Die letzte Jungfrau ... - Day Leclaire - E-Book

Die letzte Jungfrau ... E-Book

Day Leclaire

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Beschreibung

Stolz und bedrohlich stürmt der Piratenabkömmling Sam Beaumont auf die Insel Delacorte Island. Sein Ziel ist es, sich an all denen zu rächen, die ihn vor sieben Jahren vertrieben haben. Und er will seine wunderschöne Ex-Braut Annie zurückerobern. Bei einer Bootsfahrt küsst er sie so wild, dass heiße Sehnsucht sie durchflutet, endlich zu erfahren, was Liebe ist. Doch noch zögert er, seine goldblonde Meerjungfrau zu erobern. Und dann ist es Annie, die ihn in ihrer sturmumtosten Hochzeitsnacht in aller Unschuld verführt und seine sinnlichsten Träume wahr werden lässt!

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Seitenzahl: 200

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IMPRESSUM

Die letzte Jungfrau … erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 1999 by Day Totton Smith Originaltitel: „Shotgun Bridegroom“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 1403 - 2000 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Elke Schuller-Wannagat

Umschlagsmotive: shutterstock_Roman Samborskyi

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733759391

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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PROLOG

Obwohl Sam Beaumont sich sieben Jahre lang von Delacorte Island ferngehalten hatte, wurden die Bewohner dieser kleinen Insel vor der Küste North Carolinas noch immer nervös, wenn sie an ihn dachten. Er beunruhigte sie so wie ein Hurrikan, der sich über dem Meer zusammenbraute, allmählich stärker wurde und unaufhörlich näher rückte. Irgendwann brach, wie man aus Erfahrung wusste, der Sturm los, und es blieb einem nichts anderes übrig, als sich zu verbarrikadieren und abzuwarten, bis er sich gelegt hatte.

Insofern war niemand wirklich überrascht, als Sam an einem schönen Sommertag auf seinem schwarzen Motorrad von der Fähre kommend in die Stadt Beaumont raste, die nach einem seiner Vorfahren benannt worden war, einem Piraten, der dem damaligen Bürgermeister die Pistole auf die Brust gesetzt und somit die Wahl des Ortsnamens entscheidend beeinflusst hatte.

Dass Sam die drei Männer zu sehen verlangte, die ihn sieben Jahre zuvor mit Gewehren in der Hand von der Insel vertrieben hatten, wunderte auch keinen. Die Zeichen standen auf Sturm – und der würde aller Voraussicht nach heftig wüten.

„Sam will uns bestimmt ruinieren. Inzwischen hat er ja ein Vermögen gemacht“, meinte der Bürgermeister Jeffrey Pike bedrückt. „Wir hätten ihn damals nicht aus der Stadt weisen sollen.“

Sheriff Rawling, meist Rolly genannt, machte ein finsteres Gesicht. „Er hätte sich ja nur umzudrehen und zurückzukommen brauchen. Ich hätte den Jungen nicht davon abgehalten. Du etwa?“

„Einen Beaumont stoppen? Das würde mir nicht einfallen“, meldete sich Ben Drake, der Dritte im Bunde, zu Wort. „Ich muss an mein Geschäft denken. Wenn man mir nachsagen würde, dass ich Leute von hier vertreibe, würde doch niemand mehr bei mir einkaufen.“

Rolly lachte. „Hab keine Angst um deinen Ruf, Ben. Alle wissen, dass du jedem deine Freundschaft anbietest, der dir eine traurige Geschichte von seinem Pech auftischt.“

„Jedem außer Sam Beaumont“, berichtigte Ben ihn.

