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In der Nachwendezeit wird Frau Brack, die bundesdeutsche Unternehmerin, die den halben Muldentalkreis aufkaufen wollte und dann pleiteging, mit Morphin ermordet. Motive für den Mord haben viele Einwohner von Wurzen: Arbeitslose, in den Ruin Getriebene, Natur- und Umweltschützer. Die Ermittlungsgruppe um Kriminalhauptmeister Torsten Gräfe findet auch schnell Unregelmäßigkeiten im Giftbuch eines Pflegeheimes. Aber die Verantwortliche hat mehrere Liebhaber mit einem scheinbar wasserfesten Alibi. Als dann noch eine Gymnasiastin aus der linken Hausbesetzerszene erschlagen wurde und die Polizei Drohanrufe bekommt, wird es Ernst. Übrigens mischt der inzwischen pensionierte, vorher noch zum Major aufgestiegene Merks heimlich mit.
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Seitenzahl: 178
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Steffen Mohr
Mord im Wunderland
Ein Krimi um, nach und mit Ringelnatz
ISBN 978-3-95655-382-0 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 1995 im Verlag Nouvelle Alliance, Leipzig.
Alle Personen und Ereignisse sind reine Fantasieprodukte. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit entstanden absichtslos und wären reiner Zufall.
© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Die Bremsen des kleinen rivierablauen Opel Corsa quietschten. Das Damenfahrzeug raste auf die Postmeilensäule zu. Grell rückten die Farben des berühmten Wahrzeichens der Stadt aus dem Dunkel der Nacht. Gespenstisch blitzte das Hellblau und Gold des kursächsischen Wappens. Kurz vor dem Aufprall schlitterte der Kleinwagen zur Seite und stand.
Die Scheinwerfer leuchteten nun auf ein Schaufenster und die großzügig geschwungene Schrift hinter Glas: „40 Jahre Franke- Uhren-Schmuck, Werkstatt mit Tradition“. Dahinter schimmerten über und zwischen den säuberlich arrangierten Zeitmessern, Ketten, Ringen und Broschen das Silber und Grün und die farbigen Glaskugeln der Weihnachtsdekoration. Urplötzlich schalteten die Strahler des Corsa ab. Die Fahrertür wurde aufgerissen.
Etwas stürzte heraus. Schlug dumpf aufs Pflaster der Dresdener Straße. Blieb liegen: ein großer roter Ballen Stoff. Kirschrot oder russenrot? Das war im heimelig sparsamen Licht des zweiarmigen Kandelabers nicht genau auszumachen. Aber auch eine breite weiße Borte war an das Stoffbündel genäht und schleifte jetzt im Dreck.
Der Stoffballen stöhnte. Dieses Stöhnen klang um so unheimlicher, weil die Kreuzung sonst menschenleer lag. Nichts rührte sich hinter den Geschäftsscheiben, etwa denen des Antikhandels gegenüber, der für Haushaltsauflösungen auch persönliche Besuche versprach. Bis auf zwei verschwommene Lichtpunkte hinter den Vorhängen starrten die Fenster der Mietswohnungen dunkel und leer in die Nacht. Weder vom Crostigall herab, wo der bekannteste Bürger von Wurzen, also Joachim Ringelnatz, geboren wurde, noch von der Speisenbar Genedl her aus der Dresdener Straße, noch vom Bahnhof herunter oder vom Markt, die Wenceslaigasse herauf, bewegte sich Mensch, Katze oder Hund.
Es war schon so, wie die braven Wurzener zu sagen pflegten: „Bei uns wär'n abends um achte de Bordkanten hochgezog'n.”
In diese, bis auf das nasskalte Wetter eigentlich behagliche Stille hinein keuchte und ächzte etwas in dem roten Stoff. Der Ballen rappelte sich mit einmal auf, streckte im Knieen zwei Arme hoch. Kriegte die offen schwingende Autotür aber nicht zu. Da ließ er es sein und rutschte auf allen Vieren in die entgegengesetzte Richtung.
