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Versailles, 1755: Die junge Véronique fällt auf in den ärmlichen Gassen, wo ihre Familie kaum über die Runden kommt, und bald dringt der Ruf ihrer Schönheit bis zum Schloss, wo Ludwig der XV. das Interesse an seiner Favoritin, Madame de Pompadour, verloren hat. Véronique wird seine Geliebte, doch das Arrangement nimmt ein jähes Ende, als sie ein Kind erwartet.
Jahre später wächst Marie-Louise bei einer Pflegemutter auf, die sie zur Hebamme ausbildet. Über ihre Mutter weiß sie nichts. Sie heiratet den jungen Anwalt Pierre, der an der Seite Dantons für den Sturz des Königs kämpft. Doch eines Tages wird Pierre in einem anonymen Schreiben vorgeworfen, seine Frau habe Verbindungen zum Königshaus – das könnte ihn nicht nur seine Karriere, sondern auch den Kopf kosten …
Der packende neue Roman der Bestsellerautorin erweckt Schicksale am Vorabend der Französischen Revolution an einem der prunkvollsten Schauplätze royaler Macht fulminant zum Leben – mitreißend und bewegend.
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Seitenzahl: 711
EVA STACHNIAK
Die letzte Tochter von Versailles
Roman
Aus dem Englischen von Peter Knecht
Insel Verlag
Dem Andenken meiner Mutter
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Paris
Erster Teil. Versailles
1755
1756
1757
Zweiter Teil. Versailles
1762
1763
1764
1765
1768
Dritter Teil. Paris
1768-1789
Vierter Teil. Paris
1792
Oktober
Dezember
1793
Januar
Februar
März
Jahr
II
der Republik
Vendémiaire
Brumaire
Jahr
III
der Republik
Ventôse
Anmerkung der Autorin
Danksagungen
Fußnoten
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
1793
Sie rennt dem holpernden Wagen hinterher, ihr Herz stolpert, rast, stolpert wieder.
Der Morgen ist frisch, der Himmel eierschalenblau. Die Straßen sind leer. Die Fensterläden der Häuser sind verschlossen, die Türen verriegelt. Hier und da quellen schwarze Rauchschwaden aus Kaminen. Verräter verbrennen ihre Sünden, hat sie gehört. Madame Guillotine ist nicht schnell genug.
Der Wagen, gezogen von einem einzigen Pferd, schwankt. Der Mann auf der Ladefläche, in dessen schwarzem Haar graue Strähnen sichtbar sind, hält sich an der Seite fest. Seine Augen folgen ihr, lassen sie nicht los, nicht einen Moment.
Am Quai d'Orsay, der glitschig ist vom nächtlichen Regen, sieht sie eine alte knochige Frau in einer Tür kauern. Auf dem Pont de la Concorde wühlt ein buckliger Bettler, einen prallen Sack über der Schulter, in einem Haufen Lumpen.
Auf der Place de la Révolution wird der Wagen langsamer. Um das Schafott hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Ein Kind greint und wird schnell zum Schweigen gebracht. Ein Hund bellt.
Sie sieht die Klinge glitzern und bleibt stehen.
Versailles
Meine Mutter hat mir nicht viel erzählt.
Ich müsse in den Dienst gehen, sagte sie. Es sei nicht das, was mein verstorbener Vater und sie sich einst für mich erhofft hätten, aber es müsse sein. Es könne immer noch gut werden, ich hätte es selbst in der Hand, wenn ich schnell lernte und wenn ich lernte, meiner Herrschaft angenehm zu sein. Jederzeit angenehm zu sein, nicht nur wenn ich gerade Lust hätte, eigensinnig, wie ich sei, und immer bereit, auf alle möglichen fremden Leute zu hören statt auf meine eigene Mutter.
Hätte ich erraten können, welchen Handel sie abgeschlossen hatte? Vielleicht, aber ich war noch ein Kind, auch wenn ich schon dreizehn Jahre alt war. Ich wusste nicht, wie man in dem Schweigen zwischen den Worten Gefahr erkennt. Ich kannte die Schrittfolge in dem Tanz der Opferung und des Verrats nicht.
Meine Mutter handelte mit gebrauchter Frauenkleidung. Alte, an den Säumen ausgefranste Taftkleider, der Stoff unter den Achseln vergammelt schweißig; einst prächtige, mit Silber und Gold bestickte Hofgewänder, jetzt schmucklos; zerrissene, schlammige Röcke von Selbstmörderinnen, die man aus dem Fluss gefischt hatte. Mir grauste, wenn sie die Sachen nach Hause brachte, um sie zu sortieren und zu flicken, Lumpen, durchtränkt vom Gestank ihrer Vorbesitzerinnen, schmutzig und voller Ungeziefer.
Wir wohnten damals in der Rue Saint-Honoré mitten in Paris, im fünften Stock eines Gebäudes mit Blick auf den Markt von Quinze-Vingts. In unserem alten Haus in der Rue des Jardins Saint-Paul hatte Papa seine eigene Druckerei gehabt, in der er Broschüren und Bücher druckte und verkaufte, und wir hatten das obere Stockwerk bewohnt. Jetzt lebten wir alle in einem gemieteten Raum zwischen gespannten Schnüren, an denen ich die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Wir schliefen auf Klappbetten: meine Brüder auf einem, Maman und ich auf einem anderen. Wir aßen an Papas klappriger Werkbank, die gleichzeitig als Nähtisch diente. Unsere Mahlzeiten kochten wir in der Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss mit einer qualmenden Feuerstelle und feuchten, schimmeligen Wänden, einem Ort ständiger Streitigkeiten um Brennholz und Platz und nicht selten auch unverfrorener Diebstähle. Noch am Tag unseres Einzugs lernte ich die Grundregel kennen: Lass den Topf nur einen Moment lang aus den Augen, und der Kochlöffel wird geklaut, oder das ganze Essen ist weg.
Marcel war damals elf, Eugène zehn, Gaston acht. Sie gingen nicht mehr zur Schule, sondern machten sich bei dem Zimmermann und dem Metzger nützlich, die im Hinterhaus ihre Betriebe hatten. Marcel behauptete, dass die Frau des Zimmermanns ihm erlaubte, ihre rosa Titten anzufassen, aber Eugène sagte, das sei gelogen. Gaston war ein treuer Gefolgsmann seiner älteren Brüder, zu denen er ehrfürchtig aufblickte. Sie kamen nur nach Hause, um zu essen und zu schlafen. Manchmal, wenn ich ihre Kleider zum Waschen zusammentrug, entdeckte ich in ihren Taschen Würfel, Steine oder tote Mäuse.
Wie sähe Adèle aus, wenn sie noch leben würde?
Kinder, so hörte ich Maman oft sagen, kommen zur Welt, bleiben am Leben oder sterben, wie Gott es will. Er hat meine Schwester zu sich genommen, und sein Ratschluss ist unerforschlich. Er kann einen Menschen abberufen, weil er ihn liebt oder weil er ihn für seine Sünden bestrafen will.
Wenn ich nachts neben Maman im Bett lag, dachte ich an Papa und Adèle und fragte mich, wo sie wohl sein mochten. Adèle stellte ich mir in Licht gehüllt vor, eine treue und geliebte Dienerin Gottes, freudig verzückt in himmlischer Glückseligkeit vor dem Thron des Herrn. Ich stellte mir dort auch Papa vor; nur manchmal, wenn ich mir bewusst machte, dass er kein Kind gewesen war und vielleicht gesündigt hatte, sah ich ihn im Fegefeuer, ruhelos wartend in einer ewigen Schlange von Seelen, die sich nach Erlösung sehnten.
An dem Tag, an dem mein Schicksal besiegelt wurde, war ich in der Küche, wärmte Bohneneintopf auf und rührte ihn ständig um, damit er nicht anbrannte, während ich zugleich meine Brüder im Auge behielt. Das Feuer qualmte so schlimm wie eh und je. Gaston lief im Kreis herum, schrie wie besessen, dann hielt er inne, um Luft zu schöpfen, und fing von neuem an, schrill und laut: »Hierher, Hündchen, bei Fuß! Sitz! Gib Pfötchen!«
»Ich bin ein Falke«, schrie Marcel und stürzte sich auf seinen kleinen Bruder.
»Schnapp ihn dir, schnapp ihn dir«, rief Eugène.
Ich befahl ihnen, Ruhe zu geben, und drohte ihnen mit dem Kochlöffel, als Madame Rambeaux' Kammerzofe, der man hinter vorgehaltener Hand nachsagte, dass sie ihr uneheliches Kind in der Seine ertränkt habe, hereinstürmte. Ich solle sofort nach oben zu Maman kommen, sagte sie, sofort.
Ich erwischte Marcel am Arm, als er an mir vorbeirannte, und er musste mir versprechen, Gaston nicht länger zu piesacken, dann wies ich Eugène an, auf den Topf aufzupassen, und eilte nach oben.
»Was sind das für Manieren, Véronique«, sagte Maman, als ich verschwitzt und außer Atem ins Zimmer trat. »Wie kannst du unseren geehrten Gast warten lassen!«
So sah ich ihn zum ersten Mal: einen großen, mageren Mann in einem purpurfarbenen Samtrock, einen Spazierstock in der Hand. Der Puder auf seinem Gesicht ließ seine Falten noch tiefer erscheinen, er sah aus wie eine Leiche. Der dumpfe Fäulnisgeruch, der ihn umwehte, kam von etwas, dessen Namen ich erst später erfahren sollte: Ambra.
»Ist sie diejenige, von der Sie gesprochen haben, Monsieur …?«
»Durand.« Der Mann führte Mamans Satz zu Ende.
