ruck entstandenen Haltung. Herrlich! Wir hatten einen Fensterplatz.

Ich drehte mein Gesicht zur Scheibe, denn zu spät bemerkte ich, dass die Frau nach Zwiebeln roch. Um mich von den Ausdünstungen in unserer fahrenden Sardinenbüchse abzulenken, zwang ich mich zu Gedanken über die Landschaft, die vorbeizog. Die Äcker boten damals ein völlig anderes Bild als heute. Kein Gedanke an die großen, von den Produktionsgenossenschaften bewirtschafteten Felder. Machten diese Erdflecken schon im Sommer den Eindruck von bunten, dominoartig aneinandergelegten Handtüchern, eines kürzer und schmaler als das andere, so zeigte sich jetzt, auf der weiten schneebedeckten Fläche, die Trennung der Ländereien noch deutlicher. Denn obwohl da auf den ersten Blick nur ein einziges Riesenlaken ausgebreitet schien, hoben sich auf der glatten Decke bei näherem Hinsehen scharf die Umrisse mächtiger Grenzsteine hervor. Sie lagen wie unregelmäßig befädelte Ketten auf der Flur und zeigten an: Hier befindet sich der Acker des Neubauern X und da der Besitz des Großbauern Y — wehe dem, der das nicht gehörig beachtet!

Die Alte winkte mir, ich solle mich ein wenig bücken und mein Ohr an ihre Lippen bringen. Ich tat es ungern.

„Diese Nacht“, flüsterte sie, „wurde im Waldidyll eingebrochen.“

„In der Kneipe am Waldrand?“

Es handelte sich um ein zwischen Landstraße und Wald stehendes Einzelgehöft, und ich kannte es gut. Denn es war das letzte Haus, das noch zu unserem Revier gehörte. Ich dachte sofort daran, dass der Genosse Pauligk Streifenführer war diese Nacht und dass ich ihn in einer knappen Stunde abzulösen hatte.

Schon drehte jemand den Kopf nach uns um. „Nicht so laut“, flüsterte die alte Arbeiterin. „Sie haben die Wirtsleute umgebracht. Die schwammen in ihrem Blute.“

„Was erzählst du denn da?“, sagte ich in ärgerlichem Ton. „Auch das Weiterverbreiten von Gerüchten ist strafbar!“

„Hihi!“, meckerte die Frau. „Gerüchte! Die Schreie waren bis an die ersten Häuser herunter zu hören. Die halbe Stadt war heute Nacht auf den Beinen. Allerdings kam jede Hilfe zu spät.“

„Warst du selbst oben?“, fragte ich und ärgerte mich ein zweites Mal. Hätte ich die Nacht nicht bei Elisabeth verbracht, deren Zimmer genau am anderen Ende der Stadt lag, ich wäre klüger gewesen! Solange man jung ist, ist man eben leicht verletzt, wenn man von jemandem genau das hören muss, was man gut und gerne hätte selbst wissen können.

„Die Polizei glänzte wieder mal durch Abwesenheit“, höhnte eine Stimme in unserer Nähe, und so war klar, dass der Fall schon allgemein bekannt war. Es gibt nichts Schnelleres als Mundpropaganda, den sogenannten Buschfunk, wie es die Leute nennen. Da kommt keine Rundfunkstation der Welt mit. In dem Gewürge des Abteils konnte ich den Mann mit der hämischen Bemerkung natürlich nicht ausfindig machen. Doch ich fühlte meine Ehre als Volkspolizist angegriffen.

„Reden Sie doch keinen Stuss!“, rief ich nach hinten. „Sie waren wohl dabei — wie?“

„Ist ja wahr“, hörte ich die Stimme einer Frau in der Masse. „Die können doch schließlich nicht überall sein. Bei dem, was heutzutage passiert ...“ Und machte mit diesem Geschwafel, was die Beleidigung der Volkspolizei anging, sozusagen das Kraut fett.

„Außerdem“, erwog jemand anderes, „war die Streife unter den ersten oben.“ Also Pauligk. Na, den würde ich ja gleich selbst sprechen.

Alle wussten Bescheid! Und ich, Gustav Merks, Oberwachtmeister und Streifenführer, hatte keinen blassen Dunst, was geschehen war.

