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Wer hat den Tod des Artisten verschuldet? Womit verrät sich der Mörder des Postboten? Warum ist die Trauer der Öko-Bäuerin über den Tod ihrer Schwester geheuchelt? Wer wollte das Auto der Schlagersängerin in die Luft sprengen? Kommissar Gustav Merks ist den Tätern auf der Spur. Seinen legendären Ruf verdankt der gemütliche Sachse einer wirkungsvollen Waffe - seinen kleinen grauen Zellen. Wer die eigenen kriminalistischen Fähigkeiten unter Beweis stellen will, hat hier Gelegenheit: 77 Rätselkrimis versprechen Spaß und Spannung beim Lesen und Lösen. Wer aufgibt oder den falschen Täter dingfest macht, kann sich am Ende die Ermittlungsergebnisse des Gustav Merks ansehen. LESEPROBE: 46. ENGLISCHER NEBEL Dichter Nebel hatte sich über die Stadt gelegt. Bereits am späten Abend war er über Gebäude und Fahrbahnen gekrochen. Er hatte über Nacht zugenommen und am Morgen so gut wie jeden Verkehr lahmgelegt. Überfüllte Straßenbahnen schoben sich an diesem Montag im Schneckentempo vorwärts. Die meisten Leute hatten ihren Wagen vor der Tür stehen gelassen. Kommissar Gustav Merks war aus der Sechzehn ausgestiegen. Nun wartete er in einem Schub Studenten, die der Uni zustrebten, dass die Fußgängerampel auf Grün schaltete. Es war eine normale innerstädtische Straße, dreispurig. Doch die Ampel auf der gegenüberliegenden Seite war schon nicht mehr zu erkennen. An genau einer solchen Kreuzung lag die Wohnung des Verdächtigen. Nachdem der Kommissar fünf Minuten gelaufen war, fand er die Straße und Hausnummer. Da die Mietertabelle von innen erleuchtet war, drückte er auf die richtige Namenstaste und klingelte Sturm. Merks wusste, dass Dennis Hubel in den Morgenstunden zu Bett ging. Schließlich musste er sich von seinem Job als Nachtbarkeeper erholen. Deshalb drückte er wiederholt auf die Klingel. Es tröpfelte ihm unangenehm in den Mantelkragen. In die ungewöhnliche Stille der Hauptstraße hinein ertönte plötzlich ein fröhlicher Guten-Morgen-Gruß. Hubel war es, der wie aus dem Boden gewachsen neben ihm auftauchte und gleich die Haustür aufschloss. Der einem Laufstegmodel für exquisite Herrenkleidung ähnelnde Keeper roch nach seinem Arbeitsplatz und einem aggressiven Haargel. Merks kannte ihn von einer Razzia in seinem Club. »Nun, ohne Wagen vom Dienst zurück?«, wunderte sich der Polizist. »Den habe ich lieber stehen lassen. Bin die zwanzig Minuten gelaufen. Kein Problem für einen jungen, dynamischen Mann wie mich.«
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Seitenzahl: 194
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Steffen Mohr
Rätselkrimis
Ein Kommissar für jede Jahreszeit
ISBN 978-3-86394-676-0 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter. Der Frühling bringt Rauschgift, der Sommer Betrug. Der Herbst bringt den Einbruch Und der Winter den Vollzug.
(nach einem alten Kinderlied)
Was Sie gleich lesen werden, verehrte Löserinnen und Löser, ist ein unterhaltsamer Kurzlehrgang für Kriminalkommissare. Hier finden Sie spannende - teils lustige, teils gruslige - Verbrechen, die Sie selbst ermitteln dürfen. (Der freundliche Lösungsteil am Ende des E-Books wird erst aufgeblättert, wenn keinem in der Familie was Gescheites einfällt - klar?)
Ohne Schnörkel und Tabu verraten diese 77 Geschichten alles über die Alltagswelt unserer Bürgerinnen und Bürger Verbrecher. Und ihres gnadenlosen Jägers, des nur mit seinen grauen Zellen bewaffneten Kommissars Gustav Merks. Ihn gibt es, seit ihn der Autor für »Die merkwürdigen Fälle des Hauptmann Merks« erfand, die im Jahr 1980 im Verlag Das Neue Berlin das Licht der Welt erblickten. Inzwischen kennt ganz Deutschland den Kommissar durch die bisher über 600 Rätselkrimis, in denen der gemütliche Sachse mit dem Kugelbauch vertrackte Fälle mit Witz löst - in vielen Zeitungen, besonders aber im »Sachsensonntag«, erscheinen sie wöchentlich. Der Wochenzeitungsleser aber liebt nichts mehr, als dass in solchen Geschichten dasselbe Wetter herrscht, wie eben gerade draußen vor seiner eigenen Tür: eiskalt oder brühheiß, strohtrocken oder regnerisch. Und so sammelte sich diese Auswahl der besten Krimirätsel in dreizehn Jahren an.
