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Die schüchterne June Jones lebt in dem britischen Dorf Chalcot und ist mit Leib und Seele Bibliothekarin. Ihre besten Freunde sind die Menschen, denen sie Tag für Tag bei ihrer Arbeit begegnet: der alte Stanley, dem sie mit dem Computer hilft, Chantal, eine Schülerin, die zu Hause keine Ruhe zum Lernen hat, Leila, eine geflüchtete Frau, für die sie Kochbücher heraussucht. Außerhalb der Bibliothek bleibt June allerdings gern für sich – und in Gesellschaft ihrer Bücher. Junes wohlgeordnetes Leben gerät aus den Fugen, als die Gemeinde mit der Schließung der Bücherei droht. Und dann trifft sie auch noch Alex wieder, einen alten Schulfreund, für den sie bald ganz neue Gefühle entwickelt. Während June alles tut, um ihre Welt aus Büchern zu retten, lernt sie viel über sich selbst – und darüber, wie wichtig Freundschaft, Gemeinschaft und nicht zuletzt die Liebe sind …
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Seitenzahl: 422
Die schüchterne June Jones lebt in dem britischen Dorf Chalcot und ist mit Leib und Seele Bibliothekarin. Ihre besten Freunde sind die Menschen, denen sie Tag für Tag bei ihrer Arbeit begegnet: der alte Stanley, dem sie mit dem Computer hilft, Chantal, eine Schülerin, die zu Hause keine Ruhe zum Lernen hat, Leila, eine geflüchtete Frau, für die sie Kochbücher heraussucht. Außerhalb der Bibliothek bleibt June allerdings gern für sich – und in Gesellschaft ihrer Bücher. Junes wohlgeordnetes Leben gerät aus den Fugen, als die Gemeinde mit der Schließung der Bücherei droht. Und dann trifft sie auch noch Alex wieder, einen alten Schulfreund, für den sie bald ganz neue Gefühle entwickelt. Widerwillig erkennt June: Sie muss raus aus ihrer Komfortzone! Also engagiert sie sich in einer Gruppe, die für den Erhalt der Bibliothek kämpft, erst heimlich aus Angst vor ihrer Chefin, dann ganz offen und selbstbewusst. Alex, der Anwalt ist, unterstützt sie hierbei nach Kräften. Während June alles tut, um ihre Welt aus Büchern zu retten, lernt sie viel über sich selbst – und darüber, wie wichtig Freundschaft, Gemeinschaft und nicht zuletzt die Liebe sind …
FREYA SAMPSON ist Fernsehproduzentin und war u.a. an zwei Dokumentationen über die britischen Royals beteiligt. Sie hat in Cambridge Geschichte studiert und stand 2018 auf der Shortlist für den Exeter Prize. Sie lebt mit ihrer Familie in London.
LISA KÖGEBÖHN studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und Straßburg. Sie übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Englischen und Französischen, u.a. von Kevin Kwan, Steven Price und Megan Nolan.
Freya Sampson
DIE LETZTE BIBLIOTHEK DER WELT
Roman
Aus dem Englischenvon Lisa Kögeböhn
›Stolz und Vorurteil und Zombies‹ [1] von Jane Austen und Seth Grahame-Smith wurde zitiert nach: ›Stolz und Vorurteil und Zombies‹. Aus dem Englischen von Carolin Müller. Wilhelm Heyne Verlag, München 2010.
Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel ›The Last Library‹ bei Zaffre, Bonnier Books UK, London.
Copyright © 2021 Freya Kocen
eBook 2021
© 2021 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Lisa Kögeböhn
Lektorat: Julius Hendricks
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Illustration: © Marie Teigler
Satz: Angelika Kudella, Köln
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-7103-2
www.dumont-buchverlag.de
KAPITEL 1
Man erfährt einiges über Menschen, wenn man sich anschaut, welche Bücher sie sich ausleihen.
Wenn in der Bücherei wenig los war, spielte June gern ein Spiel: Sie pickte sich eine Besucherin oder einen Besucher heraus und überlegte sich anhand der Bücher, die die Person auswählte, eine Lebensgeschichte für sie. Heute fiel ihre Wahl auf eine Frau mittleren Alters, die zwei Romane von Danielle Steel und einen Island-Reiseführer in ihrem Korb hatte. June schloss daraus, dass die Arme in einer lieblosen Ehe gefangen war, mit einem ungehobelten, wenn nicht gar gewalttätigen Mann. Sie plante, sich nach Reykjavík abzusetzen, wo sie sich in einen kernigen Isländer mit Vollbart verlieben würde. Doch kaum dass sie endlich ihr wahres Liebesglück gefunden hätte, würde ihr Ehemann sie aufspüren, um zu verkünden …
»Was für eine Scheiße!«
June wurde unsanft in die Realität zurückgeholt. Vor ihr an der Theke stand MrsBransworth und wedelte ihr mit einem Buch vor der Nase herum. Was vom Tage übrigblieb von Kazuo Ishiguro.
»Was für ein sinnloser Haufen Scheiße. Herren und Diener? Reinste kapitalistische Propaganda! Ich könnte interessantere Geschichten erzählen.«
MrsB kam mehrmals die Woche in die Bücherei. Sie trug sommers wie winters einen abgerockten Siebzigerjahre-Ledermantel und dazu fingerlose Handschuhe. Ihre Buchauswahl war völlig willkürlich. Am einen Tag lieh sie ein Handbuch übers Klempnern, am anderen einen Nobelpreisträger. Doch egal, was sie mit nach Hause nahm, ihr Urteil fiel immer gleich aus.
»Ich möchte bitte meinen Büchereiausweis zurückgeben. Aus Protest!«
»Tut mir leid, dass Ihnen das Buch nicht gefallen hat, MrsBransworth. Wollen Sie sich vielleicht mal bei den Neuzugängen umsehen?«
»Garantiert auch alles Schrott.« MrsB dampfte Richtung Sportregal ab. Zurück blieb ein Hauch nasser Ziege.
June lud die letzten Rückgaben auf den museumsreifen Bücherwagen und schob ihn durch die Regalreihen. Die Bücherei befand sich in der ehemaligen Dorfschule von Chalcot, einem zugigen roten Backsteingebäude aus den 1870er-Jahren. Achtzig Jahre später war die Schule in eine Bücherei umgewandelt worden, verfügte jedoch bis heute über den Großteil ihres ursprünglichen Inventars, einschließlich des undichten Schieferdachs, der knarzenden Holzdielen und einer hartnäckigen Mäusefamilie, die seit Generationen den Dachboden bewohnte und sich durch Aktenkartons fraß. Die letzte Renovierung hatte die Kreisverwaltung der Bücherei in den Neunzigern gegönnt, seither beleuchteten Neonröhren einen grünen Filzteppichboden, wie man ihn damals in den meisten öffentlichen Gebäuden fand. June malte sich gerne aus, wie die Bücherei in ihrer ursprünglichen Form ausgesehen haben mochte, als Kinder mit schmuddeligen Gesichtchen an ihren Pulten gesessen hatten, dort wo jetzt die Regalreihen standen, und auf ihren Schiefertafeln Lesen und Schreiben gelernt hatten – wie in Jane Eyre.
June bog gerade mit dem Bücherwagen um eine Ecke, als ihre Chefin auf sie zugestürmt kam. Eine Ausgabe von MrsDalloway fiel fast aus ihrer Handtasche.
»Komm bitte sofort mit in mein Büro!«
Marjorie Spencer war die Bibliotheksleiterin, ein Titel, den sie wie einen Kriegsorden an ihre Bluse gepinnt trug. Sie gab sich gern, als würde sie ausschließlich hohe Literatur lesen – doch June wusste, dass sie Shades of Grey dreimal verlängert hatte.
Sie folgte ihrer Chefin ins Büro. Eigentlich war es eine Mischung aus Lager und Pausenraum gewesen, bis Marjorie ein paar Jahre zuvor einen Schreibtisch hineingestellt und ein Namensschild an die Tür gehängt hatte. Für mehr Stühle als ihren eigenen war kein Platz, also hockte sich June auf einen Stapel Druckerpapier.