Der Zug rollte in W. ein. Das Geschiebe aus den Wagen ging wesentlich rücksichtsvoller vor sich als ihre Eroberung vor einer Viertelstunde. Ich hielt mich dicht neben meiner ersten Informantin. Die Mühe, leise zu sprechen, gab ich mir nun nicht mehr.

„Hat man die Kerle gefasst?“

Sie schüttelte den Kopf und verkroch sich förmlich in ihren Schal. „Die erwischen sie auch nie. Die sind sicher schon drüben.“ Die Alte machte, während sie einen Moment auf dem Bahnsteig stehen blieb, eine Kopfbewegung dahin, wo dieses Drüben lag, die sogenannte grüne Grenze zum Westen. Danach verlor ich sie im Gedränge aus den Augen.

Das Revier war am Markt. Ich benutzte vom Bahnhof aus immer die Abkürzung durch ein paar steil abfallende Gassen mit Kopfsteinpflaster, die von schiefwändigen Häuschen gerahmt waren. Wäre ich die Bahnhofstraße entlanggegangen und danach rechts in die Bebelstraße eingebogen, hätte ich schon von Weitem den BMW gesehen, dessen schwarzer Lack aufglänzte unter der Straßenlaterne vor dem Revier. So bemerkte ich ihn in dem Augenblick, als ich aus der Tuchmachergasse hinaustrat auf den Markt. Es saß kein Mensch darin. Aus dem Revier dagegen lachte mich die wahre Festbeleuchtung an.

Die Morduntersuchungskommission vom Bezirk, wusste ich, und wie ich eintrat, wurde mir klar, wie gut es war, dass ich täglich eine halbe Stunde früher zum Dienst erschien. Denn die drei Männer, denen mich der Revierleiter kurz vorstellte und die mir etwas oberflächlich, irgendwie sehr in Eile die Hand schüttelten, wollten gerade aufbrechen. Pauligk war nirgendwo zu sehen, auch sein Streifenkamerad nicht. Offenbar befanden sie sich am Tatort.

Ich platzte, wie das damals meine Art war, gleich heraus: „Es geht um den Doppelmord im Waldidyll, nicht wahr? Ich kann Ihnen dazu vielleicht etwas Wichtiges berichten.“

Die drei Männer, einer von ihnen war ein Major, setzten sich ebenso gleichzeitig, wie sie sich gerade von ihren Stühlen erhoben hatten, äußerst langsam wieder hin. So etwas von Gleichzeitigkeit der Bewegung habe ich später nie wieder gesehen, außer beim Fernsehballett.

Der Major war ein kleiner Mann mit spitz hervorstehendem Wangenbein, einem ausgesprochenen Hungergesicht. Nach den Händen zu urteilen, hatte er vor seinem Eintritt in die Volkspolizei Schwerstarbeit geleistet. Er bemerkte: „Ich stelle fest, dass Sie von einem Doppelmord reden. Totschlag schließen Sie also von vornherein aus, Genosse Oberwachtmeister? Wir von der K“, lassen Sie sich das ein für alle Mal gesagt sein, fällen keine voreiligen Urteile. — „Setzen Sie sich, und sagen Sie, was Sie wissen. Aber fassen Sie sich kurz.“

Mein Revierleiter hatte ein krebsrotes Gesicht bekommen. Alle zehn Finger zitterten ihm so, dass er sie an einem großen Bleistift festhalten musste. So viel jugendliche Unbeherrschtheit war ihm im höchsten Maß peinlich.

Ich aber redete munter drauflos. „Der oder die Täter“, sagte ich, „müssen den Opfern bekannt gewesen sein. Oder es handelt sich dabei um einen Angehörigen der Volkspolizei.“

Der Major hörte mir gut zu, sah mich jedoch nicht an. Als ich das mit dem möglichen Täter aus unseren Reihen erwähnte, stellte er eine Augenbraue hoch, wodurch die eine Hälfte seines Gesichtes noch magerer erschien, und ließ sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen, gleich wieder sinken. Unser Revierleiter, ein Sanguiniker, der sehr leicht aufbrauste, sprang hinter seinem Tisch hoch und sah mich mit aufgerissenem Mund an. Dann zerbrach er jedoch bloß den Bleistift und setzte sich, ohne ein Wort herausgebracht zu haben, nieder. Ich konnte in Ruhe den Beweis meiner Vermutungen antreten.

