Die letzte Reckenburgerin - Louise von Francois - E-Book

Die letzte Reckenburgerin E-Book

Louise von Francois

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Beschreibung

"Die letzte Reckenburgerin" gilt als Hauptwerk der Autorin. Die spannende aber auch anrührende Familiengeschichte spielt zur Zeit der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege.

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Die letzte Reckenburgerin

Louise von François

Inhalt:

Luise von Francois – Biografie und Bibliografie

Die letzte Reckenburgerin

Einführung

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Die letzte Reckenburgerin, L. von Francois

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849638412

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Luise von Francois – Biografie und Bibliografie

Deutsche Schriftstellerin, geb. 27. Juni 1817 zu Herzberg in der Provinz Sachsen, gest. 24. Sept. 1893 in Weißenfels, Tochter des preußischen Majors Friedrich von F. (gest. 1818), wurde von ihrem Stiefvater, dem Kriegsrat Herbst in Weißenfels (mit dem sich ihre Mutter 1819 vermählte), liebevoll erzogen, lebte 1848–55 meist in Minden, Halberstadt und Potsdam im Haus ihres Oheims, des preußischen Generals Karl v. François, der durch seine Memoiren (»Ein deutsches Soldatenleben«, hrsg. von seiner Tochter Klotilde v. Schwartzkoppen, Schwerin 1873; 3. Aufl., Berl. 1898) bekannt geworden ist, und seitdem bei ihrer Mutter in Weißenfels. Ihr erstes größeres Werk, der Familienroman »Die letzte Reckenburgerin« (Berl. 1871, 7. Aufl. 1900), wurde um seiner innern Wärme und wirklichen Gestaltungskraft willen von der Kritik mit der größten Anerkennung aufgenommen. Ihm folgten noch drei größere Romane: »Frau Erdmuthens Zwillingssöhne« (Berl. 1872, 2 Bde.; 2. Aufl. 1891), »Stufenjahre eines Glücklichen« (Leipz. 1877, 2 Bde.; 2. Aufl. 1878) und »Der Katzenjunker« (Berl. 1879). Ihre kleinern Erzählungen erschienen gesammelt als »Ausgewählte Novellen« (Berl. 1868, 2 Bde.), darunter »Judith, die Kluswirtin«, ein bäuerliches Seitenstück zur »Reckenburgerin« und nach dieser ihr bestes Werk, das später neben »Phosphorus Hollunder« und »Zu Füßen des Monarchen« auch in die Kollektion Spemann aufgenommen wurde; ferner: »Erzählungen« (Braunschweig 1871, 2 Bde.); »Hellstädt und andre Erzählungen« (Berl. 1874, 3 Bde.); »Natur und Gnade, nebst andern Erzählungen« (das. 1875, 3 Bde.). Auch schrieb sie eine populäre »Geschichte der preußischen Befreiungskriege in den Jahren 1813 bis 1815« (Berl. 1873) und ein im Siebenjährigen Kriege spielendes Lustspiel: »Der Posten der Frau« (Stuttg. 1882). Vgl. M. v. Ebner-Eschenbach in »Velhagen u. Klasings Monatsheften«, 1894, Märzheft, und besonders in der »Neuen Freien Presse« vom 23. Febr. 1894; Klotilde v. Schwartzkoppenin »Vom Fels zum Meer«, 1893/94, Heft 10; H. Bender, Luise v. F. (Hamb. 1894); Bettelheim, Marie v. Ebner-Eschenbach und Luise v. F. (in der »Deutschen Rundschau«, Oktober 1900).

Die letzte Reckenburgerin

Einführung

Es war etwa zwei Jahre nach der Schlacht von Waterloo, als in einem niederländischen Grenzstädtchen armen Eltern eine Tochter geboren wurde. Die kleine, fremde Stadt ist nicht der Schauplatz unserer Geschichte, und die kleinen, fremden Leute sind nicht deren Helden. Das alltägliche Ereignis aber sollte gleichsam den Angelpunkt bilden, um welchen dieselbe rückwärts und vorwärts sich bewegen wird. Denn wäre jenes Kindlein nicht geboren, oder wäre es nicht in der Fremde und in Dürftigkeit geboren worden, so würde die weite Welt von unserer wirklichen Heldin schwerlich etwas Näheres erfahren, und wir würden ihr nicht deren Geheimnisse zu offenbaren haben.

Der Vater des Kindes war noch jung, vielleicht kaum großjährig. Dazu ein Mann von auffälliger, sagen wir ritterlicher Kraft und Schöne der Gestalt, wenngleich das sturmvolle Leben des Feldlagers in den frühverwüsteten, narbigen Zügen zu lesen stand, und wenngleich der Verlust eines Armes ihn zum Krüppel machte. Er war als unbärtiger Forstlehrling der Schar des Braunschweig-Öls in Sachsen zugelaufen, hatte die heldenmütigen Fahrten und Taten dieses Korps unter britischer Fahne auf der Halbinsel wie später in den Niederlanden geteilt, bis er, bei la Haye sainte schwer verwundet und eines Gliedes beraubt, als Wachtmeister verabschiedet worden war. »Prinz Gustel« hatten die Kameraden der Legion den stattlichen, flotten Sachsen tituliert; er selber nannte sich bescheidentlich August Müller.

Die Mutter mochte leicht eine Mandel Jahre mehr zählen als ihr Gespons, und es liegt, zu unserer Befriedigung, uns nicht ob, über die vergangenen Tage der »schwarzen Lisette« gewissenhaft Buch zu führen. Genug, daß sie als Marketenderin, zuletzt bei der Legion, gedient, daß sie ihren August nach seiner Verwundung getreulich verpflegt hat, daß sie sein rechtmäßiges Weib geworden und jetzt emsig bemüht ist, den armseligen Haushalt durch langentwöhnte Handarbeit zu fristen.

Die späte Wiege schien eine unberechnete Gerätschaft in ihrem Mahlschatz gewesen zu sein. Jedenfalls hatte die Kampfesstunde, welche einem Menschen das Leben gibt, das wetterbraune, hartgliederige Weib schwerer mitgenommen als zwanzig Kampfesjahre, in welchen sie Tausende das ihre verenden sah. Die Finger zitterten und der Schweiß tropfte von ihrer Stirn, als sie jetzt, bei eintretender Dämmerung, die feinen Lederzwickelchen noch aneinanderpaßte, die sich, sobald der Morgen graute, in zierliche Handschuhe verwandeln sollten. Sie seufzte, wenn sie von Zeit zu Zeit einen schüchternen Blick auf das schwächliche Wesen fallen ließ, das seit drei Tagen, fast ohne zu erwachen, an ihrer Seite kaum merkbar atmete.

Noch weit unbehaglicher indessen schien dem jungen Invaliden dieser häusliche Zustand vorzukommen. Er schritt in der halbdunklen, niedrigen Kammer auf und ab gleich einem eingefangenen Hirsch, der sich das Geweih abzustoßen fürchtet, riß dann, schwer atmend, das Fensterschößchen auf und schlug es unwirsch wieder zu, als er die Frau ängstlich das Kind gegen den Luftzug bedecken sah. Endlich aber rannte er, ein Donnerwetter brummend, aus der Tür, durch welche wir ihn nach einer Weile, eine Weinflasche in der Hand und in gemütlicherer Laune, zurückkehren sehen.

»Leg das Zeug beiseite und tu einen Zug, Lisette!« rief er der Wöchnerin entgegen. »Du bists gewöhnt, und es tut dir not, armes Weib.«

Frau Lisette schüttelte bedenklich den Kopf, seufzte und fragte mit tiefer, zurzeit merkbar angegriffener Stimme: »Und die Zahlung, August? Wieder geknöchelt gestern nacht? Wieder gekärtelt? Mann, Mann!«

»Ei! seit wann hältst du denn Knöcheln und Kärteln für eine Sünde, altes Haus!« entgegnete lachend der Invalide. »Trink und schneide kein Gesicht! Kann ich Holz hacken mit meinem Stumpf? Soll ich die Orgel umhängen und vor den Türen dudeln, he? Schmählich genug, daß eine, die so tapfer dem Kalbsfell gefolgt ist, elende Ziegenfellchen zusammenstoppeln muß. Aber laß das Gestöhn! Greinen, wenn man unterm Kanonendonner gelacht! Einen Schluck und herzhaft dreingeschaut wie sonst. Es kann ja nicht ewig Frieden bleiben. Wie lange wirds dauern, ist der Napoleon retour, und dann – –«

Er verstand den kläglichen Blick, mit welchem die Marketenderin seine Rede unterbrach, fuhr aber nach kurzem Besinnen in munterster Laune also fort: »Man braucht nur einen Arm, um dreinzuhaun, Lisette. Ich habe ihrer mit der Linken losfeuern sehen, und mir ist die Rechte geblieben, die Mannesfaust. Nur erst den Napoleon retour, das Zelt aufgeschlagen, ein Pferd unter den Leib, und Stumpf und Kindsbett – bah! wer denkt noch an die? Pack die Lappalien zusammen und laß uns eins schwatzen. Sei wieder meine alte, brave, lustige Schwarze!«

»Du hast recht, August; laß uns eins schwatzen,« versetzte die Frau nach einer Pause mit einem herzhaften Entschluß, indem sie erst ihr Nähzeug sorgsam verpackte, dann die Flasche entkorkte, einschenkte und nach einem kräftigen Zug das Glas dem Invaliden reichte. – »Bleib einmal heut abend bei mir zu Hause, Mann. Wir wollen uns Geschichten erzählen, wie sonst im Zelt. Aber keine von den alten, keine, die wir an den Fingern ableiern können, du wie ich.«

Der Invalid lachte. »Kurios, just von den Schnurren, die einer an den Fingern ableiern kann, hört und schwatzt er am liebsten,« meinte er.