Bleibt dem Autor nur noch übrig, Ihnen das zu wünschen, womit sich Gustav Merks im Kampf gegen seine Arbeitgeber, die Ganoven, am stärksten auszeichnet: Humor bei jedem Wetter!
Steffen Mohr
Mit Anke und Karolin gab es in der Stadt zwei Stardiven, und das war einfach eine Diva zu viel. Zwar traten die beiden jungen Frauen gemeinsam in einem ständig ausverkauften Brettlprogramm auf. Doch als ruchbar wurde, dass die blonde Anke ihrer Kollegin den Lebenspartner weggeschnappt hatte, tickte die Bombe.
Gerade jetzt stand Anke neben ihrem Auserwählten. Sie bückte sich in den Mercedes, mit dem sie als erste Gäste auf dem ländlichen Parkplatz gelandet waren. Der gutmütige Peter, Herr beider Künstlerinnen und einiger anhängender Musikanten und Tänzer, blickte mit großen blauen Augen in die Nachmittagssonne. Eben belud ihn die Braut mit mindestens sechs Blumensträußen.
»Echtes Verlobungswetter, Schatz«, strahlte Peter.
»Jetzt ist es gerade mal 17 Uhr«, bemerkte Anke kühl. »Bis Sieben trudeln die letzten Gäste ein, und dann wird es schon Nacht.«
Während sie neben ihrem Bräutigam auf den romantischen Landgasthof zustakste, meinte sie: »Gott sei Dank kommt mein alter Freund, der Kommissar. Und hoffentlich bleibt Karolin der Party fern.«
Der Weg über den Hof war mit Feldsteinen gepflastert. Der Schnee fiel quasi aus heiterem Himmel. Rasch überzogen die Flocken die weite Fläche des Parkplatzes mit einer dichten Decke.
Es war kurz nach 19 Uhr, als Kommissar Gustav Merks seinen alten Audi neben die anderen Wagen stellte. Vorsichtig, um die für den Anlass frisch geputzten Schuhe nicht zu beschmutzen, balancierte er einen Riesenstrauß und seinen stattlichen Bauch über den Hof.
Drinnen liefen bereits die musikalischen Verlobungsständchen. Als der Kommissar in der Tür erschien, steppte die mollige Karolin zu heißen Pianoklängen über das Parkett. Man konnte über die beiden Künstlerinnen denken, was man wollte - in diesem Augenblick, als die kühle Schönheit neben ihrem Bräutigam still sitzen musste, war Karolin die weitaus bezauberndere Person im Saal. Sie hatte einen witzigen Song über die rosige Zukunft verfasst und verführte damit selbst die anwesenden Brettlkollegen zu Beifallsstürmen. Als sie Anke gelbe Rosen und Peter ein Biedermeiersträußchen mit großer Silberdistel überreichte, beobachtete der Kommissar von der Tür aus die Mienen der Drei genau.
»Wenn Blicke Stichwaffen wären«, dachte Merks. In diesem Moment schob sich Karolin an ihm vorbei nach draußen. Offenbar musste sie zur Toilette.
Anke rief: »Oh, Gustav! Setz dich doch in Ermangelung eines Schwiegervaters an meine Seite!«
Merks gratulierte väterlich, und amüsiert verfolgte er die anschließende Darbietung des Hausballetts. Danach mischte sich eine völlig entspannte Karolin wieder unter die Gäste. Das Büffet wurde eröffnet. In einem günstigen Moment winkte Anke den Kommissar an ihre Seite.
»Denk nicht, dass das, was ich dir anvertraue, bloß Theaterdonner ist. Karolin hat einem der Musiker erzählt, dass sie mich in die Luft sprengen will. Wörtlich! Von einer Autobombe war die Rede. Du hast doch Erfahrung mit so was. Könntest du bitte mal zu unserem Wagen gehen und nachschauen?«
Merks nickte stumm.
Als er schon auf dem Hof war, stand die Braut plötzlich in der Eingangstür und winkte ihn aufgeregt zurück. »Entschuldige. Weißt du denn, welches Fahrzeug unseres ist?«
»Deinen Wagen«, meinte Merks, »finde ich auf Anhieb.« -
Weshalb?