Auf einem meiner ersten Streifengänge, berichtete ich, kamen wir, damals noch unter Führung von Oberwachtmeister Paffurke, auch ins Waldidyll. Es war ein Gasthof mit zwei Räumen mittlerer Größe und einem Fremdenzimmer im Oberstock, wo sich auch die Wohnräume der Wirtsleute befanden. Bauern aus der Umgebung und zwei Lastwagenführer drückten sich auf den Stühlen herum. Am Ausschank hantierte der kahlköpfige Wirt. Seine Frau — beide standen schon im Rentenalter — trug Bier, Limonade und Schnaps an die Tische. Mir kam es spanisch vor, wie jemand in diesem abgelegenen Lokal, das nicht einmal warme oder zumindest kalte Küche führte, seinen Schnitt machen konnte. Ich äußerte diese Meinung Paffurke gegenüber, als wir unter die Tür traten und das Gespräch im gleichen Augenblick erstarb.

„Abgelegen?“, fragte Paffurke zurück. „Du darfst nicht die Stadt und den Wald sehen. Die Kneipe liegt direkt an der Landstraße!“

Ich begriff trotzdem nicht, was er meinte. Denn die beiden Lkw-Fahrer mit ihren Limonadentöpfen machten wahrlich auch nicht die große Zeche. Viel später wusste ich, dass das Ehepaar schon zweimal wegen Verdachts auf Lebensmittelschiebung gesessen hatte, der Wirt sogar drei Wochen, dass man ihnen jedoch nichts nachweisen konnte. Westwagen, hieß es, hielten manchmal am Seiteneingang des Gasthofs, und dann verließ der Wirt eilig seinen Platz hinter der Theke. Es ging immer ganz schnell. Nach zehn Minuten stand der Alte wieder da, wo man ihn zu sehen gewohnt war, so, als wäre er überhaupt nicht draußen oder höchstens mal auf der Toilette gewesen. Auch waren die Gäste, die manchmal über Nacht im Fremdenzimmer blieben, häufig nicht ordentlich angemeldet.

Paffurke war ein Polizist von altem Schrot und Korn, der schon lange vor dem Krieg und eine Weile unter Hitler Dorfgendarm gewesen war. Dann war er eingezogen worden, und weil er sich in der Hitlerzeit nichts zuschulden kommen ließ, hatten wir ihn ohne Bedenken wieder eingestellt und sogar als Streifenführer eingesetzt. Der lange Oberwachtmeister, dürr wie eine Bohnenstange, kannte die Leute in der Gegend, und die Leute kannten ihn. Das war der Punkt, weshalb wir auf seine Mitarbeit nicht verzichten konnten. Paffurke ging mit mir an die Theke und zog ein abgegriffenes Geldstück aus der Brusttasche. Er bestellte für sich ein Bier, für mich, weil ich es so wollte, eine Limonade.

Doch der Kahlkopf lächelte und schob jedem von uns noch einen doppelten Korn neben die Gläser. Ich war, das wird sich jeder vorstellen können, ziemlich erstaunt darüber. Schließlich waren wir im Dienst.

Paffurke drückte mir den Doppelten mit einem eigenartig zwingenden, ich möchte beinahe sagen, verschwörerischen Blick in die Hand, rief: „Prost!“, und wir kippten das Zeug hinter. Danach reichte Paffurke seine abgegriffene Münze über den Schanktisch. Der Glatzmann grinste bloß. Das Geld rührte er nicht an. Seine Frau stand jetzt neben ihm und strich sich irgendwie kokett durch die schlecht frisierten Haare. „Alles in Ordnung?“, fragte er noch.

„Aber ja“, antwortete die Frau. Ihre rot gelackten Fingernägel fielen mir auf. Und damit war mein erster Besuch im Waldidyll schon zu Ende. Heute weiß ich, dass ich Zeuge einer alten Gendarmentradition geworden bin, die wohl keiner von uns mehr erleben wird. Jeder Polizist besaß ein solches Geldstück, den sogenannten Polizeigroschen, den er vorzeigte, wenn er in der Kneipe kostenlos seinen Durst löschen wollte. Diese Münzen waren vom vielen Anfassen schon ganz unkenntlich geworden. Auf Paffurkes Groschen waren weder Wappen noch Zahl zu erkennen. Es handelte sich aber wohl um einen alten Reichstaler.