»Nun freilich, freilich, August, so für alle Tage. Nur heut einmal zum Spaß ein Extrastück. Ein noch älteres, Mann. Etwas von vor unserer Fahnenzeit. Ich meine, etwas von der Heimat und den Angehörigen, die wir –«

Sie machte eine Pause, in der sie einen ihrer Kehle fremdartigen Ton hinunterpreßte. Dann, nach einem Blick auf das Kind, der etwa wie »armer, verlassener Wurm!« auszulegen war, fuhr sie fort:

»Freilich, bei mir ists eine Weile her. Die Eltern waren tot, Geschwister hatte ich keine, und die Gevattern und Muhmen, wenn sie allenfalls noch lebten, ich würde sie schwerlich wiedererkennen, oder richtiger ausgedrückt, sie würden die Lisette nicht wiedererkennen wollen, die – – Aber du, August, du bist ein junges Blut gegen mich. Wie lange ist es denn her? Keine zehn Jahre.«

»Anno neun, Lisette. Netto acht Jahre. Es war, wie der Herzog –«

»Ich weiß das vom Herzog, Freund. Acht Jahre! In der Zeit wird ein Mensch nicht vergessen, und ein Mann wird nur mit Ehren darauf angesehen. Kehrtest du heute heim, deine Leute würden dich mit Vergnügen aufnehmen, August.«

Freund August lachte aus vollem Halse. »Meine Leute?« fragte er, »der Förster etwa, dem ich aus dem Garne gelaufen bin?«

»Nun, wenn der Förster just auch nicht, so doch die, welche dich vor ihm in Versorgung hatten.«

»Der Waisenvater, meinst du? Der gute Mann war alt; er wird lange tot sein, Lisette.«

»Aber dein leiblicher Vater, Mann!«

»Ei, wie dumm, kluge Lisette! Nachdem ich eben erst des Waisenvaters erwähnt. Einen leiblichen habe ich nicht gekannt.«

»Oder deine Mutter – –«

»Ich weiß von keiner Mutter, Frau.«

»Von keiner Mutter? Aber eine Waisenanstalt ist doch kein Findelhaus. Du hattest deine Jahre, mußt dich auf etwas vorher besinnen können.«

»Vorher? Nun ja, auf die alte Muhme im Walde.«

»Eine Muhme! Wie hieß sie, Mann?«

»Sie hieß Justine!«

»Und weiter?«

»Weiter weiß ichs nicht.«

»Aber du mußt doch einen Vater gehabt haben. Was war er, wo lebte er, August?«

»Weiß ich alles nicht, altes Fragezeichen.«

Die Frau ließ sich durch diesen Ehrentitel nicht irremachen. »Besitzest du denn gar nichts Schriftliches?« forschte sie nach einigem Besinnen weiter. »Nicht deinen Taufschein, den Totenschein der Eltern und dergleichen?«

»Hast du deine Kirchenzeugnisse eingeholt, als du bei Nacht und Nebel deiner Dienstherrschaft von dannen ranntest?« gegenfragte spottend der Mann, setzte aber, da er wieder einen Seufzer zu hören glaubte, gutmütig hinzu: »Na, nimms nicht übel, Lisette. Etwas Schriftliches möchtest du? Ja, da wäre allenfalls der Schein, mit dem mich der Propst aus dem Kloster entlassen hat.«

»Auch im Kloster bist du gewesen? Unter Mönchen, August? Wohl gar ein Katholischer?«

»Lieber gar, altes Haus! Die sind nicht Mode im Leipziger Kreis. Die Anstalt hieß nur das Kloster und der Direktor der Propst von päpstlichen Zeiten her. Der alte Zettel hat sich erhalten, weiß selber kaum wie. Sooft ich ihn wegwerfen wollte, sah ich den guten, blassen Mann und seine Tränen, als er mir ihn gab. Wir hatten ihn Vater genannt, und er war uns wie ein Vater gewesen. Da steckt ich den Wisch denn immer wieder ein.«

»Zeige mir den Schein, August,« bat die Frau, indem sie sich hastig daran machte, Feuer zu schlagen und die Lampe auf dem Tisch vor ihrem Bette anzuzünden. Als sie damit zustande gekommen, entfaltete sie das Papier, das der Invalid aus seiner Brusttasche hervorgesucht hatte und dessen pulvergeschwärzte, blutige Spuren ein beredtes Zeugnis seiner Jünglingsjahre waren.

»Psalm 146, Vers neun.«

»Der Herr behütet die Fremdlinge und Waisen.«

August Müller. Eingesegnet und unserer Pflegestätte entlassen am 4. April 1807.

Kloster Laurentii, 

Ludwig Nordheim.

Kreis Leipzig. 

Propst und Direktor.

Frau Lisette hatte diesen knappen Inhalt kopfschüttelnd vor sich hingemurmelt. »Kein Geburtsdatum,« sagte sie nach einer nachdenklichen Pause; »nicht Name, Stand und Wohnort der Eltern! War das Kloster eines für eheliche Kinder, August?«

»Für Soldatenwaisen,« antwortete stolz der Mann. »Nur als Lückenbüßer dann und wann ein Bürgerjunge.«

»Und du erinnerst dich auch entfernt keines Pflegers oder Vormunds, keiner Ortsbehörde, die dich in die Anstalt gebracht hätte?«

»Hingebracht? Ei freilich, hingebracht hat mich Fräulein Hardine.«

Die Marketenderin zuckte neubelebt auf.

»Fräulein Hardine!« rief sie. »Mann, wer war Fräulein Hardine.«

»Ein Frauenzimmer, groß und schwarz wie du, Lisette,« versetzte, von dem Eifer seiner Frau belustigt, der Invalid.

»Wenn die alte Beckern recht hat, meine Frau oder Fräulein Mama.«

»Und die alte Beckern, wer war die?«

»Die Waschfrau der Anstalt und eine Klatsche.«

»Fräulein Hardine! Ein Fräulein, keine Mamsell! Eine Adlige sonach.«

»Kann sein. Ihr Vater war ein kurfürstlicher Major.«

»Sein Name –?«

»Hab ihn niemals nennen hören; vielleicht auch vergessen. Die Tochter hieß bei allen schlechtweg Fräulein Hardine.«

Frau Lisette saß eine Weile in stillen Gedanken, dann rückte sie hervor mit einem kriegslistigen Plan.

»Gib mir die Pfeife, daß ich sie dir stopfe, Gustel,« sagte sie munter; »und da noch ein Glas, das den Kopf aufräumt. Nun aber erzähle mir einmal hübsch im Zusammenhange alles, was du aus deinen Kinderjahren behalten hast. So wenig es sein mag – man kann immer nicht wissen – – und von etwas muß doch einmal geplaudert sein, gelt?«

Ein trockner Text für den Liebhaber der Lagergeschichten, trotz Pfeife und Flasche, die ihn mundrecht machen sollten Indessen er hatte gehört, daß man einem Weibe im Kindbett zu Willen reden müsse, und er war im Grunde ein gutmütiger Gesell. So legte er denn die Hand übers Herz, und während die Frau ihre Ziegenfellchen wieder aufnahm, erzählte er, indem er paffend den engen Raum auf und nieder schritt – mit Auslassung etwelcher Kraftausdrücke, die einer zarten Leserin erspart werden mögen –, wörtlich wie folgt:

»Wie gesagt: wann, wo, von wem ich geboren worden, weiß ich nicht. Soweit ich zurückzuschauen vermag, sehe ich eine alte Frau, die ich ›Muhme‹ nannte und die mich keine Not leiden ließ. In einer Stadt oder in einem Dorfe war es nicht, denn ich habe keine Häuser weiter bemerkt, mit Ausnahme des kleinen, darin die Muhme wohnte. Spielkameraden hatte ich auch nicht, abgerechnet die Karnickel und Eichkatzen im Walde, der hinter dem Hause lag. Mit denen aber bin ich um die Wette gehetzt und geklettert den lieben langen Tag. Und das war mir recht. Die Muhme würde ich vielleicht wiedererkennen, vielleicht auch nicht. Das Haus aber könnte ich noch malen. Es sprang aus einem Dickicht hervor; Tannen, so hoch, wie ich keine wieder gesehen, und am Giebel war aus Stein ein Hundekopf angebracht und darüber eine Krone von Gold.

