Stufenjahre eines Glücklichen - Louise von Francois - E-Book

Stufenjahre eines Glücklichen E-Book

Louise von Francois

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Beschreibung

In "Stufenjahre eines Glücklichen" erzählt die Autorin die Geschichte des Decimus Frey, der aus ärmlichen und zerrütteten Verhältnissen stammend, schlußendlich in der Liebe zur adligen Lydia seine Erfüllung findet. Zeitlich angesiedelt ist der Romanzur Mitte des 19. Jahrhunderts.

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Stufenjahre eines Glücklichen

Louise von François

Inhalt:

Luise von Francois – Biografie und Bibliografie

Stufenjahre eines Glücklichen

Wiegensegen

Knabenstern

Der Kampf am Jugendhimmel

Die ersten Prüfungen

Sein Brautstand

Die Mannesstufe

Stufenjahre eines Glücklichen, L. von Francois

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849638429

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Luise von Francois – Biografie und Bibliografie

In der Pfarre von Werben hat man den letzten freien Ausblick in das Tal, das sich von da ab zur Aue verflacht. Der Garten umzieht nach drei Seiten das Haus; gegen Mittag trennt es nur ein Fußpfad von dem rebenbepflanzten steilen Uferhange; rasch bewegt strömt unten der Fluß; seine jenseitigen Ränder steigen, mit Laubwald bedeckt, mählich empor hinter saftigen Wiesenflächen, die rings das untere Dorf nebst dem Talgute umschließen, während auf der nördlichen Hochfläche unübersehbare Korngebreite sich dehnen. Die Kirche, vom Friedhof umschlossen, wie auch weiterhin das Oberdorf, liegen eine Strecke rückwärts im freien Felde; das Schloßgut aber, mit seinen sich zum Fluß absenkenden Terrassen, steht nur auf halber Uferhöhe und zieht die Auffahrt zu ihm sich entlang einer Schlucht, deren beide Seiten von ärmlichen Frönerhütten eingefaßt sind. Die alleräußerste, die allerärmlichste von ihnen, wie ein Nest an den Felsen geklebt, ist die des Gemeindehirten, das Hutmannshaus.

So hat man in der Pfarre den Blick weder zum Grunde hinab noch zum Himmel hinan beschränkt; sie bildet ein herzerquickendes Lug ins Land; ein Odem gesunder Frische und Fülle umweht sie von allen Seiten, und gesunde, herzerquickende Menschen sind es auch, die sie bewohnen.

Es ist Johannisnachmittag; sieben Kornblumenkränze vor den Fenstern deuten den Kindersegen an, der dem Hause entsprossen ist; der Vater mustert im kleinen Vorgarten seinen Rosenflor; Stock für Stock werden die vollreifen Blüten abgeschnitten, auf daß die Knospen sich zu entfalten Saft und Raum gewinnen und die gesammelten Blätter, in der Wäschtruhe verduftend, mitten im Winter an die köstlichste Blumenzeit gemahnen.

In der Weinlaube, dicht neben der Haustür, sitzt die Frau Pastorin; der Strickstrumpf ruht in ihrem Schoß und der Blick auf dem jüngsten der Sieben, das vor ihr in der Korbwiege schlummert. Es zählt erst vierzehn Lebenstage, und wäre heute nicht das Fest des Täufers, an welchem jegliches Unternehmen zum Segen gedeiht, hätte es wohl noch ein Weilchen sich in der verhüllten Wochenstube gedulden müssen. Es ist ein unruhiges, spärliches Geschöpfchen; nun aber hat die hohe, stille Junisonne und hat die Würze der Rebenblüte es dem kleinen Unhold angetan; er schläft seit einer Stunde nach Wiegenkinder Art und Pflicht.

So zart und bläßlich das Kind, so rund und rotbäckig ist die Mutter; und sie ist keine junge Mutter mehr. Sie könnte gut und gern schon Großmutter sein, und daß sie mit den Freuden und Sorgen einer Kinderstube nicht kärglich bedacht worden ist, bekunden die Johanniskränze an ihrem Haus. Dennoch hat sie den kleinen Spätling sieben Jahre lang mit Sehnsucht erwartet und sich seiner Anmeldung wie der eines Erstlings erfreut. Denn die sechs Vorläufer sind Mädchen, lauter Mädchen, und nun sollte und mußte die Siebenzahl durch einen Knaben abgeschlossen werden.

Nicht um ihrer selbst willen; Frau Hanna Blümel fühlte sich von Grund aus eine Töchtermutter, meinte auch – es ist ein Menschenalter her, daß sie also meinte, und die Meinungen ändern sich in einem Menschenalter –, dazumal aber meinte sie, daß doppelt so viel Mädchen leichter zu erziehen und dereinst leichter zu versorgen seien als halb so viel Knaben. Nein, nicht sich selbst, aber ihrem Gatten hätte sie doch so herzlich einen Sohn gewünscht, mit dem er wiederum so jung werden konnte, wie sie es zwischen ihren Töchtern geblieben war; wiederum jung werden, indem er ihn durch die Reihen seiner geliebten alten Heiden und Christen führte. Und nun war es zum siebenten Mal ein Mädchen, das kein Vater durch alte Heiden- und Christenreihen zu führen Verlangen trägt, und Frau Hanna Blümel fühlte sich nahezu beschämt, als hätte sie ihren irdischen Beruf nur zur Hälfte erfüllt. Zwar hatte der fromme Herr ob der Enttäuschung weder gemurrt, noch geklagt, noch auch nur geseufzt. Er hatte einfach geschwiegen. Es gibt aber ein sehr beredsames Schweigen, und für Pastor Blümel gab es ein speziell beredsames.

Pastor Blümel war Blumist; von allen Gottesgeschöpfen liebte er keine zärtlicher als die, welche lautlos am Boden erblühen; – die, wenn auch mitunter etwas allzu lauten Menschenblüten selbstverständlich ausgenommen. »Zwischen Kindern und Blumen ist Wohlsein,« sagte er gern. Nachdem er daher seine älteste Tochter, die noch während der Leidenszeit der hehren Königin geboren ward, auf deren Namen und die beiden nächstfolgenden auf die ihrer Großmütter getauft hatte, wußte er für die drei nachfolgenden, – da seine Hanna, häuslicher Verwechslungen halber, auf eine Namensteilung verzichtete, – keine ansprechenderen zu wählen als einen von denen seiner Blumenkinder; die kluge Hausfrau aber ließ sich neben dem Luischen, Lorchen und Dorchen eine Liane, Balsamine und Erika bereitwillig gefallen. Sie sah ein Liebeszeichen in der Wahl, und das botanische Namenserbe für den Hausgebrauch gätlich in ein Linchen, Minchen und Riekchen umzuwandeln, war ja so leicht.

Nun aber hatte der Vater sein Letztgeborenes noch nicht ein einziges Mal auf seine Blumenverwandtschaft hin angeschaut, sich keine Blumenpatenschaft für dasselbe auserkoren. Tauftag und Taufzeugen waren festgestellt. Die älteste Tochter sollte das Schwesterchen über das heiligende Wasser halten; der Amtsbruder Kurze in Bielitz und Frau Amtmann Mehlborn, die Gutspächterin, sollten ihr zur Seite stehen, und weil dieser guten Freundin Geburtstag heuer just auf den sechsten Sonntag nach Trinitatis, will sagen auf den Perikopentag von dem brüderlichen Versöhnungsopfer, Pastor Blümels Leibtext fiel, war es seiner Gattin leicht geworden, ihn zum Verschieben des Weiheaktes bis auf diesen Festtag zu bestimmen. Als sie nun aber auch den Namen des Täuflings in Erwägung stellte, da hatte der Vater lächelnd erwidert: »Wähle ihn nach deinem Gefallen, liebe Hanna!«

»Nach ihrem Gefallen!« deutlicher hätte er doch wahrhaftig seine Gleichgültigkeit nicht ausdrücken können! Und das inmitten des üppigsten Juniflors! Er hatte in seinem Treibbeet zum ersten Male eine neue Sommerpflanze zum Blühen gebracht; wäre es ihm beigekommen, sein Töchterchen nach ihr Gloxinia zu taufen, Frau Hanna würde kein Wort dagegen erhoben und für den Hausgebrauch dem Linchen und Minchen ein Sinchen angereiht haben. »Nach deinem Gefallen!« sie empfand die Kränkung ihres unschuldigen Lämmchens bis in den Muttergrund hinein, ja als sie heute, zum ersten Male seit zwei Wochen, den hartherzigen Töchtervater mit so viel Sorgfalt zwischen seinen Blumenkindern walten und dabei so achtlos an der kleinen Menschenblüte in der Wiege vorüberschlendern sah, da hätte sie vor Entrüstung Tränen vergießen mögen; und Frau Hanna Blümel hatte wohl schon manchmal Kummertränen und öfter noch Freudentränen geweint, eine Träne der Entrüstung aber hatte ihr noch nie die guten, klugen Augen getrübt. Sie beugte sich über die Wiege und küßte ihr kleines Mädchen so ungestüm, als ob sie es durch doppelte Zärtlichkeit für den Abbruch an Vaterfreude entschädigen müsse.