»Das ist jetzt absolut vertraulich, aber die Kreisverwaltung hat mich gerade angerufen.« Marjorie spielte an ihrer Perlenkette herum. »Ich soll am Montag zu einem dringenden Treffen kommen. Im Sitzungssaal.« Sie legte eine Kunstpause ein, damit June Zeit hatte, diese beeindruckende Information sacken zu lassen. »Du musst hier also am Montag allein die Stellung halten.«
»Okay, kein Problem.«
»Ich kann Rhyme Time so kurzfristig nicht absagen, du müsstest das also für mich übernehmen.«
Panik stieg in June auf. »Äh, tut mir leid, ich hatte ganz vergessen, dass Alan am Montag …«
»Keine Widerrede. Außerdem ist das eine gute Übung für dich – wer weiß, ob dir meine Nachfolgerin die Kinderveranstaltungen nicht sowieso aufs Auge drückt, wenn ich Weihnachten in Rente gehe.«
»Marjorie, ich bitte dich, du weißt genau, dass …«
»Herrgott noch mal, June, du sollst ein paar Kinderlieder singen, nicht bei The Voice auftreten.«
June wollte zum Widerspruch anheben, doch Marjorie schaltete ihren Computer an und setzte ihr ›Bitte nicht stören‹-Gesicht auf.
Mit klopfendem Herzen verließ June das Büro. Es war fast siebzehn Uhr, Zeit für ihre Feierabendrunde. Während sie die herumliegenden Bücher und Zeitungen einsammelte, stellte sie sich die erwartungsfrohen Gesichter bei Rhyme Time vor, einen ganzen Raum voller Kinder und Eltern, die gespannt darauf warteten, dass sie das Wort ergriff. June schauderte unwillkürlich und ließ einen Stapel Zeitungen fallen.
»Benötigen Sie Hilfe, meine Liebe?« Neben ihr am Tisch saß Stanley Phelps und beobachtete sie.
»Danke, es geht schon«, sagte June und hob die verstreuten Zeitungen auf. »Es ist übrigens leider schon fünf, wir schließen gleich.«
»Dürfte ich vorher noch kurz um Ihre Hilfe ersuchen? Gesellschaft ist das beste Gegenmittel. Neun Buchstaben, Anfangsbuchstabe I.«
June dachte kurz nach, zerlegte den Hinweis im Kopf, wie Stanley es ihr beigebracht hatte. »Isolation?«
»Bravo!«
Stanley Phelps, der am liebsten historische Romane las, die im Zweiten Weltkrieg spielten, war in den zehn Jahren, die June schon hier arbeitete, nahezu jeden Tag in die Bücherei gekommen. Er trug stets ein Tweedjackett und sprach wie eine Figur aus einem P.G.-Wodehouse-Roman. Sie stellte sich gern vor, dass er zu Hause im Stil eines verarmten Adeligen lebte, in Seidenpyjamas schlief und Räucherfisch zum Frühstück aß. Das Kreuzworträtsel im Telegraph gehörte zu seinen täglichen Ritualen.
»Bevor ich mich aufmache, habe ich noch eine Kleinigkeit für Sie.« Stanley holte aus seinem fadenscheinigen Einkaufsbeutel einen kleinen Strauß welker Blümchen hervor, die von einem Bindfaden zusammengehalten wurden. »Herzlichen Glückwunsch, June.«
»Ach Stanley, das wäre doch nicht nötig gewesen!« June spürte, dass sie rot wurde. Eigentlich hielt sie Berufliches und Privates strikt getrennt, aber Stanley hatte vor Jahren irgendwie herausgefunden, wann ihr Geburtstag war, und ihn seitdem nie vergessen.
»Unternehmen Sie heute Abend etwas Schönes?«, fragte er.
»Ach, ich treffe mich bloß mit ein paar alten Freunden.«
»Nun, dann wünsche ich Ihnen viel Spaß dabei. Sie haben sich eine große Sause verdient.«
»Danke.« June wich seinem Blick aus und studierte eingehend den Blumenstrauß.
Um siebzehn Uhr dreißig schloss June die schwere Büchereitür hinter sich ab und trat in den warmen Sommerabend. Die Bücherei lag an der Hauptstraße, The Parade. Sie lief am Dorfladen vorbei, dann am Pub mit der flatternden Union-Jack-Wimpelkette über der Tür, und schließlich an der Bäckerei, in der ihre Mum und sie jeden Samstag Marmeladen-Donuts gekauft hatten. Vor dem Postamt standen ein paar Stammgäste der Bücherei, und June nickte ihnen zu, ehe sie abbog und den Hügel hinunterging, an der Dorfwiese und dem Chinaimbiss namens Golden Dragon vorbei und dann links. Die Willowmead-Siedlung war ein in den 1960ern errichtetes Labyrinth aus identischen Reihenhaushälften, mit winzigen Gärten und Mülltonnen vor jeder Tür. Hier lebte June, seit sie vier Jahre alt war, in einem Haus mit grüner Tür und verblichenen roten Gardinen.
»Bin zu Hause!«
Sie zog ihre Strickjacke aus, stellte die Schuhe ins Schuhregal, aus dem sie sie erst Montagmorgen wieder herausziehen würde, und ging ins Wohnzimmer. Einer der Bilderrahmen hing schief. June rückte ihn zurecht und musterte den zerzausten Teenager mit der Zahnspange, der ihr aus dem Foto entgegenblickte. Die Zahnspange war zum Glück Geschichte, im Gegensatz zu den widerspenstigen braunen Locken, die sie inzwischen mit einem strengen Dutt bändigte. Im Wohnzimmer trat June ans überfüllte, aber fein säuberlich sortierte Bücherregal, das die gesamte Wand auf der linken Seite des Raums einnahm. Adichie, C.; Alcott, L.M.; Angelou, M. Sie fand das Buch, das sie gesucht hatte, und trug es in die Küche, wo sie sich eine Fertiglasagne in die Mikrowelle schob und ein Glas Wein einschenkte.
Bis auf gedämpfte Stimmen aus dem Fernseher von nebenan war im ganzen Haus kein Ton zu hören. June schaute die Post durch: ein Flyer von der Müllabfuhr und die Dunningshire Gazette. Sie schlug die Zeitung auf, denn es hätte sich ja eine Geburtstagskarte hineinverirrt haben können, aber Fehlanzeige. June stieß einen leisen Seufzer aus und genehmigte sich einen Schluck Wein.
Das Pingen der Mikrowelle ließ sie zusammenzucken. Sie beförderte die Lasagne auf einen Teller und garnierte sie mit ein paar sauren Gürkchen. Dann setzte sie sich mit ihrem Buch an den Tisch. Der Einband war vom jahrelangen Lesen ganz angestoßen, die Worte Stolz und Vorurteil waren kaum noch zu entziffern. Vorsichtig schlug sie es auf und las die Widmung: 18.Juni 2005. Für meine liebste June. Alles, alles Gute zum zwölften Geburtstag. Gute Bücher sind die beste Gesellschaft. In Liebe, Mum.
June schob sich eine Gabel Lasagne in den Mund, blätterte auf die erste Seite und fing an zu lesen.
KAPITEL 2
»Alan Bennett, wo steckst du denn, verdammt noch mal?«
Es war Samstagmorgen, und June konnte ihn nirgends finden. Sie hatte das ganze Haus und den Schuppen auf den Kopf gestellt, sogar auf dem Dachboden hatte sie nachgeschaut, für den Fall, dass er sich dort oben versteckt hatte, aber er war wie vom Erdboden verschluckt.
»Komm schon, Alan, langsam ist es nicht mehr witzig«, rief sie, doch ihr hallte nur Stille entgegen.