Ich fand ihn hochmütig, weil er angewidert das Gesicht verzog, als meine Mutter ihn demütig bat, Platz zu nehmen, und dabei auf den einzigen Sessel deutete, der nach dem Umzug aus der Rue des Jardins noch übrig war. Ekelte es ihn vor dem Haufen alter Kleider, die daneben auf dem Boden lagen?
»Ist sie es?«, wiederholte Maman und machte mir Zeichen, näher zu treten. Streich deinen Rock glatt, Kind, befahlen ihre Augen. Steh gerade. Schnauf nicht so aufgeregt wie ein junger Hund.
Ich zerrte an dem graubraunen Stoff meines Kleids, nestelte an meinem Halstuch aus Chiffon. Es hatte braune Flecken, die sich nicht herauswaschen ließen, weswegen man es nicht mehr verkaufen konnte. Ich zwang mich, langsam zu atmen.
Monsieur Durand stampfte mit dem Spazierstock auf den Boden.
Ich hatte das undeutliche Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Es kam oft vor, dass Männer sich an mich heranmachten und mich mit albernen Reden neckten. Dass ich ihnen einen Pfeil mitten ins Herz geschossen hätte und dass sie sterben müssten, wenn ich ihnen nicht einen Kuss schenkte. Ich sei eine einzigartige Schönheit, sagten sie, ein wahres Schmuckstück.
»Eine Schönheit!«, spottete Maman, »eine Bohnenstange, nichts als spitzige Knochen. Dir kann man leicht den Kopf verdrehen, wirklich wahr.«
Die dicke Nanette, die in einem Zimmer neben dem unseren wohnte, meinte, Maman sei einfach nur neidisch. Ich sei zierlich und zart, mit feinen Gesichtszügen wie eine Puppe aus Porzellan. Meine Figur habe so sanfte Formen, dass sogar meine sackleinenen Kleider ihr nichts anhaben könnten. Meine Augenfarbe sei eine exquisite Mischung aus Grau- und Blautönen, meine Wimpern lang und dicht, meine Haut wunderbar schimmernd. Man müsse nur diese kastanienbraunen, leicht kupfern glänzenden Locken sehen, sagte die dicke Nanette, und wie seidig sie sich anfühlten. Sie hätte alles dafür gegeben, so auszusehen – früher, als es noch nicht egal war. Leider bleibt man nicht ewig jung.
Monsieur Durand schnaubte gereizt. Sein Blick ging über mich hinweg, als wäre ich nur einer der Gegenstände in diesem mit Sachen vollgestopften Zimmer.
»Ja, Madame Roux«, sagte er, »das ist sie.«
Mamans Stimme wurde härter. Ich sei eine gute, brave Tochter, ihr über alles geliebtes Kind. Ich hätte eine schnelle Auffassungsgabe und geschickte Hände, ich lernte schnell Dinge aller Art. Eine Perle nannte sie mich, eine Zierde jedes Haushalts.
Monsieur Durand unterbrach Mamans Redefluss: »Ich habe genügend Verstand, um mir selbst ein Urteil bilden zu können.« Er wandte sich an mich. »Kannst du ein Zimmer sauber und ordentlich halten?«
Ich nickte.
»Kannst du vielleicht auch sprechen, oder bist du stumm?«
»Ich kann ein Zimmer sauber halten«, sagte ich.
»Kannst du lesen und schreiben?«
»Ja. Papa hat es mir beigebracht.«
»So gut, dass du auch vorlesen kannst?«
»Ja.«
»Hast du eine gute Handschrift?«
»Ja.«
»Übertrieben bescheiden bist du nicht, oder?«
Er befahl mir, ein paar Schritte hin und her zu gehen, obwohl das mit meiner Schulbildung nichts zu tun hatte. Ich gehorchte, muss aber ziemlich ungeschickt gewirkt haben, denn ich vergaß, auf die lose Bodendiele zu achten, über die ich immer stolperte.
»Ich habe genug gesehen, Madame Roux«, sagte er.
»Lass uns allein, Véronique«, sagte Maman.
Ich war froh, dass ich es hinter mir hatte. Ich dachte, Monsieur Durand habe kein Gefallen an mir gefunden und ich würde ihn niemals wiedersehen.
Unten in der Küche saßen Eugène, Marcel und Gaston eng nebeneinander auf dem Boden. Ich beugte mich vor und sah, dass sie mit Stöckchen in einem Stück von einer Honigwabe stocherten und den Honig ableckten.
Sie hatten die Wabe nicht gestohlen, sagte Eugène. Jemand, der nicht genannt werden wollte, habe sie ihnen geschenkt.
Klebrige Finger und Münder, mit Honig beschmierte Hemden und Hosen, die gewaschen und gebügelt werden mussten. Ach, warum musste ich die Älteste sein? Und das einzige Mädchen?
Maman sagte nichts, als wir mit dem Bohneneintopf wieder in unser Zimmer kamen. Wenn nicht immer noch der Geruch von Monsieur Durands Parfüm in der Luft gehangen hätte, hätte ich mir einbilden können, er wäre gar nicht hier gewesen. Aber als wir uns zum Essen hinsetzten, beklagte sie sich nicht darüber, dass die Bohnen ein bisschen angebrannt waren, und sie genehmigte allen eine zweitePortion. Sie rügte mich nicht dafür, dass ich andauernd an meinen Haaren zupfte, sie befahl Eugène nicht, endlich still zu sein, und als es dunkel wurde, zündete sie zwei Kerzen an, nicht eine.
Nachdem meine Brüder in ihr Bett gestiegen waren, nachdem das übliche Schubsen und Treten aufgehört hatte, nachdem ich ihre Kleider aufgehoben und zusammengelegt und ihren Nachttopf ausgeleert hatte, machte Maman mir ein Zeichen, mich an den Tisch ihr gegenüber zu setzen, und räusperte sich.
Monsieur Durand, sagte sie, wolle mich in den Dienst nehmen. Sie sah mich finster an.
»Um in seinem Haus zu arbeiten?« Ich starrte auf meine Hände, die von der Nähnadel zerstochenen Finger, die roten vom Wäschewaschen zerschundenen Knöchel. An einer Stelle war eine verschorfte Wunde, wo ich mich an der heißen Bratpfanne verbrannt hatte. Du bist immer noch ein schönes, süßes Kind, hatte die dicke Nanette oft genug geseufzt. Was für ein Jammer.
»Und was wäre daran so schrecklich?«, fauchte Maman.
Mir ging alles durch den Kopf, was die dicke Nanette mir über ihr Leben als Dienstmagd in ihrer Jugend erzählt hatte. Von dem Dachboden, auf dem sie zusammen mit anderen Dienstmädchen schlief, kalt im Winter, stickig heiß im Sommer. Nicht einmal ein Bett hatte sie gehabt, sondern einen stacheligen Strohsack voller Flöhe. Andauernd einer Bande Kinder, die noch widerspenstiger als meine Brüder waren, hinterherputzen. Eine Herrin, die ihre Sachen durchwühlte, um sicherzugehen, dass sie nichts gestohlen hatte. Eine andere, die sie eine Schlampe nannte und ihr nicht den kleinsten Vorschuss auf ihren Lohn gab
Mamans Augen verengten sich, sie ballte die Fäuste.
Welche anderen großartigen Aussichten ich hätte, fragte sie. Wer klopfte noch an unsere Tür und bot ihr an, mich ihr abzunehmen? Was war falsch daran, in einem großen Haus in Dienst zu treten? Manieren zu lernen? Auch meine Mitgift zu verdienen, damit ich jemanden mit Zukunft heiraten konnte? Oder war ich zufällig auf eine andere glänzende Gelegenheit gestoßen?
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.
»Antworte mir, Véronique!«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine andere Perspektive.
»Dann ist es höchste Zeit, dass du dir deinen Unterhalt verdienst«, sagte Maman.
Ich hoffte, sie würde mir mehr über dieses Haus erzählen, in dem ich leben und arbeiten sollte, aber was folgte, war Mamans vertrautes Klagelied. Das Los einer Frau … ein Jammertal … ein bitterer Kelch … Als sie noch jung und hübsch war, hatten ihre Eltern sie angefleht, Lucien Roux nicht zu heiraten. Aber sie wollte nicht hören, starrköpfig, wie sie war, sie ließ sich von leeren Versprechungen blenden. Sie meinte damit Papas Druckerei, die nie florierte. Sie meinte Papas Schulden, die sie noch immer bezahlte. Sie meinte den Stapel unverkäuflicher Bücher, die unter dem Bett verstaubten.
»Enttäusch mich nicht«, sagte sie. »Ich will nicht erleben, dass sie dich mit Schande zu mir zurückschicken. Ich habe schon genug Mäuler zu stopfen.«
Manche Berechnungen sind einfach. Söhne gelten mehr als Töchter. Drei Kinder gelten mehr als eins.
Tief in meinem Herzen war ich bereits zu dem Schluss gekommen, dass nichts schlimmer sein konnte als das Leben, das ich jetzt hatte. Dass meine Mutter mir meine Brüder immer vorziehen würde.
Dass der falsche Elternteil gestorben war.
***
Dominique-Guillaume Lebel, premier valet de chambre du rois, herrscht über das Reich der intimsten Freuden des Königs.
»Wie schwer kann das sein?«, fragen die Neider. Louis der Vielgeliebte braucht Mätressen? Davon gibt es jede Menge. Hofdamen schleichen sich in seine Privatgemächer, betrunken beim bloßen Gedanken an seinen Wein-Atem. Eltern schubsen ihre heranwachsenden Töchter in seinen Weg. Was sonst muss man tun, als den Verkehr regeln und die Belohnungen einstecken? »Ha«, würde Lebel sagen, »wenn es nur so einfach wäre!« Kennen diejenigen, die nach seinem Posten streben, genau jene Spur Vulgarität unter einer dicken Schicht von feinstem Lack, die den König von Frankreich und Navarra anspricht? Die perfekte Kombination von Unschuld und Frechheit? Eine Aura von Unwissenheit, gepfeffert mit einem subtilen Aroma der Gosse? Wissen sie, dass Selbstaufopferung das Herz des Souveräns stärker entflammt als alle ausgefallenen Bettspielchen? Oder dass jede Andeutung, jedes Wort, das ihn an die Königin, an eine seiner Töchter oder an Madame de Pompadour erinnert, die Glut des Königs im Nu abtötet?