Aber die Liebe macht schlau und Mutterliebe am schlausten. Als sie den grausamen Vater sich wieder einmal der Laube nähern hörte, zog Frau Hanna das Gesicht hastig unter dem Wiegenhimmel hervor, lehnte sich auf der Bank zurück und setzte ihre Stricknadeln in Bewegung. In ihrem anschlägigen Haupte war ein verwogenes Stratagem reif geworden; in heller Kampfeslust hatten die Wangen sich noch eine Schattierung höher als in Friedenszeiten gefärbt, und aus den blauen Augen blitzte ein lächelnder Trotz: »Dir soll und wird zu deinem Recht verholfen werden, du unschuldige Kreatur!«

Die unschuldige Kreatur unterstützte die mütterliche Kriegslist durch verdrießliches Gemurr. Ob sie der Schlummerruhe, die durchaus nicht in ihrem Temperament zu liegen schien, überdrüssig, ob sie durch den ungestümen Kuß vor der Zeit aus derselben geweckt worden war: kurzum sie murrte, und das Murren schlug in Greinen um, just als der Vater herantrat, seine Rosenernte darzubieten. Frau Hanna beachtete weder das Greinen noch die Ernte; die Stirn in krause Falten gezogen, strickte sie mit Vehemenz.

»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna,« mahnte der Vater. Frau Hanna nahm die fünfte Stricknadel zwischen die Lippen, zog die Brauen in die Höhe und zählte die Maschen ihres Strumpfes.

Pastor Blümel schob das schwarze Käppchen von der Stirn zurück, wischte die Brillengläser mit dem Taschentuche ab und blickte in hellem Wunder auf das befremdliche Gebaren. Er stand noch mehr wie seine Gattin in dem Alter, wo Elternfreuden, selber bei einem Landpfarrer, Ausnahmen werden; er schaute auf eine mehr als zwanzigjährige Ehe zurück, aber noch nie hatte er sein frohgewilltes Weib ärgerlicher Laune gesehen, noch niemals seine Stirn gefurcht und die Lippen mißmutig herabgezogen wie heute. Und das umwogt von Balsamdüften und bei einem Anlaß, der das Mutterherz zu inbrünstigem Danke stimmen mußte!

Das Kind schrie jetzt jämmerlich; die Mutter schien über dem Klappern der Stricknadeln taub geworden zu sein.

»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna!« wiederholte der Vater mit ängstlicher Miene.

Sie biß die Lippen übereinander und strickte, als ob es auf der Welt nichts so Wichtiges wie eine Strumpfhacke fertigzubringen gäbe. Der Vater setzte sich an ihre Seite und begann die Schaukel der Wiege zu treten; das Kind schrie und strampelte merklich mit den Beinchen.

»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna!« sagte der Vater zum dritten Male, diesmal mit vorwurfsvollem Klang.

»So laß doch den Schreihals!« versetzte die Mutter, ohne aufzublicken. »Mädchen querelen allemal ärger als Knaben!«

Pastor Blümel schüttelte den Kopf und trat die Schaukel immer eifriger. Er beugte sich über die Wiege, versuchte die Bänder des Wickelbettchens zu lösen und betrachtete aufmerksam das kleine, vom Schreien kirschrote Gesicht. »Ein herziges Püppchen!« meinte er nach einer Weile. »Es sieht dir ähnlich, liebe Hanna.«

»Mir?« widersprach sie. »Dir ists wie aus den Augen geschnitten, Konstantin.«

Der Pastor schüttete seinen Rosenkorb über die Wiegendecke und kitzelte das kindliche Stumpfnäschen mit einer Zentifolie; die Kleine ward für einen Moment still, nieste dann und verzog die Lippen zu einem Lächeln, was bei Wickelkindern ein Zeichen des Unbehagens ist und einen demnächstigen Ausbruch gewärtigen läßt. Der Vater aber erwiderte das Lächeln, nickte seinem Töchterchen zu und sagte:

»Die Kleine spürt wahrlich schon den Rosenduft! Oder meinst du, Hannchen, daß sie auf dem Weiß der Decke die bunten Farben unterscheidet?«

»Sie wird eine Blumennärrin werden,« spottete die Mutter. »Derlei unnütze Steckenpferde sind fast immer ein Tochtererbe. Wäre es ein Knabe – –«

»Würde er jetzt schon mit Stricknadeln spielen, gelt?« unterbrach sie lächelnd der Vater. »Wie vereitelte Wünsche dich doch betören, Hanna!«

»Dich etwa nicht, Konstantin?«

»Gott verhüte es! Nun ja, warum sollte ich es leugnen? Ich habe bei jeder Aussicht auf Elternfreuden, also siebenmal, einen Sohn erhofft. Hatte der Vater sein Genügen, so hätte der alte Pädagog doch gern mit einem Knaben seinen Plutarch noch einmal vorgenommen, der Diener im Amt sich gern einen Nachfolger herangezogen. Mir war mitunter, als ob ich vor der Zeit – wie soll ich nur sagen? – nun ja, zusammenschrumpfe, als ob bei der Bildung eines Sohnes, – ja lächle nur, Hannchen, – ich noch wachsen könne. Als aber der Herr für den Sohn, den er versagte, mir – –«

»Sieben nichtsnutzige Mädchen bescherte, die von alten Heiden den Kuckuck verstehen, menschliche Wesen zweiter Klasse, Mitteldinger zwischen Aff und Mann –«

»Frevle nicht, Weib!« rief der Pfarrer schier entsetzt. »Versündige dich nicht! Wie wirst du eines Tages deinem Gott noch dafür danken, daß dieses Kind wiederum ein Mädchen war! Vota Diis exaudita malignis! Das heißt: Böswillige Götter erhören unsere Wünsche, sagten die alten Heiden, deren du soeben höhnend erwähntest, weil du sie nicht verstehst, liebe Hanna, nur weil du sie nicht verstehst, da sie in manchen Gebieten heute noch uns weit überlegen sind. Was uns aber himmelhoch über sie erhebt, ist, daß wir eines Vaters Weisheit verehren, wenn uns die natürlichsten Wünsche versagt, die teuersten Hoffnungen zunichte werden. Und darum, Hanna, werden wir unser kleines Mädchen lieben, nicht nur als unser Fleisch und Blut, sondern auch als einen besonderen Gottessegen. Es lag eine Absicht in dieser Gabe, die wir uns mühen wollen zu verstehen. Und dann, Hannchen,« – setzte er nach einer kleinen Pause tröstend hinzu – vielleicht nur sie, vielleicht auch ein wenig sich selbst, – »Hannchen, es braucht ja just noch nicht die letzte Hoffnung zu sein.«

»Hilft der Himmel – doch!« rief Mutter Hannchen mit dem hellsten Farbenklang der Aufrichtigkeit.

Das Kind hatte, wie sein Lächeln angedeutet, während des Vaters erbaulicher Rede seiner Schreilaune in wahrhaft erschrecklicher Weise die Zügel schießen lassen. Das Schaukeln verschlug nicht mehr; der Vater mußte es aus der Wiege heben und auf den Armen schwenkend es vor der Laube hin und wieder tragen, bis die roten Deckelchen sich von neuem über die Augen senkten. Die Mutter blickte mit verstohlener Rührung auf die absonderliche Gruppe; sie überlegte, ob ihr diplomatisches Kunststück schon im ersten Angriff gelungen sei, hielt es indessen für geraten, der Krise bis auf weiteres zuwartend ihren Lauf zu lassen. Sie strickte, aber gelassener, und begnügte sich, nachdem ihr Konstantin die Kleine wieder in der Wiege untergebracht, derselben hinter seinem Rücken die Lage etwas behaglicher herzustellen.

Der Pfarrer hatte die Laube verlassen; in ernsten Gedanken ging er den Gartenweg auf und ab. Wie sollte er sich die naturwidrige Verfassung seiner Gattin erklären? Sie, bisher die verkörperte Mutterlust, am ersten Tage der Genesung, unter dem strahlenden Johannishimmel, umwogt vom Weihrauch der Sommerblüte, plötzlich die Seele voll Unmut, die Rede eitel Sarkasmen, Verdruß, ja Zorn gegen ein unschuldiges Kind! Und das lediglich aus dem Grunde, daß dieses Kind sich unter ihrem Herzen zu einem Wesen ihrer eigenen Gattung gestaltet hatte! Konstantin Blümel hatte in seiner persönlichen Konstitution, wie in der seiner Familie, Gott sei Dank! wenig Bekanntschaft gemacht mit den geheimnisvollen Zwischenträgern, die nur allzu häufig Hader auf Leben und Tod unter den gewaltigen Zweiherrn Leib und Seele anzustiften pflegen. In diesem außerordentlichen Falle konnte er indessen lediglich auf eine krankhafte Überreizung der Nerven infolge des Wochenbettes schließen, und so viel sah er ein, daß in gegenwärtigem Stadium es verlorene Mühe sein werde, mit christlicher und menschlicher Pflichtenlehre direkt gegen die Dämonen zu Felde zu ziehen. Um sich greifen durfte er, als Seelsorger und Vater, das Unheil indessen auch nicht lassen, und so gelangte er zu dem Beschluß, auf einem Umwege die Gedanken in die natürliche Bahn zurückzulenken, so wie etwa der Dichter eine zuträgliche Moral dem Volke im Gewand der Fabel zu Gemüte führt. Er kehrte in die Laube zurück und hob an, indem er sich an der Seite seiner Gemahlin niederließ:

»Ich habe dir, liebe Hanna, noch nicht von meinem gestrigen Abendgange durch das Dorf erzählt. Du warst, als ich heimkehrte, ruhebedürftig, und ich war erregt wie immer, wenn ich mit dem Hutmannshause in Berührung komme. Der bloße Anblick schneidet mir in das Herz! Ein derartig menschenunwürdiges Obdach am Eingange zu einem wohlangesehenen Edelhofe, – ja fürwahr, kein feiner Ruhm würde es zu nennen sein, hätte unsere gnädige Herrschaft diesen ihren Erbsitz in der neuen Provinz jemals in Obacht genommen.«

»Eine Sünde und eine Schande nenne ich es, Konstantin, ohne Wenn und Aber,« entgegnete Frau Hanna.

