Die Schwester des Tänzers - Eva Stachniak - E-Book
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Eva Stachniak

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Beschreibung

In der Familie Nijinsky dreht sich alles nur um eines: ums Ballett. Als Bronislawa und Waslaw um 1900 in St. Petersburg aufwachsen, bewundern sie allabendlich ihre Eltern in der Garderobe, nervös vor den Auftritten, erhitzt und gelöst danach. Auch für die beiden Kinder ist der Weg vorgezeichnet: Sie werden an der kaiserlichen Ballettakademie aufgenommen – und schon bald zeigt sich, dass besonders Waslaw alle anderen überflügelt. Den Geschwistern steht eine ganze Welt offen – Paris, London, später gar New York –, eine Welt harten Trainings und geschundener Füße, aber auch des Glamours und des Ruhms …

Hunderttausende Leser schwelgten in Eva Stachniaks Romanen über Katharina die Große – nun bereitet sie abermals einer großen russischen Heldin die Bühne: Bronislawa Nijinska, Schwester des legendären Waslaw Nijinsky und selbst gefeierter Star des Ballets Russes. Ein Roman über zwei ungleiche Geschwister, über den unbedingten Willen zum Erfolg – und über die Liebe zum Tanz, die alles andere überstrahlt.

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»NUR BEIM TANZEN WAR ICH FREI.«

In der Familie Nijinsky dreht sich alles nur um eines: ums Ballett. Als Bronislawa und Waslaw um 1900 in St. Petersburg aufwachsen, bewundern sie allabendlich ihre Eltern in der Garderobe, nervös vor den Auftritten, erhitzt und gelöst danach. Auch für die beiden Kinder ist der Weg vorgezeichnet: Sie werden an der kaiserlichen Ballettakademie aufgenommen – und schon bald zeigt sich, dass besonders Waslaw alle anderen überflügelt. Den Geschwistern steht eine ganze Welt offen – Paris, London, später gar New York –, eine Welt harten Trainings und geschundener Füße, aber auch des Glamours und des Ruhms …

 Hunderttausende Leser schwelgten in Eva Stachniaks Romanen über Katharina die Große – nun bereitet sie abermals einer großen russischen Heldin die Bühne: Bronislawa Nijinska, Schwester des legendären Waslaw Nijinsky und selbst gefeierter Star der Ballets Russes.

 Ein Roman über zwei ungleiche Geschwister, über den unbedingten Willen zum Erfolg – und über die Liebe zum Tanz, die alles andere überstrahlt.

Eva Stachniak, geboren in Breslau, lebt in Toronto. Sie hat für Radio Canada International gearbeitet und als Dozentin für Englisch und Geisteswissenschaften am Sheridan College gelehrt. Ihre Romane Der Winterpalast und Die Zarin der Nacht waren internationale Bestseller.

www.evastachniak.com

EVA STACHNIAK

DIE SCHWESTER DESTÄNZERS

Roman

Die Originalausgabe erschien 2017unter dem Titel The Chosen Maiden bei Doubleday, New York.

Der Verlag dankt dem ›Canada Council for the Arts‹ für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts which last year invested $ 153 million to bring the arts to canadians throughout the country.

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4478

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016© 2016 Eva Stachniak

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Malgorzata Maj/Arcangel Images; Fotolia

Für Hugh und Brady

Kunst und Tanz sagen die Zukunft voraus.

EINS

9. Oktober 1939

Kabine 11, Koje 3, SS American Trader.

Meine letzte Adresse?

Denn dieses Schiff kann leicht mein Sarg werden, wenn es irgendwo zwischen Europa und Amerika sinkt wie letzten Monat die SS Athenia auf ihrem Weg nach Montreal. Jetzt sind wir auch so ein kleines Pünktchen auf den grauen Wassern des Atlantiks. In New York – wenn wir es dahin schaffen – werden uns Wolkenkratzer begrüßen, die an Riesenechsen erinnern, schuppig und schön. Und ein neues Leben erwartet uns dort, aber vielleicht ist es gar nicht so sehr neu. In Momenten der Gefahr geloben wir alles Mögliche, fallen aber schon bald wieder in alte Gewohnheiten zurück.

Mein Vertrag in London wurde an dem Tag gekündigt, als Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Da die Theater in London geschlossen wurden und unsere britischen Visa befristet waren, ließ ich mich als Choreografin für die Australientour von Wassili de Basils Balletttruppe engagieren. Aber ob wir wirklich nach Australien fahren, steht in den Sternen. Wir machen Pläne, hat Mamusia immer gesagt, und Gott lacht.

Wenn die Befragung, der ich mich in der Amerikanischen Botschaft in London unterziehen musste, um ein Visum zu erhalten, Schlüsse darauf zulässt, womit ich bei der Einreise in die USA zu rechnen habe, muss ich mich auf kritische Fragen nach einigen Widersprüchen gefasst machen, die ihre Ursachen in der Geschichte haben. Mein russischer Pass aus zaristischer Zeit weist mich aus als , Bronislawa Fominitschna Nischinskaja, geboren 1890 in Minsk. Mein polnischer Pass dagegen behauptet, ich sei die polnische Staatsbürgerin Bronisława Niżyńska, geboren 1891 in Warschau. Mein Nansen-Pass vertritt die Ansicht, ich sei staatenlos. Einig sind sie alle drei darin, dass meine Gesichtsform länglich, meine Haut hell und mein Haar blond ist, in der Frage, ob meine Augen grün oder blau seien, gehen die Meinungen allerdings schon wieder auseinander.