Bei Eisen-Lutz in der Gartenlaube lag eine Leiche. Kommissar Gustav Merks hatte die unverwechselbare, markante Stimme des invalidisierten Eisenhändlers am Telefon sofort erkannt. Mit Glas-Peter, seinem ebenfalls im Ruhestand lebenden Grundstücksnachbarn, befand sich der Alte im Dauerstreit. Mal wuchsen die Zweige der Pflaumenbäume von Eisen-Lutz zu weit über den Glas-Zaun, mal rannten Nachbars Hühner quer durch fremde Blumenbeete. Eisen-Lutz aber war als gewalttätig bekannt. Die Hühner von Glas-Peter erlegte er mit der Sense. Diesmal wahrscheinlich auch den ehemaligen Glaser selbst.
Die ganze Woche hatte es Bindfäden geregnet. Dementsprechend war der Zustand der Wege im Gartenverein. Merks ließ sein Fahrzeug vor dem Torschild mit der Aufschrift »Märchenidyll« stehen. Seinen massigen Körper mühsam bewegend, stapfte er durch den Schlamm.
Irgendwie war trotzdem ein Auto bis zum Grundstück von Eisen-Lutz durchgekommen. Es parkte vorm Zaun. Merks erkannte den Nobelschlitten als den Manta von Glas-Peter. Jetzt musste ihm der Eisenhändler ein bisschen mehr erzählen als die drei Sätze am Telefon: »Der Glaser ist bei mich rein inne Laube. Hat mir angegriffen mit ne Waffe. Ich hab ihm mit de Sense 'n Kopp kürzer gemacht. Komm' Se doch ma vorbei, Herr Kommissar.«
In allen Farben des Frühlings leuchteten lieblich die Krokusse auf Eisen-Lutzens Beeten. Dazwischen, auf dem Weg zur Laube, erblickte der Polizist die tiefen Fußstapfen eines Mannes. Vom Manta aus führten sie direkt auf das Gartenhäuschen zu. Merks sah zu, dass er in die Spuren hineintrat, um nicht noch mehr Schlamm an seine Schuhe zu pappen.
Glas-Peter lag auf den Dielen gleich hinter der Tür. Der als Graf Koks verschriene alte Kleinkapitalist, von dem man sich erzählte, sein Harem erledige alles im Gärtchen, sah im Designeranzug und den frisch gewienerten Markenschuhen, auf deren Sohlen noch das Preisschild klebte, auch im Tode noch ganz passabel aus. Mit einer kleinen Ausnahme: Sein blond getöntes Toupet und ein erhebliches Stück Kopfhaut befanden sich einige Schritte von ihrem natürlichen Sitz entfernt in der entgegengesetzten Ecke des Raumes. Blutspritzer bedeckten den Boden. Die Sense von Eisen-Lutz lag neben dem abgetrennten Kopfsegment.
»Ich habe nullkommanischt verändert, Herr Kommissar.« In seiner Pratze schwang der rotgesichtige Choleriker einen schwarzen Taser. »Mit diesem Elektroschocker hat das Schwein mir angegriffen. Latscht rein in meine Hütte, zieht das Ding und will mir betäuben! Nee, da hab ich mir gleich gewehrt. Und die Sense hat, wie Sie sehn, ganze Arbeit geleistet.«
»Und warum halten Sie jetzt den Scorpion 750 in der Hand?« Merks schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Es war die reine Notwehr, Herr Kommissar!«
»Glas-Peter ist also direkt aus seinem Wagen in Ihre Laube gestürzt und mit dem Taser auf Sie los?«
»Was 'n sonst? Nu machn Se schon Ihre Tatortbildchen.«
»Nicht nötig. Wir müssen bei der Polizei jetzt auch mit Fotomaterial sparen. Außerdem bin ich fest überzeugt, dass sich die Tötung Ihres Gartennachbarn ganz anders abgespielt hat.« -
Wie?
Dem Schlafzimmerfenster von Oxana Theuerkauf gegenüber steht eine gewaltige Kastanie. Dazwischen liegt die schmale Straße, in der die Autos mal gerade so vorbeikommen. Der alte Baum wurzelt vor dem Jugendstilhaus gegenüber. Darin wohnt im ersten Stock, mit Blick auf Oxanas Schlafzimmer, die Exfrau ihres jetzigen Verlobten. Es ist noch Winter, aber nach dem Kalender hat das Frühjahr schon begonnen.