Ihr Eheherr seufzte. »Was dem Auge fern ist, ist es dem Herzen auch,« sagte er darauf. »Dazu, wir wissen es ja, die finanzielle Lage! Der leidige Kriegszustand hat schon manchen reichen Grundbesitzer zu einem Ärmling gemacht.«

»Den von Werben mehr der Friedens- als der Kriegszustand, Konstantin.«

Pastor Blümel tat, als hätte er den Widerspruch nicht gehört.

»Und was den Pächter betrifft,« fuhr er fort, »so können Reparaturen aus eigenem Säckel dem Manne billigerweise doch auch nicht zugemutet werden.«

»Ei, warum denn nicht, Konstantin?« wendete Frau Hanna ein in ihrem allernatürlichsten munteren Ton. Ob sie die Rolle der Rabenmutter vergessen hatte oder, siegessicher, sie fortan für überflüssig hielt – genug, sie lachte, und ihr feiner Seelsorger lächelte. »Ihn, den Pächter, haben weder Kriegs- noch Friedenszeiten zum Ärmling gemacht. Mittel sind da! ist des Großhansen Spruch, und woher stammen die Mittel als aus den Vorteilen der Pachtung, die von Vater auf Sohn den Mehlborns zugute gekommen sind?«

»Erweisbar doch aber nur gesetzlich gestattete Mittel, Hanna!«

»Lehre mich meinen Harpax kennen, Konstantin!« eiferte Frau Hanna, worauf ihr gern entschuldigender Konstantin anführte, daß ohne eine streng erhaltsame Ader ein Bauer, trotz aller Arbeit, es nicht zum Wohlstand bringen werde, in bezug auf den Großhansen indessen nicht umhin konnte zuzugestehen, daß dem Manne dieser Wohlstand samt der adligen Verschwägerung einigermaßen zu Kopfe gestiegen seien.

»Indessen,« setzte er hinzu, »wem schadet er durch seinen Sparren als sich allein? Bei aller Klugheit merkt er bis jetzt noch nicht, daß er die Zielscheibe des Spottes geworden ist. Eines Tages aber wird er es merken und – es tut mir immer weh, liebes Hannchen, wenn ich dich unter den Spöttern sitzen sehe.«

»Aber Konstantin, wozu wären denn die Narren gut, wenn man nicht einmal über sie lachen dürfte?«

»Es ist ja eine so alltägliche Narretei, Hanna; in alten wie neuen Komödien bis auf die Grundneige ausgenutzt, langweilig oder traurig je – –«

»Im Gegenteil, Konstantin; ein Sonntagssparren ist es, der kurzweilig wirkt durch den Kontrast. Wie es Quartalstrinker gibt, die durch einen periodischen Rausch sich für die Alltagsnüchternheit entschädigen, so sticht auch unseren Bauer nur in Pausen eine nobele spanische Fliege, und in der Zwischenzeit ist er ein Grobian und ein Filz der ersten Sorte. Man käme aus der Erbosung nicht heraus, wenn seine Narretei den Patron nicht dann und wann ein bißchen erträglicher machte.«

»Warum willst du dich nicht aber lieber an die gesunden Kräfte halten, die allen Schäden und Schrullen zum Trotz – Adams Erbteil, liebe Hanna, in irgendeiner Weise keinem seiner Kinder erspart! – sich in seiner Natur behauptet haben? An seine Tüchtigkeit, Mäßigkeit, Unermüdlichkeit und – ich will nicht das höchste Wort gebrauchen, aber ich bleibe dabei, daß ein schlechthin unredliches Geschäft dem Manne weder nachzuweisen, noch auch nur zuzutrauen wäre. Wie zum Magnaten ist er auch zum Schwindler, Gott sei Dank! allzu standfest ein Bauer.«

»Das heißt ein Schlaukopf, der das Risiko eines Schwindels scheut!« rief Frau Hanna, welche jetzt unwiderstehlich aus der tragischen Rolle in ein lustiges Lieblingsthema verfallen war. »Aber warte nur, warte, du mein titulierter Herr Rittergutsbesitzer und Baron in spe! bei der ersten Lektion, welche die gräfliche Exgouvernante dir wieder in der höheren Tafelkunst erteilt – wir sind beim Gabelführen mit der linken Hand stehen geblieben, Konstantin! – bei der nächsten Quartalsschrulle soll das baufällige Hirtenhaus dir recht erbaulich zu Gemüte geführt werden, und für ein neues Schindeldach vor Winters, dafür mindestens, Konstantin, bin ich dir gut.«

»Nun mache es nur gnädig mit deinem alten Zögling, Hannchen,« versetzte der Pfarrherr lächelnd. »Glückt es dir aber mit dem Schindeldach, so freue dich, daß dasselbe noch den armen Freys, das heißt den Ärmsten der Gemeinde zugute kommen wird. Auf meine Vorstellung hat der Herr General ihnen das Wohnungsrecht in einem der Frönerhäuser wie bisher zugestanden, wenn auch weder die Gemeinde, noch der Amtmann zu bewegen war, den Klaus über den Johannistermin hinaus als Schäfer beizubehalten. Gestern hat er die Herde zum letzten Male ausgetrieben.«

Der gütige Mann seufzte bei den Worten; seine Hanna dagegen erklärte die Gemeinde und in diesem speziellen Falle sogar den schnöden Amtmann für durchaus in ihrem Recht.

Wie hatte sie, Frau Hanna nämlich, den Klaus seit Jahr und Tag gemahnt, gewarnt, gescholten! Wer nicht hört, muß fühlen. Die vermaledeite Schenke lag dem Hutmann, ob er aus- oder eintrieb, allemal bei Wege. Die Herde wurde seinen wilden Buben, wenn nicht gar dem alten, lahmen, blinden Phylax überlassen, und die gutmütigen Schäfchen sind lange nicht so dumm, wie sie aussehen: sie wissen fette Wiesen einem abgeweideten Anger vorzuziehn. Der Ungehörigkeiten – gelinde ausgedrückt –, die bei der vorjährigen Schur vorgekommen sind, noch gar nicht einmal zu gedenken.

Der Pfarrer konnte diesen Bezichtigungen leider nicht widersprechen, setzte aber milde hinzu: »Schuld geht fast jedem Elend und Ungeschick fast jedem Mißgeschick voran, liebe Hanna. Werden Elend und Mißgeschick aber weniger erbarmenswert, oder etwa erbarmenswerter, weil sie sich erweislich, sei es aus unsern Handlungen, sei es aus unsern Unterlassungen entwickelt haben? Und wenn wir hier ein Gemeinde glied auf abschüssiger Bahn sinken sehen so tief, wie meiner Zeit noch keines gesunken ist, vom ansässigen Bauer zum Schafhirten und von diesem – –«

»Zum Tagedieb und Strolch!«

»Dieses Äußerste abzuwenden war der Zweck meines gestrigen Weges, liebe Hanna. Helfen, das heißt dauernd Arbeit geben, kann allerdings nur der Amtmann; bis dieser aber seinen Widerwillen gegen den Klaus überwunden haben, bis er, bei kaum vermeidlichen Rückfällen des Arbeitsscheuen, zu christlicher Langmut zu bewegen sein wird, – was meinst du, mein Hannchen, wenn wir den Klaus zunächst unsere Spargelbeete umrajolen ließen?«

»Aber, Konstantin, damit hat es ja noch Jahr und Tag Zeit!«

»Mit dem Spargelbeet allerdings, Hannchen, aber mit dem Klaus hat es Eile.«

»Eile mit Weile, Konstantin! Die Ernte steht vor der Tür, und die Spargelbeete laufen nicht davon, bis einmal die Arbeit nicht haufenweis bei Wege liegt. Aber erzähle doch deinen Dorfgang zu Ende. Du warst auf des Klausen abschüssiger Bahn angelangt. Nun weiter!«