Meine Geschichte, so werde ich zu meiner Verteidigung sagen, ist nicht ganz unkompliziert.

Mein Schlaf ist immer noch unruhig und flach. Die Phasen, in denen ich in eine Art tröstlichen Nebel eintauche, sind zu kurz, um mir wirklichen Frieden zu schenken. Ich wache am ganzen Körper zitternd auf, ausgehöhlt von Trauer, und warte darauf, dass es hell wird. Sobald der erste Sonnenstrahl über dem Rand des Ozeans auftaucht, stehe ich auf, lege einen Schal über meine Schultern und schleiche mich geräuschlos aus unserer stickigen Kabine. Ich habe lange genug in Djagilews Truppe getanzt: Wenn du den Fuß aufsetzt, darf nichts zu hören sein, nicht der leiseste Ton.

Auf dem Oberdeck mache ich an der Reling ein paar Pliés, dehne die Arme, die Beine, stelle die neuesten Einschränkungen meiner Beweglichkeit fest, Verspannungen, Versteifungen. Mit achtundvierzig ist mein Körper – das jahrelang immer weiter perfektionierte und glänzend polierte Instrument meiner Kunst – stumpf und unansehnlich. Und doch bewahren meine Muskeln treu die Erinnerung an Bewegungen auf, die ich einst beherrschte, die Tänze von Papillon, Ta-hor, der Sechsten Nymphe, der Auserwählten.

Nach dem Dehnen lehne ich mich an die Reling, zünde mir eine Zigarette an und warte auf die Delphine. Mein Mann versichert mir, sie hören es, wenn sich ein U-Boot nähert, und verschwinden dann sofort. Weil sie nie einzeln unterwegs sind, denke ich sie mir als ein Corps de ballet, Tänzerinnen und Tänzer, die lächelnd in geübter Harmonie ihre komplizierten, wunderbar glatten Sprung- und Tauchfiguren ausführen. Als sie endlich da sind, suche ich mir einen Platz, wo ich in Ruhe schreiben kann. Bei schönem Wetter reicht mir schon eine Taurolle irgendwo an Deck, wenn es kalt oder nass oder zu windig ist, gehe ich in den Rauchersalon.

Woher kommt dieser lebenslange Drang zu schreiben? Kindlicher Kummer. Tagebuch einer jungen Ballerina. Unnütze Aufregungen. Über Waslaw. Über Fjodor. Über Lewuschka. Ein Notizbuch nach dem anderen fülle ich, billige und teure, mit linierten oder karierten Seiten, broschiert oder mit festen Einbanddeckeln, aber immer so klein, dass es bequem in mein Handtäschchen passt. Hat es damit zu tun, dass ich so lange im Schatten von Riesengestalten gelebt habe? Dass ich immer darauf vorbereitet sein wollte, meine Sache zu verfechten, für das einzutreten, was mir wichtig war?

Mein Bruder Waslaw lebt in einem kleinen Hotel in dem Schweizer Gebirgsdorf Adelboden, eine Marionette in den Händen seiner Frau, die ihn anzieht, füttert, spazieren führt. Je nachdem, wem man Glauben schenkt, ist er schüchtern und kindlich oder aber reizbar und ruhelos. Die einen sagen, er sei stumm, die anderen, er rede ständig mit sich selbst. Manche nennen ihn erstarrt, manche tobsüchtig. Auch dem Gott des Tanzes sind Widersprüche nicht fremd.

Beschränke dich auf das Wesentliche, mahnt Waslaws Stimme. Alles andere lass weg.

1894-1900

1.

Sie sind schwarz. Sie kommen aus Amerika.

Mein Vater hat sie vom Theater mit zu uns nach Hause gebracht. Sie sind die einzigen unter den Gästen, die ich noch nicht kenne. Die anderen gehören alle zu der Truppe unserer Eltern. Sie fragen mich immer, ob ich brav und gehorsam gewesen bin, ob ich schön mit meinen Brüdern gespielt habe. Und wenn ich ja sage, dann schenken sie mir Süßigkeiten, nicht ohne hinzuzufügen, dass ich sie mit Waslaw und Stassik teilen muss.

Die zwei dunkelhäutigen Männer in weißen Fräcken mit schwarzen Aufschlägen bewegen sich lässig geschmeidig wie Katzen zwischen all den Leuten, die da plaudern, Mamusias Kanapki knabbern oder sich ein Glas Wodka von dem Tablett nehmen, das mein Vater herumträgt. Ich beobachte sie eine Weile, bis sie mich bemerken und zu sich heranwinken. Als ich näher komme, weht mir der Geruch von Moschus und Zigarrenrauch entgegen.