June steckte eine Scheibe Brot in den Toaster und schaltete den Wasserkocher an. Sie lauschte dem Wasser, das sich zischend erwärmte, und versuchte das Brodeln in ihrem Magen zu ignorieren. Das ganze Wochenende lag vor ihr, lang und herrlich unverplant. Doch obwohl die Aussicht auf stundenlanges einsames Lesen sie normalerweise glücklich stimmte, war June heute Morgen irgendwie nervös. All die Jahre, die sie jetzt schon in der Bücherei arbeitete, hatte sie sich erfolgreich davor gedrückt, Rhyme Time zu machen – eigentlich galt das für jegliche Aktivität, bei der man vor vielen Menschen sprechen musste. Und jetzt sollte sie sich am Montag vor einen Haufen von Kindern und deren Eltern stellen, Geschichten erzählen, Lieder singen und Späße machen.
June biss in ihren Toast, der sich in ihrem Mund in Pappe verwandelte. Sie schob den Teller weg.
Fünf Minuten später ließ sie sich mit ihrer dicken eselsohrigen Taschenbuchausgabe von Krieg und Frieden aufs Sofa fallen. June hatte schon mehrere Anläufe unternommen, es zu lesen, war aber bisher immer gescheitert. Mit seinen über tausend Seiten schien es ihr jetzt allerdings die perfekte Ablenkung für dieses Wochenende zu sein. Außerdem hatte June ein latent schlechtes Gewissen, weil sie mit dem Roman, der zu den Lieblingsbüchern ihrer Mutter gehört hatte, nie richtig warmgeworden war. Sie hielt sich das Buch unter die Nase und sog den beruhigenden Duft nach altem Papier und Staub ein. Doch es lag noch ein anderer Geruch darüber, Seife und eine Ahnung von Rauch. June schloss die Augen und stellte sich vor, dass ihre Mutter neben ihr saß, in ihrer Lieblingshaltung mit angezogenen Beinen, einem Buch auf dem Schoß und einem Aschenbecher auf der Sofalehne. So hatten die beiden Hunderte Wochenenden verbracht, Seite an Seite in geselligem Schweigen, dann und wann unterbrochen vom heiseren Lachen ihrer Mutter, wenn sie auf eine Textstelle stieß, die sie erheiterte. Die Erinnerung erfüllte June mit Wehmut, deshalb schlug sie schnell das Buch auf und fing an zu lesen.
Sie war keine dreißig Seiten weit gekommen, als es an der Tür klingelte. Kurz fragte sich June, ob es wohl der Briefträger sei, der einen Stapel vergessener Geburtstagskarten brachte, schalt sich aber sofort selbst für diesen albernen Gedanken.
Sie öffnete die Tür. Vor ihr stand ihre Nachbarin Linda in einem knallpinken Kleid und mit riesigen goldenen Creolen in den Ohren. Linda liebte Jilly-Cooper-Romane und war grundsätzlich so gekleidet, als könne Rupert Campbell-Black jeden Augenblick in Chalcot auftauchen und sie auf einen Jägerball entführen, sogar um neun Uhr morgens. Auf dem Arm hatte sie einen grimmig dreinblickenden Alan Bennett.
»Guck mal, wen ich in meiner Abstellkammer gefunden habe. Neugieriger kleiner Scheißer.«
Alan fauchte wütend und sprang von Lindas Arm.
»Tut mir echt leid, Linda. Ich hab ihn schon überall gesucht.«
»Kein Problem. Du bist doch nicht beschäftigt, oder?« Ehe June etwas erwidern konnte, hatte sich Linda an ihr vorbeigeschoben und rief jetzt aus dem Wohnzimmer: »Für mich keine Milch, ich bin auf Diät!«
June kochte Tee und trug die beiden bestoßenen Becher ins Wohnzimmer, wo Linda sich bereits aufs Sofa gelümmelt hatte und Krieg und Frieden durchblätterte.
»Meine Güte, warum tust du dir das an, Süße?«, fragte Linda und warf das Buch angewidert auf den Boden.
»Das war eins von Mums Lieblingsbüchern.«
»Sie hatte schon immer einen schrecklichen Büchergeschmack. Wusstest du, dass ich ihr alle Bücher von Jilly gekauft habe? Und sie hat kein einziges davon gelesen!« Linda riss die heftig nachgezogenen Augenbrauen hoch, und June musste lachen.
»Ich muss zugeben, das hier ist sogar mir etwas zu dröge.«
»Zum Glück hat deine Mutter meine Leidenschaft für Gin und Tratsch geteilt, sonst wären wir wohl keine Freundinnen geworden.« Linda nahm einen Schluck aus ihrem Becher. »Ich musste gestern an deinen siebten Geburtstag denken. Erinnerst du dich an den Charlie und die Schokoladenfabrik-Kuchen, den wir dir gebacken haben? Wir wollten unbedingt den gläsernen Fahrstuhl nachbauen, aber wir hatten schon ordentlich einen im Tee, und am Ende hatte das Ding ziemlich Schlagseite und erinnerte eher an den schiefen Turm von Pisa.« Sie prustete los und verteilte heißen Tee auf dem Sofa.
»Ihr habt mir auf jeden Fall immer die besten Geburtstagskuchen gebacken.« June lächelte. Zum sechsten Geburtstag hatten ihre Mum und Linda ihr die Riesenspinne und das leuchtendrosa Ferkel aus Wilbur und Charlotte gebacken, und an ihrem zehnten Geburtstag hatten die beiden Frauen versucht, Hermine und Hagrid aus Fondant zu formen, doch die Zuckerfiguren hatten ausgesehen wie geradewegs einem Horrorfilm entsprungen.
»Mit einem normalen Prinzessinnenkuchen, wie ihn alle anderen Mädchen in deinem Alter bekommen haben, hättest du dich ja auch nicht zufriedengegeben.« Linda verdrehte übertrieben die Augen. »Apropos, wie war denn dein Geburtstag? Hast du gefeiert?«
»Er war schön, danke.«
»Hmm …« Lindas Tonfall war deutlich anzumerken, dass sie ganz genau wusste, dass die einzigen Freunde, mit denen June ihren Geburtstag verbracht hatte, Elizabeth Bennet und MrDarcy waren. »Ich hab noch eine Kleinigkeit für dich.«
Linda zog ein rechteckiges Paket aus der Handtasche, das June nach kurzem Zögern öffnete. Lindas Geburtstagsgeschenke drehten sich immer nur um ein Thema: Letztes Jahr hatte sie ihr ein Buch namens So findest auch du die große Liebe geschenkt, und im Jahr davor war es Sternzeichen Zwillinge: Wirf alle Sorgen über Bord und fang an zu leben gewesen. Als June jetzt das Geschenkpapier aufriss, kamen die Worte Und jetzt? Neuer Lebensmut in neunzig Tagen darunter zum Vorschein.
»Das hab ich im Sozialkaufhaus entdeckt und musste sofort an dich denken«, sagte Linda nicht ohne Stolz.
»Toll. Danke.« June überflog den Klappentext und versuchte, eine freudige Miene aufzusetzen.
»Gefällt’s dir? Ich dachte nur …« Linda hielt inne, und June wusste genau, was jetzt kommen würde. »Süße, es ist jetzt acht Jahre her. Und du weißt, dass ich deine Mum vermisse – genau wie du – aber meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, dein Leben in die Hand zu nehmen?«
June nippte an ihrem Tee. Diesen Vortrag hielt Linda ihr jedes Jahr um ihren Geburtstag herum, und June wusste aus Erfahrung, dass es das Beste war, ihn schweigend über sich ergehen zu lassen.
»Ich meine, das hier ist nicht gerade das Leben, das du dir als Kind erträumt hast, oder?«, fuhr Linda fort. »Bevor deine Mum krank wurde, hattest du doch große Pläne, du wolltest studieren und Schriftstellerin werden. Dafür ist es noch nicht zu spät!«
»Das waren doch bloß alberne Jugendträume. Außerdem arbeite ich gern in der Bücherei.«
»Ich weiß, aber muss es unbedingt die Bücherei von einem verschlafenen Nest wie Chalcot sein? Du wolltest doch immer nach Cambridge. Da gibt es auch Büchereien.«
»Aber wieso sollte ich wegwollen? Hier bin ich zu Hause.« June ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen, über die Regalwand mit ihren Büchern und denen ihrer Mum, über das Kaminsims mit dem bunten Sammelsurium von Porzellanfigürchen, die sie beide über die Jahre angesammelt hatten, über die Wände mit den Bildern und Fotos in zusammengewürfelten Rahmen. »Und was ist mit Alan Bennett? Der würde einen Umzug nicht mitmachen.«
Als der Kater seinen Namen hörte, stieß er ein müdes Fauchen aus.