„Das ist etwas anderes. Der Junge war an Freundschaft nicht interessiert.“

„Nicht an unserer jedenfalls“, mischte der Bürgermeister sich ein und lachte ebenfalls. „Wenn es allerdings um hübsche junge Frauen ging …“

„Genau“, unterbrach Ben ihn. „Und da Annie damals als Nächste auf seiner Liste stand, mussten wir doch etwas unternehmen.“

Der Sheriff nickte. „Richtig. Uns blieb keine andere Wahl, nachdem sie uns um Hilfe gebeten hatte. Den Jungen aus der Stadt zu vertreiben, das war das Wenigste, was wir für Annie tun konnten. Und wir haben ja keinen Schaden angerichtet, weil Sam sich seitdem einen Namen als Börsenmakler gemacht hat. Genau genommen haben wir ihm einen Gefallen getan.“

„Stimmt.“ Bürgermeister Pike blickte unbehaglich von einem zum anderen. „Ihr nehmt aber auch an, dass er jetzt zurückgekommen ist, um uns diesen ‚Gefallen‘ zu vergelten?“

Ben Drake sah seine beiden Freunde verdrießlich an. „Weshalb sonst möchte er uns drei sprechen?“

Die Diskussion endete in diesem Moment, weil Sam Beaumont ins Büro des Bürgermeisters kam. Er war groß, muskulös und beneidenswert attraktiv, außerdem wirkte er ausgesprochen energisch und zielstrebig. Ja, er war ein Mann, mit dem man rechnen musste – jetzt noch mehr als früher. Gegen ihn kamen die drei Freunde sogar gemeinsam nur schwer an.

Obwohl er lässige Jeans und ein T-Shirt trug, umgab ihn ein so unverkennbares Flair von Macht und Erfolg, dass ihm sofort ungeteilte Aufmerksamkeit sicher war. „Meine Herren“, begrüßte er sie durchaus verbindlich, während er seine schwarze Lederjacke auf den einen freien Stuhl warf. „Es ist eine Weile her, dass wir uns gesehen haben.“

„Und jetzt sind Sie zu einem kurzen Besuch hier?“, fragte Ben hoffnungsvoll.

Sam lächelte strahlend. Dieses Lächeln war schon vielen Frauen auf der Insel zum Verhängnis geworden. „Ich habe mich noch nicht entschieden, wie lange ich bleibe.“

„Bringen wir’s hinter uns“, sagte der Sheriff unvermittelt. „Es gibt doch nur einen Grund, warum Sie uns drei hier treffen wollten: wegen der Nacht vor sieben Jahren.“

„Richtig“, bestätigte Sam ernst.

Der Bürgermeister rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum, der unter seinem Gewicht ächzte. „Hör mal, Junge …“

Blitzschnell durchquerte Sam den Raum und beugte sich über den Schreibtisch. „Nennen Sie mich Sam – oder Beaumont, wenn Ihnen das lieber ist. Jedenfalls lasse ich mich von Ihnen nicht mehr als ‚Junge‘ bezeichnen, Bürgermeister. Niemals wieder. Ist das klar?“

Beschwichtigend hielt Bürgermeister Pike die Hände hoch. „Ja, sicher. Und bitte, keine Aufregung … Sam. Ich hab’s nicht als Beleidigung gemeint.“

„Gut.“ Sam nickte und richtete sich auf. „Und nun zum Geschäft.“

Ben Drake räusperte sich. „Haben wir denn ein Geschäft zu besprechen, Mr. Beaumont? Oder muss ich Professor Beaumont sagen?“

Sams dunkle Augen blitzten amüsiert. „Nein, Professor bin ich nicht, nur Doktor. Aber die formelle Anrede mit Titel können wir uns sparen, schließlich bin ich kein Arzt, sondern Experte für Finanzen, wie Sie ja sicher gehört haben.“

„Wollen wir nicht zur Sache kommen? Was möchten Sie von uns, Beaumont?“, fragte Rolly.

„Eigentlich nur einige Dinge klären, damit ich meinen Besuch hier genießen kann.“

Der Sheriff funkelte Sam an. „Welche Dinge?“

„Ich wollte Ihnen versichern, dass ich keine Probleme zu verursachen gedenke, während ich hier bin.“

„Das war’s?“, fragte Bürgermeister Pike vorsichtig.