Paffurke, der nach dem zweifelhaften Grundsatz seinen Dienst ausübte: „Ihr könnt machen, was ihr wollt — nur lasst euch nicht dabei erwischen!“, ist ja dann doch noch als eine Art Held gestorben. Ich erzählte den Männern von der MUK deshalb davon, damit kein einseitiges Bild entstand: von der Sache im Wismut-Zug, als Paffurke dem Schieber hinterher war und im Gedränge mit einer Grubenlaterne niedergeschlagen wurde.

Unser Revierleiter machte bei meiner Erzählung kein glückliches Gesicht; dennoch fuhr ich fort: „Paffurke wusste nach meiner Ansicht viel mehr über die Schiebergeschäfte der Leute vom Waldidyll, als er uns jemals mitteilte. Das wird mir heute erst richtig klar. Wir hatten in unserem Polizeiapparat bis vor Kurzem noch einige solcher Paffurkes. Sie waren uns anfangs sehr nützlich, aber dann haben wir sie doch nach und nach entlassen. Unsere Losung: ,Die Polizei — ein kristallklarer Körper!‘ ist ja allen bekannt.“ (Bei meiner leidenschaftlichen Argumentation entging mir völlig, dass ich dem Major etwas erzählte, was ihm vorkommen musste wie die Erklärung der vier Grundrechenarten.) „Stellen Sie sich“, sagte ich, „nur mal vor, einer der entlassenen alten Gendarmen wird aus einer Notlage heraus zum Einbrecher. — Warum gerade ein Polizist? Nun, ich bin überzeugt, dass ein Einbrecher in der Nacht nicht so leicht in die Kneipe hereinkam. Er musste sich von den Leuten öffnen lassen. Und das konnte er am ehesten, wenn er sich als Angehöriger der Volkspolizei auswies. Oder — das halte ich jedoch für beinahe ausgeschlossen — wenn er ein Verwandter oder guter Bekannter der alten Leute war.“

„Vielleicht ein Schieber, der vorgab, Ware zu bringen?“, fragte mich der Major zweifelnden Tones. Einer seiner Begleiter flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Ja“, sagte er. „Sie sollten sich wirklich kurz fassen, Genosse Oberwachtmeister.“

„Jawohl, Genosse Major!“, rief ich und versuchte gleich, den Einwand des Offiziers zu entkräften.

„Vor sechs Wochen gab es schon einmal einen Einbruchsversuch im Waldidyll“, sagte ich. „Ich habe selbst als Streifenführer den Vorgang aufgenommen.“

„Das ist dem Genossen Major bereits bekannt“, knurrte mein Vorgesetzter.

„Dann wissen Sie auch, dass das Lokal verrammelt und verriegelt war. Dass dieser Einbrecher nicht zum Zuge kam. Der Wirt war es selbst, der damals auf dem Revier Stein und Bein schwor, sein Gasthaus sei nachts eine Festung, in die keiner gelangen könne, außer er ließe ihn selbst zur Tür herein. Und dann äußerte er wörtlich: ,Höchstens der Polizei würde ich aufmachen …‘“

Der Major erhob sich. „Ich würde die Äußerung des Gastwirts nicht überbewerten“, meinte er.

Mir kam in dem Augenblick ein Einfall. „Wenn sich der Täter nun diesen Umstand zunutze gemacht hat, gar kein Polizist gewesen ist, aber vielleicht, damit man ihm öffnet, gerufen hat:

,Aufmachen — Polizei!‘?“

„Ich schlage vor, Genosse Dienststellenleiter“, wandte sich der Major an meinen Vorgesetzten, „dass der Genosse Merks gleich an den Tatort mitfährt.“

„Meinetwegen“, murmelte unser Revierleiter. Und dann zu mir: „Genosse Merks!“

Begeistert nahm ich Haltung an.