Der Kommissar mit dem gemütlich gerundeten Bauch und der Stirnglatze, also Gustav Merks, blickt von Frau Theuerkaufs Schlafzimmer auf das im alten Stil renovierte Haus gegenüber. Im ersten Stock sind die Gardinen zugezogen. Doch Oxana, die aufgeregt neben dem Kommissar steht, ist sich völlig sicher, dass sie beide gerade von drüben beobachtet werden. Trotz ihrer sechsundvierzig Lenze ist Oxana noch ein propperes Wesen. Die Erregung färbt ihre Apfelwangen rosé, und der Busen im Versandhauspullover zittert verführerisch.
»Sehen Sie bloß«, flüstert sie, obwohl das Fenster wegen der beißenden Kälte draußen geschlossen ist. »Die Gardine wackelt.«
Frau Theuerkauf hat Anzeige erstattet wegen Belästigung. Alissa Troendle, die mit Oxanas Bräutigam verehelicht war, hatte bösartige Briefe geschrieben, insgesamt drei. Eigentlich ist aus den Schreibmaschinenseiten nicht zu erkennen, wer der Absender ist. Aber nun soll sich der Kommissar doch einmal selbst die Lage vor Ort anschauen! Hinter der Kastanie wohnt diese Schlange, und hat sie nicht die volle Einsicht ins Schlafzimmer?
Kommissar Merks kennt einige Briefstellen bereits auswendig. »Am 17. Juli, einem Sonntag, hast du - einen Tag nach deiner Verlobung mit Bernhard - deinen Zweitlover Robert empfangen. Du hast extra dein grünes Flatterhemdchen angehumbst und bist mit ihm gleich in die Kiste. Dann ...« »In der Nacht des 23. Juli«, stand in einem anderen Schreiben, »hast du mit Robert auf dem Teppich Domino gespielt, halbnackt. Natürlich hast du wie immer gewonnen, und er musste sich nach jeder Runde ein Kleidungsstück nach dem anderen ausziehen. Wieder hast du die Gutgläubigkeit deines Bräutigams ausgenutzt, weil er doch sonnabends immer als Security im Tanzcafe helfen muss ...« Oder, im dritten Brief: »Das Bücherregal hast du jetzt vom Fenster gerückt, damit ihr Platz habt für die Lottercouch. Wenn Bernhard wüsste, dass er nicht der einzige Mann ist, der darauf mit dir ...«
»Was ist an den Vorwürfen denn wahr?«, fragt Gustav Merks.
Oxana senkt den Blick. »Alles«, haucht sie beinah stimmlos. Dann wird sie wieder laut: »Aber wer hat denn ein Interesse daran, meine endlich auf ein ganzes Leben zielende Beziehung mit Bernhard zu zerstören?«
»Nun, der im Brief zitierte Zweitlover vom vergangenen Sommer vielleicht?«
»Robert? Ach, von dem habe ich mich im schönsten Einvernehmen getrennt. Der will mir nichts Böses. Damals, naja, da war ich mit beiden noch in der Testphase. - Lesen Sie doch bloß, Herr Kommissar, wie genau diese gehässige Person meine gesamte Zimmereinrichtung und alle meine Gewohnheiten beschreibt!«
»Wenn es Gewohnheiten sind«, meint Merks freundlich, »kennt sie auch dieser Robert. Außerdem ...« Er wirft einen nachdenklichen Blick auf das Haus gegenüber. »Außerdem gibt es einen Beweis dafür, dass Frau Troendle diese Briefe niemals geschrieben haben kann.« -
Welchen?
Hübsche Blumen sandte der Frühling ins Revier - sowie einen kleinen Wanderzirkus, der vor der Stadt sein Zelt aufschlug. Für Andrea Strobelli warben die an allen Ecken hängenden Plakate, für jenen berühmten Hochseilartisten, der die Hauptattraktion war und eigentlich Andreas Strobl hieß. Am Sonnabendnachmittag strömte das unterhaltungshungrige Volk über die Wiese zum glitzernden Tor. Bei dieser ersten Vorstellung sollte es eine Sensation erleben, die keiner sein Leben lang vergessen würde.
Schwungvoll eröffnete eine Dreimannkapelle. Es folgten Tauben- und Hundedressuren, Jonglagen, die schwarz gekleidete Gummifrau Astrid und mehrere von den Zwillingskindern des Direktors erfrischend gespielte Clownsszenen. Wegener, der Direktor, saß hinter dem Schlagzeug, und seine attraktive Ehefrau Astrid demonstrierte im silberweißen Schneeköniginkleid eine Zaubernummer mit Tausenden von der Kuppel herabrieselnden Flocken. Danach spielte das Trio gedämpfter.