Sie heißen Jackson und Johnson.

»Ja und Jo«, sagen sie, zeigen aufeinander und führen eine perfekt synchronisierte Neunzig-Grad-Wendung aus, als präsentierten sie sich einem unsichtbaren Publikum. Dann wenden sie sich mir zu, beugen sich vor, legen die Hände auf die Knie und bewegen sie so rasend schnell hin und her, dass es aussieht, als würden die Knie durch einander durchhuschen. Die Ringe an ihren Fingern funkeln wie Sterne auf ihrer schwarzen Haut.

Ich klatsche so heftig, dass mir die Handflächen wehtun.

Sie fragen mich nicht, ob ich brav war, sondern zeigen mir ein Foto, auf dem sie auf der Bühne zu sehen sind: Sie stehen hintereinander, Spazierstöckchen in der Hand. Zu ihren weißen Fräcken mit den schwarzen Aufschlägen tragen sie glänzende Zylinder, die sehr elegant aussehen. Das Bühnenbild im Hintergrund zeigt ein Feuerwerk und hoch aufragende Gebäude, die bis an die Wolken reichen. Sie haben in New York getanzt. Sie haben in Paris und London getanzt. Und jetzt sind sie auf dem Weg nach Moskau.

Mein Russisch ist ebenso gut wie mein Polnisch, aber wenn Ja und Jo russisch sprechen, klingen ganz vertraute Wörter plötzlich komisch abgehackt oder verzerrt. »Wie nennt man das da?«, fragt einer und zeigt mit dem Finger auf die Schatulle aus Birkenleder, in der Mamusia Holzkohle für den Samowar aufbewahrt.

»Nabiruschka«, sage ich. Als sie es nachsprechen, klingt es sehr hübsch, aber zugleich auch seltsam.

Mir kommt eine Idee. »Könnt ihr sagen: Mama myla Milu mylom. Mila mylo ne ljubila?«

Jo versucht es. »Mama … myla … Mama mylo …«

Ich schüttle den Kopf und spreche den Zungenbrecher noch einmal vor, jetzt langsamer. Sie lauschen konzentriert mit geschlossenen Augen. Einmal noch, dann haben sie alles Wort für Wort im Kopf.

Und dann höre ich es sie laut sagen, und alle Leute klatschen begeistert. Mein Vater klopft Ja auf die Schulter. Mamusia bringt noch ein Tablett mit Kanapees, und ich, daran gewöhnt, dass die Aufmerksamkeit der Erwachsenen flüchtig ist, verziehe mich in eine Ecke, von wo ich den Raum gut überblicken kann, ohne den Leuten lästig zu sein.

Aber Ja und Jo kommen wieder. »Willst du unseren Tanz lernen, Bronia?«, fragen sie, und als ich nicke und aufspringe, führen sie mich in den Raum nebenan, wo sie schon alles vorbereitet haben: Eine mit Sand bestreute Planke liegt da auf dem Fußboden.

»Schau zu!«

Zuerst zeigen sie mir ein paar einfache Schritte: mit den Fußballen auf der Planke auftupfen, dann mit der Hacke, mit dem Fuß über den Boden schleifen. Ich mache es nach, es ist ganz leicht, und sie nicken. Nach und nach wird es komplizierter, ich muss zweimal, dann dreimal auftupfen, bis ich so weit bin, dass ich mit meinen wunderbaren Lehrmeistern eine Schrittkombination ausführen kann, die auf der Planke klingt wie die Hufe eines galoppierenden Pferds. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit jage ich dahin, meine Füße fliegen, mein Herz schwillt vor Lust und Stolz. Alle drei tanzen wir das, was Ja und Jo Shim-Sham-Shimmy nennen, wiegen uns und werfen die Arme in dem Rhythmus, den unsere Schuhe klopfen.

Am Ende applaudieren sie mir. »Du bist ein Wunderkind, Bronia«, sagen sie. Erstaunlich. Ein Genie. Wenn nur meine Eltern es erlaubten, würden sie mich vom Fleck weg engagieren und zusammen mit mir auftreten. Wir wären die Sensation: »Jackson, Johnson und Nijinska!« Die Welt würde uns zu Füßen liegen. Moskau, Sankt Petersburg. Paris. London. Amerika. »Was sagst du dazu, Bronia? Kommst du mit uns nach New York?«

»O ja«, rufe ich. Ich sehe mich schon dort auf der Bühne stehen im Funkeln des Feuerwerks. Ich trage ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen und auf dem Kopf einen glänzenden Zylinder, und ich habe ein Spazierstöckchen mit einem silbernen Knauf.

»Du bist doch noch ein Baby, Bronia.« Waslaws Stimme bringt mein schönes Luftschloss zum Einsturz. Mein älterer Bruder lehnt an der Tür. Seine Stimme klingt streng und erwachsen, gar nicht wie sonst. »Sie machen nur Spaß«, fügt er auf Polnisch hinzu. »Die nehmen dich nirgendwohin mit.«

Ich frage mich, wie lange er schon da steht. Ich frage mich, ob er mich tanzen gesehen hat.