Wie ein Tier, dem man ein dickes rotes Tuch übergeworfen hatte, kroch das Wesen an die steinerne Umfassung der Postmeilensäule heran. Taumelte zurück, prallte mit dem Rücken gegen das Auto und stand da aufrecht und schnaufte. Eine spitze rote Mütze trug es, ein gefährlich aussehender Zwerg, aus einem der Horrorfilme entstiegen, die man hier in Sachsen noch nicht einmal seit fünf Jahren in den Videotheken entleihen konnte. Unkenntlich blieb das Gesicht, über das die Kapuze nach vorn gerutscht war. Trotzdem schien das Monster selbst Augen zu besitzen und damit die uralten Inschriften auf der Säule entziffern zu können. Und Lippen. Und Zunge.
Mit gepresster Stimme, als drücke ihm jemand die Kehle zu, las es leise und stockend die Entfernungsangaben vom uralten steinernen Fahrplan ab.
Trotz der Geschlechtslosigkeit dieser rauchig-gurgeligen Stimme hörte man, falls jemand es hörte, ein tiefes Entsetzen, ein Grauen heraus. Jede Angabe für die Zeitdauer einer Reise von Wurzen nach dem Rest der Welt versah das Monster mit einem Fragezeichen, als wäre der in Stein gehauene Stundenabstand und überhaupt alles, was es erblickte, nicht wirklich da, sondern Fiktion, ein Hirngespinst, ein böser Traum.
„Erstens. Lulbiz 4 Stunden? Zweitens. Oschaz 6 Stunden? ... Dresden 18 Stunden? ... Leipzig 6 Stunden? ... Chemnitz? ...” Danach ließ der verkleidete Mummenschanz den ziemlich neuen und sicherlich noch nicht abgezahlten Opel völlig im Stich, so als hätte er vergessen, auf welche Art er hierher gekommen war.
Mit einem plötzlichen Ruck taumelte er mehrere Schritte nach vorn, blinde Kuh beim Topfschlagespiel.
Erwischte gerade noch ein Stück feuchte Mauerecke zwischen Schaufensterscheiben.
Ein Wattebart zitterte dem Roten voran, als er im Zickzack die Wenceslaigasse hinunter in Richtung Markt torkelte. Heftige Anfälle schüttelten ihn immer öfter. Dann verschnaufte er an einer Hauswand, einem der weihnachtlich glimmenden Kandelaber oder einer Geschäftsauslage - Thiele’s Früchtemarkt etwa, wo das gebogene Ziergeländer seinen zitternden Händen Halt bot.
„Deutsche Äpfel - gereift auf Sachsens Sonnenfluren”, las er ergriffen die Reklame ab. Gegenüber, im Schaufenster des Goldschmiedemeisters Herbert Holl, blinkte eine Schießscheibe. Sauber saßen die Einschüsse in dem farbig bemalten Holz, rund um den verfinsterten Sonnenball, der über einer idyllischen Muldenbrücke schwebte.
Der Meister war dieses Jahr Schützenkönig der alten Kreisstadt geworden. Bestimmt war ein so treffsicherer Mann auch in der Lage, im nächsten Jahr Meisterschütze des neu gebildeten Muldentalkreises zu werden, in dem Wurzen seinen Status als Kreisstadt an das nahe gelegene Grimma abgeben musste. Doch vielleicht verbot ihm das sein Lokalstolz. Vielleicht würde es auch kein Schießen im Kreis geben, zumindest kein gemeinschaftliches in eine Richtung, auf eine einzige runde bunte Königsscheibe.
Dumpf ahnte das rote Monster, dass es wahrscheinlich nicht einmal die nächste Stunde und schon gar nicht das in wenigen Tagen beginnende neue Jahr erleben würde. Es schwankte am Turm der ehrwürdigen Wenceslaikirche vorbei, neben der seit Jahrhunderten die ältesten Wurzener unter dem Kirchhofpflaster begraben lagen. Stolperte über den rostigen Pfahl einer Bauabsperrung und krachte zu Boden. Überall und besonders an unvermuteten Ecken wurde seit der Wende in Wurzen gebaut. Da strauchelten selbst normale Bürger am hellerlichten Tage.