„Ich befehle Ihnen, mit den Genossen der Bezirkskommission zwecks Observation des Objekts Waldidyll abzutreten!“

„Dein Alter“, sagte der Major, als ich neben ihm im Wagen saß, „ist gut. Der hat uns ja eben allen vieren den Befehl gegeben abzutreten.“

Ein schallendes Gelächter folgte seiner Bemerkung. Durch dieses gemeinsame Lachen fühlte ich mich ganz den Männern vom Bezirk zugehörig. Ich war mächtig stolz, mitfahren zu dürfen mit diesen Genossen, deren Tätigkeit mir zehnmal interessanter und wichtiger erschien als meine eigene. Ich wollte alles daransetzen, diesen Fall aufzuklären, und zwar nicht als unbedeutender, kleiner Informant, sondern als ein dem Major ebenbürtiger Partner. Ja, ich war von diesem Augenblick an eigentlich schon Angehöriger der Kriminalpolizei. Zumindest in meiner Einbildung.

Am Tatort trafen wir Pauligk, der Mühe hatte, mit einer Handvoll Helfern von der freiwilligen Feuerwehr das Gelände vor den Schaulustigen abzusperren. Der Schnee um das Gehöft herum war mit einer Unzahl Fußspuren übersät. Hinter dem Haus waren die Spuren minimal, und der Major schickte gleich einen seiner Begleiter dahin, der, mit Blitzlicht und einem Wahnsinnskasten von Fotoapparat ausgerüstet, Aufnahmen vom Boden machen sollte. Der Hintereingang zum Gasthof stand sperrangelweit offen.

Bis jetzt war ich entschlossen den anderen Genossen hinterher —, ja, wenn möglich, ihnen sogar ein Stück vorangetrabt. Nun jedoch, ich witterte es förmlich in der schneidenden Winterluft, wurde es ernst. Gleich sollte ich die Toten sehen. Im Krieg freilich, da hatte ich manchen ... Nein, dieser Gedanke beruhigte mich auch nicht. Mein Herz schlug wie eine Trommel. Und da passierte es: Noch einen Schritt vom Eingang entfernt, trat ich mit beiden Füßen in eine Matschpfütze. Sie war von einer leichten Schneeschicht überdeckt gewesen. Hinter mir prustete jemand. War es der Major mit dem Hungergesicht? Ich verstand nicht, wie jemand an einem solchen Ort lachen konnte. Das Folgende schien ich nicht wirklich zu erleben, es war mehr eine Vision ...

Gleich hinter der Tür lag der Gastwirt mit blutüberströmtem Schädel, was besonders grauenhaft aussah, da der alte Mann kahlköpfig war. Kurz vor seinem Tod mochte er einen Witz von umwerfender Komik gehört haben. Das Lachen schüttelte ihn noch, und sein Mund stand weit offen. Ein paar Schritte weiter, die Augen fest geschlossen, lag die Frau. Verkniffen, böse, auch etwas geizig wirkten ihre Züge. Ich wollte vor Angst aufschreien ...

Der Major brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. „Sind das die Leute, die Sie kennen?“

„Nein“, sagte ich leise. Doch als der MUK-Leiter mich höchst verwundert ansah: „Natürlich“, sagte ich, „natürlich sind sie es.“

Gegen meine Vermutung, dass das Ehepaar dem Täter selbst geöffnet hatte, ließ sich kaum etwas sagen: Die Tür, eigentlich ein massives Eichentor, konnte mit zwei Riegeln von innen versperrt werden, auch gab es ein Sicherheitsschloss. Alles war unbeschädigt und die Verriegelung ordentlich zurückgeschoben. Der Major wechselte einen Blick mit mir, aus dem ich Achtung vor meinen Fähigkeiten herauslas. Gemischte Gefühle erfüllten mich: Einerseits kam mir beim Anblick der zwei Leichen in dem von einer Stalllampe notdürftig erleuchteten Flur das Grauen, andererseits verspürte ich einen Triumph in mir, den nur befriedigter Ehrgeiz verleihen kann.

Nun wurden die Toten fotografiert. Wir nahmen Pauligks Bericht auf, inspizierten die Gasträume und die oben gelegenen Zimmer und stellten an der Unordnung fest, dass jemand hier etwas gesucht haben musste. Wahrscheinlich Geld. Dann hörten wir ein paar Zeugen an, Leute aus dem Ort, die auf die Hilferufe des Ehepaars den Hügel hinaufgelaufen waren. All das brachte nichts Neues, sah man davon ab, dass sich zwischen den Fußspuren undeutlich der Abdruck eines Reifenprofils im Schneematsch abzeichnete. Der Major gab acht, dass sein Begleiter diese Spur, die sich zur Landstraße hin verlief, genau fotografierte. Auch ein Gipsabdruck wurde gefertigt.