»Was meinst du, Bronia, sollen wir es noch einmal machen?«, fragt Ja.

Ja und Jo klatschen den Rhythmus, wiegen die Hüften, summen die Melodie, und es juckt mich in den Füßen. Ihre Augen lachen. »Lass dir nicht den Spaß verderben von deinem Bruder. Er ist nur neidisch. Aber wir werden ihn rumkriegen: Zeig ihm, was du kannst!«

»Ich und neidisch?« Waslaw schnaubt verächtlich. »Auf die?«

Er ist fünf. Ich bin nicht ganz vier. Er kann alles, was ich kann, und noch einiges mehr.

Finger schnippen, Absätze klacken leise. Der Rhythmus ist da, ich muss mich nur von ihm mitnehmen lassen. Tanzen ist wie Atmen, es ist in mir, es ist in meinen Körper eingeschrieben. Ich muss es nur freisetzen.

Ich habe keine Zweifel. Ich bin nicht unsicher, nicht im Mindesten.

Ich tanze, schnell, flink. Meine Beine fliegen, meine Arme schaukeln. Mit Ja und Jo neben mir führe ich meine Schritte und Drehungen aus, mit einer Präzision und wilden Kraft, die mich entzücken. Es gibt nichts, was ich vermisse oder brauche.

Als wir fertig sind, legt Ja seine Hand auf meine rechte Schulter, Jo die seine auf meine linke. Ihre Augen leuchten. »Großartig, Bronia«, sagen sie. »Du bist eine echte Künstlerin.«

Und dann verbeugen sie sich mit geübter Eleganz vor mir.

Ich werfe Waslaw, der immer noch in der Türöffnung lehnt, ein Bein leicht angewinkelt, einen Blick zu. Die Augen halb zugekniffen, denkt er über das nach, was er gerade gesehen hat. Er spendet mir keinen Beifall.

Er schiebt die Oberlippe etwas vor. »Das«, sagt er, »sind Varieté-Kunststückchen. Technisch gar nicht schlecht, aber keine Kunst.«

Meine beiden Brüder bekommen richtigen Ballettunterricht. Mein Vater übt mit ihnen jeden Tag außer Sonntag. Ich bin noch zu jung dafür, aber ich darf zuschauen, und das tue ich auch und merke mir jeden Schritt, den mein Vater Waslaw und Stassik beibringt, jede Korrektur. Danach mache ich ihre Übungen immer vor einem Garderobenspiegel. Dieses Jahr an Ostern werden meine Brüder an einer Kinderaufführung in Odessa teilnehmen. Einen »klassischen Kosakentanz« nennt mein Vater das, was sie vorführen werden, und in seiner Stimme klingt Stolz, wenn er das Wort »klassisch« ausspricht. Stassik wird als kühner Kosak auf der Bühne stehen, und Waslaw als sein Mädchen. Er wird um Stassik herumtanzen und dann hoch in die Luft springen.

»Warum hast du uns dann überhaupt zugesehen, Waslaw?«, frage ich. »Warum bist du nicht einfach weggegangen?« Hinter mir höre ich Ja und Jo, die meine Worte mit leisen Stepp- und Schleifgeräuschen begleiten.

»Warum, darum!«, sagt Waslaw, wie so oft, wenn er um eine Antwort verlegen ist. Besonders dann, wenn ich ihn bei einer Lüge ertappt habe. Aber zugeben würde er es niemals. Ich muss mich mit einem stillen Triumph begnügen. Fürs Erste.

2.

Stanisław, Wacław, Bronisława. Wir sind die Kinder der Nijinskys. Unsere Eltern sind die einzigen Polen in der Truppe von Lukowitsch, die in größeren und kleineren Städten Russlands auftritt. Ständig sind wir unterwegs. Von Odessa nach Kiew. Von Kiew nach Moskau. Von Moskau nach Sankt Petersburg. Das Repertoire umfasst Ballettstücke, kürzere Tanzeinlagen, unterhaltende Darbietungen verschiedener Art und, an Ostern und Weihnachten, Kinderballett.

Wir alle drei tragen Namen, in denen das polnische Wort Sława steckt. Es bedeutet Ruhm, und Ruhm ist das, was unsere Eltern uns wünschen, auch wenn sie uns im Alltag Stassik, Waza und Bronia nennen.

Wir sind Kinder von fahrendem Volk. Wir wissen, wie man in kürzester Zeit seine Sachen packt. Wie man Bücher mit einer Schnur so zusammenbindet, dass man den Knoten ohne großes Gefummel wieder lösen kann. Dass man einen Gürtel um einen übervollen Koffer schnallen muss, damit er nicht aufplatzt. Wir genießen es, wenn wir nach der Ankunft an einem neuen Ort unsere neue Wohnung erkunden, wenn Betten und Schrankfächer verteilt werden, wenn wir Mamusia helfen, unsere Teppiche auszurollen und die Zimmer zu den unseren zu machen, indem wir gerahmte Fotografien aufhängen, die Blumenvase, die in Zeitungspapier gewickelt von einer Stadt zur nächsten reist, aufstellen und den Ehrengaben, die mein Vater erhalten hat, einen Platz suchen. Wir besitzen eine bronzene Ballerina, die ich sehr hübsch finde, aber Waslaw gefällt sie nicht, weil sie allein tanzt. Wir haben ein Gemälde von einem Clown, dem große schwarze Tränen über die Wangen laufen, und eines, auf dem ein russischer Straßenmarkt zu sehen ist, Stände mit Pilzen, Äpfeln und Birnen in Körben aus Birkenrinde, und rechts unten in der Ecke leckt ein Hündchen Wagenschmiere von dem Rad eines Karrens.