Leise wischte Wegener die Besen der Charlestonmaschine, die Posaune hupte geheimnisvoll, der Mann an den Saiteninstrumenten strich eine seufzende Geige. Strobelli war angesagt!
Im goldglitzernden Dress bewegte sich der vom kleinen Familienzirkus engagierte Gast geschmeidig über das in 15 Metern Höhe gespannte Seil. An vier Ecken legten Techniker ihre Hände um die festgezurrten Haltetrassen. Sie warfen Strobelli das Spezialfahrrad und am Ende die seidene Augenbinde hinauf.
Weiterradelnd verband sich der Artist die Augen. So bewegte er sich nun über die halbe Strecke des Seils zur grell beleuchteten Plattform, auf die er steigen, das Tuch abreißen und sich anschließend verbeugen musste. Nur die Besen Wegeners waren zu hören. Sie setzten schlagartig aus - und Strobelli sprang in die Tiefe!
Er war sofort tot.
Als Kommissar Gustav Merks eintraf, hatte die Schutzpolizei das Publikum schon fortgeschickt. Nach den Fotoaufnahmen wurde Strobellis Leiche zur Seite getragen, wo Frau Doktor Schülpe das Einschlagen des Toten in die Kunstlederfolie überwachte.
Im Manegerund standen und hockten die verschreckten Artisten. Das Trio saß auf dem rotweißen Podest bei den Instrumenten. Der Direktor schüttelte betrübt den Kopf: »Unerklärlich, wie ein Akrobat der Weltklasse ins Leere springen kann.«
Unerwartet fuhr ihn seine Frau an: »Tu bloß nicht so! Du hast doch seinen Tod herbeigewünscht - seit Köln! Nie hast du es Andrea verziehen, dass er mit mir eine Nacht lang beim Straßenkarneval war. Alter, ekliger Eifersuchtsbatzen du ...«
»Wer kann denn, falls es kein Unfall war, Strobellis Tod verursacht haben?«, fragte Merks.
»Höchstens der Techniker da«, meinte Wegener. »Röhrborn ist ständig besoffen.« Ein schmaler, schüchterner Mann im gelben Overall zuckte zusammen.
»Vielleicht hat Röhrborn die Trasse locker gelassen«, mutmaßte der schlagzeugkundige Direktor.
»Wenn sich Strobelli«, überlegte Merks laut, »die letzte Strecke über das Seil bewegt, zählt er dann die Zentimeter bis zu sicheren Plattform genau ab? Oder was für ein Zeichen erhält er, dass er am Ziel ist?«
Astrid sah ihren Mann an. »Sag ihm, wer das Zeichen gibt, du Scheusal!« -
Wie kam der Artist zu Fall?
Auf die Buchmesse hatte Gustav Merks sowieso gehen wollen. Am Donnerstag noch war er sich nicht ganz schlüssig gewesen. Aber am Freitag gab unverhoffter Besuch den Ausschlag dafür, dass er sich am Wochenende in das geschäftige Treiben rund um die Tausende frisch gedruckter Seiten mischen wollte. Uwe Bräuer, ein alter Freund und Kollege, tauchte im Präsidium auf.
Der kleine, drahtige Mann mit dem pfiffigen Blick hinter der Brille, längst aus dem Polizeidienst ausgeschieden und jetzt in der Wirtschaft tätig, hatte ein Buch geschrieben. Dunkel entsann sich Kommissar Merks, dass es darin um irgendwelche Enthüllungen aus der Polizeiarbeit ging. Bereits voriges Jahr war dem pfiffigen Uwe ein Treffer auf dem Buchmarkt gelungen. »Bis dass der Arzt uns scheidet«, hießen seine köstlichen Satiren über Sinn und Unsinn in der Schulmedizin. Keiner war, wie man befürchtet hatte, dem Mann dafür an den Kragen gegangen oder hatte gar eine Beleidigungsklage eingereicht. Wir erfreuen uns schließlich der Meinungsfreiheit, und Uwe war auch nicht so weit gegangen, in Schwesternhauben islamistische Molotowcocktails zu verstecken. Jetzt freilich, da sein Buch »Der Fangschuss und andere mörderische Polizeipannen« vorlag, fühlte er sich bedroht. Auf dem Sessel vor Merks' Schreibtisch schnaufte er: »Ich werde verfolgt, Gustav. Das Dümmste ist, dass ich nicht sicher bin, von wem. Sind es ehemalige Kollegen, die mich beschatten? Oder wollen mir ein paar gekränkte Gangster Angst einjagen? Schließlich habe ich ja ganz schön aus dem Nähkästchen geplaudert.«
Der kleine, blitzgescheite Mann berichtete von einem angeblich Betrunkenen, der ihm auf der dunklen Treppe in einer Kellerkneipe Schläge anbot. Von einem grünen Toyota, der plötzlich scharf vor ihm bremste, als er mit dem Fahrrad unterwegs war. Von seltsamen Klingelputzaktionen an der Haustür. Allerdings benutzten die Verfolger unterschiedliche Tarnungen. Mal war es ein jugendlicher Penner, mal ein alter Suffkopf, mal ein ganz normaler Spaziergänger im Ledermantel mit Hündchen.