Die Muhme hieß Justine. So nannte sie wenigstens das Frauenzimmer, das sie wohl Tag für Tag besuchte ›Vom Schlosse her‹, wie die Muhme sagte: ich habe aber niemals ein Schloß gesehen. Dieses Frauenzimmer war Fräulein Hardine. Ob sie jung oder alt gewesen ist, kann ich so eigentlich nicht sagen, auch nicht, ob sie es gut oder böse mit mir gemeint. Ich glaube aber, gut zu jener Zeit. Gemacht habe ich mir niemals etwas aus ihr. Gemerkt aber, zum Wiedererkennen gemerkt hätte ich sie mir, glaub ich, nach schon jener Zeit. Es war etwas an ihr, das sich nicht vergißt. Was, das kann ich wieder einmal nicht sagen.

Eines Tages saß ich eingesperrt mit Fräulein Hardine in einem engen Kasten, der sich fortbewegte. Item in einer Kutsche. Von Anfang machte ich große Augen, da ich die Bäume am Wege so hurtig an mir vorüberrennen sah. Ich sehe sie noch rennen, Lisette. Bald aber kriegte ich das Ding satt, tobte, schrie und würde über den Kutschenschlag gesprungen und in meinen Wald zurückgelaufen sein, wenn Fräulein Hardine mich nicht an den Ohrlappen festgehalten und so lange dareingekniffen hätte, bis ich endlich vom Heulen müde ward, mich auf die Bank streckte und in Schlaf verfiel. Ich wachte wohl wieder auf und erhob den vorigen Rumor. Fräulein Hardine kriegte mich aber immer wieder bei den Ohren, ich schlief immer wieder ein und kann daher nicht sagen, ob die Fahrt stunden-, tage-, wochenlang gedauert hat, oder wie ich im übrigen an mein Ziel gekommen bin.

Von der Zeit ab war ich im Waisenkloster, und schlecht gegangen ist es mir darin beileibe nicht. Der alte Propst war eine Seele von einem Mann; in Wahrheit ein Waisenvater und mir, wie es schien, ganz absonderlich zugetan. Zu essen gabs reichlich und Fuchtel lange nicht genug für uns wilde Brut. Aber ich hatte kein Sitzefleisch; mich zogs zurück in den Wald. Ein paarmal nahm ich auch Reißaus, wurde natürlich aber wieder eingefangen, und mag man aus diesem Grunde mich auch späterhin niemals, wie manche von den größeren Jungen, in die Stadt gelassen haben, wenn es daselbst eine Extrabesorgung galt.«

»Aber Fräulein Hardine?« fiel ungeduldig die Zuhörerin ein, als hier der Erzähler eine Pause machte.

»Nun, Fräulein Hardine,« fuhr dieser fort, »Fräulein Hardine, die kam denn auch wohl dann und wann auf Besuch zu unserm Propst, schnitt aber regelmäßig ein essigsaures Gesicht, sooft ich ihr vorgeführt ward, räsonierte, weil ich nichts lernen wollte, und schimpfte mich einen Wildling oder dergleichen. Einmal hat sie mir in der Bosheit auch eine ganz gehörige Backpfeife appliziert.«

Frau Lisette fuhr auf wie elektrisiert. – »Eine Backpfeife!« rief sie mit dem Ausdruck höchster Befriedigung; »eine Backpfeife, August –«

»Ganz gewiß nicht unverdient, Lisette!«

»Gezüchtigt mit eigener Hand! Und das soll nicht seine Mutter gewesen sein!«

»So? Du hättest also eher deinen eigenen Wurm als einen fremden durchgewichst?«

Die arme Mutter nahm bei dieser Gewissensfrage ziemlich kleinlaut ihr Nähzeug wieder auf. – »Ein adliges Fräulein und unter den Augen der geistlichen Obrigkeit, sie muß doch ein Recht dazu besessen haben,« murmelte sie wohl noch, wurde aber nicht mehr gehört, denn ihr Gespons hatte den Faden bereits wieder aufgegriffen.

»So viel steht fest, Lisette,« erklärte er, »hätte Fräulein Hardine mich lebtags mit Streichelfingerchen angefaßt, ich könnte sie vergessen haben. Nun sie sich tätlich an mir vergriffen hat, leibt und lebt sie vor meinen Augen, und würde ich hundert Jahre.

Ich war auf diese Weise ein stämmiger Bursche geworden; kopfhoch größer als sämtliche Kameraden, und in mir rumorte anjetzo nur noch ein einziges Gelüst. Nicht mehr: ›In den Wald!‹ wie früherhin. Nein: ›Ein Pferd unter den Leib und unter die Soldaten!‹ Ich hatte in meinem Leben die ersten Truppen gesehen. Preußen und Landeskinder waren an dem Kloster vorübergezogen. Nämlich während der Mobilmachung von Anno fünf, wo sie dem Österreicher zu Hilfe wollten. Der Österreicher wurde in der Klemme gelassen, und meine Preußen zogen wieder ab. Aber nächsten Herbst kamen sie retour. Rektamente dem Napoleon auf den Pelz, der bereits auf dem Wege sei, wie es hieß. Da prickelte es mir freilich vom Kopf bis zur Zeh! Ich hatte aber doch so viel Einsehen, daß sie einen halbwüchsigen, verlaufenen Waisenjungen bei der Armee nicht nehmen würden. Einstweilen spielte ich daher nur Soldat, und es war eine Lust, wie ich die Jungens zusammenwalkte. Ich war der größte und darum von Rechts wegen unser Kurfürst, den ich mir immer nur wie einen Schlagetot vorstellen konnte. Die meisten, aber kleinsten, waren Franzosen und ein Knirps ihr Napoleon. Nun, ich habe ihn gebläut, wie vor zwei Jahren den richtigen Napoleon der alte Marschall Vorwärts und unser iron duke.«

»Aber Fräulein Hardine?« fragte von neuem die erwartungsvolle Hörerin, und der Exwachtmeister antwortete: »Nur Geduld, gleich ist sie wieder da!

Es war am 14. Oktober – solch ein Elendsdatum vergißt sich nicht, Lisette! – Wir standen zum Morgenbrot im Kreuzgange aufgestellt, als der Propst zu uns trat mit Hut und Stock, zitternd über den ganzen Leib und weiß wie eine Wand. ›Das erste Blut ist geflossen,‹ sagte er mit bebender Stimme, ›teures Blut, Heldenblut! Ihr seid Soldatensöhne, meine Kinder. Eilt in den Wald, pflückt das letzte Eichenlaub und bindet einen Kranz auf das Grab eines tapferen Herrn, der, allen voran, im Kampfe für das Vaterland gefallen ist.‹ Darauf, an mich herantretend, setzte er leise hinzu: ›Es ist der Vater von Fräulein Hardine, den man gestern als Leiche in ihr Haus gebracht hat. Dort erwarte ich dich, August, mit dem Kranze. Die Waschfrau Becker‹ (sie versah nämlich nebenbei den Botendienst nach der Stadt) ›begleitet dich und zeigt dir das Haus.‹ Damit ging er. Wir Jungen rannten in den Wald. Ich war zu oberst auf den Bäumen und warf die Zweige herab, die unten um einen Faßreif gebunden wurden. Es war ein Stück, daß eine Kuh sich daran hätte satt fressen können, Lisette. Kaum eine Stunde, und ich trabte neben der alten Beckern auf dem Wege nach der Stadt.«

»Wenn die Botenfrau sowieso nach der Stadt ging,« fiel hier Frau Lisette, höchlichst gespannt, dem Redner ins Wort, »warum mußtest du sie begleiten, August? du den Kranz zu Fräulein Hardine tragen? von allen just du? Mann, Mann, das war eine Finte!«

»Du kommst auf die Sprünge der alten Klosterklatsche Lisette,« versetzte der Invalid, der allmählich Feuer und Flamme über seiner Erzählung geworden war. »Aber höre nur weiter. Auf dem Wege hatte ich meinen Heidenärger mit dem dummen Weib. Es wäre im Oberlande eine Schlacht geschlagen worden, behauptete sie, die nämliche, in welcher Fräulein Hardines Vater gefallen sei, und der Franzose hätte obtiniert. Das konnte und wollte ich nicht glauben. Ich schimpfte die Alte ein Schandmaul, und würde sie handgreiflich zur Ruhe gebracht haben, wenn, na, wenn sie nicht eben ein Weib und obendrein ein altes Weib gewesen wäre. Die aber blieb baumfest bei ihrem Satz und in der Angst vor dem ›grausamen Bohnebart‹. Sie zitterte wie ein dürres Laub, sooft ihr der Name über die Lippen lief. Es war nicht anders, als ob der Bohnebart expreß ins Land gekommen sei, um der alten Beckern auf den Leib zu gehen.