»Ja, weiter,« seufzte der Pfarrer. »Der Mann ist schuldig, unleugbar schuldig, Hanna. Aber ebenso unleugbar ist er zu entschuldigen. Er ist ein Bauernsohn, aber ihm fehlte nun einmal das Erbe jeglichen Bauernsinns und Schicks; daß ich so sage eine Mehlbornsche Ader. Und an schlimmen Zufälligkeiten, wie wir törichterweise das Unberechnete, oder vielleicht Unberechenbare nennen, hat es wahrlich auch nicht gefehlt. Neun lebendige Kinder, und das zehnte vor der Tür! Könnte halbwegs ein Gotteslästerer da nicht versucht sein auszurufen: Herr, halt ein mit deinem Segen! Schon das Aufbringen, welche Last und Qual! Und sind sie endlich so weit: wie die Vöglein, wenn sie flügge geworden, fliegen sie hinaus in die Welt, und hülflos, unfähig zur Hilfe, haben die Erzeuger das Nachsehen. Des Klausen Weib, die arme Kreuzträgerin, ist eine Mutter nach Gottes Herzen. Aber wußte sie ein Wort davon, als ihr Erstgeborener, der Gardist, im Lazarett mit dem Tode rang? Und hätte sie darum gewußt, würde sie zur Pflege an seine Bettstatt haben eilen dürfen? Oder, was konnte sie für ihren Zweitgeborenen, den blöden Friede tun, als er, kaum eine Stunde von ihr fern, vom Gänsejungen zum Kuhjungen und vom Kuhjungen zum Pferdejungen herangeprügelt wurde, bis auch ihn schließlich der heilsame Korporalstock unter seine Zucht genommen hat? Ein Glück, daß den jüngeren Sieben die gleiche Schule in Aussicht steht. Neun Jungen! Prachtjungen! Wahre Enakssöhne, geborene Flügelmänner, einer wie der andere! Der Stolz eines Vaterlandsfreundes und die Lust eines wohlgerichteten Vaterherzens! Hanna, Hanna! Wer ermißt aber die sonderbare Führung, welche dem einen das Heißersehnte hartnäckig versagt und dem anderen es bis zum Übermaß, bis zur Überlast verleiht?«

Frau Hanna zog bei dieser unerwarteten Rückfälligkeit die glatte, rosige Stirn in die allerkrausesten Falten; sie ließ das Kind, welches, weil es wiederum zu murren begonnen, sie auf ihren Schoß zu nehmen im Begriffe war, so unsanft, als sie es über das Herz brachte, in die Wiege zurücksinken und rief, indem sie ihm eine Faust machte: »Da hörst du's, unnütze Mädchenkreatur! die ärmsten Hirtenbuben wachsen ohne Zuck und Muck zu Flügelmännern und Vaterlandsverteidigern heran, während ihr, armselige Jammerbasen – –«

Der Vater hatte auf dem falschen Wege, in den er sich verirrt, erschrocken innegehalten. Er trat wieder energisch die Schaukel, fächelte das Gesichtchen mit seiner Zentifolie, bis die roten Augendeckel wieder zufielen, und lenkte, ohne seine Hanna ausreden zu lassen, nach seinem eigentlichen Ziele zurück.

»Der Klaus saß auf einem Klotz seiner Tür gegenüber; er mochte das Valet von seiner Herde einem der Buben überlassen haben und eben erst aus der Schenke heimgekehrt sein, denn der Fuseldunst qualmte ihm gleichsam aus dem puterroten Schädel, und halb im Taumel – ganz in Taumel gerät er schon längst nicht mehr – glotzte er in das Blaue hinein. Der Schenkwirt ist auch schuldig, hauptschuldig, Hanna. Wozu er keinen Besseren hat, hat er den Frey, und der Frey ist ihm gewärtig – leider ihm allein – und wäre es mitten in der Nacht; denn jeder eilige Botenweg, jeder noch so gröbliche Dienst wird statt mit Brot oder Geld mit den eklen Branntweinneigen bezahlt, die kein Gast mehr mag. Mein Gang, ich sah es, war verfehlt; wozu hätte in dieser wüsten Verfassung mein Arbeitsvorschlag führen sollen? Ich stellte mich, als ob ich den Mann nicht bemerkte, indem ich den Kopf nach dem engen Hofraum drehte, auf dessen magerem Dunghaufen das junge Hirtenvolk sich mit ein paar Hühnern und Ferkeln herumjagte. Das liebe Vieh eitel Haut und Bein, die Menschenbrut pausbäckige Apfelgesichter! Das gedeiht wie durch Wunder bei allem Unflat und Hunger.«

»Ich würde sagen, Konstantin,« wendete die Pastorin ein, »das gedeiht, weil eine brave Mutter den Unflat alle Tage wieder abwäscht und kämmt und weil die Brosamen von unserer Amtmännin Tische so reichlich fallen, als die Batzen aus des sauberen Herrn Amtmanns Tasche knapp. Aber weiter, Konstantin. Du redetest den Klaus also nicht darauf an?«

»Ich nicht ihn, aber er mich, Hanna. – ›Sie kundschaften wohl nach Ihrem Dezem, Herr Pastor,‹ fragte er mit schmunzelndem Hohn. – Du mußt wissen, Hanna, mit dem Dezem, da meinte er, landläufig, das Zinshuhn, das auf der armen Frönerhütte lastet, und das am Johannistermin regelmäßig in Erinnerung zu bringen der Kantor törichterweise noch immer für seine Schuldigkeit hält.«

»Du solltest den Beyfuß darum loben, Konstantin. Ordnung muß sein, und Recht bleibt Recht. Der reichste Hofbesitzer beruft sich schließlich auf den armen Fröner, dessen Zinshuhn eingeschlummert ist.«

Pastor Blümel seufzte tief. »Hanna,« sagte er darauf, »den Tag, an welchem die langgeplante Ablösung dieses widerwärtigen Opfers an Korn und Blut zu einer Wahrheit wird, den Tag wollen wir feiern wie ein zweites Hochzeitsfest.«

»Insofern die Welt auch bei uns nicht ein bißchen auf den Kopf gestellt werden sollte, wird es mit dem Feste Weile haben, Konstantin,« entgegnete Frau Hanna lachend. »Denn gehts ans Steuern, greift der Bauer immer noch eher in den Sack als in den Säckel. Aber weiter, Freund, was gabst du denn dem Kujon auf seine Unverschämtheit zurück?«

»Ich entgegnete ihm einfach, daß ich nicht um des Huhnes willen gekommen sei, wie selbiges ja auch bisher alljährlich von mir gestundet worden.« Worauf der Spottvogel dann kichernd erwiderte:

»Weil mein Gezücht der Frau Pastorin in ihren Suppentopf nicht fett genug ist, gelt?«

»Ei, du Höllenbraten!« rief die Pastorin mit drohender Faust. »Aber warte nur, warte! Nun auf diesen Dank, Konstantin, hast du, will ich hoffen, deinem Beichtsohne doch gebührentlich gedient?«

»Gebührentlich, Hanna, ich schwieg. Leider indessen nicht beharrlich genug; denn als auf meine ablenkende Frage nach seiner Frau der Klaus mir gleichmütig erwiderte, daß sie seit Morgens auf der Gutswiese mit Heuwenden beschäftigt sei, da, ich gestehe es mit Scham, übermannte mich Wort um Wort der Zorn, welcher, wie gerecht auch immer der Anlaß, für einen in meinen Jahren und in meinem Amte doppelt sträflich ist, daher ich mich denn auch über die herbe Lektion, die er mir eintrug, nicht beklagen darf. ›Scheut Ihr Euch nicht der Sünde,‹ fuhr ich auf, ›das Weib, das Euch neun Söhne geboren hat...‹

›Ist es meine Schuld, Herr Pastor,‹ höhnte der Klaus, ›daß kein Mädchen drunter ist, das mir derweile zu Hause eine Suppe kochen könnte?‹

›Das Weib, das zum zehnten Male ihrer Stunde entgegensieht – –‹

›Hätte ich was dawider, Herr Pastor, wenn sie ihr nicht entgegensähe?‹

›Das arme, schwache Weib hetzt Ihr in dieser Johannisglut zu saurer Arbeit hinaus –‹

›Hetz ich sie, Herr Pastor? Sie geht von alleine.‹

›Während Ihr, baumstarker Mann, ein Simson von Gestalt und Kraft –‹

›Schön Dank, Herr Pastor, für den frommen Vergleich.‹

›Die paar Heller, welche die Arme im Schweiße ihres Angesichts erwirbt, in der Schenke verschlemmt –‹

›Wohl bekomms dem Herrn Pastor, daß er seinen Durst im eigenen Keller löschen kann!‹

›Und dann daheim, die Hände im Schoß, in giftigem Kraute verqualmt.‹

›Kann ich mit Feuer dienen? Das Pfeifchen ist dem Herrn Pastor ausgegangen?‹

Dieser letzte Spott, Hanna, traf mich wie ein Natterstich. Ich spürte eine Blutwoge vom Herzen zum Hirn und vom Hirn zurück zum Herzen treiben. Nun ja, ich hatte geraucht. Du weißt, Hanna, ich rauche niemals unter meinen Kindern und niemals unter meinen Blumen; das heißt niemals, wenn ich mich erhole. Aber ich rauche, wenn ich mich anstrenge, und ich strenge mich an auf meinen einsamen Abendgängen durch Dorf und Flur. Da suche ich Anknüpfungen für die Erbauungsstunden im Gotteshause und für die Seelsorge in jedem Gemeindehause. Denn leider ist es ja so, daß ich nach zehnjährigem Wirken denen, auf die ich wirken soll, noch immer nahezu ein Fremdling geblieben bin. Es fehlt ihnen zu mir der sympathische Heimatszug, dessen der Pfarrer mehr als jeder andere Lebensgenosse bedarf. Da möchte ich denn mein Gemüt recht weit auftun, daß sie es verstehen lernten bis auf den Grund, und ich möchte meine spürenden Sinne schärfen, daß das, was not tut, denen, die Gott mir gegeben hat, auch wohltue. Darum rauche ich, Hanna. Und wahr ist es und bleibt es, es prickelt ein seltsamer Reiz in diesem Kraut; aufräumend das Hirn, anregend Auge und Ohr, unschätzbar für den Arbeiter im Geist. So ungefähr wird denn auch wohl die Vorhaltung gelautet haben, mit welcher ich mich vor dem Klaus gleichsam zu rechtfertigen suchte; möglich jedoch mit etwas ungebärdigeren Worten; denn der Mensch grinste, während er Stahl und Stein aneinander schlug, recht hämisch vor sich hin, und auf jede meiner Thesen gab er gleichsam eine Antithese, die mir die Galle immer leidenschaftlicher erregte.