»Das Delikt nennt sich Stalking«, nickte der füllige Freund und Kommissar. »Unsere Justiz geht noch zögerlich mit diesem neuen Gesetz um. - Was soll ich für dich tun?«
Bräuer bat ihn, sich am Sonnabend auf der Buchmesse unauffällig in seiner Nähe aufzuhalten. »Vielleicht kriegst du heraus, wer mich da ständig einschüchtern will.« Er schenkte Merks einen Messeausweis.
Freund Uwe hatte an diesem Tag verschiedene Termine: dort ein Interview, da eine Autogrammstunde, hier ein Geschäftstreffen in einem der zahlreichen Cafés. Immer blieb ihm der Kommissar auf den Fersen. In einem der kleinen gläsernen Restaurants schließlich machte ihn etwas stutzig.
Uwe saß an einem hinteren Tisch mit seinem Verleger zusammen. Beide wälzten Terminkalender. Nebenan schwatzten zwei Herren in Nadelstreifenanzügen leise miteinander, wobei der eine zum Anzug weiße Turnschuhe trug. Die einem Dominastudio entsprungene Kellnerin flirtete verschwörerisch mit einem nach roher Gewalt riechenden Menschen und brachte statt des bestellten Pils ein Glas Milch an seinen Tisch.
Der Mann im grauen Pullover am Tisch des Kommissars studierte schweigend den Sportteil der Zeitung. Dass es der Sportteil war, konnte Merks mühelos mitlesen: »30000 Zuschauer in der ausverkauften Arena sahen ein mäßiges Spiel ...« Sein Gegenüber hatte die Seite zur Hälfte geknifft und las den unteren Teil. Mitten im Studium des Sportberichts riss Merks dem Unbekannten die Zeitung vom Gesicht. Er zischte ihn an: »Warum verfolgen Sie Uwe Bräuer?«
Der Typ stammelte. Natürlich war es kein Polizeikollege. In aller Ruhe konnte der Kommissar die Personalien des geltungssüchtigen Amateurspions aufnehmen. -
Was war ihm aufgefallen?
Sonnabend ist es, zwischen zwei und drei. Eine friedliche Frühlingsnacht. Noch liegt Ruhe über dem Fabrikgelände, wo da und dort die Nachtschicht läuft. Es sind leise arbeitende Betriebe.
Unter der großen Uhr steckt Paul Schwepps die Stechkarte ein. Kurz darauf begrüßt er in der Pförtnerbaracke seinen Kollegen Peter Pielfürst. »Angenehme Schicht gehabt?« Paul beginnt sich umzuziehen. Peter lässt die schwarze Uniform an. Das Umziehen erledigt er zu Hause. Er wohnt nur fünf Minuten entfernt. Zu Fuß.
»Sorgen privat?«
Peter schüttelt den Kopf. »Nicht direkt.« Hastig schüttet er den Kaffeerest zwischen blonden Schnurrbart und Kinn. »Meine Tochter Claudia ... Du weißt ja, sie ist gerade mal sechzehn. Habe ihr erlaubt, die Disko zu besuchen. Aber Punkt zwei bist du zurück, habe ich gesagt. Wenn ich von der Schicht komme, trinken wir einen Kaffee zusammen. Also ich natürlich mein Bier.«
»Ist schon schwer als alleinerziehender Vater«, nickt Paul, »Ja, wenn deine Goldmary noch leben würde ... Das pubertäre Pflänzchen könnte die Mutter brauchen.«
Peter Pielfürsts Augen blicken ins Leere. »Manchmal bin ich zu streng zu ihr. Aber jetzt geht das los mit den Jungs. Neulich wollte sie mir einen Kerl vorstellen, den sie erst drei Tage kannte. Hab sie vielleicht zu laut angebrüllt. Der Mistkerl von Hausnachbar hat die Polizei gerufen. Es war, wie jetzt, nach Mitternacht.«
»Ging gut aus?«
»Ging«, sagt Peter. Dann gibt er Paul seine Stechkarte. »Schieb sie um zwei in den Schlitz, ja? Und mir, wenn du Schluss hast, in den Briefkasten. Bis morgen.«
Bis zum Reihenhaus sind es vielleicht tausend Schritte. Peter Pielfürst bewegt sich vorsichtig im Treppenhaus. Die Wanduhr in der Küche zeigt zwei. Peter holt das Köstritzer und setzt Kaffee an. Nach fünf Minuten huscht, noch leiser als er, die Tochter herein.