Die Lukowitsch-Truppe reist in einer Karawane von Kutschen und Wagen von einem Engagement zum nächsten. Manchmal ist es so staubig auf den Landstraßen, dass wir uns feuchte Taschentücher vor den Mund halten müssen. Wenn uns langweilig ist, macht uns Mamusia auf allerlei interessante Dinge am Weg aufmerksam, zum Beispiel auf Felder voller Wassermelonen, die wie große grüne Bälle aussehen, oder auf Lastkähne, die auf dem Fluss fahren, und dann winken wir den bärtigen Schiffern zu, und sie winken zurück. »Wenn ich groß bin, werde ich Flussschiffer«, verkündet Waslaw. »Ich auch«, sagt Stassik, und ich bin neidisch, weil Mädchen nicht Flussschiffer werden können. In den Dörfern, durch die wir kommen, sehe ich hinter Weidenzäunen, auf denen Tontöpfe stecken, Frauen vor ihren weiß getünchten Häusern oder in Gärten voller Sonnenblumen mit allerlei Arbeiten beschäftigt. Aber mit dem, was sie machen, ist kein Ruhm zu gewinnen, und ich will nicht so werden wie sie, wenn ich groß bin. Kinder ohne Schuhe füttern Gänse, Enten und Hühner. In Städten gibt es von bärtigen Kosaken bewachte Tore, wo wir anhalten und Pflasterzoll bezahlen müssen.

In unserer Kutsche liest Mamusia uns aus polnischen Büchern vor. Dawno dawno temu … Es war einmal … in einem Land, weit, weit weg von hier. Waslaws Lieblingsgeschichte ist die von den Riesenrittern, die im Innern eines Bergs schlafen müssen, bis eines Tages eine Stimme sagen wird: »Die Zeit ist gekommen.« Stassik und mir gefällt am besten die des Pan Twardowski, der den Teufel überlistet hat und statt in der Hölle auf dem Mond gelandet ist, wo er heute noch lebt. Wenn wir unsere Augen ganz stark anstrengen, können wir ihn nachts fast dort oben auf einem Gockel reiten sehen.

Meinem Vater gefallen Lieder besser als Geschichten. Das von dem Ulanen, der ein hübsches Mädchen um einen Kuss bittet. Das von der Sonne, die nicht untergehen will. Das von der Zielony Mosteczek, der grünen Brücke, ist mein Lieblingslied. Wenn mein Vater singt, begleitet er den Text mit lustigen Grimassen. Er verzieht etwa ängstlich das Gesicht, wenn das Mädchen über die schwankenden Planken der grünen Brücke geht, und grinst siegesgewiss, wenn der hartnäckige Brautwerber raffinierte Pläne schmiedet, das Herz der jungen Schönen zu gewinnen.

Weil unsere Eltern so ein unstetes Leben führen, sind wir alle an verschiedenen Orten geboren. Stassik in Tiflis, Waslaw zwei Jahre später in Kiew. Ich bin in Minsk geboren, eine Stunde nachdem meine Eltern zusammen in Glinkas Ein Leben für den Zaren aufgetreten waren. Mamusia konnte noch die Polonaise am Anfang der Oper tanzen, aber dann setzten die Wehen ein, und sie musste sich in einem Droschkenschlitten ins Hospital fahren lassen. Zum Glück gab es eine zweite Besetzung, die an ihrer Stelle mit meinem Vater die Masurka und die Cracovienne in dem Akt, der in Polen spielt, tanzen konnte.

Ich brauchte nicht lange, um auf die Welt zu kommen. Als der Vorhang fiel, meldete ein Bote meinem Vater, dass er nach zwei Söhnen nun eine Tochter bekommen hatte.

Waslaw und Stassik können sich rühmen, dass sie schon Wunder erleben durften. »Waslaw wurde in einem Hemdchen geboren«, sagt Mamusia, und das ist etwas Besonderes, ein Zeichen künftiger Größe. Ich stelle mir immer vor, dass er in einem Engelsgewand in diese Welt getreten ist. Vielleicht war der hauchfeine Stoff mit Sternchen bestickt und mit Blumen und Vögelchen. Ich frage mich, wo das schöne Hemdchen wohl abgeblieben ist und warum Waslaw es nie trägt. Mamusia lacht und sagt, es sei nicht aus Stoff gewesen. »Es hat sich aufgelöst«, fügt sie mit geheimnisvollem Lächeln hinzu, und das macht die Sache noch spannender und gibt Waslaw erst recht Grund, sich auserwählt zu fühlen.