Sam nahm die Lederjacke vom Stuhl, setzte sich und streckte die Beine aus. „Ja, durchaus. Sehen Sie, meine Herren, bei einem Rachefeldzug besteht immer das Risiko, dass Unschuldige davon betroffen werden.“ Er blickte den Bürgermeister an. „Ehefrauen könnten unter einem Skandal leiden – und Wahlen verloren werden.“

Mr. Pike wurde blass. „Das würden Sie nicht wagen, Sam!“

Herablassend zuckte Sam die Schultern. „Ich sagte doch, ich möchte keine Probleme verursachen.“ Dann wandte er die Aufmerksamkeit dem Sheriff zu. „Sonst würde ich mit Mrs. Cross über den Unfall sprechen, der sie für so viele Wochen ins Krankenhaus gebracht hat. Den dafür verantwortlichen Wagenlenker, der Fahrerflucht begangen hat, haben Sie nie versucht zu finden, stimmt’s, Rolly?“

Sheriff Rawling biss kurz die Zähne zusammen. „Nein“, bestätigte er schließlich. „Den habe ich nie gefunden.“

„Seltsam, da die hiesige Gemeinde so klein ist. Ich hätte gedacht, sogar Sie wären in der Lage gewesen, das Problem zu lösen.“ Nun sah Sam zu Ben Drake. „Oder Sie die Probleme Ihrer Tochter.“

Ben verschluckte sich beinahe. „Woher wissen Sie …“

„Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, so etwas zu wissen.“ Ohne dass Sam sich gerührt hätte, wirkte seine Haltung plötzlich drohend. „Mir hat es damals nicht gefallen, mit Waffengewalt vertrieben zu werden, obwohl ich verstanden habe, warum Sie drei eine so drastische Methode wählten. Was anschließend passiert ist, hat mich freilich ein bisschen verärgert“, fügte er ironisch hinzu.

„Und was war das?“, fragte Ben unbehaglich und sah seine Freunde verwirrt an. „Ich verstehe Sie nicht, Sam.“

„Ach nein? Einer von euch ist noch mal zurückgekommen und hat mich zusammengeschlagen, und ich muss zugeben, dass ich demjenigen doch ziemlich böse bin.“ Sams dunkle Augen wirkten jetzt kalt.

Die drei älteren Männer blickten Sam fassungslos an. Sheriff Rawling fand als Erster die Sprache wieder. „Wir haben dich … Sie nicht angerührt, Sam!“ Ben und der Bürgermeister nickten bestätigend. „Abgesehen davon, dass wir Sie gefesselt auf der Anlegestelle der Fähre zum Festland abgesetzt haben. Das war alles.“

„Wie interessant, wenn man bedenkt, dass ich am folgenden Tag in der Gosse auf dem besagten Festland aufgewacht bin, und zwar …“ Sam zuckte die Schultern, „in ziemlich beklagenswertem körperlichem Zustand.“

„Wer sagt Ihnen, dass einer von uns dafür verantwortlich war?“

„Es gab nur Sie drei, die mich unbedingt von der Insel entfernen wollten.“ Sam verzog die Lippen. „Und Annie, natürlich. Allerdings glaube ich nicht, dass die mich verprügelt hat, denn das ist nicht ganz ihr Stil, oder?“

„Auf keinen Fall“, stimmte Ben zu. „Sie sind also zurückgekommen, Sam, um sich an demjenigen zu rächen, der Sie zusammengeschlagen hat. Richtig?“

„Nicht ganz.“ Sam stand auf und hängte sich die Lederjacke über die Schulter. „Ich bin Annies wegen hier. Und ich warne Sie drei, sich diesmal nicht wieder einzumischen. Weil ich diesmal gegen Sie kämpfen würde – und dabei könnte jemand zu Schaden kommen.“ Er ging zur Tür, blieb dort stehen und zog die dunklen Brauen hoch. „Ist jetzt alles klar?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinaus.