Claudia ist etwas füllig, etwas außer Atem und riecht nach süßen Cocktails. »Entschuldige, Paps, dass ich zu spät bin! Ein Bus fiel aus.«
»Ach, wegen der fünf Minuten, Goldstück.«
Dankbar schlürft sie den heißen Kaffee. Irgendwie kommt es dann doch wieder zum Krach. Wieder sind es die Jungs. Das naive Kind plaudert einfach zu viel. Und er wacht eifersüchtig über die von ihm angenommene Unschuld. Auf einmal steht die Polizei vor der Tür.
»Ihr Nachbar«, sagt der gemütliche Beamte mit dem Kugelbauch, »hat eine Kindesmisshandlung angezeigt.«
Sie lassen den Kommissar, der sich als Gustav Merks vorstellt, herein. Der stellt ein paar Fragen. Zum Beispiel die: »Wann verließen Sie das Werkgelände? Es gibt da eine Uhr über dem Eingang.«
»Wie immer Punkt zwei. Naja, es kann auch paar Minuten früher gewesen sein ...«
Als Merks sieht, dass hier alles in bester Ordnung ist, nimmt er im Flur noch mal Claudia zur Seite. »Hast Schwein gehabt«, flüstert er, ohne dass der Vater in der Küche das hören kann. »Denn tatsächlich warst du erst fünf nach drei zu Hause.« -
Wie konnte er das behaupten?
Jetzt, nach Beginn der Sommerzeit, da die Zeitmesser alle eine Stunde vorgestellt wurden, waren nicht wenige Menschen irritiert. So auch Klein Richard, der Neffe von Kommissar Merks, den in diesem Frühling die große Liebe erwischte.
Manchmal, wenn der blondschöpfige Richard den Onkel besuchte, dachte der: >Was war das mal für ein Hosenscheißer, der Sohn meiner Schwester. Und jetzt ist aus ihm fast ein Mann geworden. Kriminalist will der später werden, ha! Na, man wird sehen ...< Letzten Sonnabend tischte der Junge ihm eine Geschichte auf, die Gustav Merks für die Erfindung eines fantasievollen Gehirns gehalten hätte, wäre da nicht Sophie mitgekommen, die große Eroberung des jungen Kavaliers.
Zu dritt saßen sie beim Kaffee, und Klein Richard erzählte: »Sophie und ich kennen uns schon drei Wochen. Und zusammengebracht hat uns die alte Armbanduhr, die du mir zu Ostern geschenkt hast. Ich war ja so scharf auf das Teil, weil das Metallarmband mal eine Kugel aufgehalten hat, die so'n Gangster auf dich feuerte. Also das ging so ...«
Er plauderte und plauderte. Sophie, das Milchgesicht, strahlte dazu mit meergrünen Augen.
Der Junge hatte in einem ihm wenig vertrauten Stadtteil einen Kumpel besucht. Einige Tage zuvor waren die Uhren auf Sommerzeit umgestellt worden. Er wusste nicht genau, wie spät es war, hätte es aber gern gewusst, als ihm plötzlich Sophie begegnete. Das Mädchen kam mit dem Geigenkasten aus einem Mietshaus, und ihm war sofort klar: Die oder keine! Sie wandte sich an der Tür noch einmal um. Einer älteren Dame, die aus dem Fenster herabsah, rief sie zu: »Bis nächste Woche zur gleichen Zeit!« Dann rannte sie um die Ecke, sprang in eine Bahn und war verschwunden.
»Ich luchste sofort auf die Armbanduhr. Da war die alte Zwiebel stehengeblieben! Nächste Woche, dachte ich, kannst du sie wiedersehen - doch wann? Ich wusste nicht, wie spät es war. Nirgendwo, auch nicht auf der Hauptstraße, war eine Uhr zu entdecken. Jemanden anzuquatschen schien mir zu blöd. Ich griff mir also die nächste Bimmel, fuhr zu Mutters Hotel. Von der Haltestelle aus musste ich wieder, ich weiß nicht wie lange, laufen. Endlich erblickte ich die große Uhr über der Rezeption. Die zeigte sieben Minuten nach sechs. In diesem Augenblick wusste ich genau, wann ich das unbekannte Mädchen in der nächsten Woche wiedertreffen konnte. - Wie habe ich das hingekriegt? Rate mal, du alter Kripofuchs.«
Gustav Merks überlegte eine kleine Weile. Dann sagte er die Lösung. -
Was tat Klein Richard?