Lebel kennt seinen König so, wie er ist, und nicht so, wie er zu sein scheint. Oder sein sollte. Oder gar – in seltenen Momenten der Unsicherheit und Zerknirschung – sein möchte. Lebel weiß auch, wie sehr sein Herr – eingesperrt in einem Labyrinth aus immergleichen Tagen, gefesselt von der Etikette, gejagt von den Erwartungen anderer – nach Abwechslung hungert. Wenn die königlichen Mätressen – adlige oder bürgerliche – ständig wechseln, kann der König unverändert bleiben. Er kann immerfort die gleichen Anekdoten erzählen, die gleichen Geschenke überreichen, die so viel billiger sind, wenn man sie dutzendweise bestellt. Außerdem gibt es, wie der Duc de Richelieu dem König gerne mit einem wissenden Augenzwinkern ins Gedächtnis ruft, nichts Besseres als Neuheit, um »das gewünschte Ergebnis« zu erzielen.
Ja, Dominique-Guillaume Lebel weiß, wie man seinen Herrn entzückt und besänftigt, was man sagt und was man für sich behält. Schließlich ist er ein Sohn und Enkel von Dienern in Versailles, die höfische Lebensart liegt ihm im Blut. Er spürt Langeweile oder Gereiztheit, lange bevor sie sich an der Oberfläche zeigt, Widerwillen, bevor er in den dunkelblauen königlichen Augen sichtbar wird. Er weiß, welche Grenzen er nicht überschreiten darf, wen er bei Laune halten muss und wen er ignorieren kann. Falls Louis einmal Lust hat, als unsichtbarer Zuschauer seinen eigenen Hof zu beobachten, zeigt ihm Lebel einen Geheimgang, einen mit Einwegspiegeln ausgestatteten Raum, eine Treppe, die bis auf das Dach des Schlosses führt. Aus diesem Grund, so würde er seinen Rivalen sagen, kann niemand seinen Platz einnehmen, besonders jetzt nach der jüngsten Verschiebung, die im Reich der königlichen Lust stattgefunden hat.
Nein, hier ist nicht von jenem tiefgreifenden Wandel die Rede, den der Hof seit dem Tag vor fünf Jahren, als Madame de Pompadour auf ihren Platz im königlichen Bett verzichtete, immer noch so töricht erwartet. Keine adelige Schönheit, die seither in diesem Bett liegen durfte, hat es geschafft, Madame von ihrem Platz an der Seite des Königs zu verdrängen. Auch keinem der »kleinen Vögelchen«, die prächtig aufgetakelt und von ihren bürgerlichen Müttern eskortiert durch die Korridore des Schlosses strömen, ist das gelungen. Nicht einmal dem irischen Flittchen O'Murphy, das sich nur deshalb für unersetzlich hielt, weil der König immer wieder nach ihr schickte, selbst nachdem sie einen Bastard zur Welt gebracht hatte.
Die Verschiebung der königlichen Lust ist von anderer Art. Der König von Frankreich, der höfischen Intrigen müde, hat die Unschuld zu schätzen gelernt. Er verabscheut List und Arglist. Geschminkte Wangen, protzige Roben und aufreizende Reden sind ihm zuwider. Die »kleinen Vögelchen«, die Louis jetzt in seinem Bett haben möchte, müssen unverdorben sein, und das meint, so wie er den Begriff verwendet: sie müssen gefallen wollen, aber sie dürfen noch nicht wissen, was genau erforderlich ist, um einem Mann zu gefallen.
Einem Mann zu gefallen, nicht dem König, das ist von entscheidender Bedeutung, denn Louis will um seiner selbst und nicht um seiner Krone willen begehrt werden.
Da passende Mädchen nicht einfach bei Bedarf herbeigezaubert werden können, muss Lebel lange im Voraus planen. Deshalb sind seine Kundschafter immer auf der Suche nach geeigneten Kandidatinnen. »Unreif und unverdorben, mit dieser Aura von Unschuld, die der König jetzt bevorzugt«, fordert er. »Aus einer Familie mit wenig Perspektiven, bereit, eine Chance zu nutzen, wenn sie sich bietet, aber nicht auf der Suche danach.« Die hübsche Tochter eines kleinen Kaufmanns oder eines Handwerksmeisters, dessen Geschäfte schlecht gehen, schlägt er vor.
Wenn seine Späher ein solches Mädchen ausfindig machen, fasst Lebel es genauer ins Auge, und wenn es seine Musterung besteht, macht er seinen ersten Zug.
Als Monsieur Durand, treuer Diener eines adeligen Herrn, tritt er an die Eltern des Mädchens heran. Er spricht ganz unverblümt mit ihnen. Ihre Tochter hat die Aufmerksamkeit seines Herrn erregt, sagt er, und hat so vielleicht die Chance, etwas aus sich zu machen. Vielleicht, betont er mit ernster Stimme, denn sein Herr ist ein Mann mit Geschmack und Urteilsvermögen, dem Schönheit allein, so eindrucksvoll sie auch sein mag, nicht genügt. Sein Herr verlangt tadellose Manieren, und er will unterhalten werden. Das Mädchen muss etwa tanzen oder ein Musikinstrument spielen können, was natürlich eine Ausbildung erfordert, für die er aufkommen wird. Er benutzt Wörter wie musisch, Raffinement, Ésprit.
Auch diese Art zu sprechen, signalisiert er, ist eine erwünschte Fähigkeit.
Wenn sie Näheres über seinen Herrn erfahren wollen, sagt Lebel, es handle sich um einen polnischen Grafen, einen entfernten Verwandten der Königin, der sich häufig in Versailles aufhalte und dort angenehme Gesellschaft haben wolle. Er nennt ihn Seine Hoheit Casimir Boski – auf den Namen ist er verfallen, weil ein Diener der Königin ihm einmal erklärt hat, dass boski auf Polnisch »göttlich« bedeutet. Ein Mann von Ehre, sagt er, der bereit ist, die Zukunft des Mädchens zu sichern, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Zum Beweis für die guten Absichten seines Herrn bietet Lebel an, alle offenen Schulden der Familie zu begleichen, für den täglichen Unterhalt zu sorgen, eine Investition in das Familienunternehmen zu tätigen. Das Mädchen selbst soll reichlich Kleider bekommen, feine Wäsche und kostbaren Schmuck, und das alles wird sie behalten dürfen. Er deutet an, dass für eine anständige Mitgift gesorgt werden wird, damit sie sich gut verheiraten kann. Seine Versprechungen sind genau bemessen, sodass sie verlockend sind, aber nicht zu groß, denn er kennt die Gefahr überhöhter Erwartungen, die durch Gier geschürt werden.
Wenn die Eltern das Angebot annehmen, ermahnt Lebel sie eindringlich, mit niemandem über die Sache zu sprechen. Kein Wort zu den Nachbarn, warnt er, oder zu dem Mädchen selbst. Sagen Sie ihr, dass sie eine Stelle als Dienstmädchen antreten wird. Sagen Sie ihr, dass sie die Chance hat, Zofe einer vornehmen Dame zu werden, wenn sie immer zuvorkommend und anstellig ist. Sagen Sie ihr, dass ich absoluten Gehorsam verlange. Sagen Sie ihr, dass sie unverzüglich ihr Elternhaus verlassen muss. Sagen Sie ihr, dass sie sonst nichts zu wissen braucht.
Und wenn die Eltern sein Angebot ausschlagen? Oder wenn sie sich nicht entscheiden können oder feilschen oder zu viele Fragen stellen?
Die Welt ist voll von hübschen »kleinen Vögelchen« ohne Geld und mit wenig Aussichten. Dominique-Guillaume Lebel geht dann einfach weiter zum nächsten Mädchen auf seiner Liste:
Véronique Roux, dreizehn Jahre alt. Eine Rosenknospe, unsäglich tollpatschig, ohne jeden Stil, aber von einem bezaubernd trägen Reiz und noch völlig unverdorben.
Für einen passionierten Jäger, denkt Lebel, hat der König von Frankreich erstaunlich wenig Sinn für die Freuden der Pirsch. Er wünscht sich, dass sein Wild aus dem Dickicht direkt vor seine Flinte getrieben wird, sodass er nur noch abzudrücken braucht.
Véronique Roux, tollpatschig, träge und vollkommen unverdorben, ist wahrscheinlich genau richtig für ihn.
***
Mein Leben war so eintönig, dachte ich damals, so hart. Beim ersten Tageslicht aufstehen, Frühstück machen, die Böden schrubben, bis meine Hände bluteten, den Schmutzwassereimer hinuntertragen und ausleeren. Im Stand sitzen, wenn Maman fortging, um Altkleider zum Verkauf zu besorgen, die ich später flicken, bürsten und vorzeigbar machen musste.