Er hat wahrscheinlich recht, denn es ist noch etwas Wunderbares passiert: An dem Tag, als Waslaw geboren wurde, trat mein Vater bei einem Wohltätigkeitsball auf. Es gab auch eine Tombola, und weil am Ende des Fests einige Preise übrig waren, wurden diese in die Luft geworfen, und jeder, der einen auffing, durfte ihn behalten. Weil mein Vater höher springen konnte als alle anderen, erwischte er das Beste, einen schönen Silberpokal, den er als Geschenk für seinen neugeborenen Sohn mit nach Hause nahm. Mamusia poliert den Pokal immer mit Zahnputzpulver und stellt ihn in jeder unserer neuen Wohnungen auf einen Ehrenplatz, wo ihn jeder gleich sieht. Waslaw hat uns streng verboten, ihm nahe zu kommen. Er würde es sofort merken, wenn Stassik oder ich das edle Stück mit unseren unwürdigen Fingern berührten, behauptet er, denn es würde Zeichen der Empörung von sich geben, die er wahrnehmen würde, und wenn er auch noch so weit weg wäre. Aber das ist gelogen, denn ich habe den Pokal schon oft angefasst, wenn Waslaw nicht da war, und er hat es nie gemerkt.

Stassiks Wunder ist sogar noch erstaunlicher: Er ist vom Tod wiederauferstanden.

Ich war damals noch nicht auf der Welt, und Waslaw war noch ein Baby. Die Geschichte geht so: Die Truppe macht gerade in Moskau Station, und meine Eltern haben eine Wohnung im zweiten Stock eines Hauses. Die großen Fenster blitzen nur so vor Sauberkeit, denn die Zugehfrau hat sie eben erst mit Salmiakgeist geputzt und anschließend mit Zeitungspapier poliert. Ein Kindermädchen passt auf Stassik auf, aber dann bekommt Stassik Durst, und sie geht in die Küche, um ihm ein Glas Milch zu holen. Während sie weg ist, marschiert eine Militärkapelle am Haus vorbei, und Stassik möchte sie sehen. Er schiebt einen Stuhl ans Fenster, steigt aufs Fensterbrett und drückt mit den Händen gegen die Scheiben. Als das Kindermädchen aus der Küche zurückkommt, sieht es gerade noch, wie das Fenster sich öffnet und Stassik hinausfällt. Sie schreit entsetzt auf. Mein Vater, der sich im Zimmer daneben aufhält, hastet die Treppe hinunter. Vor dem Haus auf dem Pflaster liegt regungslos Stassik. Blut sickert aus seiner Nase und aus den Ohren, rosafarbener Schaum bedeckt seine Lippen.

Man bringt ihn ins Krankenhaus. Drei Tage ist Stassik ohne Bewusstsein, seine Seele ist schon in der anderen Welt. Mamusia weicht die ganze Zeit nicht von seiner Seite, sie isst und schläft nicht. Sie betet zur Gottesmutter, fleht sie um Hilfe an. Und dann am vierten Tag setzt sich Stassik plötzlich in seinem Bett auf, sieht seine Kindertrommel, die unser Vater mitgebracht hat, streckt die Arme danach aus und lacht. »Ein Wunder«, sagt Mamusia, und jedes Mal wenn wir zur Kirche gehen, erinnert sie uns daran, Gott und der Matka Boska dafür zu danken, dass Stassik aus dem Himmel zurückkehren durfte.

Waslaw und ich tun es gehorsam, aber das ändert nichts daran, dass wir tief enttäuscht sind. Denn wenn wir Stassik fragen, wie es im Himmel gewesen ist, ob er auf Wolken geschwebt ist, ob er fliegen konnte, was die Engel ihm zu essen gegeben haben, sagt Stassik, dass er sich an nichts erinnern kann.

Zu Hause reden unsere Eltern übers Tanzen. Auch wenn die Zeitungen nur das Allerbeste berichten, wenn das Publikum noch so stürmisch und lange applaudiert, etwas ist immer schiefgegangen. Schritte waren zu schnell oder zu langsam, diese oder jene Sequenz hat ihren Schwung, ihre Frische verloren, und man muss sich etwas Neues einfallen lassen. Man hat zu früh oder zu abrupt ausgeatmet.

Lange entnehme ich diesen Gesprächen lediglich, dass Künstler nie zufrieden sind. Kunst ist immer schwierig, sie verlangt nie erlahmende Wachsamkeit. Egal was man leistet, es geht immer noch besser.

Später werde ich lernen, dass Muskeln und Sehnen ihre Launen haben. Manchmal zerren sie an den Knochen und wollen länger warmgemacht werden, manchmal geben sie einem mit einem scharfen Schmerz zu verstehen, dass sie nach einer heißen Kompresse, einer Massage, einer Ruhepause verlangen. Der Spiegel ist ein strenger Kritiker, der einem nicht die kleinste Unvollkommenheit durchgehen lässt; manchmal sieht man undeutliche Reflexe übers Glas huschen und glaubt einen Moment lang fast, er wolle einem vorführen, wie der Schritt hätte sein müssen, aber nicht war. Und ich werde lernen, dass das Publikum, unsichtbar im Dunkeln vor der hell erleuchteten Bühne, ein unerbittlicher Richter ist, der uns selig machen, aber auch verdammen kann.