»Süße, ich will dir ja gar nicht sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Wenn du hier glücklich bist, umso besser. Ich frage mich bloß, ob du nicht mehr vom Leben willst. Das ist alles.«
June legte das Buch auf den Couchtisch und setzte ihr überzeugendstes Lächeln auf. »Ich weiß wirklich zu schätzen, dass du dich um mich sorgst, Linda. Aber ich liebe mein Leben. Ich könnte mir kein schöneres vorstellen.«
»Nun, heißt das, du kommst heute Nachmittag zum Sommerfest?«
Junes Lächeln gefror. »Nein, ich habe leider schon was vor.«
»Ach komm, du hast selbst gesagt, dass Krieg und Frieden todlangweilig ist. Du bist früher immer so gern zum Sommerfest gegangen.« Linda erhob sich ächzend vom Sofa und reichte June ihren leeren Becher.
»Wirklich, Linda, ich habe total viel …«
»Ich klingele dann, wenn ich losgehe«, sagte Linda. »Und ich kenne dich«, sie stieß mit dem Zeigefinger in ihre Richtung, »wag es ja nicht, so zu tun, als wärst du nicht da.«
KAPITEL 3
Um fünfzehn Uhr erklomm June den Hügel Richtung Dorfwiese, zehn Schritte hinter Linda. Es war ein heißer Sommertag, die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, und June spürte bereits, wie ihre blasse, sommersprossige Haut rot wurde. Sie war nie ein großer Sommerfan gewesen, und zwar nicht nur, weil sie ihr Leben lang von Sonnenbrand geplagt wurde. Schon in der Grundschule, als die anderen Kinder die gesamten Sommerferien unten am Fluss verbracht hatten, hatte June es vorgezogen, mit ihrer besten Freundin Gayle und einem Stapel guter Bücher in der kühlen Bücherei zu sitzen.
Das Sommerfest von Chalcot war immer die einzige Ausnahme gewesen. Allein der Duft, der einem schon damals von Weitem entgegenwehte: eine berauschende Mischung aus frischem Popcorn und Zuckerwatte, der Traum eines jeden Kindes. Kaum war er ihr in die Nase gestiegen, hatte June auch schon Gayles Hand gepackt und war mit ihr von den Müttern weg den Hügel hinauf Richtung Wiese gerannt, quietschend vor Freude beim Anblick der wimpelgeschmückten Buden für Dosenwerfen und Hau-den-Lukas, des Süßwarenstands mit seiner grellbunten Auslage voller Panda-Pop-Brause und des Wettbewerbszelts, wo das Women’s Institute die größten Kürbisse und leckersten Kuchen kürte.
»Wir treffen uns dann in einer halben Stunde im Festzelt«, sagte Linda, als sie ankamen. »Wenn dir Jackson über den Weg läuft, sag ihm, ich hab ein Taschengeld für ihn dabei.«
Linda zog ab, und June schob sich zögerlich durch die Menge. Sie versuchte entspannt zu bleiben. Alles war noch genauso wie früher: Kinder, die zwischen den Buden Fangen spielten, der Geruch halb verkohlter Würstchen und das Knistern der alten Tannoy-Lautsprecher. Die Pfadfinderinnen veranstalteten wie immer eine Tombola, und auch der Tisch mit den lustigen Wolltierchen der Strick&Schwatz-Gruppe, die sich jeden Mittwoch in der Bücherei traf, stand an derselben Stelle wie eh und je. June wandte den Blick ab, als sie vorbeiging: Es war ihr immer unangenehm, außerhalb der Bücherei mit Benutzerinnen und Benutzern zu sprechen, ohne ihr Rüstzeug aus »BIBLIOTHEKSMITARBEITERIN«-Anstecker und Datumsstempel. Am Ende der Budengasse angekommen, bog sie rechts Richtung Festzelt ab – und blieb mit einem Mal wie angewurzelt stehen. Vor ihr, direkt neben der Hüpfburg, war die Fundgrube.
Junes erster Instinkt war, auf dem Absatz kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen, doch gegen die Menschenmenge hinter ihr war kein Ankommen, sie schob sie geradewegs auf den Stand zu. Schon von Weitem sah sie, dass der Tisch voll mit dem üblichen Krimskrams war. Sie entdeckte einen Gartenzwerg, eine Salatschleuder und einen Haufen mehr oder weniger bekleideter Barbiepuppen. Allesamt Objekte, die nicht mehr gebraucht wurden und von ihren Besitzerinnen und Besitzern für einen guten Zweck gespendet worden waren.
»Weißt du, wieso die Fundgrube mein Lieblingsstand ist?«, hatte Junes Mum immer gefragt. »Weil sie ein Ort für alles Ungeliebte und Verstoßene ist. Für das, was keiner mehr haben will. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Außenseiter.«
Fünfzehn Jahre lang hatte Junes Mum den Stand betrieben und zu einer festen Institution beim Sommerfest gemacht. June hatte ihr jedes Jahr Gesellschaft geleistet, sich mit Süßigkeiten den Bauch vollgeschlagen und aufmerksam den Gesprächen zwischen ihrer Mum und der Kundschaft gelauscht. Weil sie damals die Bibliothekarin gewesen war, kannte jeder im Dorf Beverley Jones, sodass eigentlich immer jemand am Stand stehen blieb, um Hallo zu sagen, oder auf einen Plausch vorbeikam.
»Du bist ein richtiger Promi«, hatte June einmal zu ihrer Mum gesagt, nachdem sie eine fünfminütige Unterhaltung mit einer alten Dame verfolgt hatte, in der ihre Mutter sich namentlich nach jedem einzelnen Enkel erkundigt hatte.
»Quatsch«, hatte Beverley erwidert. »Manchmal komme ich mir eher wie eine Sozialarbeiterin vor.«
Selbst als Beverley schon an Krebs litt und nach der Chemo von Übelkeitsanfällen geplagt wurde, hatte sie darauf bestanden, beim Sommerfest die Fundgrube zu betreuen.
»Wer soll denn sonst ein neues Zuhause für diese ganzen traurigen Sachen finden?«, hatte sie gefragt, als June sie im Rollstuhl über die hügelige Wiese schob. Beverley war in jenem Jahr schon so erschöpft gewesen, dass sie kaum mehr hatte tun können, als hinter dem Verkaufstisch zu sitzen, aber unzählige Gäste des Sommerfests waren vorbeigekommen, um Hallo zu sagen, sie zu umarmen und ihr alles Gute zu wünschen.
Drei Monate später war sie gestorben.
Seitdem war June nicht mehr auf dem Fest gewesen.
Tränen schossen ihr in die Augen, und Panik stieg in ihr auf, sie drehte sich um und schob sich gegen den Menschenstrom Richtung Ausgang. Sie hätte nicht herkommen sollen. June rief sich ihr vertrautes Zuhause vor Augen – die Sachen ihrer Mum, Alan Bennett, ihre Bücher – und lief schneller.
Als sie am Stand mit dem Kinderschminken vorbeikam, hörte sie jemanden rufen.
»June!«
Den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob sie wohl so tun könnte, als hätte sie es nicht gehört, aber da spürte June auch schon eine Hand auf der Schulter und drehte sich um. Vor ihr stand Stanley Phelps, wie üblich in Tweedanzug und Krawatte.
»Wie reizend, Sie zu sehen, meine Liebe.« Sein Lächeln verwandelte sich in einen besorgten Gesichtsausdruck, als er ihre tränenüberströmten Wangen sah. »Oje! Ist alles in Ordnung?«
»Ja, mir geht’s gut, danke«, sagte June und wischte sich die Tränen weg. Das Letzte, was sie wollte, war Mitleid von einem Stammgast aus der Bücherei.