Speichel rann dem Riesenzwerg über den Bart. Seufzend rappelte er sich wieder auf.
Verirrte sich ein Stück in die Färbergasse hinein, wo im Zuge der großen Freiheit von 1990 das erste Bordell in Wurzen eröffnet wurde und bald darauf unter ungeklärten Umständen abbrannte. Möglicherweise war es Versicherungsbetrug gewesen, aber wer konnte das beweisen? Allerdings hatte das Freudenhäuschen seinen altbundesländischen Betreibern nie einen rechten Gewinn erbracht, was in einem lutherisch frommen Ort, wo kein Ehemann einen heimlichen Sprung tun konnte, eigentlich von vornherein absehbar schien.
Wieder starrte das von Krämpfen geschüttelte Wesen auf eine Ladenwerbung. „Jagdsaison. Büchsenmachermeister”. Der im Fenster ausgelegte Spruch gab erneut Rätsel auf: „Ob für Schützenverein oder Hund - wir machen uns für Sie ...” Drei Pünktchen. Warum drei Pünktchen?
Wie, um Himmelswillen, ging der Reim zu Ende? Wir machen uns für Sie rund? Oder: wund? Vielleicht: gesund? Etwa gar: Wir machen uns für Sie zum Mund, Hund, Grund, Fund, Spund? Ganz zu schweigen von apostrophierten Reimungen, wie: zum Kund’, zur Stund’, zur Wund’? Vielleicht bestand der raffinierte Trick des unvollendeten Werbeslogans auch einfach darin, ein in Wirklichkeit gar nicht auffindbares Reimwort zu suchen und sich somit das zu merken, was einem Kopfzerbrechen bereitete, nämlich schlichtweg das Jagdgeschäft des Herrn Schildhauer.
Er kehrte um und gelangte in die schmucke Gasse zurück. Die führte nun abschüssig zum Markt hinab, um sich kurz davor im leichten Schwung wieder aufwärts zu wölben.
Der vierschrötige Mensch, der hinter der Gardine im ersten Stockwerk stand, hatte einen guten Ausblick.
In seinen derben Händen lag ein großes Nachtfernrohr, alter NVA-Bestand. Damit schwenkte er langsam ein Stück der Wenceslaigasse ab, hinauf und eben so langsam wieder hinunter. Der Sichtwinkel reichte, wenn der Mann an die äußerste Ecke des hervorspringenden Erkers trat, bis auf den Markt mit dem Brunnen.
Draußen fiel unvermittelt dünner Schneeregen auf die Kandelaber, glitzerte irritierend vor den Auslagen der Konditorei Praetsch und zerrann auf dem Pflaster zu Schmiere. Man schrieb den zwanzigsten Dezember, ein Dienstag. Alle diese kleinen und größeren Geschäfte hatten seit ein paar Stunden geschlossen. Auch die Amtszimmer in Stadthaus und Landratsamt waren wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes pünktlich achtzehn Uhr leer gewesen. Selbst der Bürgermeister (CDU natürlich, denn man lebte in Kurt Biedenkopfs Sachsen, der hierzulande mindestens ebenso beliebt war wie einst der starke Kurfürst und König von Polen) hatte heute eine halbe Stunde früher als sonst seinen Schreibtisch verlassen. In ersichtlicher Eile war er ins Kaufhaus Fischer gestürzt, um eine Festtagsüberraschung auszusuchen. Jetzt freilich stand über Fischers modischen Mänteln, Kleidern und Blusen im Stockwerk höher der Mann mit dem Fernrohr. Das unermüdliche Läutewerk der Stadtkirche schlug soeben die Viertelstunde. Der Vierschröter setzte sein Nachtglas ab und verglich die Zeit mit der Armbanduhr.
„Dreiundzwanzig Uhr und vierzig Minuten”, gab er dem Ehepaar bekannt, dass missbilligend hinter ihm stand und bei dem er zu Gast war, alte Freunde.