Als der Winter anfängt, sind wir in Moskau. Die Tapete in dem Zimmer, das ich mir mit meinen Brüdern teile, ist gestreift und mit kleinen Rosenblüten bedruckt. »Grässlich«, sagt Waslaw. Stassik zupft daran herum und reißt ein paar Streifen ab. Sie rollen das Papier zusammen und tun so, als wären die Röhrchen Zigaretten. »Hast du schon mal ein Mädchen rauchen sehen?«, sagen sie, als ich auch eine haben will.

Mein Vater kommt herein. Er trägt einen dick mit Pelz gefütterten Mantel und hat eine Kosakenmütze auf dem Kopf. In der Hand hat er den ersten Schneeball der Saison. Er streckt ihn mir hin. »Da«, sagt er, »der ist für dich.«

»Und was ist mit mir?«, schreit Waslaw und stürzt auf uns zu. Stassik ist ihm auf den Fersen, aber Waslaw ist schneller. Er ist immer der Erste, er nimmt den kürzesten Weg und setzt im Sprung über jedes Hindernis hinweg.

»Nein«, sagt mein Vater. »Er gehört eurer Schwester. Ihr zwei tapferen Ritter könnt euch selbst einen holen.«

Ich nehme den Schneeball, etwas zögerlich, weil ich sehe, dass Wasser auf den Boden tropft. Unser neues Dienstmädchen, das schon jetzt unsere Herzen gewonnen hat, weil es uns erlaubt hat, sein falsches Gebiss anzufassen, schnalzt missbilligend mit der Zunge. Mamusia hat es auch gesehen; sie will eben anordnen, dass die Pfütze aufgewischt wird, da fasst mein Vater ihr mit seinen kalten Händen an die Wange.

»Iiih!«, schreit sie. »Lass das, Tomasz! Wie kann ein erwachsener Mann nur so kindisch sein!«

Aber sie muss lachen. Und dann ziehen wir alle unsere Wintermäntel an, und Mamusia schmiert unsere Gesichter mit Gänseschmalz ein gegen die Kälte. Wir müssen auch die scheußlichen Galoschen überziehen, in denen man das Knie nicht beugen und nur steifbeinig herumstaksen kann, aber selbst das kann uns nicht den Spaß daran verderben, draußen im ersten Schnee zu spielen. Pappschnee nennt mein Vater ihn. Er macht daraus eine kleine Kugel, die er über den Boden rollt, und zeigt uns, wie der Schnee daran kleben bleibt, sodass die Kugel Schicht um Schicht immer größer wird. Zusammen bauen wir einen Schneemann mit einer runzligen Rübennase, zwei Kohlestückchen als Augen und einem alten Eimer als Hut. Und dann spielen wir Fangen. Ich kann ganz gut mit den anderen mithalten, obwohl ich die Jüngste und ein Mädchen bin. Waslaw ist natürlich zu schnell für mich, aber wenn ich mich anstrenge, kann ich Stassik erwischen und manchmal meinen Vater. Allerdings habe ich den Verdacht, dass er es mir absichtlich leicht macht, denn Waslaw gelingt es nie, ihn zu fangen.

Später an diesem Tag, bevor meine Eltern gehen müssen, weil sie eine Vorstellung haben, erzählt mein Vater uns von einer Schneejungfrau, einer Tochter von Winter und Frost, deren Herz aus Eis ist. Sie verliebt sich in einen Schäfer, aber die Liebe erwärmt ihr Herz, und sie schmilzt.

Waslaw passt das gar nicht. »Das ist gemein. Du musst einen anderen Schluss erfinden.«

»Das geht nicht.« Mein Vater schüttelt den Kopf.

»Aber ich will es«, sagt Waslaw, und Stassik schließt sich ihm an.

»Wenn ich es ändern würde, müsste ich lügen.« Mein Vater bleibt fest. »Schnee schmilzt eben irgendwann, das ist nun einmal so. Ihr wollt doch nicht, dass ich lüge, oder?«

Jetzt weint Stassik, und Waslaw wird auch gleich in Tränen ausbrechen. Und weil ich weiß, dass es meinen Vater ärgert, wenn seine Söhne weinen, mische ich mich ein. Die Geschichte muss nicht geändert werden, behaupte ich, weil sie so noch gar nicht zu Ende ist. Es stimmt schon, eine Schneejungfrau schmilzt und verwandelt sich in eine Pfütze, aber sobald die Sonne wiederkommt, verdunstet das Wasser und reist als Wolke rund um die Welt, und wenn sie dann wieder über Russland schwebt, ist es Winter, dann wird die Wolke zu Schnee, der auf die Erde fällt, und daraus machen die Kinder eine neue Schneejungfrau.