Maman verkaufte ihre Kleidung ganz am Rand des Markts in einer aus rohen Brettern zusammengezimmerten Bude. Sie ließ sie absichtlich schlecht beleuchtet, damit Flecken weniger auffielen und die Farben besser wirkten. Um zögernde Passanten in Versuchung zu führen, nahm sie Gewänder von den Haken, die eigentlich bloß in die Bretter geschlagene Nägel waren, und schnalzte mit der Zunge. Wenn sie die Kleider hochhob und schwenkte, damit sie etwas von ihrem verlorenen Glanz wiedererlangten, hauchte sie ihnen ein neues Leben ein, passend zu den exotischen Geschichten, die sie dazu erzählte. Die Duchesse Soundso hat dieses Stück ausgemustert, weil angeblich Seegrün – stellen Sie sich das vor – nicht mehr à la mode war. Die Marquise Soundso wurde von zu viel Kuchen mit Schlagrahm zu dick für dieses Kleid. »Er gehörte unserer guten Königin höchstselbst«, hörte ich Maman einmal flüstern, und dabei wies sie auf einen Unterrock, von dem der ganze Spitzenbesatzmit grober Hand nachlässig abgerissen worden war. »Fassen Sie ihn an!«, drängte sie eine Interessentin. »Fühlen Sie die Qualität! Fein wie ein Schmetterlingsflügel.«
Natürlich war das alles gelogen, aber es gab noch Schlimmeres. Die Witwe Goutier in der Bude neben uns handelte mit Schlachtfeld-Schnäppchen; bei ihr konnte man von Bajonetten aufgeschlitzte Uniformröcke kaufen, mit Blut und Exkrementen befleckte Reithosen, kaputte Taschenuhren oder, für ausgewählte Kunden, frisch gezogene menschliche Zähne.
An dem Tag vor meinem Dienstantritt zeigte Maman auf den Kleiderstapel auf dem Boden, als ob nichts anderes wichtig wäre. »Die müssen geflickt werden, Véronique«, sagte sie. »Bring sie zum Stand, wenn du fertig bist.«
Ich sah, wie sie ihre Haare hochsteckte, ihr Fichu zurechtstrich, auf ihre Lippen biss, um sie voller aussehen zu lassen. Das Trauerjahr war drei Monate zuvor zu Ende gegangen, aber sie trug immer noch Witwentracht. »Es ist gut fürs Geschäft«, sagte sie, aber ich glaube, es gefiel ihr, dass das Schwarz ihren Teint heller wirken ließ. Ich fand sie alt, verbraucht und verbittert. Sie presst die Lippen zusammen, damit man ihre fauligen Zähne nicht sieht, dachte ich. Als ob sie irgendjemanden damit täuschen könnte.
Ich sah zu, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss. Ich hörte Maman die Treppe hinuntergehen.
Meine Brüder waren bereits weg, nachdem sie ihr Frühstück verschlungen und mir das Geschirr zum Abwaschen dagelassen hatten. Adèle hätte mir geholfen, ohne dass ich sie darum hätte bitten müssen. Ich erinnerte mich, wie ich neben meiner Schwester am Bettrand gesessen hatte, wie wir mit den Zehen gewackelt und vergnügt gekichert hatten. Wir hatten ein Blatt Papier so gefaltet, dass man es wie einen Vogelschnabel mit Fingern und Daumen öffnen konnte, und zwar entweder senkrecht oder waagrecht. In die eine Öffnung schrieben wir »Himmel«, in die andere »Hölle«. So konnte man wahrsagen, welches Schicksal einen erwartete: Verdammnis oder ewige Glückseligkeit. »Du bist zuerst dran«, sagte ich, und Adèle zeigte mit dem Finger die Richtung, in die ich den Papierschnabel öffnen sollte. Als sie das Wort »Himmel« im Inneren sah, lächelte sie. »Dann kann ich jetzt sterben«, sagte sie, und für einen Moment sah sie aus wie eine Statue von sich selbst, eine Figur aus durchscheinend weißem Marmor. »Sag das nicht«, warnte ich sie, aber es war zu spät.
Ich nahm einen der Röcke aus dem Haufen. Er war an der Taille zerfetzt und stark verdreckt, und jemand hatte aus dem Stoff alle Silber- und Goldfäden herausgerissen, die man an Goldschmiede verkaufen konnte.
Maman hatte mir verboten, mit jemandem darüber zu sprechen, dass ich fortging. Als ob in dem Haus, in dem wir wohnten, je etwas über längere Zeit verborgen bleiben könnte. Jeder wusste, dass der Zimmermann eifersüchtig war und seine Frau, die ein Verhältnis mit dem Metzger hatte, mit einem Lederriemen verdrosch. Oder dass Madame Rambeaux' Dienstmädchen – dessen Nase, wie die dicke Nanette fand, aussah wie eine Dachsschnauze – jedes Mal weinte, wenn sie Neuigkeiten von zu Hause erhielt. Oder dass Monsieur Deveaux, unser Hauswirt, die Mieten im neuen Jahr erhöhen würde. Ich konnte mir vorstellen, dass bereits überall geflüstert wurde: Sie geht doch in den Dienst … die dicke Nanette kann sagen, was sie will … Bettler können nicht wählerisch sein.
Der zerrissene Rock fiel auf den Boden. Einen Augenblick später war ich zur Tür hinaus, auf der Straße und eilte zum Ufer der Seine, wo das Wasser undurchsichtig trüb und brackig dahinfloss. Dort angekommen, hielt ich nicht an, sondern ging weiter in Richtung Rue des Jardins, ein paar Straßen vom Pont Marie entfernt.
***
Die Wohnung im Schloss von Versailles, in der Dominique Lebel seine Aktionen dokumentiert, seine Papiere verwahrt und seine zahlreichen Helfershelfer empfängt, liegt direkt über der des Königs. Lebel hat sie nicht nur elegant, sondern auch komfortabel eingerichtet. Die Mahagonitische sind klein genug, dass man sie bei Bedarf leicht umstellen kann. Die Stühle haben geschwungene Rückenlehnen und gepolsterte Armlehnen. Der Schreibtisch in Lebels Arbeitszimmer hat einen Aufsatz mit Schubladen, in denen er seine wichtigsten Aufzeichnungen aufbewahrt. Die mit Leder gepolsterte Rückenlehne seines fauteuil de cabinet ist hoch genug, um seinen Kopf vor der von ihm verabscheuten Zugluft zu schützen.
In diesem Zimmer kümmert sich Lebel um eine vielversprechende Neuerung im Reich der königlichen Lust, ein Haus, das er vor kurzem im Auftrag des Königs gekauft hat. Es befindet sich in der Stadt Versailles, an der Kreuzung der Rue Saint-Médéric mit der Rue des Tournelles. Das Haus, das nach dem alten königlichen Jagdrevier, in dem es sich befindet, Hirschpark genannt wird, liegt bequem in der Nähe des Schlosses – nur fünfzehn Minuten zu Fuß –, aber weit genug entfernt, um nicht die Aufmerksamkeit neugieriger Höflinge auf sich zu ziehen.
Im Erdgeschoss des Hauses gibt es vier Räume, sechs kleinere im darüber liegenden Stockwerk und zwei niedrige im Dachgeschoss, die für die Unterbringung der Bediensteten mehr als ausreichend sind. Es gibt auch ein Kutschenhaus, in dem der Nachtwächter schläft, und einen geräumigen gepflasterten Hof, alles gut hinter einer Steinmauer versteckt, die hoch genug ist, um vor indiskreten Blicken zu schützen. Kurz gesagt: eine perfekte Unterkunft für »kleine Vögelchen«, die darauf warten, dass der König sie zu sich ruft.
Diese Erwerbung hat monatelangen Ärgernissen, die sich aus höchst unbefriedigenden Verhältnissen ergaben, ein Ende gesetzt. Jetzt hat Lebel einen festen Platz, an dem er die »Vögelchen« so lange unterbringen kann, bis er sie braucht, einen Ort, an dem Ordnung herrscht und die erforderliche Geheimhaltung gewährleistet werden kann. Seine eigene Wohnung in Versailles wird nicht länger als »Vogelkäfig« bezeichnet werden, und seine persönlichen Diener werden nicht mehr den Bestechungsversuchen abenteuerlustiger Höflinge ausgesetzt sein, die es wagen wollen, im Revier des Königs zu wildern.
Lebel hat das Haus selbst eingerichtet. Die meisten Möbel hat er dem ehemaligen Besitzer zu einem günstigen Preis abgekauft, was allerdings, wie ihm seine Spitzel berichten, Madame la Marquise de Pompadour sehr missfallen hat. Sie nannte seine Entscheidung übereilt, aber die Wahrheit ist, dass sie, die sich gern ihrer Fähigkeiten als Dekorateurin rühmt, es vorgezogen hätte, das Haus selbst einzurichten. Dies allen ihren Erklärungen zum Trotz, dass sie und der König dem Urteil Lebels vertrauten: »Einhellig«, hat sie gesagt, »ohne Vorbehalte, voll und ganz.« Lebel wird sich etwas einfallen lassen müssen, wie er sie wieder gnädig stimmen kann. Vielleicht eine seltene Blume für ihren Garten? Oder – o ja, das ist eine viel bessere Idee – soll er ihr von einem rührenden Moment berichten, der von der hohen Wertschätzung des Königs für ihre kostbare Freundschaft zeugt? Das wäre ein Geschenk, das ihr noch niemand gemacht hat.
Bei der Auswahl des Personals ist Lebel niemandem auf die Füße getreten. Als Hausdame amtiert Madame Bertrand, eine ehemalige Äbtissin, die dankbar dafür ist, Anklagen wegen Veruntreuung und einiger anderer lässlicher Sünden entkommen zu sein. Die fünfzig Jahre alte Dame schätzt ihr weiches Bett, die Köstlichkeiten von der königlichen Tafel, die täglich aus dem Schloss geliefert werden, und den anständigen Weinkeller, den Lebel immer wieder auffüllen lässt. Das alles sollte nach vernünftigem Ermessen genügen, ihre Loyalität und Diskretion zu sichern. Und wenn es doch fehlschlägt, wird der Koch des Hirschparks dafür sorgen, dass Monsieur Lebel es als Erster erfährt.