»Nun, dann bin ich froh, Ihnen über den Weg gelaufen zu sein. Haben Sie die Aufführung der Morris Dancers gesehen? Und waren Sie schon im Wettbewerbszelt?«
»Nein, tut mir leid.«
»Oh, das müssen Sie sofort nachholen, die Qualität des Dargebotenen ist dieses Jahr ganz außerordentlich. Es gibt sogar eine Miniaturversion der Hängenden Gärten von Babylon, ausschließlich aus Wurzelgemüse! Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
»Ich wollte eigentlich gerade nach Hause.«
»Aber in einer Viertelstunde findet die Kür des besten Victoria-Sponge-Cake statt, das dürfen Sie sich keinesfalls entgehen lassen. Letztes Jahr ist die Zweitplatzierte derart in Rage geraten, dass sie ihren Kuchen Marjorie Spencer an den Kopf geworfen hat.«
»Danke, aber ich …«
Ein Tumult zu ihrer Rechten unterbrach June. Sie und Stanley schauten sich um und entdeckten MrsBransworth, die ein selbstgemaltes Schild in den Himmel reckte, auf dem »Rettet die Parade« stand und »Kleine Läden statt große Ketten«.
»Unser Dorf geht den Bach runter!«, brüllte MrsB so laut, dass ein kleines Kind in ihrer Nähe vor Schreck sein Eis fallen ließ. »Unsere Fleischerei und der Gemüsehändler mussten schon dran glauben, jetzt ist auch noch die Bäckerei in Gefahr!«
»Sie läuft schon seit einer geschlagenen Stunde herum und schreit jeden an, der es hören will«, flüsterte Stanley June zu. »Nun ja, und alle, die es nicht hören wollen, ebenso.«
»Die Kreisverwaltung erhöht die Mieten und verscherbelt unsere Grünflächen an große Baufirmen. Wir müssen diesen Schweinen klarmachen, dass wir keine Wettbüros und Makler in unserem Dorf brauchen – sondern inhabergeführte Geschäfte, die der Dorfgemeinschaft zugutekommen!«
»Geht’s auch ein bisschen leiser?«, rief ein Mann. »Wir versuchen hier Spaß zu haben.«
MrsB hielt inne, dann entlud sich eine Schimpftirade.
Stanley nahm June am Arm. »Kommen Sie, June, wir greifen lieber ein, bevor sie noch ein Handgemenge provoziert.«
June erstarrte und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wäre Stanley garantiert keine Hilfe, denn sie war viel zu schüchtern, um sich bei den Streithähnen Gehör zu verschaffen, außerdem erinnerte sie sich sehr gut an das eine Mal in der Bücherei, als sie sich in einen Streit eingemischt und ihn durch ihr Gestammel nur noch schlimmer gemacht hatte. Sie warf Stanley, der zwischen den wild gestikulierenden Mann und die hochrote MrsB geeilt war, einen Blick zu, drehte sich um und lief nach Hause.
KAPITEL 4
Am Montagmorgen schloss June um kurz vor neun die Bücherei auf und trat in die angenehme Stille. Die Zeit, bevor Marjorie und die ersten Gäste eintrudelten und sie mit den siebentausend Büchern allein war, mochte sie am liebsten. Sie schlenderte dann durch die Regalreihen, sog die schwere, unbewegte Luft ein, und manchmal, wenn sie die Augen schloss, stellte sie sich vor, dass die Bücher sich gegenseitig ihre Geschichten zuflüsterten.
Eine ihrer frühesten Erinnerungen war ein Besuch der Bücherei, als sie vier war, kurz nachdem ihre Mum angefangen hatte, dort zu arbeiten. Das Gebäude mit der Turmuhr über dem Eingang war June beim Betreten riesig und imposant vorgekommen, und im Innern war sie überwältigt gewesen von einem Meer aus Büchern und einer Ausleihtheke, die so hoch war, dass sie kaum darüberschauen konnte. Ihre Mum hatte ihr einen Leihausweis ausgestellt, und June erinnerte sich noch gut daran, wie entzückt sie gewesen war, als sie hörte, dass sie zwölf Bücher mit nach Hause nehmen durfte und sie austauschen konnte, wann immer sie neuen Lesestoff brauchte. Als sie dann in die Schule kam, verbrachte sie mit Gayle die meisten Nachmittage spielend und lesend in der Kinderbuchabteilung. Später, zu Teenagerzeiten, war June allein hergekommen, um Hausaufgaben zu machen und sich mit ihrer Mum zu unterhalten. Im Gegensatz zu den vollen, lauten Klassenzimmern der Highschool herrschte in der Bücherei himmlische Ruhe.
Jetzt, über zwanzig Jahre nach ihrem allerersten Besuch, wusste June, dass die Chalcoter Bücherei in Wirklichkeit ziemlich klein war, selbst für eine Dorfbücherei auf dem Lande. Manchmal beklagten sich Gäste über die schlechte Beleuchtung, die unzuverlässige Heizung und die furchtbare Akustik. Doch für June haftete dem Gebäude immer noch ein Hauch der ganz besonderen Aura an, die sie bei ihrem ersten Besuch gespürt hatte. Selbst nach zehn Jahren, die sie nun schon hier arbeitete – zehn Jahre chronischer Unterfinanzierung und ausgeschöpfter Gelder – war die alte Bücherei noch immer ein magischer Ort für sie, vor allem so früh am Morgen, wenn sie sie für sich hatte.
June begann ihre Morgenrunde: alle Computer anschalten, Tageszeitungen stempeln und auslegen, Druckerpapier auffüllen. Normalerweise genoss sie diese ruhigen, meditativen Aufgaben, aber heute war die Stille in den Gängen die Ruhe vor dem Sturm. Immerhin, es sollte ein heißer Tag werden. June hoffte inständig, dass es die meisten Familien eher in den Park oder an den Fluss zog, statt zur Rhyme Time in die Bücherei. Doch als sie um zehn aufschloss, warteten neben Stanley bereits mehrere Mütter und Väter mit ihren Kindern vor der Tür.
»Guten Morgen, meine Liebe. Wunderschöner Tag, nicht wahr?« Stanley trug zwar keinen Hut, aber hätte er einen aufgehabt, hätte er ihn gelupft, da war sich June sicher. »Tut mir leid, dass wir uns am Samstag in dem Gewühl aus den Augen verloren haben. Haben Sie gehört, dass MrsBransworth fast wegen Landfriedensbruch verhaftet worden wäre?«
»Nein. Geht es ihr gut?«
»Aber natürlich – Sie wissen doch, wie streitlustig sie ist. Wären Sie so lieb, mit mir die Anmeldung zu machen?«
»Klar.« June ging mit ihm zu den Computern. Stanley hatte sich vor Kurzem ein E-Mail-Konto zugelegt, um seinem Sohn in Amerika zu schreiben, aber das Einloggen gelang ihm bisher nur mit Junes Hilfe. Sie tippte sein Passwort ein.
»Danke sehr«, sagte Stanley. »Sind Sie allein heute Morgen?«
»Ja. Marjorie hat einen Termin, und ich soll Rhyme Time übernehmen.«
Er musste das Zittern in Junes Stimme bemerkt haben, denn er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Das machen Sie bestimmt ganz famos. Ich warte mit dem Kreuzworträtsel auf Sie.«
Um halb elf wimmelte es in der Bücherei nur so von kreuz und quer geparkten Buggys, und der Geräuschpegel war um gute zehn Dezibel angestiegen. Als sie es nicht länger hinauszögern konnte, machte sich June auf den Weg in die Kinderbuchabteilung und steckte vorsichtig den Kopf durch die Tür. Auf dem Boden war kaum noch Platz, überall saßen Kinder und Erwachsene, den Blick auf den leeren Stuhl gerichtet, der einsam ganz vorne stand. Ausgerechnet jetzt tauchte vor ihrem inneren Auge das Bild ihrer Mum auf, wie sie in ihrer Latzhose auf ebendiesem Stuhl saß, ganz entspannt Gitarre spielte und den begeisterten Kindern vorsang.
June umklammerte die Türklinke, atmete tief durch und betrat den Raum. Ihr Mund war staubtrocken, als sie nach vorn ging.