So in Gift und Galle kamen wir in die Stadt. Ich hatte noch nie eine gesehen und mir eine Stadt weit anders vorgestellt. Nur hoch oben das große Schloß, wie es allmählich aus dem Nebel hervortrat, das gefiel mir. ›Da möchte ich wohnen‹, sagte ich, und die Beckern schmunzelte geheimnisvoll: ›Nu, wer weiß, Gustel, ob du nicht noch eines Tages in einem Prinzenschlosse logieren tust. Der Bohnebart ist auch nur ein armer Junge gewesen wie du und am Ende ein Kaiser geworden.‹ – ›Und so ein Knirps!‹ sagte ich verächtlich.

Bei den Worten kamen wir auf den Markt. Die Alte wies auf ein Haus und sprach: ›Da wohnen die Majors‹. Das Haus, wiewohl ich es nur das eine Mal und seitdem viel tausend andere gesehen habe, das Haus könnte ich noch malen. Es glich einem Mops, dem einer eine Zipfelmütze aufgebunden hat. Die Beckern setzte sich neben dem Torweg auf eine Bank, allwo sie mich zurückerwarten wollte, und ich ging mit meinem Kranze hinein.

Im Torwege kam mir auch schon der Propst entgegen, nahm mich bei der Hand und führte mich in eine Stube auf die rechte Seite. Die Fenster waren zugehängt, und ich mußte mich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Ich unterschied aber doch irgendein menschliches Wesen, das mit ausgebreiteten Armen nahe der Tür gestanden hatte und, auf einen Wink des Propstes, hastig in ›die Hölle‹ – so heißt bei uns zulande der tiefe Ofenwinkel – huschte. Ich spitzte die Ohren. Mir war, als hätte ich einen ächzen oder schluchzen gehört.«

»Fräulein Hardine!« rief Frau Lisette in atemloser Spannung. Der Erzähler aber entgegnete:

»Behüte! Fräulein Hardine war keine von der Art, die ächzt und schluchzt. Die stand aufrecht und ernsthaft, schwarz vom Kopf zur Zeh, in der Kammer vor der Leiche des Majors, zu welcher der Propst mich unverweilt führte. Es war der erste Tote, den ich zu sehen kriegte, und ich kann dir gar nicht beschreiben, Lisette, wie er mir gefiel. So hatte mir noch nie ein Lebender gefallen. Er ruhte wie im Schlafe, die Rechte ingrimmig geballt; sie mochten ihr den Säbel, der neben der hohen Ungarmütze an seiner Seite lag, mit Gewalt entrissen haben. Und dann das Ordensband, der blaue Husarenpelz mit silbernen Schnüren und dem kleinen Brandmal, durch welches die Kugel in das Herz gedrungen war. Ich betastete Stück für Stück. Ich konnte mich nicht satt sehen, bohrte mit dem Finger nach der Wunde, ob die Kugel noch zu spüren sei; ich drückte eine kalte Hand nach der anderen und würde nicht von der Stelle gewichen sein, wenn mich der Propst nicht mit Gewalt in die Stube zurückgezogen hätte.

Dort hielt er mir nun eine feierliche Rede, von der ich aber nichts weiter gehört oder gemerkt habe, als daß er den Mann selig pries, der als ein Held für das Vaterland gestorben sei. – ›Ich will auch für das Vaterland sterben!‹ platzte ich heraus, und bei den Worten trat Fräulein Hardine, die, ohne daß ichs gemerkt, am Fenster Platz genommen hatte, rasch auf mich zu und drückte mir die Hand, als ob sie sagen wollte: – brav, Junge, bleibe bei diesem Satz! – Gesprochen aber hat sie an diesem Morgen kein Sterbenswort, und ich habe auch nicht weiter auf sie achtgegeben, sondern unverwendet nach der Hölle gestarrt. Denn während meiner Rede war von dorther ein Schrei gedrungen, der mir durchs Herz ging wie ein Brand. Ich konnte aber nichts weiter unterscheiden als eine kleine, weiße, in sich gekrümmte Gestalt, die ihren Kopf hinter einem Schnupftuch verborgen hielt. Auch trat jetzt der Propst von ungefähr zwischen mich und die Hölle, so daß ich nur noch des guten Mannes schwarzen Rock und weiße Perücke erblickte, wenn ich hinter den Ofen zu lugen suchte.

›Du bist nun fast ein Erwachsener, August,‹ so setzte der Propst, zu mir gewendet, seine Ansprache fort. ›Kommende Ostern wirst du konfirmiert und mußt dich für einen Lebensberuf entscheiden. Was willst du werden, mein Sohn?‹ – ›Soldat!‹ rief ich ohne Besinnen. Und wieder drang es, aber diesmal wie ein Wimmern, aus der Hölle.«

»Es wird die Mutter von Fräulein Hardine gewesen sein,« rief in atemloser Spannung Frau Lisette. Der Erzähler aber entgegnete:

»Ob Fräulein Hardine dazumal noch eine Mutter gehabt hat, weiß ich nicht. Das aber weiß ich, daß es nicht die Stimme einer alten Frau gewesen ist, die da hinter dem Ofen jammerte. Weit eher die eines kleinen, bekümmerten Kindes. Aber höre nur weiter, Lisette.

›Du bist zum Soldaten noch zu jung, August,‹ sagte der Propst. ›Auch muß das Schicksal unseres Vaterlandes erst entschieden sein. Möchtest du für den Napoleon kämpfen, wie die Deutschen draußen im Reich?‹ – ›Nein!‹ antwortete ich, ›aber überall gegen ihn.‹ – Und zum zweitenmal drückte mir Fräulein Hardine stumm die Hand.

›Die Zeit kann kommen, mein Sohn‹, versetzte der Propst. ›Für den Augenblick gilt es zu warten. Erhalten wir Frieden und bleibt alles beim alten, darfst du nimmer an den Soldaten denken, du bist nicht von dem Stande, um Offizier zu werden, und als Gemeiner ertrügst dus nicht bei deiner Sinnesart. Die laufen noch Spießruten. Möchtest du dich peitschen lassen, August?‹ Ich ballte statt aller Antwort nur die Faust. Der Propst fuhr fort:

›Du hast dich immer in den Wald zurückgesehnt. Wie wärs mit einem Jägersmann, mein Sohn?‹ – ›Nun gut, wenn nicht Soldat, so will ich Jäger werden und schießen lernen,‹ sagte ich.

Was der Propst noch weiter in mich hineingepredigt hat, weiß ich nicht. Ich dachte an den toten Major und blinzelte nach dem jammernden Kinde in der Hölle. Da war ich denn quasi verdutzt und wußte gar nicht, wie mir geschah, als ich mich plötzlich beim Arme gefaßt und nach der Tür geschoben fühlte. Vom Propste nämlich. Schon hat er die Tür aufgeklinkt und ich stehe auf der Schwelle, da höre ich etwas hinter mir, als wenn ein Vogel flattert. Rasch wende ich mich um und sehe – ja was denn nun eigentlich? Es war ja nur ein einziger Blick und einer aus dem hellen Flur in das halbdunkle Zimmer. Ich sehe also mit ausgespreizten Armen eine Gestalt, klein und fein wie ein Kind, von schneeweißem Angesicht und hellgelbem Gelock, gegen die große, schwarze Hardine, die hinter ihr stand, sich abhebend wie am Himmel ein weißes, goldgerändertes Wölkchen, wenn die Nacht schon hereingebrochen ist. Mir schwamm es vor den Augen, als hätte ich einen Schwindel. Da stieß mich der Propst über die Schwelle, die Tür fiel in die Angel und ich hörte von drinnen nur noch einen schrillen Schrei.