Abgesehen von diesen beiden hat Lebel eine Gouvernante eingestellt, die auf die beiden Mädchen aufpassen soll, die sich derzeit im Haus befinden – es waren drei, aber eine wurde vor kurzem nach Hause zurückgeschickt –, und für das sorgen soll, was er ihre »Schulbildung« nennt. Zwei Zimmermädchen halten das Haus Hirschpark in gutem Zustand. Der Nachtwächter und zwei kräftige Lakaien stehen bereit, jeden Versuch Unbefugter, in das Anwesen einzudringen, zu vereiteln. Und für den Fall, dass sie versagen, hat das Regiment der Französischen Garde in der Avenue de Paris den Befehl, beim geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten einzugreifen.
Seine Majestät mag sich ihre Diener als bloße Automaten vorstellen, Hände und Beine, die von einem schlauen inneren Mechanismus angetrieben werden, den er nicht ergründen will, aber Dominique Lebel, der sowohl Diener als auch Herr ist, weiß, dass Diener, wie alle Menschen, von ihren eigenen Interessen beherrscht werden.
Im Bewusstsein der Tatsache, dass die Küche mit den Resten vom Tisch des Königs gut versorgt ist und dass die Marquise de Pompadour ihre abgelegten Kleider in den Hirschpark schickt, wo sie für die Mädchen geändert werden, prüft Lebel die Ausgaben für den Hirschpark genau und erhebt Einspruch, wenn sie ihm überhöht erscheinen. So hat ein phantasievoller Bericht über viele lange Lese- und Stickabende, für die angeblich hundert Kerzen benötigt wurden, ihm bereits Anlass zu Zweifeln gegeben. Er verlangte auch zu wissen, warum die Schneiderin im Hirschpark vierzig Livres erhalten hat, da doch Gaspard, sein eigener Kammerdiener, ihm versichert, dass man leicht für die Hälfte dieses Betrags jemanden finden könne.
Jetzt unterstreicht Lebel in seinem Arbeitszimmer einen weiteren Posten im Rechnungsbuch: Fünfundzwanzig Livres für die Wäscherin. Unplausibel, schreibt er daneben. Quittung verlangen. Regelmäßige Kontrolle ist seiner Meinung nach das beste Mittel, die Bediensteten zu Ehrlichkeit und Fleiß anzuhalten.
Im Korridor gedämpftes Raunen. Besuch? Jetzt?
Gaspard, der aufpassen sollte, dass niemand Lebel stört, steckt den Kopf zur Tür herein und hebt in einer Geste der Entschuldigung die Hände. Es ist Madame Bertrand, sagt er, sie bittet dringend, in einer wichtigen Angelegenheit empfangen zu werden.
Lebel seufzt, nickt aber. Die Verhältnisse im Haus Hirschpark sind noch ungefestigt, alles ist noch neu und unerprobt, weswegen strenge Wachsamkeit gefordert ist. Bei der Gelegenheit kann er auch gleich die Sache mit der Wäscherin zur Sprache bringen.
»Darf ich Sie um Rat bitten, Monsieur Lebel?«, fragt die Hausdame.
Lebel blickt von dem Rechnungsbuch auf und stellt fest, dass sie zwei Finger auf ihre Lippen gelegt hat. Ist sie im Begriff, eine weltbewegende Nachricht zu verkünden, oder sucht sie nur, das schwarze Muttermal an ihrem Kinn zu verdecken?
»Geht es um die Gouvernante?«, fragt er und winkt ihr, sich zu setzen, was sie tut, aber sie bewegt sich steif, weil ihr Korsett zu fest geschnürt ist.
»Warum … ja, tatsächlich«, sagt Madame Bertrand. Ihr Blick huscht über die auf seinem Schreibtisch aufgeschlagenen Seiten. Lebel macht sich nicht die Mühe, sie zu verdecken. Ohne ihre Brille wird sie nicht lesen können, was er geschrieben hat, aber sie wird wissen, dass er die Ausgaben unter die Lupe nimmt.
»Was ist mit ihr?«, fragt er.
Mademoiselle Dupin, die Gouvernante, die dafür zuständig ist, den Mädchen feine Manieren beizubringen und sie zu beschäftigen, ist ziemlich aufgeregt nach dem letzten Besuch der Marquise de Pompadour, die, wie Madame Bertrand es ausdrückt, »ein Riesentheater veranstaltet hat«.
»Wir müssen die Mädchen nicht nur élèves nennen, sondern Mademoiselle muss sie auch darauf vorbereiten, ihre Lernerfolge vorzuführen. Als ob wir hier eine Schule leiten würden!«
Madame Bertrand schildert, wie die Marquise zu einer unangekündigten Visite erschien, maskiert und mit Handschuhen, dass sie im hinteren Teil des Salons Platz nahm und verlangte, dass der Unterricht so durchgeführt würde, als wäre sie nicht da. Allen gegenteiligen Versicherungen von Madame Bertrand zum Trotz hat Mademoiselle Dupin den Eindruck gewonnen, dass die Marquise sie für inkompetent hält. Und sie wurde in dieser Überzeugung noch bestärkt, als die Marquise, bevor sie ging, ihre Hofdame den Mädchen die folgenden Lehren ans Herz legen ließ: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Treue ist die höchste aller Tugenden. Bescheidenheit ziert eine Frau mehr als die kostbarsten Edelsteine.
Madame Bertrand verzieht das Gesicht, während sie ihre Empörung zum Ausdruck bringt. Lebel schließt die Augen. Erst jetzt hat er bemerkt, dass sie schmerzen, zweifellos sind sie gerötet. Seine Schwester sagt immer, dass das viele Lesen das Augenlicht verdirbt, und das stimmt leider.
Die ganze Fülle ihres Zorns hat Madame Bertrand sich für »diese widerliche du Hausset«, die Kammerfrau der Marquise, aufgehoben, »diese graue Stute« mit ihren schlichten Kleidern und langen Zähnen. Sie ist nicht nur aufgeblasen, sondern auch eine unerträgliche Schnüfflerin. Drückt sich in der Küche herum, horcht die Bediensteten aus. Sogar die Dienstmädchen beschweren sich darüber, dass sie ihnen ständig auf den Fersen ist, dass sie verlangt, dieses oder jenes Zimmer zu sehen, oder fragt, warum in der Küche immer noch Umzugskisten herumstehen.
Diese unverschämte Bespitzelung ist beunruhigend, aber nicht überraschend. Die Marquise de Pompadour behält ihre Rivalinnen immer im Auge, ganz gleich, wie unbedeutend sie erscheinen mögen. Sie weiß, dass die Welt nicht von denen regiert wird, die Vertrauen haben, sondern von denen, die Ärger voraussehen, lange bevor er entsteht. Lebel bewundert diese Wachsamkeit. Am Anfang, als sie im Schloss einzog, mag es zwischen den beiden einige Spannungen gegeben haben, aber mittlerweile ist er fest auf ihrer Seite. Das Letzte, was dieser Hof braucht, ist eine neue, unerfahrene königliche Mätresse, die entschlossen ist, sich einen Namen zu machen.
Madame Bertrand ist ganz in Anspruch genommen von ihrer Geschichte, und Lebel lässt sie reden, obwohl er dringende Dinge zu tun hat. Der Gedanke an die Gouvernante lässt ihn nicht los und bereitet ihm ein gewisses Vergnügen. Ihre ganze leichtfüßige Art, ihre boshaften Geistesblitze, die jedem Höfling in Versailles Ehre machen würden. »Madame la Marquise glaubt an sich selbst, so wie sie an Gott glaubt, ohne Erklärung oder Diskussion.« »Was machen Sie, wenn Sie das Bedürfnis nach Gesellschaft haben, Monsieur Lebel?«, hat sie ihn einmal mit einem bezaubernden Lächeln und einem Fächerflimmern gefragt. »Leider nicht das, was ich mir sehnlichst wünsche«, antwortete er, denn er weiß aus Erfahrung, wie gefährlich es ist, Arbeit und Vergnügen miteinander zu vermischen. »Ach, wie schade«, sagte sie und biss sich auf die Lippe.
»Wo wir gerade von Dienstmädchen sprechen«, fährt Madame Bertrand fort. »Ich finde, dass zwei nicht genug sind. Was ist, wenn jetzt noch diese Neue, Pardon, diese neue élève, die Sie erwähnt haben, dazukommt? Dann gibt es noch mehr Arbeit.«
»Beklagen sich die Dienstmädchen?«, fragt Lebel. Das Personal von Haus Hirschpark wird weit über dem üblichen Tarif bezahlt. Die Dienstmädchen bekommen achtzig Livres im Jahr, zwanzig mehr als überall sonst.
»Nein, aber ich tue es.«
Madame Bertrand beugt sich nach vorne, als ob sie ein unschätzbar kostbares Geheimnis preisgeben würde. Eines der Dienstmädchen, Marianne, erzählt sie ihm, wird vielleicht nicht mehr lange im Hirschpark bleiben. Das Mädchen ist anspruchslos, bittet nie um einen Vorschuss und spart zweifellos für ihre Mitgift. Sie hat auch schon einen Bräutigam, einen Mann, der früher Kutscher bei der Marquise war und vor kurzem in Aix ein Geschäft eröffnet hat, in dem er Posamenten verkauft. Kurz gesagt, die Hausdame will ein Mädchen für alles einstellen, sehen, ob es sich bewährt, und es einarbeiten, sodass es an Mariannes Stelle treten kann, wenn diese den Dienst quittiert.
Lebel lehnt sich in seinem Ledersessel zurück, dankbar für die angenehm geschwungene Lehne. Was die Hausdame sagt, klingt nicht unvernünftig. »Haben Sie schon jemanden ins Auge gefasst?«, fragt er. Er ist ziemlich sicher, dass es so ist. Wahrscheinlich hat sie Schmiergeld von der Bewerberin kassiert, vielleicht hat sie es sogar schon wieder ausgegeben.