»He, du bist aber nicht Marjorie«, sagte ein kleiner Junge, den sie als rücksichtslosen Buchzerstörer kannte.
»Hallo zusammen, ich bin June.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein leises Krächzen.
»Lauter!«, schrie eine der Mütter, die eine Vorliebe für Psychothriller hatte.
»Wo ist Marjorie?«, rief ihre Freundin, die sich, wenn sie alleine kam, Groschenromane auslieh.
»Marjorie hat leider keine Zeit«, antwortete June.
Ein enttäuschtes »Oooh!« tönte aus den Reihen der Kinder.
»Ich will das kleine Krokodil!«, schrie der Buchzerstörer.
»Die Spielzeugkiste können wir nach der Stunde holen«, sagte June.
»Neiiin, das Lied!«
»Oh, tut mir leid, das kenne ich leider nicht.« Sie hörte ein abfälliges »Tss« aus dem Publikum und spürte, wie sie rot anlief. »Aber wie wär’s mit ›Old MacDonald‹? Eins, zwei, drei …«
Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Als niemand lossang, dämmerte es June, dass sie wohl oder übel vorsingen musste. Alles, was sie hörte, war das Rauschen des Blutes in ihren Ohren.
»Old MacDonald hat ’ne Farm …« June hatte seit Jahren nicht vor anderen gesungen, und ihre Stimme war leiser als das Piepsen der Mäusefamilie auf dem Dachboden. Eine Frau, die sie noch nie gesehen hatte, runzelte die Stirn. Ein paar Kinder kicherten.
»Hia-hia-ho.«
Immer noch stimmte niemand mit in das Lied ein. June wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Ihr Herz hämmerte, und als sie die Augen schloss, fühlte sie sich in ihre Schulzeit zurückversetzt, wo sie im Musikunterricht unter dem Gekicher und Flüstern der ganzen Klasse allein hatte vorsingen müssen.
»Und auf der Farm da gab’s ’ne …«
Nach einer quälend langen Pause rief ein Junge: »Kuh!«
June sah, dass es Jackson war, und schenkte ihm ein dankbares: »Hia-hia-ho.«
Endlich stimmten ein paar Eltern mit ein. Als sie bei der zweiten Strophe angelangt waren, sang fast der ganze Raum, und June senkte die Stimme.
Sie sang noch ein paar Kinderlieder: »Die Räder vom Bus«, »Incy Wincy Spider«, »Twinkle Twinkle Little Star«. Aber die Kinder fragten immer weiter nach Liedern, von denen sie noch nie gehört hatte, Lieder von Astronauten und schlafenden Hasen, und als June sich zum sechsten Mal entschuldigte, bemerkte sie, dass die Eltern sich auffällig unauffällig Blicke zuwarfen.
»Kennen Sie überhaupt irgendwelche aktuellen Kinderlieder?«, fragte die Groschenromanmutter.
»Tut mir leid, ich mache das zum ersten Mal.«
»Und was ist der Sinn von Rhyme Time, wenn Sie die Lieder nicht kennen?«
»Tut mir wirklich leid.« June stiegen Tränen in die Augen. Bitte, bitte jetzt nicht vor versammelter Mannschaft losheulen.
»Na toll!«, sagte die Psychothrillerfrau, stand auf und zerrte ihre nörgelnde Tochter zur Tür raus.
Auch die anderen Kinder wurden jetzt unruhig, und die Eltern unterhielten sich. June sah sich nach irgendetwas um, das ihr helfen könnte, die Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. Ihr Blick fiel auf eine herumliegende Ausgabe von Die Raupe Nimmersatt, das früher zu ihren Lieblingsbüchern gehört hatte. Sie hob es auf und fing an vorzulesen, auch wenn niemand zuhörte.
Als sie auf der letzten Seite angelangt war, blickte June auf und stellte erstaunt fest, dass alle wie gebannt an ihren Lippen hingen. Einen herrlichen Augenblick lang herrschte Stille.
»Noch eins!«, brach ein kleines Mädchen das Schweigen. »Ich will den Grüffelo.«
»Tut mir leid, aber für heute ist die Zeit leider um.« June stand auf und fing an, aufzuräumen, ehe jemand protestieren konnte.
Die meisten Familien machten sich auf den Nachhauseweg, und June verkroch sich erst einmal im Büro, um ein Glas Wasser zu trinken. Ihr Herz klopfte immer noch. Sie hörte, wie einige der Eltern beim Rausgehen kicherten, und ihr wurde ganz anders bei dem Gedanken, dass sie womöglich über sie lachten. June war heilfroh, dass Marjorie das Desaster nicht mitangesehen hatte, obwohl es ihr bestimmt bald jemand brühwarm erzählen würde. Zu Recht! Welche Bibliotheksmitarbeiterin brach denn bitte fast in Tränen aus, nur weil sie ein paar Kinderlieder singen sollte?
Es war zwölf Uhr, und um die Mittagszeit herum war es eigentlich immer ruhig in der Bücherei. Außer ihr waren nur Stanley, der hinter einer Zeitung schnarchte, und MrsBransworth da, die irgendwo zwischen den Regalen leise Selbstgespräche führte. June setzte sich hinter die Theke und atmete ein paarmal tief durch, sog den tröstlichen Geruch der Bücherei ein. Als Kind hatte sie immer geglaubt, jedes Buch habe seinen eigenen Geruch, je nach Inhalt, und der Duft der Bücherei sei ein Konglomerat Tausender verschiedener Geschichten. Irgendwann erzählte sie ihrer Mum von dieser Theorie, einschließlich ihrer Vermutung, die Kinderbuchabteilung rieche deshalb am besten, weil in Kinderbüchern bekanntlich aufregendere Geschichten standen als in Erwachsenenbüchern. Danach überlegten sie und ihre Mum monatelang bei jedem Buch, das sie zusammen lasen, welcher besondere Duft der Geschichte zu eigen war. Der geheime Garten duftete zum Beispiel nach Erde und Rosen, während Charlie und die Schokoladenfabrik einen seltsamen Geruch von Zucker und Kohlsuppe verströmte.
»Entschuldigung, kann ich die ausleihen?«
June hob den Blick. Vor ihr stand ein großer Buchstapel mit zwei Augen, die über ihn hinwegblinzelten. »Aber klar doch, Jackson.«
Lindas achtjähriger Enkel gehörte zu Junes Lieblingsbenutzern. Er wurde zu Hause unterrichtet und kam schon von klein auf allein in die Bücherei, den Benutzerausweis in der Hand wie seinen kostbarsten Besitz. Er war ein eifriger Leser und verschlang bereits Bücher für Kinder, die doppelt so alt waren wie er.
»Herr der Fliegen, gute Wahl«, sagte June und zog den Stapel zu sich. »Wenn es dir gefällt, probier es als Nächstes mal mit Unten am Fluss.«
»Das hab ich schon mit sieben gelesen.« Jackson wischte sich die Nase mit dem Ärmel seines leuchtend lilafarbenen Pullis ab, den garantiert Linda gestrickt hatte. »Habt ihr Oliver Twist da? Ich mache gerade ein Projekt über das viktorianische Zeitalter, und Stanley meinte, das würde mir bestimmt gefallen.«
»Ich schau mal nach.« June tippte den Titel in den Computer ein. »Wusstest du, dass diese Bücherei mal eine viktorianische Schule war? Wenn du willst, helfe ich dir bei deiner Recherche, wir haben sicher noch alte Fotos im Archiv.«
»Ja, gerne«, sagte Jackson. »Wusstest du, dass die Viktorianer Waisenkinder in Arbeitshäuser gesteckt haben, wo sie nicht mal Lesen und Schreiben lernen durften? Das hab ich hier im Lexikon gelesen.«
Linda beklagte sich oft darüber, dass Jackson so viel Zeit in der Bücherei verbrachte, statt mit Kindern in seinem Alter draußen zu spielen. Aber für June war der Junge ein Seelenverwandter. Jedes Mal, wenn er die Bücherei betrat, sah sie das an seinem Blick, an der Mischung aus Aufregung und Vorfreude auf all die Verheißungen, die in den Bücherregalen auf ihn warteten. Und sie wusste auch, wie es sich anfühlte, mehr Zeit zu Hause mit Büchern als mit anderen Menschen zu verbringen und die Abenteuer und Reisen zwischen zwei Buchdeckeln denen im wahren Leben vorzuziehen.