›Also für Ihre Sonntagsepistel rauchen Sie, Herr Pastor? Kurios! habe ich doch immer gedacht, die könnte einer ohne Tobak fertigbringen.‹

Wie ich nun aber, als Folgerung meines Vordersatzes, die gesundheitlich und wirtschaftlich verderbensvollen Wirkungen des Tabaksgiftes auf die bloßen Handarbeiter, das heißt auf die ungeheure Mehrheit des Volkes hervorzuheben begann, da schlug der Mensch eine wilde Lache auf und sagte, indem er mir den brennenden Schwamm hinüberreichte:

›Na, lassen Sie's gut sein, und dampfen Sie, Herr Pastor. Es ist die alte Geschichte. Tausende sollen sich placken und schinden mit trocknem Speichel und wüstem Hirn, auf daß ein einziger Tobak rauchen und seinen Kopf für eine Sonntagsrede aufräumen kann. Das wird so des lieben Herrgotts natürliche Ordnung genannt. Wenn aber einer von den Tausenden auch einmal seinen Kopf aufräumt, um zum wenigsten in Gedanken eine Sonntagspredigt zu halten, da heißt er ein Rebeller gegen die göttliche Ordnung, und das höllische Feuer ist nicht heiß genug für ihn.‹

Auf diese Rede schwieg ich und ging. In mir wirbelte es und wogte es. Was hatte ich mir bieten lassen müssen und von dem elendesten meiner Gemeindeglieder! Ich konnte nicht also bald zurück unter die Stätten der Menschen, auch nicht in meine eigene. Hinaus in die friedsame Natur. Ich schlug den Wiesenweg ein; anfangs mit ungestümen Schritten, allmählich gelassener. Die Sonne war gesunken, vom Abend her wogte ein goldener Flor über Himmel und Fluß; im Morgen stieg schon die Nacht empor, die stille, heilige Täufernacht. Ich sog den süßen Heubrodem wie einen Balsam in die Brust; ihre Unruhe löste sich; jenes Etwas kam über mich, das wir Weihe nennen, jenes seltene Etwas im Weltverkehr. Mir war, als ob alle Schleier des Daseins sich senken, alle Klüfte des Menschengeistes sich füllen müßten, und wie durch Zauber stand plötzlich der trunkene Tagedieb Frey vor mir, ein anderer Mann, der vielleicht, zu welchem sein Schöpfer ihn erschaffen hatte. Lerne deinen Feind begreifen, und du wirst ihn lieben lernen, nicht mit Menschenliebe, aber mit Heilandsliebe. Und da sagte ich mir denn und sage es heute noch, Hanna: der Mann, in welchem der Schenkendunst sich zu so ätzendem Geifer zersetzt, das ist kein Alltagskopf, Hanna; wahrlich, wahrlich, er ist es nicht. Dieser Mann war von Natur vielleicht ein Genie; ein Halbgenie will ich lieber sagen, denn ihm fehlte jenes Bruchteil von Kraft, das zum Vollbringen wie zum Entsagen unerläßlich ist und mit welchem auch er die Fesseln des Erdengeistes gesprengt haben würde.

Dein Schicksal, Hanna, und meines stiegen neben dem seinen in meiner Erinnerung auf. Du, die brotlos gewordene Erzieherin, ich, der brotlos gewordene Erzieher, wir waren hundertmal ärmer als dieser Mann und sein Weib, als wir in bitterböser, vaterländischer Zeit, vertrauend auf Gott und unsere Liebe, die Hände ineinander legten. Aber wir waren von Haus aus richtig gestellt. Der Kandidat und seine Frau haben manchen Hungertag und manche Kummernacht durchringen müssen, aber sie arbeiteten mit ihren natürlichen Kräften in der Mädchenschule und im Jünglingsauditorium. Und dieses mühselige Tagewerk unterbrach die mannhafte Erhebung des Vaterlandes. Auch der arme Kandidat schied von Weib und Kind; hochgeschwellt die Brust, stürzte er sich in den befreienden Strom. Wiederum eine Tat des Geistes! Und der ewige Herr hat die Getrennten emporgehalten in dem Strudel von Blut und Not, hat sie liebend einander wieder zugeführt in dem erlösten Vaterlande, hat ihnen in der neuerworbenen gedeihlichen Provinz eine Heimstätte erschlossen, wo sie frohgemut ihr Tagewerk weiterführen in der göttlichen Forschung und der Reinigung der Herzen, den beiden Endpunkten, um welche jegliche Geistesarbeit sich bewegt. Würden sie, an ein Handwerkszeug gebannt, das nämliche Ziel erreicht haben?

Siehe dahingegen diesen hohngeblähten Mann, dessen Geist im Schenkenqualm verdunstet; würde er ein Ärmling, ein Trunkenbold und Strolch geworden sein, wenn ihm statt des Dreschflegels und des Pflugs, die er mißmutig regierte, die Leuchte der Wissenschaft, nach der er sich sehnte, in die Hand gegeben worden wäre? Die Alten der Gemeinde erzählen, daß es niemals einen eifrigeren Schüler unter ihnen gegeben habe als den Frey. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf den Advokaten zu studieren. Pfarramt und Anwaltsstube sind ja heute noch so ziemlich die einzigen Zielpunkte geistigen Strebens, die der Bauer kennt und anerkennt. Aber der Klaus war ein Erbsohn; der Vater hielt ihn mit Gewalt im Knechtsdienste fest auf dem Hofe, über welchen er eines Tages als Herr gebieten sollte. Voll Grimm und Groll entwich er und wurde Soldat. Er ist heute noch ein beherzter Mann. Du weißt, Hanna, wie er sich bei der Feuersbrunst in Bielitz hervorgetan hat. Es war schreiendes Unrecht, daß, um seines üblen Leumunds willen, der Landrat verweigerte, ihn zur Rettungsmedaille einzugeben. Die Anerkennung hätte ihm ein Sporn auf gute Wege werden können. Dazumal durchlebte er im Dienste der Fremdherrschaft die gleißende Niedertracht seiner vaterlandslosen Zeit und Zone, und als er nach Jahren heimkehrte, war die letzte Spur von Bauernemsigkeit und Zucht in ihm erloschen. So seine Konstellation. Würde er mein Ziel erreicht haben an meiner Statt?«

Der Pfarrherr schwieg, und seine Gattin schwieg auch. Sie hätte auf die wunderliche Frage nicht ja sagen können, und das Nein wollte ihr doch auch nicht flott über die Lippen; schon darum nicht, weil ihr Kleinglaube ihren Konstantin, ihren edlen, herrlichen Konstantin betrübt haben würde. Nach einer gedankenvollen Pause fuhr der Pfarrer fort:

»Sind es nicht aber gleichsam Stiefkinder der Natur, jene Ungezählten, die der allerhärtesten Tyrannei erliegen, der eines aufgepfropften Geschicks, das zu erfüllen oder zu bewältigen sie nur halb die Erkenntnis und halb die Ausdauer haben? Hier die Last eines Zuviel, dort die Leere eines Zuwenig! Stiefkinder der Natur und doch Gotteskinder! Wer löst den Widerspruch? Aber milde soll es uns machen, milde und hülfreich, Hanna, wenn wir solch einen Halbbruder im Geist falsch gestellt oder verirrt am Abgrunde taumeln sehen. Nicht die Gerechtigkeit, die Versöhnung ist der Ankergrund der sittlichen Welt.«

Von neuem versank der Pfarrer in seine Gedanken, und auch diesmal störte seine Hanna ihn nicht. Er grübelte über den Halbbruder im Geist, und ob er letztlich nicht dennoch sich zu einem Kinde Gottes emporziehen ließe? Sie grübelte über den Tagedieb Frey, und ob er letztlich nicht doch noch durch rechtschaffene Arbeit vor dem Korrektionshause zu bewahren sei? Im Grunde grübelten demnach beide brave Eheleute, die sie waren, über ein und das nämliche.

»Deine Geschichte ist wohl zu Ende, Konstantin?« fragte endlich die Frau. Sie hatte ihr Problem früher gelöst als der Mann, und es prickelte ihr in Händen und Füßen, ihren Plan zur Tat werden zu lassen.