»Ja. Die Tochter einer guten Bekannten. Einer Freundin.«
Einer Freundin aus der Zeit, bevor sie ins Kloster ging, wie sich herausstellt. Das Mädchen stammt aus einem Ort ein paar Meilen südlich von Versailles, aus Buc, wo sie böse Erfahrungen mit dem Sohn eines Schmieds gemacht hat.
»Wie heißt sie?«
»Elisabeth Lebœuf.«
Lebel runzelt die Stirn. Ein übertrieben feiner Name für ein Dienstmädchen. »Lisette, das genügt«, sagt er. »Vierzig Livres im Jahr, halb so viel, wie Marianne bekommt. Wenn sich zeigt, dass sie genauso tüchtig ist, wird man weitersehen.«
Madame Bertrand atmet erleichtert auf und überlässt ihn seiner Arbeit. Als sie die Tür hinter sich schließt, fällt ihm ein, dass er sie ja nach der Wäscherin fragen wollte. Nun, dann eben beim nächsten Mal. Er schiebt das Rechnungsbuch zur Seite und wendet sich den Auszügen aus alten Polizeiakten zu, die ihm Berryer, der Generalleutnant der Polizei, geschickt hat. Sie sind jetzt weitaus wichtiger. Bei jeder Verhandlung ist die Vorbereitung die halbe Miete.
Lucien Pierre Roux, ein Drucker, groß, mit einem markanten Gesicht und rotbraunem Haar. Eine sehr ehrliche Physiognomie, doch das täuscht, wie sich herausgestellt hat. Er hat ein Haus in der Rue des Jardins Saint-Paul, ein paar Straßen vom Pont Marie entfernt, gemietet, gibt aber vor, es zu besitzen.
Er kam mit neunzehn Jahren aus Bordeaux nach Paris, nachdem er von seinem Onkel eine Druckerei geerbt hatte. Noch während seiner Zeit in Bordeaux schrieb er einige hübsche Versstücke, die ihm sogar ein flüchtiges Lob von Voltaire einbrachten. Hier in Paris hätte er es zu etwas bringen und sich einen Namen machen können,wenn er nicht törichterweise ein unbedeutendes Mädchen geheiratet hätte, das weder von Stand war noch Vermögen hatte und das ihm bald ein Kind nach dem anderen aufhalste.
Kinder: zwei Mädchen, Véronique und Adèle, beide nach ihrer Mutter geraten und ungewöhnlich hübsch, gefolgt von drei Jungen: Marcel, Eugène und Gaston.
Es ließ sich nicht genau feststellen, wann Lucien Roux sich dem Druck illegaler politischer Kampfschriften und dem Schmuggel verbotener Bücher zuwandte, aber zu der Zeit, als sein Lehrling die Behörden auf sein Treiben aufmerksam machte, stammte der größte Teil seiner Gewinne aus diesen kriminellen Geschäften.
Nachdem Lucien Roux mit unwiderlegbaren Beweisen für seine Verbrechen konfrontiert wurde, hat er sich bereit erklärt, mir regelmäßig Berichte über seine Geschäftspartner zu liefern. Er hat auch versprochen, die Quelle jener bösartigen Verse über Seine Majestät und Madame de Pompadour aufzudecken, die derzeit in Umlauf sind.
Der Rest des Berichts enthält Namen und Adressen von Geschäftspartnern und Quellen und die Mitteilung, dass Lucien Roux um Geduld bitte, da er mit sinkenden Umsätzen zu kämpfen habe. Ein Geselle hat gekündigt. Ein Lehrling hat eine Lohnerhöhung verlangt, die ihm verweigert wurde, und droht mit Rache.
Ein paar Seiten später der Eintrag:
Lucien Roux starb in seinem Haus und hinterließ nur Schulden. Seine Witwe hat alles verkauft, was zu verkaufen war, und sich auf den Handel mit gebrauchten Kleidern verlegt. Seine jüngere Tochter, die schönere der beiden, wie man mir versichert hat, erlag zwei Monate später derselben Lungenkrankheit wie er.
Dem Bericht sind einige Seiten aus den Almanachen beigefügt, die Lucien Roux zuletzt druckte, um etwas Geld zu verdienen. Sie enthalten Daten von Sonnen- und Mondfinsternissen, Bauernregeln, die das Wetter vorhersagen, und dergleichen. Auch diese Sprichwörter:
Die Katze mit Handschuhen fängt keine Mäuse.
Der sitzende Vogel ist leicht zu erlegen.
Wenn die Leidenschaft endet, beginnt die Reue.
Eine Königskrone hilft nicht gegen Kopfschmerzen.
Ich glaube nicht, dass Sie diese Weisheiten besonders nützlich finden werden, hat Berryer an den Rand gekritzelt, aber Sie müssen zugeben, dass sie unter den gegebenen Umständen recht amüsant sind.
***
Es war noch früh am Tag und kühl. Ich lief am Fluss entlang, dessen Ufer mit weggeworfenen Knochen, Fischköpfen, verfaulten Früchten, Muschelschalen und Scherben übersät war. Einige barfüßige Kinder ließen Steine auf der Wasseroberfläche hüpfen. Ein kleines Mädchen mit schmutzigem Gesicht schöpfte eine Handvoll Schlamm aus dem Fluss, spuckte darauf und knetete ihn, als ob er Teig wäre. Ich ging an Flussschiffern vorbei, die ihre Kähne entluden. Sie pfiffen mir nach und bettelten um einen Kuss, bis die Frauen, die in der Nähe Wäsche wuschen, ihnen sagten, sie sollten es lassen. Eine erkundigte sich nach meiner Mutter und versprach, vorbeizukommen, um die neuesten Kleider anzuschauen, die sie im Angebot hatte. Eine andere beschwerte sich darüber, dass Eugène unhöflich zu ihr gewesen war, dieser freche kleine Scheißer. »Sag deiner Mutter, sie soll besser auf ihn aufpassen«, sagte sie. »Bringt dem Jungen etwas Respekt bei.«
Ich beschleunigte meine Schritte, um von ihnen wegzukommen. Im Weitergehen dachte ich an Papas Werkstatt, wo Henri, der Lehrling, von dem Maman immer sagte, er stehle Papier, an der Presse gestanden und den Hebel gezogen hat, den man Teufelsschwanz nannte.
Ich erinnerte mich daran, dass Papa nach Holzrauch roch, dass seine Finger Tintenflecken hatten, dass er, über seine Geschäftsbücher gebeugt, zu uns sagte, die Almanache verkauften sich gut. Wie er mich auf den Kopf küsste, wenn ich ihm sein Mittagessen brachte, während La Grise, unsere Katze, die Mäuse jagen und nicht um Futter betteln sollte, sich an meinem Bein rieb, schnurrte und hoffnungsvoll zu mir aufsah.
Ich dachte an Papa, der Adèle und mir Lesen und Schreiben beibrachte, »wie es sich gehört für Druckertöchter«, und der nie sagte, wir sollten still sein, er bekomme Kopfweh von unserem ständigen Geplapper. Papa, der Marcel dazu anhielt, sich im Rechnen zu üben, und Eugène zeigte, wie man mit einem Ballen Druckerschwärze schön gleichmäßig auf der Druckform verteilt, während Gaston staunend zusah. Papa, der uns aus Büchern vorlas, in denen Nashörner, Elefanten und Kamele beschrieben wurden, und versprach, eines Tages mit uns in eine Menagerie zu gehen, damit wir diese wundersamen Geschöpfe mit eigenen Augen sehen könnten.
»Papa«, murmelte ich, hielt die Luft an und stellte mir vor, wie mein ganzer Schmerz in den Boden blutete.
***
Lebel schläft im königlichen Schlafgemach auf einem Klappbett dicht neben dem Bett des Herrschers, um das Handgelenk das Ende einer Seidenschnur gebunden, sodass er es spürt und sogleich seinem Herrn zur Verfügung steht, wenn dieser auch nur ganz leicht daran zupft. Gleichgültig, ob der König nach ihm verlangt oder nicht, steht Lebel beim ersten Tageslicht auf, zieht seinen seegrünen Samtrock an, schlüpft in seine roten Schuhe mit den funkelnden Diamantschnallen und wartet.
Sobald der König von Frankreich erwacht, erscheint Lebel an seiner Seite mit einem Glas Rotwein und einem parfümierten Taschentuch, dazu bestimmt, die königlichen Lippen abzutupfen.
»Wieder ein düsterer Tag, Lebel. Ist es nicht so?«
»Am besten verjagt man die Melancholie, Majestät, noch bevor sie sich auf uns legt«, sagt Lebel, während sein königlicher Herr das Glas zum Schnuppern an die Nase hält. Der Wein riecht viel besser als das bittere Nerventonikum des Arztes und wirkt genauso gut.
Ein königlicher Schluck, dann noch einer, gefolgt von einem tiefen Seufzer.
Der Körper Seiner Majestät birgt keine Geheimnisse vor Lebel. Der Klang und die Farbe seiner Pisse oder die Spermaflecken auf dem Laken sind ihm ebenso vertraut wie die königlichen Stimmungsschwankungen. Lebel weiß, dass der König von Frankreich sich fühlt wie ein in einem Käfig Gefangener, den jeder anstarren kann. Der ständig ersucht wird, alle möglichen Gnaden und Gefälligkeiten zu erweisen, und nie tun darf, was ihm selbst gefällt. Den man ins Gesicht hinein lobpreist für alles, was er tut, und hinter seinem Rücken verurteilt.