Die drei Freunde blieben wie erstarrt schweigend sitzen.

Schließlich fluchte Rolly lautstark. „Und was machen wir jetzt?“

„Warst du es?“, fragte der Bürgermeister. „Du hast die Beaumonts doch nie ausstehen können. Hast du den Jungen zusammengeschlagen, nachdem wir anderen zwei weg waren?“

„Um Himmels willen, nein! Obwohl es mich durchaus in den Fingern gejuckt hat. Aber ich war’s nicht, ehrlich.“

Rasch stand Ben auf. „Ihr könnt doch nicht glauben, dass ich es getan habe!“

„Meine Herren, bitte!“, sagte der Bürgermeister in beschwichtigendem Ton. „So kommen wir doch nicht weiter. Die Frage ist vielmehr, was unternehmen wir jetzt? Soweit es mich betrifft, ist mir völlig klar, warum Sam Beaumont zurückgekommen ist.“

„Ja, um uns zu ruinieren“, erwiderte Ben und wurde rot. „Und Annie auch.“

Rolly seufzte. „Die Frage ist nur … überlassen wir ihm Annie, oder tun wir das einzig Ehrenhafte und retten sie wieder vor ihm?“

Bürgermeister Pike senkte den Kopf. „Ja, das ist die Kernfrage. Wir leben hier auf einer kleinen Insel und … Jungs, ich muss es doch nicht buchstabieren, oder? Hier ist es nicht wie anderswo. Der gute Ruf zählt alles.“

Ben Drake nickte. „Die Delacortes waren immer hoch angesehen. Ganz besonders Annie Delacorte: Sie hat die weißeste Weste von allen Inselbewohnern.“

„Nicht mehr lang, wenn Sam Beaumont hier länger rumhängt“, bemerkte Rolly. „Der stammt doch von Piraten ab, und das merkt man ihm auch an.“

Einen Moment lang schwiegen die drei Männer. Dann richtete der Bürgermeister sich kerzengerade auf und machte eine gewichtige Miene. „Soweit ich es sehe, haben wir keine Wahl, egal, wie die Folgen sind. Annie ist nicht nur unsere Volksschullehrerin und das leuchtende Vorbild für alle Unschuldigen in unserer Gemeinde, nein, meine Herren, sie hat sich auch vor nunmehr sieben Jahren an uns um Hilfe gewandt, und wir sind ehrenhalber verpflichtet, Annie Delacorte auch diesmal beizustehen. Es ist unsere Aufgabe, ihren Ruf zu wahren und zu schützen.“

Der Sheriff nickte niedergeschlagen. „Ja, uns bleibt nicht anderes übrig. Ich wünschte nur, wir wären nicht schon so alt. Es wird allmählich anstrengend, die drei Musketiere zu spielen.“

Ben schloss kurz die Augen. „Und ich wünschte, es würde nicht bedeuten …“

„Unsere Geheimnisse würden ohnehin irgendwann ans Tageslicht kommen“, versuchte Rolly ihn zu trösten. „Da können wir jetzt gleich das Richtige tun.“

„Wir sind uns also einig?“, fragte Bürgermeister Pike. „Alle für einen?“

„Und einer für alle“, erwiderte die beiden anderen wie aus einem Mund.

1. KAPITEL

Annie Delacorte schob den Einkaufswagen durch Drakes Supermarkt, der für einen Mittwoch ungewöhnlich gut besucht war. Überall standen Kunden beisammen, die sich angeregt unterhielten – und ihr seltsame Blicke zuwarfen. Das munterte sie enorm auf. Vielleicht hatte sie ja endlich etwas getan, was ihre Mitbürger schockierte, und genau darauf legte sie es schon seit geraumer Zeit an.