»Noch nicht ganz, Hanna,« versetzte der Pfarrer, indem er nicht ohne Anstrengung die ursprüngliche Pointe der Erzählung in sein Gedächtnis zurückrief. »Am Kreuzwege zwischen Dorf und Stadt begegnete mir des Klausen Frau. Himmlischer Vater, wie abgehärmt und abgezehrt schlich sie einher, als zählte sie siebenzig Jahr! Und sie ist doch noch im blühendsten Alter, von deinem Jahrgang, Hannchen, und deinen Namen trägt sie auch. Sie hatte bei Wege an den Rainen das Abendfutter für ihre Ziege abgesichelt und schleppte nun schwer an der doppelten Last, denn ihre Stunde ist nahe. Aber kein Klagelaut entschlüpfte ihren Lippen; kein Wort der Anklage gegen den schlimmen Mann, der sie so weit gebracht. Wahrlich, wahrlich, die Hanne Frey ist ein Weib nach Gottes Herzen! Ich mußte an unseres Pestalozzi herrliche Gertrud denken. Sie wünschte mir Glück zu der Geburt unseres Töchterchens und setzte mit einem Seufzer hinzu: ›Ach, wenn doch nur einer von meinen Neunen ein Mädchen wäre, daß es mir beistände in der Wirtschaft und für mich einträte, wenns einmal vollends mit mir zum Ausspannen kommt. Sie werden sehen, Herr Pastor, diesmal übersteh ich die Kampagne nicht.‹

Ich tröstete sie, so gut ich mit halbem Glauben es zu tun vermochte, meinte, daß ihr Verlangen nach einer Tochter ja wohl diesmal erfüllt werden könne und daß sie sich nach dem Wochenbett zu ihrer früheren Rüstigkeit erholen werde. Sie schüttelte traurig den Kopf. ›Wie Gott will!‹ flüsterte sie nach einer langen Stille. ›Er ist ja der Vater der Waisen.‹ Und dabei schlug sie die eingesunkenen Augen gen Himmel mit einem Blick, den ich bis in meine Sterbestunde empfinden werde. Und damit ist meine Geschichte zu Ende, liebe Hanna.«

Über Frau Hannas guten blauen Augen lag ein feuchter Flor. Sie hatte die Moral der Geschichte wohl gefaßt, wollte etwas sagen, schluckte, räusperte sich und lief dann, ohne es gesagt zu haben, dem Hause zu. Unter der Tür machte sie halt, trocknete sich die Augen und kehrte dann, lachend über das ganze Gesicht, in die Laube zurück. »Ich habs!« rief sie schon von weitem, »Konstantin, ich habs! Ich gebe dem Amtmann alle Sonntage eine französische Stunde, und der Amtmann gibt dafür dem Frey Arbeit in seinem Schacht. Steinklopfen lohnt. Des Klausen Brustkasten ist heil und vom Schacht zur Schenke ein gehöriges Ende. Du schüttelst den Kopf, Konstantin? Der Amtmann tuts nicht, meinst du? Ei, er soll schon, Konstantin. Der alte Narr mit dem urdeutschen Namen brennt auf Fremdwörter, und jedes Fremdwort heißt ihm französisch. Wie lange quält er mich schon um die feine Konversation. Eh bien, Monsieur Mehlborn , so oder so: keinen Klaus im Schacht – keine feine Konversation!«

Pastor Blümel lächelte und wünschte gedeihlichen Erfolg, meinte jedoch, daß, da die Grammatik füglich erst nach Tauffeier und Kirchgang aufgeklappt werden dürfe, zuvor mit dem Rajolen der Gartenbeete ein Anfang gemacht werden müsse.

Frau Hanna erwiderte weder ja noch nein, sie eilte zum zweiten Male dem Hause zu, kehrte indessen pflichtschuldigst wieder um, als sie ihren Eheherrn freundlich ihren Namen rufen hörte.

»Ich werde einen Johannisstrauß für die arme Gertrud – ich meine für die arme Hanne Frey schneiden,« sagte er. »Vielleicht daß du, liebe Hanna, aus deinen Schatzkammern dem Erfreulichen etwas Nützliches beizufügen hättest. Eine unserer Töchter würde dann noch vor Abend die kleine Spende der guten Frau hinuntertragen.«

Frau Hanna nickte einverstanden; nachdem sie in Gedanken blitzschnell Musterung unter ihren Vorräten gehalten, flog sie zum dritten Male dem Hause zu, wurde aber zum zweiten Male von ihrem Konstantin zurückgerufen. »Noch eins, Hannchen,« sagte er, indem er ihre Hand faßte. »Bist du über den Namen, welchen unsere Kleine tragen soll, schlüssig geworden?«

Der Mutter klopfte das Herz; es galt die Probe auf ihr Exempel. »Ich hatte an Konstanze gedacht,« antwortete sie lauernd; »weil sie dir doch so ähnlich sieht, Konstantin.«

»Sie sieht dir ähnlich, Hannchen,« versetzte der Vater. »Was meinst du, wenn wir sie Rose nennten?«

Pastor Blümel hatte mit dieser Wahl keineswegs eine ehemännische Galanterie bezweckt, und sie wurde auch keineswegs als solche aufgenommen. Dennoch erglänzte das Muttergesicht wie von inwendigem Sonnenleuchten. Stumm vor Glückseligkeit küßte Hanna ihrem Konstantin vielleicht zum erstenmal im Leben die Hand, riß das Kind aus der Wiege, preßte es an ihr Herz und flog mit ihm in das Haus. Die siebente Tochter, auf welche der Vater den Namen seiner stolzen Lieblingsblume übertragen hatte, die spärliche kleine Rose würde, die Mutter wußte es, der Liebling seines Herzens werden.

Pastor Blümel starrte dem Schatten von Mutter und Kind noch eine lange Weile, nachdem er im Hausflur verschwunden war, mit Wunderblicken nach. War es die einfache Erzählung von der unglücklichen Neunsöhnermutter, welche das verstimmte Seeleninstrument der glücklichen Siebentöchtermutter zurückgestimmt hatte auf seinen reinen Kammerton? Oder, oder – – wie Schuppen begann es von seinen Augen zu fallen, – sollte er, der das Studium des Menschenherzens zu seiner vornehmsten Aufgabe gemacht hatte, nach einer zwanzigjährigen Ehe in seinem nächsten Herzen zum erstenmal den alten Satz bestätigt finden, daß auch die aufrichtigste Frau zuzeiten eine Larve trägt? Eine häßliche Larve über einem lieben Gesicht; der Fall soll umgekehrt öfter vorkommen. Pastor Blümel wiegte nachdenklich sein ergrauendes Haupt, lächelte aber dabei sogar ein wenig schelmisch vor sich hin, klappte dann sein Taschenmesser auf und begann den Johannisstrauß für das arme Hirtenweib zu schneiden.

Wie er nun so wählend und bindend die Rabatten auf und nieder schritt, hörte er durch die offnen Wohnstubenfenster die helle Stimme seiner Hanna, welche einer der Töchter den Auftrag gab, flink die gute Freundin, Frau Amtmann Mehlborn, zu einem Besuche in die Pfarre zu entbieten, und leicht war ja zu schließen, um welches Anliegen es sich bei dem Entbote handelte. Denn die Pastorsfrau und die Pächtersfrau fügten sich und griffen ineinander, wie es von guten Freundinnen nicht immer zu rühmen ist. Die eine wußte zu leben, die andere hatte zu leben; die eine, von Haus aus gebildet, war ihrem Gatten zu Liebe und Hülfe der Bauernart in einem gewissen Sinne vertrauter geworden als der Gatte selbst; die andere, von Haus aus eine Bäuerin, war in einem gewissen Sinne so gründlich aus der Bauernart geschlagen, als ihr darüber hinausstrebender Gemahl zäh darin wurzelte; die eine hatte sieben Töchter, die ihr Freude machten; die andere nur eine einzige, die ihr Sorge machte; der einen war der Stammhalter versagt, der anderen genommen; Frau Rosine verfügte über einen vollen Wirtschaftssäckel, Frau Hanna über einen knappen; beide halfen gern; die letztere mit ihrem offnen Kopf, die erstere mit ihrer offnen Hand, und daß das Zusammenwirken von Rat und Tat heute solche Eile hatte, dafür war von Pastor Blümel selbst ja just der Anstoß gegeben worden: Klaus Frey, der schlimme Patron, sollte schleunigst in die Kur genommen werden.

Pastor Blümel schüttelte daher von neuem und bedenklicher als vorhin das ergrauende Haupt, als er dem freundschaftlichen Entbot einen unerwarteten Nachtrag folgen hörte. Im Fall – so hieß es – die Frau Amtmännin, der Heuernte halber, heute nicht abkömmlich sei, solle Luischen ihr vorläufig mitteilen, daß der gute Vater die kleine Schwester Röschen nennen wolle, weil die Frau Amtmännin Rosine heiße und in ihrer Jugend doch auch Röschen genannt worden sei. Die Frau Amtmännin werde sich über die Aufmerksamkeit freuen und ihr Patenkind darum desto lieber haben.

Zum zweiten Male seit einer Viertelstunde ertappte der treue Seelenhirt auf einem Schleichwege das Weib, welches er ein Vierteljahrhundert lang zu kennen geglaubt hatte, gründlicher als sich selbst – denn wer ist schwerer gründlich auszukennen als einer selbst? – Auf einem blumenbesetzten Wege, es ist wahr, im Pfadsuchen nach einem Herzen; aber doch auf einem berechneten, hinterhältigen, zweideutigen Wege! »Evas Töchter, Evas Töchter, die ihr alle seid!« murmelte Konstantin Blümel und war entschlossen, den Tag nicht vorübergehen zu lassen, ohne seinem anderen Ich die fälschliche Auslegung des Heilandswortes von der Schlangenklugheit klargemacht zu haben.