»Wie viel Zeit habe ich noch?« Louis meint die Zeit bis zum Grand Lever, dem allmorgendlichen zeremoniellen Aufstehen des Königs in Anwesenheit von Höflingen. »Wie ein dressierter Affe«, hat Lebel ihn einmal zu Madame la Marquise sagen hören. »Eher wie ein kaum gezähmter Löwe«, erwiderte sie, »der König der Tiere.«
»Eine Dreiviertelstunde, Majestät«, sagt Lebel, nimmt das leere Glas und stellt es auf einen Beistelltisch. Der König sitzt bereits aufrecht in seinem Prunkbett, bereit für seinen Morgenmantel und seinen Nachttopf, beide vorgewärmt.
Der Duc de Richelieu bemerkte einmal, Lebels Augen seien hellwach wie die einer Schlange. Das sei nicht so geistreich wie andere goldene Worte von Richelieu, meinte Madame la Marquise mit Recht, aber das Bild blieb hängen. »Sie zischen, Lebel«, sagt der König oft, »Sie gleiten lautlos über den Boden.«
Sie kennen sich schon sehr lange, der König und Richelieu. Meistens sind sie Freunde, aber manchmal auch Feinde. »Zu alt, um nicht für die Liebe zu bezahlen«, so lautete das jüngste Urteil des Hofs über den Duc, als er seine mit Juwelen geschmückte neue Mätresse vorführte, ein knapp fünfzehn Jahre altes Mädchen. Das, denkt Lebel, wäre jetzt genau das Richtige. Es würde seinem Herrn ein Lächeln auf die Lippen zaubern und ihn vom Grand Lever ablenken.
Das tut es.
»O ja, keiner ist so sehr Narr wie ein alter Narr, Lebel.«
»Wie wahr, Majestät.«
Ein Schwarm von nichtsnutzigen Höflingen versammelt sich bereits draußen im Vorzimmer. Sie stinken nach Parfüm, zanken sich andauernd und wachen eifersüchtig über ihr Recht, dem König sein Hemd, seine Strümpfe oder seinen Rock auszuhändigen. Wie immer folgt Lebel seinem Herrn in das kleine Kabinett vor dem Schlafzimmer, wo er ihn wie jeden Morgen rasiert, nur damit später irgendein adeliger Schwachkopf ihm noch eine zweite, nun rein zeremonielle Rasur verabreichen und ihm dabei seinen fauligen Mundgeruch ins Gesicht atmen kann.
»Keine Bewegung, Eure Majestät, bitte.« All die Jahre kein einziger Kratzer. Eine weitere Quelle des Stolzes. Er wischt das seifige Gesicht mit einem warmen, mit Rosenwasser getränkten Tuch ab. Es folgt etwas Mandelmilch, dann Eau de Toilette.
Wie knapp bemessen diese Momente des Alleinseins sind, wie kostbar. Es ist Lebels Aufgabe, sie dem König zu erhalten.
»Der König ist der schönste Mann Frankreichs, Majestät.«
»Wer sagt das?«
»Madame la Marquise.«
»Ah.«
»Und die Duchesse de Guise, die darum gebeten hat, zu Eurer Majestät vorgelassen zu werden.«
Der Spiegel zeigt ein lächelndes Gesicht, ein straffes Kinn, dunkelblaue Augen. Saphirblau, sagen manche; die Farbe des Königs. Mit seinen fünfundvierzig Jahren ist Louis noch immer schlank und beweglich, seine Haltung ausgezeichnet. Er ist überzeugt, dass Reiten die inneren Organe rege hält, die Leber stimuliert, Spannkraft schenkt. Auf der Jagd kann er leicht einen halb so alten Mann überholen, woran Lebel ihn regelmäßig erinnert.
»Schon wieder?«
»Das war genau mein Gedanke, Majestät. Die Duchesse ist hartnäckig.«
»Auch wenn sie zurückgewiesen wird?«
»Dann erst recht. Sie ist leider nicht die Einzige, die sich so verhält. Die Illusion, so sagt man, ist die Herrscherin des menschlichen Herzens.«
»Das ist ziemlich gut ausgedrückt, Lebel.«
»Ich danke Ihnen, Majestät.«
Ein letzter Spritzer Parfüm und etwas eau vitale auf die Handflächen der königlichen Hände, das die Lebenskraft stimuliert. »Es ist fast so weit, Majestät.«
Es ist Zeit, den Morgenmantel abzulegen, wieder ins Prunkbett zu steigen für den ersten Akt des Grand Lever, der wie immer damit beginnt, dass die Hofärzte den königlichen Puls fühlen und im Inhalt des königlichen Nachttopfes herumstochern.
Ein paar schwere Schritte, die Matratze gibt nach, die Bettvorhänge werden zugezogen, das lastende Gefühl des Unvermeidlichen. Es ist Zeit, sich vorzubeugen und zu flüstern: »Erlauben Sie mir, Majestät, Ihnen zu sagen, warum Frauen niemals gute Soldaten abgeben würden.«
Der König erteilt die Erlaubnis, Lebel räuspert sich.
»Weil jede von ihnen unter einem Oberst dienen wollen würde.«
Was für eine Genugtuung, zu wissen, wie man die Stimmung seines Herrn hebt. Welch ein Stolz.
***
Als ich mich dem Pont Marie näherte, wurde das Flussufer weniger schlammig und sumpfig. Kurz vor der Brücke kletterte ich die Böschung hinauf und ging in Richtung der Rue des Jardins. Es war Markttag, und Händler versuchten, die Aufmerksamkeit der Passanten auf Brotlaibe, Zwiebeln und aufgestapeltes Brennholz zu lenken. Ein Kaffeesieder,dessen große Kanne auf einer Lage Ziegelsteine stand, verteilte Blechbecher im Kreis um sie herum. Ein Frau hinter einem Korb voller Äpfel versuchte, mich aufzuhalten, aber ich schämte mich, dass ich kein Geld hatte, und darum eilte ich schnell weiter. »Glaub ja nicht, dass du woanders bessere Äpfel findest, du Flittchen«, rief sie mir nach.
Durch die Straße, in der wir früher gewohnt hatten, hallte oft das wütende Bellen des räudigen Hundes, der einem Töpfer gehörte. Maman beschwerte sich darüber, über die schlechte Luft, die vom Fluss her kam, und über neugierige Nachbarn. Jeder in diesem elenden Teil von Paris, sagte sie, stecke seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute. Jedes Mal, wenn Papa davon redete, dass wir bald in eine bessere Gegend ziehen würden, fauchte Maman: »Deine leeren Versprechungen kannst du dir sparen.«
Ich beschleunigte meine Schritte, bog um die Ecke, und da war es, unser altes Haus mit seinem Schieferdach. Es wirkte noch schmaler, als ich es in Erinnerung hatte. Vor den Fenstern im oberen Stockwerk, die unser Hausmädchen immer mit alten Lappen putzte, hingen noch dieselben dicken violetten Vorhänge wie früher, aber die Haustür war nicht mehr dunkelblau, sondern in einem hässlichen Braunton gestrichen. Ob wohl noch die Kerbe an der Stelle zu sehen war, wo Eugène sein Taschenmesser ausprobiert hatte?
Mein Blick verweilte auf der Eingangstreppe, auf der Adèle und ich immer gesessen und mit La Grise gespielt hatten und wo wir an jenem schrecklichen Morgen ihren zerfetzten Körper fanden, in einen Papierrock gekleidet, als wäre sie eine Puppe. Ich erinnerte mich daran, wie wir weinten und wie Papa sagte, dass manche Menschen schlimmer seien als Wölfe.
Die Druckerei gab es immer noch, aber in dem Fenster, in dem Papa einst seine Almanache ausgestellt hatte, prangten nun elegante in Leder gebundene Bücher mit Goldprägung. Ich konnte dem Drang nicht widerstehen, durch das Glas zu schauen. In dem Raum Regale mit Stapeln frischen Papiers. Zwei Gesellen hantierten an Arbeitstischen mit Winkelhaken und Druckerballen. Papas alte Druckerpresse stand jetzt in einer Ecke, geradezu winzig im Vergleich mit der großen gusseisernen Presse, die daneben aufragte. Ein Lehrling mit einem runden Gesicht zog am Teufelsschwanz.
Beim Anblick der frischgedruckten Bogen, die an Schnüren zum Trocknen hingen, der an der Wand entlang aufgereihten Stapel von zu Heften gefalzten Bogen blinzelte ich heftig, unfähig, das Bild von Papa abzuwehren, wie er auf seinem Krankenbett lag und Blut hustete. Eine Haarsträhne, rotbraun wie meine, klebte an seiner Stirn. Wie klein er unterder Bettdecke aussah, wie flach, wie mit dem Bettzeug verschmolzen. »Wer hat mir diesen schweren Stein auf die Brust gelegt«, fragte er, vom Fieber geschüttelt, sein Atem rau und rasselnd. »War es Henri?«
Als er gestorben war, wurde er in seinem Sarg in der Druckerwerkstatt aufgebahrt. Die Kerzen waren aus Talg, nicht aus Wachs. Er trug Kleidung aus Papier, das so eingefärbt war, dass es, wenn man nicht so genau hinschaute, wie Stoff aussah, und das wenig kostete. »Die Last des Lebens ist ihm von den Schultern genommen worden«, murmelten die Besucher und bekreuzigten sich. »Es ist Gottes Wille.« Eines nach dem anderen küssten wir Kinder die gefalteten Hände des Toten, um die ein Rosenkranz gewickelt war. Ich hauchte meinen Kuss flüchtig hin, denn ich wollte von Papa nicht die kalten Finger in Erinnerung behalten. Als ich den kleinen Gaston hochhob, kicherte er entzückt. Adèle sagte, er müsse gesehen haben, wie Papas Seele über uns schwebte.