Die Eingangstür knallte ins Schloss, und ein junger Mann in schlecht sitzendem Anzug und von knallroten Pickeln übersätem Gesicht kam in die Bücherei gestürmt. »Haben Sie es schon gehört?«
»Äh, nein, was meinen Sie?« fragte June. »Und, Entschuldigung, wer sind Sie?«
»Ryan Mitchell von der Dunningshire Gazette. Haben Sie noch nicht gehört, was die Kreisverwaltung beschlossen hat?«
»Was ist mit der Kreisverwaltung?« MrsBransworth kam vom Wissenschaft-und-Technik-Regal herübergeschlendert.
»Sie haben eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der es heißt, dass sie sechs Büchereien hier im County schließen wollen. Chalcot gehört dazu.«
June verschlug es den Atem. »Was?«
»Damit drohen sie seit Jahren, aber jetzt haben sie es offiziell gemacht«, sagte Ryan. »Sie wollen eine Evaluierung in Auftrag geben und auf Basis des Ergebnisses eine Entscheidung treffen.«
»Diese Schweine!«, schrie MrsB so laut, dass Stanley in seinem Sessel hochfuhr.
»Ich hatte gehofft, ein Statement von der Bibliothekarin zu bekommen«, sagte Ryan zu June und zog sein Handy aus der Tasche.
»Tut mir leid … Meine Chefin ist noch nicht da«, stotterte June. Ihr war so schwindelig, dass sie sich an der Theke festhalten musste. Die Bücherei sollte geschlossen werden?
»Können sie sie wirklich einfach so schließen?«, fragte Stanley jetzt. »Diese Einrichtung ist von tragender Bedeutung für das Dorf.«
»In der Kreisverwaltung sitzen eben nur Tory-Arschlöcher!«, grummelte MrsB. »Gehört alles zum scheiß Sparplan. Im ganzen Land werden Büchereien dichtgemacht.«
»Aber wo soll ich ohne Bücherei denn bloß hin?«, fragte Stanley.
»In der Verwaltung verweist man auf die größeren Bibliotheken in Winton und New Cowley«, sagte der Journalist.
»Aber die sind doch viel zu weit weg …«
»Wussten Sie das?« MrsB funkelte June an.
»Nein, tut mir leid … Ich höre zum ersten Mal davon.«
»Das dürfen wir nicht zulassen«, sagte Stanley.
»Wir rufen einen Protest ins Leben.« MrsB ließ die Faust so fest auf die Theke krachen, dass June zusammenzuckte. »Ich protestiere schon mein ganzes Leben, da werde ich die Bücherei nicht kampflos aufgeben.«
»Kann ich das als Zitat benutzen?«, fragte Ryan und kritzelte etwas in sein Notizbuch.
»Was zum Donnerwetter ist denn hier los?«
Alle drehten sich zur Tür um, wo Marjorie stand und sich ihre Handtasche vor die Brust hielt wie einen Schild. »Das ist eine Bücherei und kein Viehmarkt. Man hört das Geschrei bis auf die Straße.«
»Marjorie Spencer? Dürfte ich Sie um ein Interview für die Dunningshire Gazette bitten?«, fragte Ryan.
»Sie dürfen sich gern ein Buch ausleihen, ansonsten muss ich Sie bitten zu gehen.«
»Darf ich …«
»Raus mit Ihnen!«
Ryan sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann zog er den Kopf ein und machte, dass er wegkam. Stille legte sich über den Raum, und June hörte ihren eigenen abgehackten Atem.
»Gut, und jetzt beruhigen wir uns alle wieder«, sagte Marjorie. »Ich komme gerade von meinem Termin mit der Kreisverwaltung, wo ich von den Plänen in Kenntnis gesetzt wurde. Ich weiß, das ist erst mal ein Schock, aber wir dürfen jetzt nicht in Panik geraten.«
»Sie haben leicht reden, Sie gehen ja auch bald in Rente.« MrsBransworth schnaubte empört. Sie und Marjorie hatten sich vor Jahren überworfen, als Marjorie MrsB unterstellt hatte, eine Biografie von Margaret Thatcher verunstaltet zu haben.
»Wie Sie alle wissen, ist mein Mann Gemeinderatsvorsitzender und ein großer Verfechter der Bücherei«, sagte Marjorie. »Er wird am Donnerstag eine öffentliche Sitzung mit der Kreisverwaltung ansetzen, wo Sie alle Ihre Fragen loswerden können.«
»Da bleibt uns aber sehr wenig Zeit zur Vorbereitung«, sagte Stanley.
»War doch klar«, zischte MrsB. »Die Kreisverwaltung will das so schnell wie möglich durchdrücken, um zu verhindern, dass die Sache Wellen schlägt.«
»Ich bin mir sicher, die Kreisverwaltung wird bei der Sitzung ein offenes Ohr für Ihre Bedenken haben«, sagte Marjorie. »Und jetzt widmen sich bitte alle wieder dem, wofür Sie hergekommen sind.«
Marjorie blieb an der Theke stehen, bis Stanley und MrsB ihrer Wege gegangen waren, dann drehte sie sich um und verschwand in ihrem Büro. June entging nicht, dass sie bleich wie eine Wand war.
»Entschuldigung?«
June wandte den Kopf und stellte überrascht fest, dass Jackson noch immer vor der Theke stand. In all der Aufregung hatte sie ihn ganz vergessen.
»Ja, was denn?«
Der Junge sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Die machen die Bücherei doch nicht wirklich zu, oder?«
June biss sich auf die Lippe und versuchte, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Das weiß ich leider nicht, Jackson. Tut mir leid.«
KAPITEL 5
»Wie immer?«, fragte George, als June an dem Abend in den chinesischen Imbiss kam.
»Ja bitte, George.«
Er verschwand in der Küche des Golden Dragon, und June ließ sich auf einen der Plastikstühle fallen. Sie hatte Kopfschmerzen. Die Ankündigung der Kreisverwaltung hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet, und jeder, der in die Bücherei gekommen war, hatte sie dazu ausgefragt. June hatte versucht, positiv zu bleiben und die Leute damit zu beruhigen, dass noch nichts entschieden war, aber in ihrem Innern sah es ganz anders aus. Was sollte sie bloß tun, wenn die Bücherei schließen musste? Sie würde sich einen neuen Job suchen müssen, was wiederum bedeutete, dass sie das Haus ihrer Mutter verkaufen und Chalcot verlassen musste …
June nahm ein Buch aus ihrer Tasche. Sie brauchte dringend Ablenkung.
»June Jones?«
Sie hob den Blick, erkannte den Mann mit dem wuscheligen Haar hinter der Theke jedoch nicht. War er jemand aus der Bücherei? Sie versuchte sich vorzustellen, was für Bücher er sich auslieh, konnte ihn aber nicht einordnen.
»Ich bin’s, Alex.«
Alex Chen! Den hatte June nicht mehr gesehen, seit er ein kleiner, pummeliger Teenager war, der im Schulbus Game of Thrones las. Er war in ihrer Klasse gewesen, sie hatten sogar ein paar Referate zusammen gehalten. Inzwischen war er ein Riese mit breiten Schultern und einem freundlichen Lächeln.
»Ach, hi Alex. Wie geht’s?«
»Gut, danke. Ich helfe ein paar Monate im Laden aus, bis Dad sich von seiner Hüft-OP erholt hat.«
»Oh, er wird operiert? Wann denn?« June hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass George ins Krankenhaus musste, allerdings beschränkten sich ihre wöchentlichen Gespräche auch auf »Wie immer?« und »Sieben Pfund vierzig, bitte«.