Sein Luischen huschte nickend an ihm vorüber, den Weg zum Schlosse entlang, die übrigen Kinder tummelten sich im Obstgarten, wo heute die ersten Kirschen gepflückt worden waren; die litauische Lene, die sämtlichen Blümelschen Nachwuchs gewartet hatte und den Eltern aus der alten Heimat in die neue gefolgt war, hantierte auf dem Bleichplatze hinter dem Hause; darin war es seelenstill.

Den Rosenstrauß für die Hirtenfrau, würdig einer Prinzessin, in der Hand und eine Strafpredigt auf den Lippen, stieg der Pfarrer die Treppe hinan; die Tür der Kinderstube stand nach dem Flur geöffnet; sie war die räumlichste des Hauses, da sie dessen ganze Morgenseite einnahm. Frau Hanna hatte in ihrem Eifer die leisen Tritte überhört, sie kauerte am Boden vor der Wäschkommode und musterte ihr Kinderzeug; ein Geschäft, in welchem ein guter Hausvater nicht stören soll, zumal wenn es die erste Musterung nach einer Wochenpause ist. Wie leicht kann eine Nummer verzählt, ein Untätchen übersehen werden! Fach für Fach war ausgekramt, Stück für Stück gegen das Licht gehalten worden, um sorgfältig zu drei Teilen abgesondert zu werden. Sämtliche noch ungebrauchte Hemdchen, Windelchen und dergleichen, neuerdings eigenhändig gesponnen und gefertigt, kamen als Vorrat in das untere Fach zurück, vielleicht für den lange zögernden, immer noch denkbaren Sohn, vielleicht aber auch erst für eine spätere Generation; denn eine Mutter von sieben Töchtern rechnet auf Enkelfreuden und -sorgen. Die zweite Abteilung, die zwar schon Spuren einer Geschichte in der Kinderstube trug, aber noch keine, die irgend unheil zu nennen waren, wurden zu jezeitigem Gebrauch in den oberen Fächern geordnet; wo aber fadenscheinige Stellen im Flanell oder Stopfflecke im Linnen augenfällig geworden, da fanden die Stücke ihren Platz auf einem blaugewürfelten Federkissen, das abseits am Boden lag, um schließlich durch eine Wickelschnur zusammengefaßt zu werden.

Der heimliche Lauscher wartete das weitläufige Geschäft nicht ab; er kannte seinen Zweck, und dieser Zweck hatte Eile; leise legte er seinen Strauß auf das blaugewürfelte Federkissen und stieg hinab in sein Studierzimmer, das am Ende des unteren Flurs gelegen war und in der Familie das geistliche Gemach genannt wurde.

Wo in einem ländlichen Pfarrhause für ein Häuflein Kinder auskömmlich gesorgt, auch der Gastfreundschaft nach Neigung und Christenpflicht Rechnung getragen werden soll, da erübrigt für das geistliche Gemach nur ein schmaler Raum. Und buchstäblich ein schmaler Raum war es denn auch, in welchen Konstantin Blümel sich jetzt zu stiller Sammlung zurückzog, aber einer, der auch den fremdesten Gast vertraulich angeheimelt haben würde, denn nicht nur das Wesen des Bewohners spiegelte er wider, sondern auch seinen Lebensgang, so wie er ihn diesen Nachmittag sich selbst und seiner Gattin in das Gedächtnis zurückgerufen hatte: ein friedlich dahingleitender Bach, der nur ein einziges Mal, aber mit unvergänglich befruchtenden Spuren, im Sturmeswogen der Zeit sein Gelände übertreten hatte.

Das einzige Fenster war von außen grün umrankt; die ersten Sonnenstrahlen blinkten morgens durch das zarte Laub, vom Garten herauf grüßten die Blumenkinder. Längs der weißgetünchten Wände liefen Repositorien von rohem Holz; links auf ihnen mahnten die alten Heiden, rechts die alten Christen bis einschließlich Martin Luther an des geistlichen Herrn Schüler- und Lehrerzeit. Die jüngeren Christen waren verhältnismäßig schwach vertreten, da das Amt in der Gemeinde, der Familie und im Blumengarten weder Zeit noch Reiz zu neuen geistigen Bekanntschaften allzu häufig aufkommen ließ; indessen deutete dieses und jenes Exemplar schon durch sein Äußeres auf einen häufigen Verkehr und hatten die beiden großen Landsleute Kant und Herder sogar auf dem Schreibtische dauernd Platz gefunden, zu ihnen auch, als dritter, der treue Menschenfreund Pestalozzi sich gesellt.

Dieser Schreibtisch, nebst zwei Stühlen das einzige bewegliche Zimmergerät, füllte den Fensterbogen; von schlichtem Tannenholz, mit Wachstuch bezogen, bildeten die alte silbergekrampte Familienbibel und ein aus Elfenbein geschnitztes Kruzifix seinen einzigen Schmuck. Über dem Kruzifix aber hing, in Glas und Rahmen gefaßt, des Königs Aufruf »An mein Volk« und inmitten desselben des friedlichen Pfarrherrn tapfer erworbenes Eisernes Kreuz.

Und hier in seinem häuslichen Allerheiligsten, den beiden Kreuzen gegenüber, saß nun der friedliche Pfarrherr, und es wollte ihm lange nicht gelingen, die wechselnden Eindrücke der letzten Stunden in seinem Innern glatt und gleich zu legen.

Wenn Konstantin Blümel erregt war, vollzog sich vor seinem geistigen Auge ein Prozeß des Wachsens und Wandelns, der sonst nur Kindern, Dichtern und schwärmerischen Liebhabern für eigentümlich gilt. Und doch ist mehr als ein Menschenalter verlaufen, seitdem Konstantin Blümel ein Kind geheißen hat, und insofern zu einem Dichter wesentlich gehört, daß er Gedichte macht, ist er nichts weniger als ein Dichter, denn er hat sich selbst in der sangquellenden Jünglingszeit zu keiner einzigen Liedesstrophe gedrungen gefühlt; was aber den Liebhaber anbelangt, so hat er seine Hanna zwar geliebt und liebt sie heute noch als sein anderes Ich, just darum aber keineswegs als einen Engel. Sie, seine Hanna, nannte ihn einen Idealisten und war gütig genug, sich zu freuen, wenn seine optimistische Gabe ihm manche innerliche Trübung löste, und geschickt genug, ihm zu helfen, wenn sie ihn nach außen hin in mancherlei Wirrnis verstrickte.

Hatte diesen Nachmittag nun sein dürftiges Töchterchen sich in eine blühende Rose umgewandelt, ein braves, beladenes Hirtenweib sich zu einem Dichtergebilde verklärt, des Weibes lästerlicher Gespons wohl gar sich ausgereckt zu einem revolutionären Advokatengenie, dem zu einem Danton oder Robespierre nichts als – Gott sei Dank! – der Boden fehlte, auf dem es sich entwickeln durfte, so blieben nach alledem Herz und Hirn doch immer noch von unlösbaren Problemen geschwellt. Die ungeahnte Schlangenempfänglichkeit seiner Eva hatte er zwar vor der Hand auf dem blaugewürfelten Federkissen zur Ruhe gebracht, dafür aber plusterte sich in der behelligendsten Weise das dürre Dezemhuhn des Exhirten Klaus zu einem grausamen Raubvogel auf. Er vermochte sich von der Vorstellung dieser Ungebühr, zu deren Praxis er nicht nur berechtigt, sondern schlechthin verpflichtet war, nicht loszureißen, und die Blicke auf das Ehrenzeichen über dem Kruzifix gerichtet, verfiel er in schier rebellische Untersuchungen über die Vereinbarlichkeit derartiger »Gelübde und Opfer« mit einer Zeit, in welcher das Eiserne Kreuz gestiftet worden war, und über den Widerspruch der Pflichten, dem selbst im friedfertigsten bürgerlichen Berufe, dem des Priesters, das Gewissen des Christen und Menschen nicht zu entgehen vermag.

Wie er es in beunruhigenden Stimmungen zu halten pflegte, schlug er endlich seine Erbbibel auf und las im dritten Buch Mose das siebenundzwanzigste Kapitel, auf welches das Zehentopfer sich gründet, von A bis Z; las, obgleich er es von Jugend ab auswendig wußte, es zum zweiten Male, und als er endlich die Krampen wieder schloß, hatte er keine andere Lösung gefunden, als die ihm von jeher die natürliche gewesen war. »Du sollst deinen Weinberg nicht genau lesen und dem Armen und Fremdling etwas übriglassen,« sagte er vor sich hin, indem er sich erhob mit dem Vorsatze, zugunsten des Exhirten Frey auf die Spargelernte einiger Jahrgänge zu verzichten.

Die Sonne hatte sich während seiner Betrachtung gesenkt, es dämmerte im geistlichen Gemach, die Stunde drängte zu dem gewohnten Vespergange durch das Dorf. Er griff nach Hut und Stock, er griff auch nach seiner Pfeife; aber nein; die Pfeife ließ er heute im Winkel stehen. Im Begriffe, nach der Tür zu gehen, hörte er vom Flur aus harte Tritte und einen ungewohnten Lärm in seine Stille dringen.

Die nämlichen Tritte, den nämlichen Lärm hörte verwundert auch die Hausfrau, als sie die Treppe herabkam, das blaugewürfelte Bündel, blumengekrönt, Tochter Lorchen zur schleunigen Besorgung zu übergeben. Die Haustür war wuchtig aufgerissen worden, eine hünenhafte Gestalt stapfte den Flur entlang, um im Dämmerlicht des geistlichen Gemaches zu verschwinden; eine zweite folgte ihr, schattenhaft schwankend, unter Ächzen und Stöhnen.