Er selbst wohnte in Grimma, der neuen Hauptstadt des Muldentalkreises. Im Grunde seines, wie seine Hände und Füße sicherlich ebenfalls großen und robusten Herzens verachtete er die kleine Stadt, in der seine Gastgeber wohnten. Die wiederum schätzten die Art, wie plötzlich vom gemütlichen Sessel aufgesprungen war und zum Fernrohr griff, kaum. Schon gar nicht gefiel ihnen, dass er sofort der braunen Boxerhündin pfiff, die im Korridor geschlafen hatte und nun, die Pfoten auf den Fenstersims gelegt, neben ihm hechelte.
„Georg ... was hast du bloß?” Die Frau legte dem Riesenkerl beschwichtigend eine Hand an den Ellbogen.
„Ein Geräusch”, sagte der, ohne sich umzuwenden. „Ein für diese Nachtstunde nicht gerade typisches Geräusch.” Sein Teleskop richtete sich links herauf in die Wenceslaigasse. In diesem Augenblick flüsterte der brave Gastgeber, eine Davidsfigur gegenüber dem massigen Stache: „Jetzt höre ich es aber auch.”
„Was? Was?”, fragte die Frau. Aber dann vernahmen sie alle drei das seltsame, stockende Geklapper von Schritten da unten. Es klang, als würde eine betrunkene Frau über das Pflaster stolpern. Stolpern. Stehenbleiben. Weitertrappeln. Wieder anhalten. Und erneut hastig los stiefeln.
„Seht ihr?”, fragte Stache. Er gab ein genüssliches Schmatzen von sich. Der Hund wackelte aufgeregt mit dem Sterz. Jetzt konnte Stache das Doppelrohr absetzen. Direkt vor ihren Augen lief ein Mensch ins Bild, taumelnd, überhastet. Prallte gegen die Laterne vor Café und Konditorei Praetsch und klammerte sich daran fest. Hier harrte er eine Weile lang aus, mit tief gesenktem Kopf. Vom Gesicht war absolut nichts zu erkennen, Bartimitation und eine weit geschnittene Kapuze verdeckten es fast völlig.
„Der Weihnachtsmann”, kicherte die Frau erschrocken.
Es handelte sich jedoch um keinen Witz, und das Kichern der Frau klang gar nicht danach. Tatsächlich lehnte drüben auf der anderen Straßenseite eine Person im üblichen Kostüm des Weihnachtsmannes, Sonderpreis 18 Mark 60, die Kapuze mit Wattebart und Fäustlingen, der Mantel aber etwas teurer, so zwischen sechzig bis funfundsechzig Mark und bestimmt nicht als modische Winterbekleidung bei Fischer zu haben.
„Er zittert, als ob er friert”, wunderte sich der Gast aus Grimma. „Aber es kann ihm doch gar nicht so kalt werden in seinem dicken Fummel.”
„Würde mich nicht wundern, wenn der Star aller Kindergärten und Vereinsfeiern gleich kotzt”, meinte der Wohnungsinhaber. „Man weiß doch, was die bei solchen Feiern dem Weihnachtsmann angeblich Gutes tun wollen und ihn volllaufen lassen wie einen Schlauch.”
„Der ist nicht betrunken”, entgegnete Stache scharf. Er war ziemlich rechthaberisch veranlagt und wusste, dass genaues Beobachten eine seiner Stärken war. „Der ist irgendwie ... na, wie soll ich sagen? Also der ist irgendwie fertig. Verprügelt vielleicht. Verletzt. Der schleicht wie ein Mensch, der irgendwie verwundet ist.”
Er griff entschlossen nach dem Fensterriegel. „Lass bloß zu, Schorsch!”, sprang ihm die Frau dazwischen. „Wer weiß - vielleicht haben ihn die Skins oder die Punks oder die Ausländer oder wer auch immer verdroschen. - Lass unser Fenster zu. Da mischen wir uns nicht ein.”
Die Boxerhündin rollte mit den Augen und drehte hektisch ihren bulligen Kopf zwischen der Frau und dem Gast.