Ich stand lange vor dem Haus, als ob ich, wenn ich nur beharrlich genug dort aushielte, irgendwann in die Zeit zurückversetzt würde, da Papa noch bei uns war und La Grise sich zu ihrem Mittagsschlaf im Schaufenster zusammenrollte.
Ich dachte, niemand beachtete mich. Das war ein Irrtum.
Die Tür des Hauses öffnete sich, und eine ältere, schon etwas bucklige Frau in einem dunkelblauen Kleid, wie Kaufmannsfrauen es oft tragen, kam heraus. Sie sah mich misstrauisch an. »Geh, verschwinde«, rief sie, »sonst rufe ich die Polizei.«
Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich umzudrehen und nach Hause zu gehen.
***
Es ist nach sieben Uhr, ein Oktobermorgen, der durch den Spalt zwischen den Vorhängen dämmert, als Lebels königlicher Herr in das Prunkschlafzimmer zurückkehrt, heftig schnaubend, um seinen Unmut zu signalisieren.
Er muss Lebel nicht sagen, was für eine Katastrophe das Zusammensein mit der Duchesse de Guise gewesen ist, aber der Kammerdiener wird es sich gleichwohl anhören müssen. Wie sie beim Kartenspiel ihr Bein an dem ihres Königs gerieben und ihm zugeflüstert hat, wie sie sich danach sehnte, von ihm berührt zu werden! Eine, die mit genau berechneten Andeutungen arbeitet – als ob der König von Frankreich zu seinem Vergnügen hingeleitet werden müsste! Und sie hatte einen braunen Fleck auf einem Schneidezahn, und ihr Atem roch säuerlich.
»Wie konnten Sie das nicht wissen, Lebel!«
Königlicher Zorn wallt auf aus den königlichen Lenden und durchdringt die Körperteile, von denen Louis immer wieder gerne spricht: Darm, Magen, Speiseröhre, Kehlkopf, Rachen. Alles schön zu studieren in seinem geliebten Buch mit anatomischen Zeichnungen. Sie zeigen die Wahrheit unter der Haut, wie der König es ausdrückt, die sonst von Haut und Muskeln verborgenen Schichten des Körpers. Wenn der König von Frankreich ein anderes Leben für sich hätte wählen können, wäre er Arzt oder Chirurg geworden. Er hätte gelernt, wie man die Harmonie des Körpers wiederherstellen kann, wenn eine Krankheit sie aus dem Gleichgewicht bringt.
»Ich werde mich um die Duchesse kümmern, Majestät«, sagt Lebel.
Er wird sie mit einem angemessen kleinen Geschenk auf ihren Landsitz schicken. Einer mit dem königlichen Porträt verzierten Schnupftabakdose, die in den Jahren, die vor ihr liegen, Gegenstand wehmütiger Schwärmereien sein kann, wenn die Herzogin darüber nachsinnt, wie viel sie verloren hat.
»Kein Wort mehr über sie, Lebel.«
Der Ärger löst sich auf, wenn auch langsam, wie Salz im Wasser. Man muss nur den Becher lange und kräftig umrühren. Durch die strudelnde Bewegung der Flüssigkeit werden die Kristalle immer kleiner.
»Nun denn, Majestät«, sagt Lebel, reicht seinem Herrn ein Glas mit Rotwein und berichtet kurz die neuesten Nachrichten. Aus den Zimmern der königlichen Erzieherin wurden Silberbesteck, vierundfünfzig Teller und drei Dutzend Gedecke gestohlen. Ein Dienstmädchen hat einen maskierten Mann in der Nähe gesehen, den sie, weil er sehr gut gekleidet war, für einen Nachtschwärmer hielt, aber etwas Genaueres weiß man nicht. Die Dauphine wird immer schwerer, es ist damit zu rechnen, dass sie jeden Moment niederkommen kann. Die Königin hat mit dem Fasten begonnen, um sich auf den Allerseelentag vorzubereiten, an dem sie besonders der toten Prinzessin Henriette – möge sie in Frieden ruhen – gedenken will. Kein Fleisch, kein Wein und – vielleicht das größte ihrer Opfer – keine Austern.
Dann weniger Ernstes: Ein Wildhüter hat gemeldet, dass ein Zehnender gesehen worden ist, und die Marquise de Pompadour erinnert an die Theateraufführung, die heute stattfinden wird. »Es wird ein entzückender Abend werden – mehr darf ich nicht verraten, um die Überraschung nicht zu verderben, Majestät.«
Madame la Marquise hat Seiner Majestät auch eine vertrauliche Nachricht geschickt. Sie ist versiegelt.
»Nicht jetzt, Lebel. Wie viel Zeit habe ich noch?«
»Eine gute Stunde, Majestät. Genug Zeit, noch etwas zu ruhen. Ich habe das Bett vorgewärmt. Die Oktobernächte können recht kühl werden.«
Im Bett streckt der König die Beine lang aus, um zu prüfen, wie weit die Wirkung der Bettflasche reicht. Zufrieden mit dem Ergebnis, dreht er sich auf die Seite, klopft das Kissen zurecht, wie es ihm bequem ist, und schließt die Augen.
Als Lebel zurückkehrt, um seinem Herrn ins Ohr zu flüstern, dass es Zeit für das Grand Lever ist, schrickt der König zusammen. Er hatte einen bösen Traum, wie er erzählt. Er kämpfte gegen ein Netz aus faulenden Wurzeln, die sich an seine Füße klammerten, sodass er keinen Schritt vorankam. Ein Pferd wieherte in Todesangst. Schemenhafte Gestalten schlichen hinter ihm umher. Im grellen Licht eines Blitzes wurde ein Baum sichtbar. »Wir marschieren nach Versailles!«, schrie jemand. »Wir stecken das Schloss in Brand!«
Ein passender Moment für eine Nachricht, die den König aufmuntert? Vorfreude ist die beste Freude.
»Ein neues Mädchen wird bald ins Haus Hirschpark kommen, Majestät.«
Auf dem Hof quietschen Wagenräder. Ein Hund heult. Ein anderer antwortet.
»Hat sie einen Namen, Lebel?«
»Véronique.«
»Hübsch?«
»Außerordentlich. Eine Rosenknospe, so wurde sie genannt.«
»Noch eine Rosenknospe, Lebel? Können Sie sich nicht mehr anstrengen? Gibt es keine anderen Blumen auf Gottes weiter Erde? Wie wäre es mit Pfingstrose?«
»Außerordentlich hilfreich, Majestät.«
»Oder Kirschblüte.«
»Ja, Majestät.«
Keine weiteren königlichen Vorschläge? Vielleicht ist jetzt der rechte Zeitpunkt für das Billett von Madame de Pompadour?
Mein teuerster Freund, mich quält der Gedanke, dass ich keinen Überblick mehr habe, wo Sie sich an jedem Tag der Woche aufhalten. Bitte machen Sie mir eine Liste der Orte, an denen Sie schlafen. Ich möchte in Gedanken immer bei Ihnen sein.
Das Lächeln ist wieder auf den Lippen des Königs, was Madame la Marquise freuen wird, wenn sie davon hört.
Erst als der König zu seiner Ratssitzung geht, kann Lebel sich um eine eher gewöhnliche, gleichwohl aber dringende Angelegenheit kümmern.
Die beiden Lakaien im Hirschpark, Michel und Saint-Jean, kommen beide aus der Dauphiné, wo der Hunger des Winters junge Männer in den Dienst treibt. Sie sind robust und kräftig, abgehärtet durch lange Wanderungen in den Bergen, ihre Sinne durch ihre Tätigkeit als Schafhirten geschärft. Kein Eindringling – und es gab in der Vergangenheit einige – wird mit diesen beiden so leicht fertig werden. Sie sind auch schnelle Sänftenträger, wenn Lebel eines der Mädchen ins Schloss schaffen lassen muss.
Jetzt stehen sie vor ihm in seiner Wohnung in Versailles, die Augen weit aufgerissen, um ihr Unbehagen zu verbergen.
»Man hat euch in der Taverne dabei beobachtet, wie ihr Bauern beim Kartenspiel ausgenommen habt«, sagt er. »Werdet ihr nicht gut genug bezahlt?«
»Wir haben nichts Böses getan«, sagt Michel.
»Nur ein harmloses Kartenspiel«, bekräftigt Saint-Jean.
Lebel führt detaillierte Aufzeichnungen über jeden, der jemals unter ihm gedient hat. Vor einem Monat hat Saint-Jeans Verlobte den Sohn eines Nachbarn geheiratet – der Diener hat mit sichtlicher Erleichterung auf die Nachricht davon reagiert. Michel hegt einen Groll gegen einen Landsmann, der seine Mutter eine geizige Alte geschimpft hat. Beide vermissen die Alpenluft und die Berge, aber warum sie das tun, ist Lebel ein Rätsel.
»Niedrige Einsätze, Herr, nur um es interessanter zu machen.«
»Sie löchern uns ständig, wir sollen ihnen ein paar Tricks zeigen.«
»Und hinterher beschweren sie sich.«
»Da ist nichts dabei, Herr … ein bisschen Unterhaltung.«
Es gibt keine Gaunerei, die Lebel nicht schon einmal gesehen hat. Lakaien lernen Kartentricks von anderen Lakaien, in den Stunden, in denen sie nichts zu tun haben, als auf ihre Herren zu warten. Wie man als Geber beim Mischen und Abheben die Karten so arrangiert, wie man es haben will. Das gehört einfach dazu.
Er klappt seine Mappe auf und liest vor: Die Diener des Grafen Boski … wurden im Wirtshaus Zur Goldenen Gans beobachtet … wie sie Karten aus dem Ärmel zogen … immer sich selbst die besten Karten gaben … Sie drohten dem Wirt, er solle sich gefälligst um seinen eigenen Scheiß kümmern, sonst …