Als wir, dass heißt der Major, der Fotograf, Pauligk und ich, ins Revier zurückfuhren, hing über den Dächern von W. ein blasser Sonnenball, dessen Farbe an den Nagellack der toten Wirtsfrau erinnerte.

Kaum dass wir angekommen waren, führte uns der Dienststellenleiter einen Arrestanten vor. Zwei Bürger hatten ihn kurz nach unserer Abfahrt in schwer betrunkenem Zustand angeschleppt, und so hatte er bereits eine Stunde Gelegenheit gehabt, sich in unserem Einmannzimmer mit Loch in der Tür ein wenig auszunüchtern.

Hans Grösel hieß der als Lagerarbeiter beschäftigte Zwanzigjährige, und er wohnte am Stadtrand, ziemlich in der Nähe vom Waldidyll. Sein Vater war im Krieg vermisst, und die Mutter, mit der er zusammen lebte, hatte unbewusst den Verdacht auf ihn gelenkt. Als sie ihn, wie oft nach seinen Sauftouren, früh wecken wollte, damit er pünktlich zur Arbeit kam, war Grösel nicht wach zu kriegen. Sie hatte jedoch Blutspuren an seinem Anzug, der über der Stuhllehne hing, bemerkt und im ersten Schreck den Nachbarn, der bei der Wehrmacht Sanitäter gewesen war, hergerufen. Der freilich witterte, als er vor dem Bett des volltrunkenen Burschen stand und dessen gesundes Schnarchen registrierte, ganz andere Dinge als Hans Grösels Mutter. Zusammen mit einem weiteren Nachbarn fesselte er Grösel mit einer Wäscheleine und brachte ihn auf dem Handwagen zur Wache. Die Mutter musste wohl ohnmächtig geworden sein. Jedenfalls saßen außer dem Sanitäter und dem zweiten Nachbarn keine weiteren Bürger auf dem Revier.

„Holen Sie Grösel“, sagte der Major, nachdem er die beiden Zeugen fortgeschickt hatte. Pauligk brachte Grösel herein, und der Major bot ihm vis-à-vis unserer Runde, die sich zum malerischen Halbkreis formierte, einen Stuhl an. Der Fotograf hatte sich den Schreibmaschinentisch mit der alten „Rheingold“ herangezogen, spannte einen Bogen ein und tippte im folgenden Grösels Aussagen mit.

Der Mann saß im zerknitterten Anzug vor uns und strich sich häufig das weißblonde Haar aus der Stirn, eine Geste, die auf Nervosität schließen ließ. Bis auf ein paar Kratzer im Gesicht und an den Händen war er ein hübscher Junge, kräftig gebaut, mit einem offenen Gesicht und hellen Augen. Eigentlich der Maiplakat-Typ. Hätte er gelächelt, wäre Grösel das beste Modell für eine Zahnpastareklame gewesen. Zu unserem Erstaunen beantwortete er die erste Frage des Majors, die den üblichen Fragen nach Name, Alter, Wohnort und Beruf folgte und direkt auf die mögliche Tat zielte, die Frage nach seinem Alibi für die vergangene Nacht nämlich, mit einem Wortschwall, der ihn sofort als Täter belastete.

Wusste der Junge nicht, was er uns erzählte? War er noch so betrunken?

Wir hörten seine sachliche Stimme und das Klappern der „Bheingold“ und wagten, wenigstens kann ich das von Pauligk und mir behaupten, kaum zu atmen. Grösel, der noch immer nach einem erbärmlichen Fusel roch, berichtete ohne Stocken, ja sogar mit einer bemerkenswerten Gewandtheit, was er am Abend vorher gemacht hatte, genauer gesagt, was da mit ihm gemacht wurde.