Inzwischen schwankte unten auf der Gasse der Weihnachtsmann weiter zum altehrwürdigen Rathaus hin, dessen Turm den Zugang zum Marktplatz beherrschte.
Stache setzte das Fernglas erneut an. Dabei brummte er: „Seit die Verbrechen nach der Wende schlagartig zugenommen haben, besitzen wir in Grimma eine Bürgerwehr. Eine schlagkräftige Truppe mit ein paar Hunden. Sobald sich etwas Verdächtiges zeigt, ruft einer der Männer die anderen an. Egal, zu welcher Stunde, wir sind durch ein gut eingespieltes Netz miteinander verbunden und gehen bei jedem Wetter heraus auf die Straße.
Aber ihr hier in Wurzen ...”.
„Ich weiß doch, Schorsch, ich weiß doch”, besänftigte ihn die gutmütige Hausfrau. „Wir haben dich doch sogar im Fernsehen gesehen bei deinen nächtlichen Rundgängen.”
„Die Zahl der Ladeneinbrüche ist durch unsere Aktivität fast auf Null gesunken”, fuhr der Besucher fort. „Nicht, dass wir der Polizei Konkurrenz machen wollen. Aber schließlich kann die ja nicht allgegenwärtig sein. - Komm!”, rief er plötzlich die Hündin an. Die sprang verliebt an ihm hoch, tänzelte aufgeregt und zeigte ihr gefährlich blitzendes Gebiss.
„Willst du etwa runter?”, fragte der Wurzener Gastgeber. Er lächelte schwach. „Wollen wir nicht lieber die Schutzpolizei verständigen?”
Und er lief zum Telefon, das auf einem gedrechselten Blumenständer im Korridor stand.
Da aber befand sich der Grimmaer Rübezahl schon neben ihm und holte die gefütterte Lederjacke vom Haken. „Aus, Carmen! Aus!”, befahl er dem Tier, das wie aufgezogen an ihm hoch und herunter hüpfte und dabei stumm die Zähne bleckte. Er legte es an die Laufschnur.
„Ich werde die Polizei anklingeln”, entschloss sich der schmächtige Mann. Während er noch die dritte Nummer des bekannten Notrufs zurückdrehte, stand Georg Stache - er hatte sich ohne zu fragen, einfach den Hausknecht vom Schlüsselbrett gelangt - bereits vor der Haustür. Unangenehme Feuchtigkeit schlug ihm ins Gesicht. Er sah die Gasse hinan, flüchtig vorbei am Zigarettenladen von Rosel Langner, die trotz ihrer achtzig Lenze immer noch im Geschäft stand, um diese Uhrzeit verständlicherweise natürlich nicht.
Stache fasste die Hündin kurz und folgte der immer mühsamer ausschreitenden Person in sicherem Abstand. Es war schwer auszumachen, wer leiser auftrat: Carmen mit ihren Wind und Wetter gewohnten Pfoten oder der Vierschröter in seinen weichen Schuhen. Der Vermummte schaffte es gerade, bis zum Brunnen auf der Mitte des Marktes zu gelangen. Dort hielt er sich fest.
Über ihm ragte aus der Brunnenschale das Denkmal für Wurzens Dichter Joachim Ringelnatz. Einhundertelf Jahre wäre der witzigste unter Deutschlands Poeten in diesem Jahr geworden, ein Jubiläum, das ihm selbst sicher des Feierns mehr wert gewesen wäre als ein rundes mit einer Null dahinter.
Stache drückte sich an die Straßenecke, wo Domgasse und Liegenbank auf den Platz mündeten, auf dem bis vor Kurzem noch die bunten Buden des Weihnachtsmarktes gestanden hatten. Hinter seinem Rücken tummelten sich auf einem Prospekt der Stadtapotheke allerlei Zwerge mit roten Mützen. Darunter stand: „Hustendetektive - die lösen Hustenfälle”.