In der nächsten Minute stand ich vor der Tür neben meiner Alten. Unter freiem Himmel war der Schwindel gleich wie weggeblasen, ich sah und hörte wieder munter wie sonst und kam schier auf den Gedanken, daß die Geschichte – nicht die vom toten Major, aber die von dem Wolkenkinde – nur ein Spuk gewesen sei.

Auf der Gasse war es während der Stunde lebendig geworden. Gleich einem aufgescheuchten Bienenschwarm hastete und summte die Menschheit auf und nieder, und mein altes Weib war voll wie ein Schwamm von all den Geschichten, die sie auf der Türbank eingesaugt hatte. Die Geschichten waren wahr, Gott seis geklagt. Die alliierte Armee hatte sich auf zwei Punkten überrumpeln lassen und zwei hundsföttische Schlachten wurden in den nämlichen Stunden geschlagen. Aber sie wurden just erst geschlagen. Die Stadt lag drei Meilen vom nächsten Kampfplatze entfernt: wie konnte das Volk den erbärmlichen Ausgang so dreist behaupten? Witterung sagten sie, wie die vom lieben Vieh vor dem Sturm. Aber warum hatte ich die Witterung nicht? Warum hast du, Lisette, niemals gezittert bei einem ersten Kanonenschlag? Weil du ein Mann warst, Lisette, und jene Männer alte Weiber wie die Beckern, Memmen, die nichts Besseres verdient haben als die Fuchtel des Napoleon so lange, bis am Ende auch bei ihnen die Berserkerwut zum Ausbruch gekommen ist.

Auf Schritt und Tritt guckte mein altes Weibsstück sich um, ob ihr der grausame Bohnebart nicht bereits auf den Hacken säß. Bei aller Angst jedoch schwamm die Neugier nach dem, was ich bei den Majors erlebt, obenauf, und wir waren noch nicht aus dem Tore, da hatte sie mich ausgepreßt wie eine Zitrone und zu jedem Tropfen ihren Senf gerührt. Ich wollte nur eines wissen: wer das kleine Mädchen gewesen sei, dessen letzter Schrei mir noch immer in den Ohren gellte. Aber just dieses eine wußte die alte Weisheit nicht. – ›Eine Bekanntschaft aus der Stadt‹ – so meinte sie, denn Anverwandte hätten die Majors hierzulande keine. – Aber warum seufzte und weinte sie denn so jämmerlich? forschte ich weiter und brachte damit meine Alte wieder in das richtige Fahrwasser.

›Wer heult und schreit denn anjetzo nicht, Gustel?‹ sagte sie. – ›Wer sieht im Geiste nicht einen von den Seinigen totgeschossen oder zum Krüppel gehauen, oder in Gefangenschaft oder auf der Flucht. Den Bohnebart mit seiner Kopfabschneidemaschine noch gar nicht eingerechnet. Ja, das sind wilde Zeiten wie unter dem Schwedenkönig oder dem alten Fritz. Paß auf, Gustel, wenn wir heimkommen, ob uns der Franzose da nicht schon entgegenrückt, und das Kloster ist ein Aschenhaufen, und Lehrer und Jungen sind über alle Berge wie eine Herde, in die der Wolf geraten ist. Und darum, Gustel, darum will ich dir noch in dieser Stunde offenbaren, was ich in der nächsten vielleicht nicht mehr zu offenbaren imstande bin. Etwas, auf das noch kein Mensch verfallen ist, als die alte Beckern ganz allein. Wenn es aber einstmals vor aller Welt ans Tageslicht gekommen sein wird, dann sollst du denken: die alte Beckern hat mirs prophezeit, und dich hübsch dankbar erweisen an der armen, alten Frau; nämlich insofern sie vor dem grausamen Bohnebart ihr bißchen elendes Leben davongetragen hat.‹ –

Sie guckte sich nach dieser Rede scheu nach allen vier Weltgegenden um, hob sich auf die Zehenspitzen und wisperte, ihren Mund an mein Ohr gelegt:

›August, hast du dir niemals Gedanken darüber gemacht, was Fräulein Hardine eigentlich mit dir zu schaffen hat?‹ Ich schüttelte lachend den Kopf.

›Und dir schwant auch gar nicht, wer der Mann gewesen ist, vor dessen Leichnam man dich heute geführt?‹ – ›Ein Major,‹ sagte ich. – ›Ein Major, nun freilich,‹ versetzte die Alte ärgerlich. – ›Ein Major für Seine Kurfürstliche Gnaden; ich meine aber, was er für dich, August, gewesen ist?‹ – ich schüttelte wiederum den Kopf.

›Nun, so vernimm es denn, August,‹ – sagte die alte Beckern feierlich wie die Hexe im Alten Testament: – ›der Mann ist dein Großvater gewesen, denn Fräulein Hardine ist deine Mutter.‹ –

Die Wahrheit zu sagen, ich war dazumal in derlei Historien wie ein ungeschorenes Lamm. Das einsame Waisenhaus führte mit Fug seinen Klostertitel; Angehörige, die wir besuchten, hatte keiner von uns, und alles, was eine Schürze trug, wenn es nicht lahm und grau war wie die Beckern, wurde von der Anstalt ferngehalten wie ein Zunder. Die Lehrer waren unverheiratete Anfänger, warm aus dem Seminar, der Propst ein Witmann. So merkten wir denn nichts von Küchengeträtsch und Klatsch, und ich argwohnte durchaus nicht, welch ein gefährlicher Leumund über Fräulein Hardine mir ins Ohr geträufelt ward. Ich würde mir jedoch jede andere als sie lieber als Mutter ausgebeten haben, hätte ich mich jemals nach Vater oder Mutter gesehnt. Ich sehnte mich aber in die Freiheit, in den Wald, oder in die Welt und weiter nach nichts. Indessen einen Großvater, der auf dem Schlachtfelde geblieben war, hätte ich mir schon gefallen lassen und ihm zuliebe allenfalls auch die gestrenge Hardine als Fräulein Mama in den Kauf genommen. Darum spitzte ich wohl einen Augenblick die Ohren.

Aber der Major war ein vornehmer Herr und ich hieß schlechtweg Müller. Der Propst hatte mir kaum vor einer Stunde gesagt, daß ich um meines Standes willen es nur bis zum Gemeinen bringen könne. Das fiel mir zur rechten Zeit wieder ein, und ohne mich viel darum zu grämen, erklärte ich der alten Hexe, welch ein Wind es mit ihrer Prophezeiung sei.

Die aber blieb bockssteif bei ihrem Satze und wurde noch obendrein rabiat. – ›Was für ein blitzdummer Junge du bist, Gustel,‹ eiferte sie, indem sie beide Arme in die Hüften stemmte. ›Als ob ein Edelreis nicht auch wilde Schößlinge treiben könne! Als ob man ein Kind, wenn man seinem Ursprunge nicht auf die Spur kommen lassen will, nicht bloß als einen Müller oder meinetwegen als eine Beckern und dergleichen in das Register einzutragen brauchte! Notabene: insofern der Pastor mit einem unter einer Decke steckt. Was aber, frage ich, was ist unser Herr Propst? Ein alter guter Freund von Fräulein Hardine. Wer hat dich heimlich bei Nacht und Nebel in das Waisenkloster eingeschmuggelt, wer, frage ich? Fräulein Hardine. Bist du ein Soldatensohn wie die anderen? Weiß einer überhaupt, wer dein Vater gewesen ist? Siehst du aus wie von gemeinem Gezücht? Wie ein Junker, August, wie ein Prinz siehst du aus.‹« –

»Wahrlich, ja wahrlichen Gott, wie ein Prinz!« unterbrach Frau Lisette den Erzähler, eine stolze Röte über dem abgezehrten Gesicht. »Der Prinz hießest du, Prinz Gustel in der ganzen Legion!« –

Prinz Gustel schmunzelte nicht unempfindlich bei dieser schmeichelhaften Erinnerung, hielt aber den Faden seiner Mitteilung getreulich fest.