Allerdings wollte sie ihren guten Ruf nicht völlig zerstören. Oh nein! Sie wollte ihn lediglich ein bisschen „ankratzen“, zum Beispiel indem sie sich eine purpurrote Strähne ins blonde Haar gefärbt hatte. Vielleicht würden die anderen dann nicht völlig entsetzt sein, wenn sie eines Tags ihr Geheimnis entdeckten. Nein, dann konnten sie beispielsweise sagen: „Für eine wohlerzogene Delacorte hat sie sich schon immer reichlich seltsam benommen, aber das erklärt alles.“

Rosie Hinkle und ihre Freundinnen, allgemein als der „Gluckenclub“ bekannt, unterhielten sich leise beim Gemüseregal, und unauffällig schob Annie den Wagen näher. Bei den zu einer Pyramide aufgeschichteten Grapefruits blieb sie stehen, aber keineswegs um zu lauschen. Oh nein, Sankt Annie würde so etwas niemals tun! Sie verzog selbstironisch die Lippen. Wenn die anderen nur wüssten!

„… zurück. Mein Bertie hat es mit eigenen Augen gesehen“, sagte Rosie Hinkle gerade. „Und Sheriff Rawling hat es bestätigt.“

„Das gibt’s doch nicht! Nach all den Jahren“, meinte eine der anderen Frauen. „Der Junge hat echt Nerven.“

Welcher Junge? fragte Annie sich. Einer ihrer Schüler? Wenn sie doch nur einige Minuten früher gekommen wäre, wüsste sie es jetzt. Sie seufzte frustriert.

„Er ist zurück, ich schwör’s! Mein Bertie lügt nicht“, bekräftigte Rosie.

„Jedenfalls nicht mehr seit seinem elften Lebensjahr“, bestätigte eine ihrer Freundinnen. „Seit der Sheriff ihm damals ins Gewissen geredet hat, benimmt dein Sohn sich tadellos. Also, wenn Bertie es sagt, ist wohl etwas dran.“

Verflixt, wer war zurück? Annie nahm eine Grapefruit und betrachtete sie genauer – obwohl ja eine wie die andere aussah.

„Und was will er hier?“

Rosie Hinkle blickte verstohlen nach rechts und links, bevor sie antwortete: „Ich sage es euch, aber ihr müsst versprechen, es keinem Menschen zu verraten.“ Die anderen nickten eifrig. „Mein Bertie hat es direkt vom Sheriff, und der hat es von Ihr-wisst-schon-wem. Dieser Mann hat weniger Scham im Leib als der Teufel persönlich.“

Es gab eine bedeutungsschwere Gesprächspause, und Annie rückte vorsichtig noch näher an den „Gluckenclub“ heran.

„Sam Beaumont ist zurückgekommen, um sich zu rächen. Er hat Rolly, Ben und dem Bürgermeister gestanden, dass er Annie zu ruinieren beabsichtigt, weil sie ihm damals den Laufpass gegeben hat. Könnt ihr euch das vorstellen? Es wäre das erste Mal, dass eine Delacorte in schlechten Ruf gerät – und noch dazu wegen eines Beaumonts.“

Überrascht fuhr Annie zusammen und stieß dabei gegen die Früchte. Die Pyramide begann gefährlich zu schwanken, eine Grapefruit fiel herunter, und dann stürzte das ganze kunstvolle Gebilde in sich zusammen. Die Pampelmusen rollten in alle Richtungen davon. Annie blieb wie erstarrt stehen, während alle Anwesenden sie anblickten.

„Ach, du liebes bisschen“, sagte Rosie Hinkle. „Annie, meine Liebe, ich wollte nicht, dass du hörst, was …“

Gelassen bahnte Annie sich einen Weg durch das herumliegende Obst und rief in ihrem besten Lehrerinnenton nach dem Ladengehilfen. „Hier am Obstregal wird ein Aufräumer benötigt, Tommy! Guten Tag, meine Damen.“ Sie nickte den Frauen freundlich zu und eilte an ihnen vorbei zum Ausgang.