Er selbst blieb gut verborgen und hatte doch den gesamten schönen Markt im Blick. Deutlich zeichnete sich der dunkle Koloss des steinernen Seepferdchens ab, auf dem der hakennasige Verseschmied, ebenfalls zu Stein erstarrt, ritt.
Der Weihnachtsmann war zusammengebrochen. Wie vor einem Altar kniete er nieder, die roten Fäustlinge an den Brunnenrand geklammert. Rund um das Denkmal war die berühmte Zeile eines Gedichts aus dem Stein gehauen: Überall ist Wunderland. Jene Zeile also, die längst ihren Siegeszug in alle möglichen deutschen Lesebücher angetreten hatte, nebst ihrer schrulligen Fortsetzung: Überall ist Leben. Bei meiner Tante im Strumpfenband wie irgendwo daneben.
Eine krächzende oder gurgelnde, schwer zu beschreibende, aber jedenfalls höchst gequälte Stimme drang aus dem noch immer unsichtbaren Gesicht unter der Kapuze. Selbst Stache, den das Jagdfieber heiß und kräftig durchpulste, schauerte dieser Krächzton. Es war, als ob der Weihnachtsmann die Inschrift laut studieren würde und sich wunderte dabei, grenzenlos über irgendetwas Sinnloses, was ihm begegnet sein mochte, wunderte. Es schien die Stimme eines sehr alten Mannes, die oft sehr hoch klingt, die da, um Luft ringend, langsam den Vers absprach, so, als würde sie seinen Sinn bezweifeln: „Überall ... ist ... Wunderland ...? Überall ... ist ... Leben?”
Im selben Augenblick, wie das geredet war, verloren die Hände des Menschen ihren Halt. Er fiel hart aufs Gesicht und rutschte, nun bloß ein Bündel Rot, auf das Kopfsteinpflaster. Er gab keinen Laut mehr von sich. Mit ausgreifenden Schritten stürzte Stache, die Hündin knapp an der Leine, auf den Gefallenen zu.
Auf der Bundesstraße 106, die von Grimma nach Norden führt, preschte ein einsamer Audi 80 mit Leipziger Kennzeichen durch die Nacht. Am Steuer saß, was weder Wagen noch die Kleidung des Fahrers verrieten, ein Polizist.
Kriminalhauptmeister Torsten Gräfe wirkte mit seinen Apfelbäckchen, den hellen Augen und dem ständig zerstrubbelten blonden Haar wie ein großer Junge. Tatsächlich galt er mit seinen vierunddreißig Jahren bei einigen seiner Kollegen in der Polizeidirektion Grimma für ein Greenhorn. Die Frauen unter den über fünfhundert Angestellten des ausgedehnten Polizeibezirks - immerhin umfasste er die fünf ehemaligen Landkreise Borna, Geithain, Döbeln, Grimma selbst und Wurzen! - mochten den jungen Kriminalhauptmeister durch die Bank. Sie konnten es einfach nicht begreifen, dass der hübsche Bursche geschieden und offenbar immer noch in seine Frau verliebt war, da er sie regelmäßig in Leipzig besuchte. Ganz im Gegensatz zum weiblichen Polizeipersonal meinte mancher alte Hase in der Kripo, den Gräfe sollte man auf keinen Fall allein in die Botanik schicken, wenn es um kompliziertere Verbrechen als den Einbruch in einen Kaninchenstall ging.
In dieser Nacht jedoch hatte sich Torsten Gräfe nicht auf die von Schneeschlieren bedeckte Straße hinaus begeben, um seine Exgattin und das gemeinsame Kind in Leipzig zu besuchen. Obwohl er einige Kilometer weit tatsächlich in die Richtung zur alten Pleißenmetropole fuhr. In dieser Nacht hatte es, wenn dem Anruf der Wurzener Schutzpolizei zu glauben war, einen Mord gegeben. Und er selbst war in dieser Nacht - zu allem Unglück, wie die Alten sicherlich am Morgen sagen würden! - der leitende Diensthabende in der Kriminalpolizeiinspektion.