»›Wer hat dir eine halbe Freistelle ausgewirkt?‹ fragte die Alte weiter. ›Eine Mutter etwa, die Witwe ist? ein Vormund, ein Rat oder Amt? Gott bewahre, Fräulein Hardine. Wer bringt dem Propst netto alle sechs Monate die Unkosten für deinen Unterhalt? Wer besucht dich im Kloster? Wer setzt dir den Kopf zurecht? Niemand anderes als Fräulein Hardine. Und nun noch zu guter Letzt: Was braucht der tote Major einen Kranz aus dem Waisenkloster, wenns nicht einer von seinem Blute war, der ihm die letzte Ehre antun sollte? Was brauchte der Propst dir im Leichenhause eine Standpredigt zu halten, wenn du nicht quasi zur Familie gehörtest? Wer den Zusammenhang nicht mit Händen greift, nun der kann sagen, er hat keinen Grips. Fräulein Hardine ist deine Mutter, das steht so fest, wie das Amen im Evangelium.‹

Die Alte machte eine Pause, weil sie doch einmal verpusten und ausspucken mußte. Ich sagte kein Wort, denn im Grunde war mir die Sache einerlei. Nach einer Weile fing die Beckern mit frischer Lunge wieder an: ›Ich will mit meinem Satze nichts Unreputierliches von Fräulein Hardine behaupten, August. Aus so einer honetten Familie, und so eine Erbschaft vor Augen, beileibe nicht, beileibe nicht! Denn zurzeit ist Fräulein Hardine freilich so arm wie eine Kirchenmaus; aber das alte schwarze Spukeding, ihre Muhme, kann doch nicht ewig in ihrem Goldturme Schätze graben. Und wenn sie sich zehnmal dem Leibhaftigen verschrieben hat, unser Herrgott hält ihm Widerpart, und über hundert Jahre hats der ärgste Geizkragen noch nicht gebracht. Dann aber gibts keine zweite im Kurfürstentum wie unser Fräulein Hardine. Nichts Unreputierliches, Gustelchen, ums Himmels willen nichts dergleichen! Aber eine Heimlichkeit steckt dahinter; darauf nehme ich Gift. So eine Prinzenheirat etwa, die der Frau nicht die Mannesehre und den Kindern nicht den Vatersnamen gibt, wie die alte geizige Schloßfrau ihrer Zeit auch eine eingegangen hat; oder so etwas dergleichen, was unsereiner nicht versteht. Warum schlägt Fräulein Hardine die schönsten Bewerbungen aus? Wird eine freiwillig eine alte Jungfer, die an jedem Finger einen Freier haben könnte? Warum, frage ich, als weil sie in der Stille schon einen hat, der mit ihr auf die Grafenerbschaft lauert. Laß sie aber nur erst sicher in ihrem Goldturme sitzen, dann wird der versteckte Prinz schon zum Vorschein kommen. Und dann wirst du ein Junker, August, und ein reicher Millionär, und dann denke an die alte, arme Beckern, die dir zuerst ein Lichtchen angesteckt hat.‹«

Der Erzähler schwieg. – »Weiter, weiter, Mann!« rief Frau Lisette in atemloser Spannung. »Weiter, weiter!« –

»Weiter – nichts!« versetzte lachend der Invalid. »Die Geschichte ist aus.«

»Aus?«

»Rein aus, sage ich dir. Wir waren unter dem Geklätsch vor der Klosterpforte angelangt. Ich drehte meiner Alten eine Nase, denn das Haus war nicht in einen Aschenhaufen umgewandelt, und die Herde nicht über alle Berge entflohen. Nun aber die Angst, als das Weibsstück sah, wie ich seine Weisheit aufgenommen hatte. Sie zitterte wie ein nasser Pudelhund, und ihre Zähne – nein, die klapperten nicht, denn sie hatte keinen Zahn – aber das Kinn wackelte ihr und: ›Um Gottes, Jesus willen, Gustelchen, reinen Mund!‹ jammerte sie, ›bringe eine alte, arme Witfrau nicht um ihr hartes Stückchen Brot.‹

Ich lachte aus vollem Halse und rannte in das Tor, hinter welchem die Kameraden sich lustig wie alle Tage tummelten. In aller Eile lieferte ich ihnen eine Schlacht von entgegengesetzter Fasson, wie die, welche in den nämlichen Stunden zu Ende ging. Aber Spuk und Schwatz des Morgens waren wie weggeblasen.

Im nächsten Frühjahr brachte mich der Propst zu dem Förster, dem ich zwei Jahre später aus dem Garne lief, als der Herzog in unserer Nähe kampierte. Fräulein Hardine aber habe ich mit keinem Auge wieder gesehen, habe auch keine Silbe wieder von ihr gehört, und heute zum erstenmal, glaub ich, wieder an sie gedacht.«

Die arme Marketenderin war durch diesen jähen Abschluß bitterlich enttäuscht. Sie nahm schweigend die Arbeit wieder zur Hand, die im Eifer des Zuhörens in ihren Schoß gesunken war, und stichelte eine lange Weile mit fieberhafter Hast, bis sie über einen neuen Plan im klaren und des jovialen Tones wieder Herr geworden war, in dem sie ihren Eheliebsten zu einer ferneren Bereitwilligkeit zu stimmen gedachte.

»Ich danke dir, August,« sagte sie endlich, indem sie ihm die Hand reichte. »Du verstehst zu erzählen. Und ein Anhalt bliebe deine Geschichte immer für unseren armen, kleinen Wurm, wenn ich eines Tages nicht mehr für ihn sorgen könnte: ich meine, wenn eines Tages unversehens der Napoleon retourgekommen wäre! Und darum, Freund, laß uns das Ding gleich heute zu einem Ende bringen. Du bist ein perfekter Schreiber, hast manchen Rapport geführt, und die Feder zu regieren, so gut wie den Säbel, brauchts ja nur eine Hand. Mach also ein Schriftstück aus der Sache, warm, wie sie dir im Gedächtnis aufgewacht ist. Das und der Waisenhausschein werden die Familienpapiere sein, die Prinz Gustel seiner Prinzessin zurückläßt, wenns einmal schnell mit uns von dannen geht.«

Sie hatte während dieser Rede ein paar von den Bogen, in welchen sie ihr Handschuhleder eingewickelt erhielt, sorgfältig geglättet, auch das Schreibzeug hervorgekramt, das ihr zum Abfassen ihrer Rechnungen diente. Nachdem sie die Feder gespitzt und die Tinte umgerührt, begann sie die Pfeife des Mannes frisch zu stopfen, vergaß auch nicht, das Glas mit dem Reste der Flasche zu füllen.

Freund August brummte und zeterte zwar sein gehörig Teil, fügte sich schließlich aber doch in die wunderliche Laune der Wöchnerin. »Was solch ein Wurm für Schererei macht!« sagte er, indem er sich an den Arbeitstisch seiner Frau niedersetzte.

Bald flog die Feder in freien, kräftigen Zügen über das Papier und schwarz auf weiß bildete sich die Erzählung, die wir mit den nämlichen Worten aus seinem Munde vernommen haben.

Mitternacht war vorüber, als er das letzte Blatt seiner Frau ins Bett reichte. Sie hauchte es trocken mit dem heißen Atem ihrer Brust, barg es samt dem Einsegnungsscheine in dem untersten Fache ihres Nähkastens und löschte die Lampe. »August,« sagte sie darauf, während der Mann seine Kleider auszog und sich auf die Strohschütte zu Füßen des Bettes niederwarf, »August, wir wollen unsere Kleine Hardine taufen lassen.«

»Lisette wäre mir lieber gewesen,« erwiderte gähnend der Herr Papa. »Aber meinethalben auch Hardine.«

Und das kleine Mädchen wurde Hardine getauft.

Jahre vergingen, ohne daß Fräulein Hardines zwischen dem Invalidenpaar wieder Erwähnung geschah. Fast sechs Jahre, in welchen die kleine Namensträgerin der unbekannten Dame mühselig auf die Füßchen kam, und aus welchen ihr keine Erinnerung geblieben ist, als daß sie niemals hungerte und oftmals fror.

Der Wachtmeister der Legion wartete zwar nicht mehr auf den rückkehrenden Napoleon, denn der schlief beruhigt und beruhigend in seinem Inselgrabe, aber er wartete noch immer auf irgendeinen anderen respektablen Feind, gegen welchen eine brave Soldatenfaust den Säbel wieder zücken dürfe. Freilich erwartete er ihn selten an dem schwachlodernden häuslichen Herdfeuer, das seit dem Einrücken der Wiege nicht an Behagen für ihn gewonnen hatte. Er hielt sich zu den lustigen Plätzen, die ihm das Marketenderzelt in Erinnerung riefen; da wo Karten und Würfel fallen, wo der Schoppen kreist und ein frischer Soldatenschwank nicht selten die Zeche bezahlt.

In der engen, dumpfen Dachkammer daheim aber saß seufzend und stichelnd die alternde Marketenderin, ohne sich Rast zu gönnen zu einem Liebesblick in schwerer Mühe und Sorge für ihr Kind. Von Woche zu Woche wurden ihre Wangen hohler, die Finger zitternder, der Atem kürzer, aber sie seufzte und stichelte noch immer den ganzen Tag und die halbe Nacht.