»Was gibt es, Beyfuß?« fragte die Pastorin.

Keine Antwort.

Mit weitgeöffnetem Munde, nach Atem ringend, die Hände zusammenschlagend über dem schweißtriefenden Haupt, stürmt der Kantor dem Hünen nach. Die Hausfrau hinterdrein bis unter den Rahmen der Tür. Hier steht sie starr. Sie sieht ihren Mann, der vor jachem Schreck auf seinen Stuhl zurückgetaumelt ist, mit beiden Armen ein Bündel umspannen, dem ähnlich, das sie selber in der Hand hält, – aber nicht blumengekrönt! Es ist ihm von der Tür aus zugeschleudert worden, und noch steht der Hutmann Frey mit emporgehobener Faust auf ihrer Schwelle.

»Da habt Ihr Euren Dezem, das Weib ist tot!« brüllt er mit der Stimme eines Wütigen und stürmt, wie er gekommen, aus dem Hause.

Die drei im Zimmer starren ihm nach, regungslos, sprachlos eine lange Weile.

»Das Weib ist tot!« haucht kaum hörbar endlich der Pfarrer.

»Tot!« schluchzt die Pastorin.

»Tot!« bestätigt der Kantor mit Stentorstimme.

Frau Hanna faßt sich. Vor ihren Augen ist es klar geworden; sie nimmt das Bündel von ihres Gatten Schoß, um, dicht an das Fenster tretend, es zu enthüllen. In einen zerfetzten Frauenrock ist etwas Festes eingewickelt: Frau Hannas Hände zittern. Ein Kind! Ein Kind, nackt und bloß, wie es aus dem Mutterleibe gekommen, aus dem erstarrten Mutterleibe! Ein Knabe – der zehnte Sohn! Die Tränen eines Vaters und einer Mutter träufeln auf den Leib der Waise.

Während dieser Untersuchung hatte Kantor Beyfuß die Erläuterung des unerhörten Geschehnisses vorgebracht; weit ausholend, umständlich, so, als gäbe der einzige Augenzeuge eines kriminalistischen Falles den Tatbestand zu Protokoll. Freilich vor einem Gerichtshof mit tauben Ohren.

Der Kettenhund in der Schenke hat seit ein paar Tagen die Laune. Bei dieser Johannisglut die Laune! Da schwant dem Wirt nichts Gutes. Am besten ein Ende mit dem alten Vieh. Mein Klaus, nicht faul, würgt es ab. Der Wirt mag mit dem Salär nicht geknausert haben, denn des Klausen Schädel raucht sozusagen, als Kantor Beyfuß, der just in seiner Eigenschaft als Küster, das heißt Adlatus des Herrn Pastors, seinen Termingang hält, ihn vor sich her taumeln sieht. Nicht weit vom Hirtenhause holt er ihn ein und bringt das Dezemhuhn in Erinnerung. Der Klaus schlägt eine wiehernde Lache auf und rennt in das Haus. Der Kantor steht im Hofe auf der Lauer, denn ein Gewieher ist keine Replik, und Recht bleibt Recht. Kaum drei Minuten, und der Klaus stürzt wieder heraus, vergleichbar nicht einem Menschen, nicht einmal einem trunkenen Menschen, sondern einem rasenden Bullen. Die Wehmutter hinter ihm drein. Sie will ihm ein Pack entreißen, das er mit beiden Fäusten umklammert hält; sie ringt mit ihm; er macht sich los. »Das Kind, das Kind!« schreit die Wehmutter, »er wills ersäufen!« Der Wüterich rennt voran, der Kantor hinterdrein; ein paar Nachbarn, die just vom Heuen kommen, sind auch nicht faul. Keiner hält mit dem Riesen Schritt. Immer vorwärts, das Paket im Arm: nach der Wasserseite etwa? Gott bewahre! Die Schlucht hinan, am Schlosse vorbei, durch das Dorf, in die Pfarre und – »bums, da liegts!«

Lange bevor die Erzählung ihr Ende erreichte, hatte Frau Hanna das Neugeborene in ihre Kinderstube getragen, es auf ihr Bett gelegt und Licht gezündet. Es war ein wohlgebildeter Knabe, so kräftig, wie zehnte Kinder wohl nur selten geboren werden. »Die letzten Blutstropfen deiner Mutter sind dir zugute gekommen, mein armes Lamm,« flüsterte Frau Hanna mit einem weheleidigen Blick auf ihr eigenes Lämmchen; dann aber faltete sie die Hände zum Dank, daß diesem schwächlichen Wesen die pflegende Mutterhand erhalten worden sei, und was sie in der Stille des Herzens sich gelobte, das wird in der Geschichte eines Glücklichen zu erlesen sein. Ein sonniges Lächeln breitete sich über ihr gutes Gesicht; sie badete den Kleinen in ihres Töchterchens Wanne, kleidete ihn – nicht aus dem Inhalt des blaugewürfelten Bündels –, sondern aus ihres Töchterchens Garderobe, reichte ihm die erste Nahrung aus ihrer Brust und bettete dann den zehnten Sohn zu der siebenten Tochter unter dem Wiegenhimmel. Sie lagen nebeneinander wie ein Zwillingspärchen und schlummerten unbekümmert um Lebens Leid und Lust.

Währenddessen war der Pfarrer, die Hände auf dem Rücken, die Blicke am Boden, ohne einen Laut zu äußern, das geistliche Gemach auf und ab geschritten. Tief im Herzgrunde lag das Problem gelöst; aber welche schwere Gedankenrätsel hatte es aufgewirbelt! War es ein heimliches Ahnen und Mahnen gewesen, das ihn zur Zeit der Katastrophe im Hirtenhause so unwiderstehlich in die Betrachtung des Zehentopfers bannte? War es ein unbewußtes Regen des Vaterherzens gewesen, das den trunkenen Mann im Rasen der Verzweiflung zu einer rettenden Liebestat entflammte? Der Pfarrer hatte in seinem Sinnen nicht ein Wort vernommen von den philosophischen Bemerkungen über die menschliche Niedertracht im allgemeinen und die des Klausen Frey im besonderen, welche sein Adlatus dem Bericht über die Vorgänge im Hirtenhause angereiht hatte. Als die Pastorin sich unbemerkt der Tür wieder näherte, hörte sie den Philosophen sagen:

»Ich stehe noch immer starr und steif, Herr Pastor. Ist so ein Malefiz auf dieser Erdenwelt schon dagewesen! Seinen leiblichen Wurm splinterfasernackig, wie ihn Gott geschaffen hat, aus dem Hause zu tragen, – ins Wasser etwa? Nun freilich, es wäre eine Mordtat gewesen, aber in der Rage – nach Gelegenheit – sozusagen verzeihlich. Ja, prosit die Mahlzeit! Hinauf in die Pfarre schleppt er ihn, sozusagen in Abrahams Schoß schleppt er ihn! Herr Pastor, Herr Pastor! dieses menschliche Individuum ist hundert Prozent boshaftiger, aber tausend Prozent weniger dumm, als es das Aussehn hat. Mich soll nur wundern, wie der Kujon die Leiche unter die Erde schwindeln wird.«

Das Wort »Leiche« schlug an des Pfarrers Ohr wie der erste Hahnenschrei an das eines Träumenden. Gescheucht aus seinem metaphysischen Ideengange, gemahnt an seinen nüchternen Arbeitstag, richtete er den Kopf in die Höhe und sprach: »Beyfuß, ich halte der edlen Gertrud – ich meine der Hanne Frey – einen Sermon.«

Der Kantor prallte drei Schritte zurück. »Einen Sermon, Herr Pastor? Einen Taler vier gute Groschen, Herr Pastor! Und ich habe mir im stillen schon den Kopf zerbrochen, wie ich nur den halben Gulden für den Segen auftreiben will!«

»Beyfuß,« wiederholte der Pfarrer mit Nachdruck, »ich halte der Hanne Frey einen Sermon. War sie darum weniger unsere Schwester, weil sie ein Lumpenkleid trug? Und kann ein Weib mehr für die menschliche Familie tun, als wenn es ihrem Verbande zehn kräftige Glieder einreiht?«

»Liebliche Rangen!« murmelte der Kantor.

Aber sein geistlicher Oberherr ließ sich nicht dadurch beirren.

»Angenommen – die Statistik soll es leider lehren, und Sie sind ein Rechenmeister, Beyfuß, angenommen also, daß von vier Kindern des Volks im Durchschnitt eines leiblich oder sittlich Schaden leidet, daß demnach von den zehnen der Hanne Frey ungefähr zwei – –«

»Zwei und ein halbes, Herr Pastor!«

»Abzuzählen wären, so bleiben immer noch ihrer acht zum Segen der Welt. Und sind wir nicht Staatsbürger, Beyfuß? Kann ein Weib mehr für das Vaterland tun, als wenn es zehn, oder sagen wir nur acht kraftvollen Verteidigern das Leben gibt, ja das des jüngsten sogar mit ihrem eigenen Leben erkauft? Das Wochenbett ist das Schlachtfeld der Frauen! Zwei von ihren Söhnen tragen bereits des Königs Rock, die anderen werden ihn tragen – –«

»Jawohl, im Zuchthause, Herr Pastor, wie ihr sauberer Erzeuger, wenn er das Leben behält. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«