Zwanzig Minuten nach Mitternacht hatte Torsten Gräfe in seinem Dienstzimmer im historischen Grimmaer Schloss noch mit dem Gameboy gespielt, den er Nadine, seinem abgöttisch geliebten, acht Jahre alten Kind, zu Weihnachten schenken wollte. Null Uhr einundzwanzig schrillte auf LIK, dem polizeiinternen Netz für Information und Kommunikation, der Apparat.
Gräfe, ganz mit den Gedanken bei seiner verlorenen Familie, nahm ab. Ein Kommissar der Schutzpolizei von Wurzen meldete sich.
Die haben wenigstens einen Kommissar im Dienst, hatte er gedacht. Unsere Kriminalkommissare sind gerade auf die Prärie zwischen Döbeln und Grimma verteilt. Und mein schätzenswerter persönlicher Vorgesetzter, also Kriminalkommissar Bühl, hat sich, wie gestern Nachmittag von WinTelex, unserem über alles geliebten Fernschreiber, abzulesen war, beim Skiurlaub in Tschechien das Bein gebrochen.
Wenn es nur nichts allzu kompliziertes ist, wozu die Wurzener, die keine eigene Kriminalpolizei haben, mich mitten in der Nacht brauchen.
Das alles war Torsten Gräfe in Sekundenbruchteilen durch den Kopf gegangen. Ungeduldig hörte er dem Bericht des dienstranghöheren Schutzpolizisten zu: ... Eine durch ein noch festzustellendes Gift getötete Person am Ringelnatzbrunnen ... Der selbst ernannte Bürgerwehrhauptmann Georg Stache aus Grimma als Tatortzeuge ... Polizeihauptmeister Nicki - ja, der hieße so: Nicki (und nicht Klaus oder Nikolaus) - also der PHM Nicki Ring kurz darauf am Ereignisort ... Auch der Leichenschauarzt sei inzwischen eingetroffen und habe sowohl den Tod wie einen verdächtigen Einstich in den linken Oberarm der Person diagnostiziert ... Der Arzt vom Roten Kreuz übrigens, von dessen Einsatzzentrale hier in Wurzen der Arzt ... Ein kompetenter Mann. Wenn der sage: tot, dann hieße das immer tot, und geirrt habe der Doktor sich in den vergangenen Jahren nur einmal, nämlich als der allen Wurzenern wohl vertraute Penner Martin mit erfrorenen Gliedern im Schnee des alten Friedhofs, eine halb geleerte Pulle Wernesgrüner Pils in der aufrecht erstarrten rechten Hand ...
„Und der Martin war nicht tot! Denken Sie mal, der war nicht tot!”, beendete der Wurzener Polizeikommissar seinen Bericht.
Gräfe hasste es, wenn er bewusst oder unbewusst mit der Nase auf seine geringe Kenntnis von Land und Leuten vor Ort gestoßen wurde. Der Kriminalhauptmeister war, obwohl in Thüringen geboren und auf der damaligen Mittleren Polizeischule in Apolda ausgebildet, ein Leipziger. Hier verbrachte er die wichtigsten Jahre seines Lebens. Erst die vielfachen Umschichtungen im Polizeidienst nach der Wende hatten ihn vor zehn Monaten nach Grimma befördert.
„Geben Sie mir Polizeihauptmeister Ring am Fundort”, hatte er den weitschweifigen Kommissar unterbrochen.
„Ich schalte Sie zu Ringelnatz, besser gesagt: zu Ring am Ringelnatzbrunnen”, gehorchte mit verblüffender Freundlichkeit der Schutzpolizeikommissar.
Gräfe hatte sich von diesem Nicki, der nicht Nikolaus hieß, den Leichenschauarzt ans Telefon geben lassen. Mit gerunzelter Stirn hörte er sich die Diagnose und die knappen Vermutungen des Mediziners an. Dabei zerstrubbelte er mit der linken Hand sein Haar noch mehr, als es schon zerstrubbelt war. Jetzt, mit diesem ernsten Blick, sah er für die Frauen mindestens fünf Jahre jünger, für die Männer aber nach wie vor wie ein alter Trottel aus.