Endlich jedoch kam die Stunde, in welcher alles Sticheln und Seufzen ein Ende hat, und es war eine Sterbekammer, in die der sorglose Zecher aus dem Schenkhause gerufen wurde. August Müller hatte in seinen jungen Tagen Tausende von Männern, aber noch nie eine Frau sterben sehen; er hatte niemals daran gedacht, daß der Tod ein Geschäft auch für Weiber sei, selber für so tapfere Weiber, wie seine Lisette eines gewesen war. Nun tobte und schrie er vor dem ungeahnten Bilde, zerraufte sein Haar und zerschlug sich die Brust.

Die brave Marketenderin aber verstand sich auf den düsteren Gesellen, den sie unter den Männern kennen gelernt. Sie hatte ihn langsam heranschleichen sehen und blickte ihm unerschrocken ins Angesicht, als er jetzt hart an ihrer Seite stand. Ob es ihr wehe tat, von dem Wesen zu scheiden, das die Natur erst so spät an ihr Herz gelegt? Es schien nicht so. Die Pflicht für seine Erhaltung jedoch erfüllte sie bis zum letzten Atemhauche.

»Sei kein Narr, August,« sagte sie zu dem Manne, der sich fassungslos an der Bettseite niedergeworfen hatte. – »Einmal muß doch ein Ende sein. Setz dich hier auf den Rand; merke auf und tu, was ich dir sagen werde.«

Sie legte bei diesen Worten die treulich verwahrten Familienpapiere in des Mannes Hand und fuhr darauf in klarer, eindringlicher Rede also fort:

»Hüte diese Blätter als das einzige Erbteil, das du deinem Kinde zu hinterlassen hast. Ich habe diese sechs Jahre Tag und Nacht darüber nachgedacht, und nun sterbe ich in der Gewißheit, daß Fräulein Hardine deine Mutter gewesen ist. Für dich selber tu oder laß, was du willst. Du bist ein Mann. Aber suche sie auf und bring ihr das Kind, das du nicht versorgen kannst. Verkaufe meinen Hausrat; der Erlös schafft das Reisegeld. Für unser Trauattest und der Kleinen Taufzeugnis habe ich gesorgt. Vergiß aber nicht meinen Totenschein. Laß dann im Kloster dein Einsegnungszeugnis bescheinigen; erforsche in der Stadt Fräulein Hardines Vaternamen und was aus ihr geworden ist. Lebt sie noch – im Reichtum oder arm wie einst –, sie muß eine alte Frau jetzt sein und wird sich der Sünde schämen, ihr Blut zu verstoßen. Ist sie gestorben, finden sich wohl Angehörige. Vielleicht, daß auch der Propst noch bei Wege ist oder der Förster. Kurzum du bist in deiner Heimat und dein Kind muß und wird einen Anhalt finden, insofern du deine Schuldigkeit tust. Laß es aber bald sein, Mann, denn es geht jach mit dir abwärts auf dem Wege, den du eingeschlagen. Das Kind zu Fräulein Hardine! Gib mir die Hand darauf, August, die Manneshand, die das Schwert geführt.«

Er reichte ihr schluchzend die Hand, die sie herzhaft drückte. »Mutter – Hardine!« lallte sie noch, legte sich dann auf die Seite, zog das Kopftuch über die Augen und verschied.

Der Invalid – um unserm früheren Gleichnisse treu zu bleiben –, der Invalid bäumte sich wie ein angeschossener Hirsch. Er fühlte seine alten Wunden heftiger brennen als zu der Zeit, da die schwarze Lisette sie auf dem Schlachtfelde verbunden hatte; wich keinen Schritt aus der dunklen Kammer, solange dieselbe die Leiche barg.

Nun aber deckte sie die Erde. Er hatte ihr nicht gebührendlich mit Sang und Klang die letzte Ehre erweisen können; aber er war es gewohnt, einen braven Kameraden mit einem Trauermarsche zu Grabe zu geleiten und mit einer lustigen Weise heimzukehren. Am Abend saß er in dem Weinhause, aus welchem man ihn vor drei Tagen in die Sterbekammer abberufen hatte. Der Schoppen kreiste, die Würfel rollten wie sonst. Das Weib, die Mutter Lisette waren verschwunden, und bald nur die lustige Marketenderin noch eine stehende Figur in den Bildern, die sich unter dem Banner des schwarzen wie des eisernen Herzogs vor seinen Augen entrollten.

Und wieder gingen Jahre dahin, aus welchen die kleine Hardine keine Erinnerung bewahrte, als daß sie oftmals hungerte und immer fror. Ein blödes, zitterndes, trübseliges Geschöpf, schlich sie am Morgen aus der kalten, immer leerer werdenden Kammer, hockte einsam und stumm vor der Tür, bis eine mitleidige Nachbarin ihr einen Bissen reichte oder sie in ihr durchwärmtes Zimmer führte. Den Vater sah sie fast nie. Wenn er spät in der Nacht heimkehrte, schlief sie schon, und wenn er früh am Morgen wieder aufbrach, schlief sie noch. Es ging jach abwärts mit dem Manne, wie seine sterbende Frau es vorausgesagt: aus dem Weinhause in die Branntweinkneipe, aus dem Kreise kannegießender Bürger unter ein Publikum roher Gesellen. Seine lockigen Haare wurden struppig, blutrote Flecken brannten auf den gedunsenen Wangen; die Adern schwollen neben den Narben der Stirn und ein wüstes Feuer brannte aus den großen blauen Augen, wenn er nach dem Pferde schrie, daß er tummeln, nach dem Säbel, mit dem er den noch immer erwarteten Feind niederhauen wollte. Das alte Soldatenblut rumorte noch wie einst, aber Prinz Gustel war untergegangen und das Vaterherz hatte noch niemals pulsiert. Der Handschlag, den er seinem sterbenden Weibe gegeben, war so gut wie vergessen.

Zu seinem Glück kam der Tag, wo das letzte Stück Hausrat, das letzte Kissen von Frau Lisettes Brautschatz, abgepfändet waren, wo der Hauswirt die Miete, der Schenkwirt die Zeche nicht länger stunden wollten, wo dem unheimischen Manne und seinem Kinde der Schub über die Landesgrenze drohte. Die Not heischte einen Entschluß und die Not gab auch die Kraft, ihn zu vollbringen.

Es war wieder einmal eine Zeit, in welcher ein Schrei der Rache gegen einen Erbfeind den Weltteil durchdrang: die Zeit der Griechenerhebung, der schon mancher tapfere Fremdling sich zum Opfer gebracht, wenngleich noch keine christliche Regierung ihr ihren Beistand geliehen hatte. Auch in dem Arme unseres Veteranen zuckte das Schwert von Viktoria und Waterloo. »Komm, Hardine!« sagte er an einem Frühlingsmorgen 1825, »ich will dich zu Fräulein Hardine bringen und dann wider den Türken ziehen!« Und an der Hand sein Kind, in der Tasche dessen »Familienpapiere«, und sonst nicht viel mehr, so schritt er aus dem Tore der kleinen niederländischen Stadt.

Freilich der Weg war weit aus dem Maas- in das Elbgebiet; der Beutel war leer, Atem wie Kraft nur noch gering. Die alten Nachbarn und Zechbrüder schüttelten die Köpfe und meinten, daß dieser Wandersmann weder im Kampfe gegen Ali-Pascha, noch selber in der Heimat, sondern daß er auf der Landstraße enden werde. Auch gingen Monate dahin, bevor er seinem Ziele näher rückte. Aber es war Sommerszeit, die Straße führte durch reiche vaterländische Gaue, und das Ehrenkreuz, der pulvergeschwärzte, kugeldurchlöcherte Mantel, der verstümmelte Arm von Waterloo waren warme Fürsprecher des armen Invaliden und seines blassen Kindes. Es fand sich so mancher Fuhrmann oder Schiffer, der die beiden für einen Gotteslohn eine Strecke beförderte, mancher Wirt, der die Herberge nicht anrechnete, und manche Hand, die ungebeten einen Zehrpfennig oder Wanderbissen reichte. Mußte dann auch wohl einmal unter freiem Himmel genächtigt werden, so war das eine alte Gewohnheit für den Soldaten der Legion; die Nacht war kurz und er erwachte kräftiger, als seit Jahren in der dumpfen Kammer nach einem wüsten Zechgelag.