»Nächsten Donnerstag. Ach, echt lustig, dich wiederzusehen. Wohnst du noch hier?«
»Ja, ich arbeite in der Bücherei.« June sah Alex aus den Augenwinkeln an und war erstaunt, als sich seine Miene aufhellte.
»Das ist ja cool. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich dich auch noch nie ohne ein Buch in der Hand gesehen. Hast du nicht früher jedes Jahr den Vorlesepreis gewonnen?«
»Nicht jedes Jahr, nur dreimal«, sagte June und spürte, dass sie rot wurde.
»Ich habe immer versucht, dich zu schlagen, aber ich hatte nie eine Chance.« Alex lachte. »Und, hast du eine Buchempfehlung für mich?«
Das wurde June häufig gefragt, wenn ihr Gegenüber erfuhr, was sie beruflich machte, und sie war insgeheim stolz auf ihre Fähigkeit, zu erraten, was für Bücher die Leute gerne lasen. »Ich kann es ja mal versuchen. Stehst du immer noch auf George R.R.Martin?«
»Oh Gott, ich war echt ein Loser in der Schule, oder?« Alex verzog das Gesicht. »Aber ich fürchte, viel cooler bin ich nicht geworden, ich lese heute nämlich am liebsten Science-Fiction und Horror.«
»Oh, das sind Genres, mit denen ich mich nicht so gut auskenne, aber ich kann gern mal nachschauen.«
»Eigentlich wollte ich meinen Lesehorizont auch längst mal erweitern, ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll.« Alex zeigte auf das Buch in Junes Schoß, das sie sich heute Morgen auf dem Weg nach draußen vom Küchentisch geschnappt hatte. »Was liest du gerade?«
»Nichts für dich, glaube ich«, sagte sie und wollte es wieder in ihre Tasche schieben.
»Warum denn nicht? Zeig doch mal.«
Widerwillig hielt June das Buch hoch und zeigte Alex den ramponierten Umschlag. Ein enttäuschter Ausdruck huschte über sein Gesicht, dann lächelte er wieder sein freundliches Lächeln.
»Stolz und Vorurteil? Cool, habe ich aber nie gelesen. Bloß Stolz und Vorurteil und Zombies.«
»Was?« June lachte überrascht auf. »Davon habe ich ja noch nie gehört.«
»Das ist super. Ich glaube, der Plot ist der gleiche wie im Original, aber es spielt in einer apokalyptischen Welt, in der die Bennet-Schwestern Zombiejägerinnen sind, die chinesische Kampfkunst beherrschen. Und dann stellt sich heraus, dass Wickham ein Untoter ist, der sich von Schweinehirn ernährt und plant, mit einer Zombiearmee England anzugreifen, und Elizabeth und Darcy müssen ihn aufhalten.« Alex hielt inne, als er Junes Gesichtsausdruck sah.
»Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe. Veräppelst du mich?«
»Nein, ich schwöre. Weißt du was? Ich habe eine Idee: Ich lese Stolz und Vorurteil und du Stolz und Vorurteil und Zombies, und hinterher vergleichen wir.«
»Nein danke, ich habe kein Horrorbuch mehr gelesen, seit wir Frankenstein in der Schule durchgenommen haben, und da musste ich eine Woche lang mit Licht an schlafen.«
Alex lachte. »Puh, daran kann ich mich auch noch erinnern. Wie hieß noch mal diese langweilige Englischlehrerin? Ich hab ihren Unterricht immer gehasst.«
Eigentlich war Miss Townsend Junes Lieblingslehrerin gewesen, weil sie ihr immer Bücher empfohlen und nach dem Unterricht noch mit ihr darüber gesprochen hatte, aber das wollte sie Alex nicht auf die Nase binden.
Da tauchte George mit einer Tüte aus der Küche auf. »Sieben Pfund vierzig, bitte.«
»Danke, George. Und viel Glück bei …«, setzte June an, aber er war schon wieder in der Küche verschwunden.
»War jedenfalls schön, dich wiederzusehen«, sagte Alex, als sie die Tüte nahm und zur Tür ging. »Sag Bescheid, wenn du deine Meinung zu Stolz und Vorurteil und Zombies änderst. Wer weiß, vielleicht gefällt es dir ja.«
Zu Hause setzte sich June an den Tisch, um ihr Hühnchen mit schwarzer Bohnenpaste zu essen. Das war immer das Lieblingsgericht ihrer Mum gewesen, und jetzt bestellte June es jeden Montagabend für sich selbst. Sie schob sich eine Gabel voll in den Mund und ließ die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren: Rhyme Time, die drohende Schließung der Bücherei, Marjories kreidebleiches Gesicht. Konnten sie die Bücherei wirklich zumachen? Natürlich wusste June, dass überall im Land Büchereien geschlossen wurden. Aber irgendwie hatte sie immer gedacht, dass so ein winziger Ort wie Chalcot davon nicht betroffen sein würde. Und dass sie ihren Job dort behalten könnte, so lange sie wollte. June schauderte, obwohl es noch immer warm war. Da klopfte es an der Tür. Sie zuckte zusammen.
»Ich hab’s gerade gehört«, sagte Linda, kaum dass sie durch die Tür war. Sie schlang die Arme um June und drückte sie an sich. »Du Ärmste, das muss ja ein Riesenschock für dich gewesen sein.«
»Sie wollen sie dichtmachen, Linda«, flüsterte June an ihrer Schulter. »Mums Bücherei.«
»Das werden wir nicht zulassen.« Linda ließ sie los und ging in die Küche. »Hast du schon überlegt, was du jetzt machst?«
June folgte ihr und sank auf ihren Stuhl. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt irgendwas tun kann.«
»Wenn deine Mutter noch leben würde, dann stünde sie garantiert längst bei der Kreisverwaltung auf der Matte und würde so lange auf sie einreden, bis sie die Entscheidung zurücknehmen würden«, sagte Linda.
»Donnerstag soll es wohl eine öffentliche Veranstaltung geben, bei der man Fragen an die Kreisverwaltung loswerden kann.«
»Na, davon wirst du sicherlich jede Menge haben. Schreib dir am besten alles auf, damit du bei dem Termin nichts vergisst.«
June schob den Reis auf ihrem Teller hin und her und schwieg. Ja, sie hatte jede Menge Fragen, aber die würde sie auf keinen Fall vor einem Raum voller Menschen stellen. Allein bei dem Gedanken daran, dass alle Blicke auf ihr ruhten, wurde June schlecht. Sie legte die Gabel auf ihrem Teller ab. »Ich wünschte, Mum wäre hier«, sagte sie leise.
»Ich weiß, Süße, ich auch.« Linda lächelte sie traurig an. »Aber deine Mum ist nicht hier, und das bedeutet, wir müssen diesen Kampf für sie ausfechten.«
KAPITEL 6
June beobachtete eine Frau, die mit einer aufgeschlagenen Ausgabe von Spanisch für Dummies vor ihr saß. Sie war eine ruhige, höfliche Benutzerin, die erst seit ein paar Monaten in die Bücherei kam. Als Erstes hatte sie Russisch für Anfänger gelesen und danach Deutsch im Selbststudium. June hatte für sich daraus geschlossen, dass die Frau verheiratet war und zwei Kinder hatte, gleichzeitig aber ein geheimes Doppelleben als Agentin führte. Jeden Tag, nachdem sie die Kinder zur Schule gebracht hatte, widmete sie sich ihren Missionen, begab sich auf die Spuren der Mafia in Winton oder eliminierte in Favering einen russischen Spion, der sich als Tourist ausgab. Und jedes Mal, wenn sie ihrem Mann sagte, dass sie übers Wochenende ihre Schwester besuchte, hatte sie in Wirklichkeit eine heiße Affäre mit einem anderen MI5-Agenten, der …
»Schwachsinn!«, rief MrsB June über das Zeitschriftenregal hinweg zu. »So einen Riesenhaufen Schrott habe ich wirklich noch nie gelesen.«
»Welches Buch war es diesmal?«, fragte June, als ihr auch schon Hundert Jahre Einsamkeit entgegenflatterte. »Schade, dass es Ihnen nicht gefallen hat, MrsBransworth. Ich mochte es sehr.«