„Ich bin in spätestens einer halben Stunde bei euch”, hatte er dann gesagt. „Sie wissen ja: Nichts an der aufgefundenen Person verändern, Neugierige fernhalten und so weiter. Stache soll seine Boxerhündin fest an die Leine nehmen. Wir brauchen das Vieh vielleicht für ein Experiment.”
„Für ein - was?”, fragte der Arzt.
„Vielleicht muss es das Gift probieren, das dem Weihnachtsmann das Leben kostete.”
„Herr Kollege”, wandte der Doktor ein, „das Gift wurde offensichtlich intramuskulär verabreicht.”
„Na, dann eben nicht”, grinste Torsten Gräfe und warf den Hörer hin. Danach hatte er den Kriminaltechniker im Bereitschaftsdienst angerufen. Der war, als schliefe er in seiner Bennewitzer Wohnung auf dem Telefon, sofort am Apparat.
„Ich hole dich in fünf Minuten an der Kreuzung ab.”
„Zu Befehl”, sagte der Bennewitzer leicht verschlafen. Manchmal war es gut, dass die Kriminalpolizei in der DDR militärisch organisiert gewesen war. Es ersparte einfach Erklärungen, wenn es darum ging, in kurzer Zeit einen fähigen Mann zur Verfügung zu haben. Spätestens bei einer mehrmonatigen Umschulung in Altbundesland hatte Torsten Gräfe den Vorteil dieses kleinen Unterschieds zwischen Kripo West und Kripo Ost schätzen gelernt. Der Westen freilich hatte ihnen auch seine Vorzüge eingebracht - siehe Audi 80, ein Hitziger Viertürer. Was waren sie doch kurz nach der Wende in ihren altersschwachen Wartburgs oder gar Trabis einer technisch haushoch überlegenen Gangstermafia nachgejagt, ohne Aussicht auf Erfolg.
Und die beim abendlichen Bier mit Abenteuerlust im Blick von den Altbundesländlern vorgetragene Frage, ob denn die Kripo der DDR nicht ein willfähriger Sklave der Stasi gewesen sei, konnte Torsten Gräfe mit gutem Gewissen in drei kurzen Sätzen beantworten.
Diese Sätze lauteten: „Wir haben abgeräumt in der Spitze. Nicht bloß ich, sondern auch andere vernünftige Leute in der DDR-Kripo haben sich einfach dumm gestellt, wenn da bloß ein Protest gegen Honecker und nicht ein wirkliches Verbrechen zu ermitteln war. Und ich gehörte nicht zu K - eins.”
K 1 war die politische Abteilung der DDR-Kriminalpolizei gewesen, die dienstlich verpflichtet gewesen war, mit Gesinnungsspitzeln vom Ministerium für Staatssicherheit zusammen zu arbeiten.
„Dann spielten Sie”, hatte einer der Altbundis mit weisem Lächeln nachgehakt, „in der DDR so etwa dieselbe Rolle wie die Luftwaffe oder die Fallschirmpiloten in Hitlers Wehrmacht? Ich entsinne mich da einer verbürgten Geschichte, wie die Fallschirmspringer sich 1942 in der Festung Torgau - übrigens ganz in der Nähe Ihrer Heimat, Herr Gräfe! - verschanzten. Bloß, weil sie nicht der Waffen-SS beitreten wollten. Haben Sie unter der sozialistischen Diktatur etwa dieselbe Rolle gespielt?”
„Vielleicht?”, hatte Gräfe mit einem undefinierbaren Lächeln, das sich nur in seinen hellblauen Augen abzeichnete, den geschichtskundigen Altbundi mit jiddischer Schläue zurückgefragt.
Der spendierte ihm daraufhin wortlos ein Kölsch. Eins.
Deutschland hin, Deutschland her. Man konnte jetzt jedenfalls - und doch eigentlich genau wie früher - ohne Risiko auf der B 106 schneller fahren, als es die Polizei erlaubt.
Wenn man zur Polizei gehörte, versteht sich.