Alles in allem: die Zeit dieser Wanderung war nicht die böseste in August Müllers Leben. Er hätte länger, ja er hätte sein Lebtag wandern mögen, wenn nicht der Zug gegen die Türken ihn doch noch mächtiger gelockt. Für seine kleine Begleiterin aber, sooft sie in ihren Lumpen unter einem Regenguß zusammenschauerte oder mit wunden Füßchen, stumm, wie immer, am Wege niederhockte, für sie hatte er einen Zaubernamen gefunden, dessen Klang ihr immer wieder frische Kraft verlieh. »Fräulein Hardine!« lautete der Name. »Vorwärts zu Fräulein Hardine!« oder »Bald sind wir bei Fräulein Hardine!« brauchte der Vater nur zu sagen, und die Kleine schleppte sich weiter, bis sich eine Herberge aufgetan. »Fräulein Hardine« war das einzige Wort, das sie während der langen Reise gemerkt oder leise nachgelallt hat. Vielleicht, daß in dem kleinen Herzen ein Echo mütterlicher Seufzer und Tröstungen lebendig geworden war.

Man sagt: ein brechendes Auge sieht klar, und gewiß liegt etwas Ergreifendes in der Zuversicht, die, sei's für diesseits, sei's für jenseits, auf einem Sterbebett verkündet wird. Auch August Müller war einen Augenblick von dem Glauben geblendet worden, in den sich seine Frau jahrelang hineingegrübelt und dessen sie sich in ihrer letzten Sorgenstunde getröstet hatte. Im Grunde des Herzens aber hatte er, wie früherhin, so auch jetzt, Fräulein Hardines niemals als einer Blutsverwandten gedacht und den Weg zur Heimat keineswegs mit dem Anspruch von Sohnesrechten angetreten. Er hoffte für sein mutterloses Kind auf eine Versorgung durch die Frau, die aus irgendeinem Grunde seine eigene verwaiste Kindheit überwacht hatte. War sie im Laufe der Zeit zu Glanz und Fülle gelangt – eine Vorstellung, die sich seiner heiteren Gemütsart gar leicht einschmeichelte –, wollte sie ihn noch außerdem mit einem Pferde und einer blanken Uniform für seinen Türkenzug ausstatten, desto froher sein Habdank. So viel oder so wenig hatte er im Sinn, wenn er seinem ermatteten Kinde zurief: »Wir gehen zu Fräulein Hardine!«

Es war hoher Sommer geworden, als er eines Morgens in einem wohlangebauten Tale vor einem einsamen, alten Gebäude haltmachte und mit dem Freudenrufe: »Das Kloster!« durch die geöffnete Pforte rannte. Er drang in den Hof, in den Kreuzgang, in den Garten, in das Schulhaus, in die Propstei; er erkannte jeden Winkel: den Spielplatz, auf welchem die Knaben heute wie damals sich tummelten; den Brunnen, in welchem sie heute wie damals ihre Becher füllten; das Zinngeschirr, das heute wie damals die Tafeln des Zönakels bedeckte; den Holzschuppen, in welchem heute wie damals Unruhstifter seiner Gattung ihre Strafe verbüßten. Nur von den Menschen, welche, alt und jung, den aufgeregten Fremdling neugierig umringten, von den Menschen kannte er keinen. Er fragte nach Ludwig Nordheim, dem Propst und Direktor; er war tot und vergessen viele Jahre schon. Er fragte nach der alten Beckern. Niemand hatte je von einer alten Beckern gehört. Keiner erinnerte sich eines der ehemaligen Lehrer und Mitschüler, deren Namen er zu nennen wußte. Die preußische Herrschaft, die diesen Landesteil überkommen, hatte fremde, der Gegend unkundige Leute in die alten Räume geführt. Er hätte sich schämen müssen, Fräulein Hardines nur zu erwähnen.

Enttäuscht wollte er seinen Stab weitersetzen, als ihm das Attest einfiel, dessen Beglaubigung nachzusuchen er seiner Lisette gelobt hatte. Kluge Lisette! Namen, Datum, Wahlspruch und Handschrift stimmten mit denen des Schulregisters überein; der neue Direktor konnte getrost sein Fiat daruntersetzen, und der ärmliche Landstreicher hatte in dem polizeistrengen Staate immerhin eine Legitimation gewonnen, die ihm die Wanderschaft erleichterte. Nun durfte es aber auch an einer gastlichen Bewirtung nicht fehlen, da ja Narben und Ehrenkreuz des vormaligen Zöglings einem Erziehungshause für Soldatenwaisen wohl zum Ruhme gereichten. Die grauen, stillen Klostermauern hallten wider von kühnen Streichen und lustigen Schwänken, von abenteuerlichen Zügen über Land und Meer, von dem schwarzen Herzog und der schwarzen Lisette. Die Frau Direktorin tischte auf, was Küche und Keller vermochten; der Herr Direktor sammelte unter Beamten und Lehrern zum Besten des invaliden Helden. Erquickt, beschenkt, froh wie ein König schied August Müller aus den Mauern, zwischen denen er zwanzig Jahre früher so widerwillig stillgesessen hatte.

Er schlug nun den Weg nach der Stadt ein, und die Sonne senkte sich, als er über den Häusern im Tal das Schloß im Abendgolde leuchten sah. Jetzt bog er aus der langen, schmalen Gasse auf den Markt und sein erster Blick fiel auf das Haus, das unverändert auf niederem Gestell eine turmhohe Dachhaube trägt. Der Mops mit der Zipfelmütze! »Hier, hier,« schreit er seiner Kleinen zu, »hier wohnt Fräulein Hardine!«

Er stürmt in die Torfahrt und in die Tür zur Rechten. Das Zimmer ist in eine Schneiderwerkstatt umgewandelt; der tiefe Höllenwinkel – des Mannes erster Blick! –, er ist mit dem riesigen Kachelofen verschwunden. Auf dem Platze in der Kammer, wo damals der Sarg des Majors gestanden, steht heute eine Wiege. Angstvolle Gebärden und zornige Scheltworte begrüßen den Eindringling, den man für einen Betrunkenen oder Tollen hält.

Indessen waren auch die Nachbarn, die vor den Türen Dämmerstunde feierten, auf des Fremden seltsames Gebaren aufmerksam geworden! Der Lärm lockte spielende Kinder, Mägde vom Brunnen herbei, eine dichte Gruppe bildete sich vor dem Tore. Die Frauen näherten sich dem abgezehrten Mädchen, das sich ermattet neben demselben niedergekauert hatte. – »Wie heißt du, Kleine?« fragte eine Nachbarin. – »Hardine,« lispelte das Kind mit schwacher Stimme. – »Ist der Mann dein Vater?« – Das Kind nickte. – »Wie heißt er?« – Das Kind schüttelte das Köpfchen. – »Was will er?« »Wen sucht er in diesem Hause?« – »Fräulein Hardine!«

»Fräulein Hardine!« Die Nachbarn steckten bei dem Namen die Köpfe zusammen. Als aber nun auch der Vater, gefolgt von der Schneiderfamilie, von Gesellen und Lehrlingen, aus dem Hause zurückkehrte und immer den nämlichen Namen wiederholte, da entstand ein Rumor, ein Gewirr von Kreuz- und Querfragen, das endlich in der Kürze zu folgendem Abschluß führte:

Die älteren unter den Bürgern des Städtchens hatten in der Tat ein Fräulein, das Hardine hieß, gekannt, das einzige, das jemals unter ihnen diesen Namen getragen. Fräulein Hardine war in diesem Hause geboren und erzogen; die Leiche ihres Vaters, der als Major in dem Gefechte bei Saalfeld geblieben, war auf dem städtischen Kirchhofe begraben, und die Tochter hatte ihm ein Monument errichten lassen, das die Stadt zu ihren vornehmsten Sehenswürdigkeiten zählte. Der Name Fräulein Hardines hatte überhaupt einen stolzen Klang in ihrer Vaterstadt. Der Magistrat ging damit um, ihr einen Ehrenbürgerbrief zu votieren, für welche Auszeichnung man sich denn ganz unverhohlen auf ein testamentarisches Legat zugunsten einer städtischen Stiftung Rechnung machte, denn die vielgepriesene Dame, die reichste Grundbesitzerin der Provinz, ermangelte jeglichen berechtigten Erbens und stand in den Jahren, wo man sein Haus zu bestellen pflegt. Daß hingegen Fräulein Hardine jemals ein fremdes Kind – von einem eigenen war natürlich nicht die Rede – in einem Waisenhause versorgt haben sollte, wollte zu den von ihr gang und gäben Erinnerungen und Vorstellungen nicht im entferntesten passen. Fräulein Hardine stand in dem Rufe einer großen und klugen Dame, aber nicht in dem einer Samariterin.