In der Nacht vor jenem Tag, der auf den Abreißkalendern den Vermerk »Frühlingsanfang« trägt, wurden die weißen Buchstaben angepinselt. Achtzehn gewaltige Blubbs, ein Komma und ein Ausrufezeichen: Sandra, ich liebe dich! Die Schrift zog sich über die Fassade einer Konservenfabrik in Höhe des ersten Obergeschosses hin.
Der Gurkenbude gegenüber lag ein kleines Haus. Oma Jetzke wohnte darin mit der achtzehnjährigen Enkelin Sandra. Früh um sieben rief Konservenfabrikant Beneke an. Acht Uhr erstattete die Oma Anzeige. Punkt neun saß Kommissar Gustav Merks im Speisesaal der Gemüseverwertungsfirma dem spitzbärtigen Beneke und Oma Jetzke gegenüber. Sandra vergnügte sich inzwischen bei einer Prüfungsarbeit in der Berufsschule. Es roch nach Essig und Gurken.
Während der Spitzbärtige sachlich blieb, tobte die Oma. Sandra, nach dem Autounfall der Eltern ihr ein und alles, hätte nie was mit einem Jungen gehabt - und dann diese Verleumdung!
»Wieso Verleumdung?«, fragte der rundliche Kommissar freundlich.
»Na, so'n Gekleckse beschmutzt ja die Ehre der Kleinen!«
»Haben Sie einen Verdacht, wer der Maler war?«
O ja, da gäbe es diesen Mischa Fiedler. Der sei so ein Computermensch, um Gottes willen. Sie habe Sandra dabei ertappt, wie die heimlich mit ihm computerte, also Liebesbriefe tippte. Der Kerl sei selber erst neunzehn, und da wollte er doch neulich allen Ernstes bei Sandra übernachten, das Kind hat nämlich ein eigenes Zimmer im Dachgeschoss.
»Ist er Hobbybergsteiger?«, fragte der Konservendirektor dazwischen.
»Wie meinen Sie denn das?«
»Na, weil die Fassade glatt und die Schrift ziemlich hoch angebracht ist.«
»Ein verrückter Sportler ist er auch! Ich glaube, der geht immer zum Hindernisklettern oder wie das heißt.«
Der eigentliche Geschädigte sah alles als ein durch die Versicherung auszugleichendes Ärgernis an. »Ich muss weitermachen im Kontor«, entschuldigte er sich.
Galant beendete der Kommissar die lautstarken Tiraden von Oma Jetzke und fuhr zur Arbeitsstelle des jungen Liebhabers. Der gab rasch zu, bei Sandra übernachtet zu haben, nicht das erste Mal. »Omi ist ziemlich hörgeschädigt«, erklärte er. Den Spruch wollte er nicht gemalt haben. »Dazu«, meinte er, »braucht man doch eine hohe Leiter.«
Es war kein Fall, den Merks unbedingt sofort lösen musste. Für Oma Jetzke jedoch war er das. Tag für Tag machte sie dem - nebenbei gesagt: von vielen Kavalieren umschwärmten - Mädchen die Hölle heiß, bis Sandra kurz entschlossen zu ihrem Mischa zog. Was die Dame natürlich zur nächsten Anzeige trieb.
»Entführung?«, schmunzelte der Kommissar. »Da übertreiben Sie wohl.«
Diesmal aber brachte Oma Jetzke einen Beweis aufs Revier. Die Inhaberin des Haushaltwarengeschäfts am Markt, eine Frau Trojan, hatte ihr die Durchschrift einer Verkaufsrechnung mitgegeben. Darauf stand klar, dass am 20. März eine große, ausziehbare Leiter verkauft wurde.
»Und wissen Sie, an wen?«, fragte sie spitz. »An Mischa! Herta Trojan würde das vor Gericht beschwören!«
»Das ist kein Beweis«, meinte der Kommissar. -
Warum?
Die Hände des Mannes in der khakifarbenen Latzhose fuhren hysterisch nach oben, so dass ihm der Strohhut von der Halbglatze flog.
»Schauen Sie bloß mal, wie ich aussehe, Kommissar! Wie ein Streuselkuchen!«