Bevor sie jedoch aus dem Laden flüchten konnte, setzte Ben Drake ihr nach. „Miss Annie, warten Sie! Ich muss unbedingt sofort mit Ihnen sprechen.“

„Ich habe schon gehört, dass Sam Beaumont wieder in der Stadt ist“, erwiderte sie ausweichend. „Keine Sorge, Ben. Egal, was manche denken, er ist nicht hinter mir her.“ Sie bedachte die „Glucken“ mit einem einschüchternden Blick, der allerdings nicht besonders Furcht einflößend ausfiel, da sie klein, zierlich und – nach Meinung ihrer Erstklässler – so hübsch wie eine Prinzessin aus einem Disneyfilm war.

„Wir sollten das woanders besprechen“, sagte Ben beharrlich. „Es gibt einige Dinge, die Sie nicht wissen.“

Trotzdem wollte sie nicht über Sam sprechen, sondern möglichst schnell den Laden verlassen, solange sie noch ihre freudige Erregung verbergen konnte.

„Nein, ich muss dringend los“, sagte Annie. „Tante Myrtle wartet schon auf mich.“

„Miss Annie!“

Sie winkte nur und eilte aus dem Geschäft. Auf dem Parkplatz lief sie zu ihrem Motorrad, stieg auf und startete den Motor. Dann ordnete sie ihren Rock um die Knie und setzte den Sturzhelm auf die blonden Locken, denn allzu verwegen wollte sie sich nicht aufführen. Schließlich fuhr sie los.

Und was mache ich jetzt? fragte Annie sich. Sam war zurückgekommen, um mit denen abzurechnen, die ihn sieben Jahre zuvor von hier vertrieben hatten – und sie war damals die Hauptschuldige gewesen.

Auf der Hauptstraße beschleunigte sie weit über die Höchstgeschwindigkeit hinaus, und das lange Haar wehte ihr ums Gesicht. Im Ort fuhr sie an Rosie Hinkles Sohn Bertie vorbei, der Hilfssheriff und ihr Schwager war. Er winkte grüßend, und sie winkte unwillkürlich zurück, ohne das Tempo zu verlangsamen. Bertie würde ihr, wie sie aus Erfahrung wusste, keinen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens verpassen, vielmehr hätte er über ein solches Ansinnen schallend gelacht. In den Augen der Einheimischen konnte Sam Beaumont nichts richtig machen und sie, Annie Delacorte, nichts Falsches tun – egal, wie sehr sie es versuchte.

Sie bog in eine unbefestigte Zufahrt ein und wich gekonnt den Schlaglöchern aus, außerdem einer Schlange, einem erbosten Eichhörnchen sowie zwei balzenden Tauben. Vor dem Haus hielt sie an und bockte das Motorrad auf. Den Helm warf sie einfach auf den Boden, dann lief sie die ausgetretenen Stufen zur Veranda hoch, weil sie es zu eilig hatte, um wie üblich zur Hintertür zu gehen.

„Er ist wieder da“, rief Annie, sobald sie im Haus war. „Die Nachricht hat sich in der Stadt wie ein Lauffeuer verbreitet. Und rate mal, was das dumme Huhn Rosie Hinkle behauptet, weshalb er zurückgekommen sei.“ Sie lief in die Küche.

„Er möchte sein Motorrad zurückhaben.“

Annie blieb unvermittelt stehen. Verdammt. Das hätte sie sich denken können!

Nicht Myrtle saß am Küchentisch und trank Tee, sondern Sam. „Interessant, dass meine Maschine in deinen Besitz gelangt ist. Wenn ich nächstes Mal von der Insel vertrieben werde, bestehe ich darauf, dass man mir das Motorrad mitgibt.“

„Ich werd’s mir notieren“, erwiderte Annie unüberlegt.