Allein hatte er das Waldidyll aufgesucht, eine Stunde vor Schankschluss und nach einem Streit mit seiner Freundin. Das Mädel stellte, gemessen an dem allgemein ärmlichen Lebensniveau und ihrer eigenen Tätigkeit in der Seidenspinne, recht gediegene Ansprüche. Vorigen Sommer, erzählte Grösel, hatte er ihr zwei Kleider und ein Paar Schuhe kaufen müssen. Am gestrigen Abend nun habe sie wieder ein neues Kleid getragen. Er habe herausbekommen, dass ein Großbauernsohn, mit dem sie ihn seiner Ansicht nach schon längere Zeit betrog, es ihr geschenkt hatte. Das Kleid hätte er ihr, wie er formulierte, „gleich am Leibe zerrissen“. Nun aber beschloss er, ihr ein anderes zu kaufen, und weil er wusste, dass dabei sein letztes Geld draufgehen würde, habe er sich vor Verzweiflung einen antrinken wollen. Im Waldidyll habe er in dieser Stunde etwa zwölf Klare und vier halbe Liter getrunken. Es hätten kaum Leute dagesessen, als er aber auf dem Nachhauseweg war, vermisste er seine Brieftasche.

Da sei er wieder zurückgegangen, denn ihm war eingefallen, dass er vor dem Gasthof im Schein der Türlampe sein Geld nachgezählt und wieder überlegt habe, ob er das Kleid kaufen oder mit dem Mädel Schluss machen soll. Dabei, fiel ihm ein, musste er wohl die Brieftasche beim Wiedereinstecken zwischen Mantel und Jackett geschoben haben, und so konnte sie noch vor der Tür liegen. Als er näher gekommen sei, wäre das Türlicht ausgewesen, dafür habe ein heller Vollmond den Gasthof beleuchtet. Licht brannte auch noch oben in der Schlafkammer der Wirtsleute.

Als er gerade damit anfangen wollte, die Umgebung vor der Tür nach seiner Brieftasche abzusuchen, habe er hinter dem Haus ein Geräusch gehört, das sich wie das Probieren von Schlüsseln anhörte. Er glaubte, der Wirt sei noch einmal hinuntergegangen, und um ihn zu fragen, ob er vielleicht etwas gefunden habe, lief er zum Hintereingang. Dort war zunächst kein Mensch gewesen. Dann aber hätte er die Pistole in seinem Rücken gespürt und dass jemand hinter ihm stand in der Dunkelheit. (Der Schatten des Hauses fiel in diese Richtung.)

Der Mann, der ihm das Schießeisen zwischen die Schulterblätter gestoßen hatte, war mit einem langen hellen Mantel bekleidet. Seinen breitkrempigen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen. Ein paar Meter weiter an der Landstraße, das entdeckte Grösel erst jetzt, parkte das Auto des Fremden. Dieser Agent nun, wie Grösel den Mann in seiner folgenden Erzählung nannte, habe ihn vor die Wahl gestellt, entweder mit einzubrechen ins Waldidyll oder von ihm lautlos umgelegt zu werden. Denn auf seiner Pistole steckte ein Schalldämpfer.

Während sie eine Zeit lang gemeinsam den Schlüsselbund des Agenten, an dem sich auch Dietriche befanden, ausprobierten, aber kein Hereinkommen war, teilte der Agent ihm mit, er hätte mit den Wirtsleuten eine alte Rechnung zu begleichen. Worum es sich dabei handle, gehe Grösel einen Dreck an. Bei dem Wort „Dreck“ und überhaupt bei allen Wörtern mit „r“ verriet der Agent seine süddeutsche, wahrscheinlich bayrische Herkunft. Dass er auf jeden Fall aus dem Westen war, sah man schon an seinem neuen weichen Hut und dem guten Mantel. Sein ganzes Auftreten verriet Entschlossenheit. Ein Mord schien ihm ein Kinderspiel zu sein, und Grösel konnte ihn sich gut als führenden Mann einer westlichen Schieberbande vorstellen. Es war ja bekannt, dass die Besitzer vom Waldidyll dunkle Geschäfte mit Schiebern hatten.

Er wollte nur „das Geld wieder“, hatte der Agent gesagt und Grösel vorgeschlagen, er sollte den Wirt, in dessen Zimmer ja noch Licht war, rufen. Dabei könne er seine Geschichte mit der Brieftasche erzählen.