Seine Augen glitzerten warnend. „Ja, tu das.“

Sam trug ein schwarzes T-Shirt, das sich eng an seine ausgeprägten Muskeln schmiegte, schwarze Jeans, die seine athletischen Schenkel bestens zur Geltung brachten, und schwarze Stiefel. Er sah umwerfend männlich aus – und wie ein Pirat. Das schwarze lockige Haar fiel ihm widerspenstig in die Stirn, und die schwarzen Brauen betonten die dunklen Augen, die so verrucht blicken konnten.

Lieber Himmel, ich habe ihn schrecklich vermisst, dachte Annie und sah sich unbehaglich um. „Wo ist denn Tante Myrtle?“

„Oben. Sie telefoniert. Es geht, wenn mich nicht alles täuscht, um mich“, antwortete Sam und stand auf. „Und was machen ausgerechnet Sie hier, Miss Delacorte?“, erkundigte er sich spöttisch.

„Hat Myrtle es nicht erwähnt? Ich lebe jetzt hier“, erwiderte sie möglichst beiläufig.

„Seit wann?“ Er kam näher.

Wie gebannt blickte sie ihn an. „Kurz nachdem du die Insel verlassen hattest, bin ich eingezogen. Myrtle wünschte sich eine Mitbewohnerin, und ich wollte von zu Hause weg.“

„Es wundert mich, dass dein Vater dich auch nur auf Rufweite an ein Mitglied der Familie Beaumont herangelassen hat.“

„Jetzt übertreib mal nicht“, erwiderte Annie pikiert. „Dad hatte nicht gegen alle Beaumonts etwas.“

„Nein, nur gegen mich“, bestätigte Sam trocken. „Du hast, nebenbei bemerkt, meine Frage noch nicht beantwortet: Was machst du hier?“

Offensichtlich wollte er das Thema nicht fallen lassen. Sam konnte ja so hartnäckig sein! Sie bezweifelte, dass irgendjemand willens – oder fähig – war, ihn zu etwas zu zwingen, was er nicht wollte. „Wie schon gesagt, ich wohne hier. Übrigens hatte ich Dad deswegen nicht um Erlaubnis gebeten, sondern bin einfach zu Myrtle übergesiedelt.“

„Ausgerechnet du hast dich deinem Vater widersetzt, Annie?“

War ich damals wirklich so nachgiebig und schwach? fragte sie sich. „Du brauchst nicht so ungläubig zu klingen. Hier bin ich, und hier bleibe ich!“

Zu ihrer Erleichterung gab Sam sich mit der Antwort zufrieden. „Was ist denn aus eurem Haus geworden?“, erkundigte er sich.

„Pansy und Bertie leben jetzt dort. Sie haben geheiratet und sind kurz nach Dads Tod ins Haus gezogen.“

Er zog eine Braue hoch. „Und warum lebst du nicht in dem Haus, das du von deiner Großmutter geerbt hast, statt dich Myrtle aufzudrängen?“

„Ich dränge mich nicht auf.“ Annie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Und das Haus am Strand … das habe ich verkauft.“

„Verkauft?“, wiederholte Sam erstaunt. „Warum?“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Weißt du was? Ich muss deine Fragen nicht beantworten. Ich muss überhaupt niemands Fragen beantworten. Es war nur ein Haus, und jetzt gehört es jemand anders.“

„Du hast es also verhökert und bist du zu meiner Tante Myrtle gezogen“, fasste er zusammen.

„Sie ist gar nicht deine richtige Tante, sondern nur ganz entfernt mit dir verwandt“, stellte Annie klar. „Du hast nicht das alleinige Anrecht auf sie. Myrtle gehört hier zu uns allen.“

„Aber mich hat sie bei sich aufgenommen, als ich zehn Jahre alt war, und sich seither um mich wie um einen Sohn gekümmert“, erwiderte Sam ungehalten. „Das gibt mir das größte Anrecht auf sie.“

„Nein, das hast du verloren, als du von hier verschwunden bist.“

Sein sarkastisches Lachen verursachte ihr eine Gänsehaut. „Ich bin nicht verschwunden, sondern wurde, wie du dich vielleicht erinnerst, gewaltsam von der Insel vertrieben.“

Am liebsten hätte sich Annie umgedreht und wäre geflüchtet, aber sie hatte im Umgang mit Sam vor allem eins gelernt: Sie musste ihm die Stirn bieten.

„Ich habe gar nichts vergessen“, erwiderte sie bedeutungsvoll.

„Mir geht es genauso.“ Unvermittelt nahm er sie in die Arme. „Willst du mich nicht endlich willkommen heißen, Annie?“

Vergeblich versuchte sie, ihn wegzuschieben. „Abgesehen von Tante Myrtle bin ich bestimmt die Einzige, die das tun wird“, informierte sie ihn kurz angebunden.

„Dieses Willkommen lässt noch ein bisschen zu wünschen übrig. Versuch es noch mal.“

Er ließ ihr keine Zeit, sich etwas Unverfängliches wie beispielsweise eine freundschaftliche Umarmung auszudenken, sondern presste sie an sich und küsste sie so leidenschaftlich wie noch niemals zuvor.

Überwältigt erwiderte sie den Kuss. Heiße Sehnsucht durchflutete sie, eine Sehnsucht, die Sam vor Jahren in ihr geweckt, aber nie gestillt hatte. Ja, ich begehre und liebe ihn noch immer, dachte Annie. Dass er ebenso erregt war wie sie, war ihr bewusst, aber was wollte er wirklich von ihr? Schon immer war er undurchschaubar gewesen.

Irgendwann würde sie es herausfinden müssen, jetzt aber war es ihr gleichgültig. Sams Kuss weckte bittersüße Erinnerungen und zugleich brennendes Verlangen in ihr, und schweren Herzens gestand sie sich ein, dass sie ihr Glück verspielt hatte, als sie Sam von der Insel vertreiben ließ.

Endlich riss Annie sich zusammen und löste sich aus seinen Armen. Zu ihrer Überraschung und Enttäuschung gab er sie bereitwillig frei.

„Du siehst nicht nur aus wie ein verdammter Pirat, du benimmst dich auch wie einer“, warf sie ihm heftig vor.

Sam lächelte breit. „Eine Lehrerin sollte nicht fluchen.“

„Du hast schon immer meine schlechtesten Seiten zum Vorschein gebracht“, beklagte sie sich.

„Tatsächlich?“ Der wissende Blick seiner dunklen Augen ließ sie erröten. „Ich würde eher sagen, ich habe immer das Beste, was du zu bieten hattest, aus dir hervorgelockt. Und jetzt frage ich mich, was die Leute meinen würden, wenn sie wüssten, dass du mir ein so überschwängliches Willkommen bereitet hast.“

„Dann sag es ihnen doch. Jedem Einzelnen!“ Sie verschränkte die Arme. „Sie würden es dir ohnehin nicht glauben, was wirklich schade ist.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Stimmt, mir glaubt man hier ja überhaupt nichts.“

Da er sich jetzt offensichtlich in ernsthafter Stimmung befand, war der passende Zeitpunkt gekommen, um einige heikle Fragen zu stellen, die dringend geklärt werden mussten. Annie atmete tief durch. „Warum bist du denn wirklich zurückgekommen, Sam?“

„Weißt du das nicht?“

„Nein, ich weiß nur, welche Beweggründe man dir unterstellt.“

Plötzlich wirkte er kalt und schroff. „Und welche sind das?“

„Ach, die Liste ist fast endlos. Mal sehen …“ Sie zählte es an den Fingern ab. „Erstens, du bist gekommen, um das Motorrad abzuholen. Zweitens, du bist auf der Insel, um Schwierigkeiten zu machen. Drittens, du willst dich an mir rächen, indem du meinen guten Ruf ruinierst. Viertens, du möchtest alte Freunde besuchen und dich um deinen Besitz kümmern.“ Gleichmütig zuckte sie die Schultern. „Die üblichen Gründe eben, warum jemand nach Jahren in seine Heimat zurückkehrt.“