Waslaw und Stassik runzeln kritisch die Stirn, und auch mir wird jetzt klar, dass die Sache nicht so einfach zu lösen ist, wie ich gedacht hatte. Zwar habe ich meiner Schneejungfrau eine zweite Chance gegeben, aber das ändert nichts an ihrem traurigen Schicksal: Sie wird sich wieder verlieben und schmelzen. Ich lasse mir meinen Optimismus jedoch nicht nehmen und erzähle die Geschichte immer weiter – ein ewiger Kreislauf aus Liebe, Schmelzen und Wiedergeburt.

Meine Brüder beginnt meine endlose Prozession von Schneejungfrauen zu langweilen. Sie gähnen. Mein Vater zwinkert mir zu. »Dobranoc«, sagt er, »Gute Nacht« auf Polnisch, und fügt in sonderbarem murmelndem Singsang hinzu: »Pchły na noc, karaluchy pod poduchy.« Ich verstehe es und verstehe es gleichzeitig nicht. Noch lange grüble ich darüber nach: Flöhe in der Nacht, Kakerlaken unterm Kissen.

»Was soll das bedeuten, Waslaw?«, frage ich. Mein älterer Bruder sollte solche Dinge wissen, denke ich, aber er schläft schon und hört mich nicht.

Ein paar Monate später tanzen wir in der Kindervorstellung den Matrosentanz. Alle drei tragen wir Schlaghosen, Blusen mit breitem Kragen und Matrosenhüte. Zuerst tanzen nur Waslaw und Stassik. Als sie fertig sind, schlagen sie die Hacken zusammen und weisen mit großartiger Geste zur Seite der Bühne: Ich trete aus der Kulisse, und dann wiederholen wir zu dritt den Tanz.

Wochenlang haben wir geprobt. Zuerst zusammen mit meinem Vater, dann allein, bis jede Bewegung sitzt. Auf der Bühne klappt das Zusammenspiel perfekt, jede Geste, jeder Schritt ist dreimal genau gleich, wir sind bis ins kleinste Detail aufeinander abgestimmt. In unserem Tanz stellen wir dar, wie wir ein Boot rudern, wie wir Segel setzen und einholen und das Schiff festmachen.

Als die Musik endet, knallen drei Paar Hacken perfekt synchron zusammen, drei gestreckte Hände heben sich an drei rechte Schläfen und wir salutieren vor dem Publikum. Wir sind eine Sensation.

3.

»Jeder für jeden durch Feuer und Wasser«, so lautet Mamusias immer wiederkehrende Ermahnung, und es ist ihr so ernst damit wie nur irgendetwas.

Wir müssen einander die besten Freunde sein.

»Genauso wie ich und meine zwei Schwestern«, sagt sie, und wir machen es uns bequem und lassen uns noch einmal erzählen, wie sie nach Russland kam, um Tänzerin an der Oper von Kiew zu werden.

Eigentlich hatte nur die mittlere Schwester, die vierzehnjährige Stefa, eine Anstellung. Ein Impresario aus Kiew, der in Warschau nach Talenten suchte, sah sie auf der Bühne des Teatr Wielki im Corps tanzen und engagierte sie. Stefa nahm Mamusia und Tante Thetya mit, im Vertrauen auf die mehr verlockende als verbindliche Zusage, dass Mamusia, die noch Elevin war, im Dezember, sobald sie zwölf war, auch ein Engagement erhalten würde. Bis dahin würde Stefas Gage für alle drei reichen müssen. Jede für jede durch Feuer und Wasser. Im Übrigen hielt sie nichts in Warschau. Sie waren Waisen. Es gab noch zwei ältere Brüder, aber die hatten selbst kaum genug zum Leben.

Ich stelle mir vor, wie die drei Schwestern in Kiew ankommen. Schön ordentlich nebeneinander aufgereiht stehen ihre Koffer. Sie haben sie in Warschau von einer Frau gebraucht gekauft, die schwor, sie kämen direkt aus Paris. Sie hatten so elegant ausgesehen in ihrer Warschauer Wohnung, aber hier auf dem Pflaster von Kiew wirkt das abgewetzte Leder schäbig, und die Griffe sind so verschlissen, dass sie zu reißen drohen.

Die sechzehnjährige Thetya betrachtet sich als erwachsen und für ihre jüngeren Schwestern verantwortlich. Auf ein Stück Pappe hat sie die Adresse ihrer Unterkunft in Kiew geschrieben, die, wie man ihr versichert hat, nur einen Katzensprung von der Oper entfernt liegt. Sie hat es die ganze Zeit in der Hand gehalten, sodass die Schrift schon ganz verschmiert ist, als sie es einem Droschkenkutscher hinhält und ihn in gebrochenem Russisch bittet, sie zu der Adresse zu fahren. Der Mann kann zwar die lateinischen Buchstaben nicht lesen, doch er versteht die Mädchen, als sie ihm den Namen der Straße sagen: Puschinska.

Die Droschke fährt an der Universität und an der Wladimirkathedrale vorbei, aber nur Thetya interessiert sich für die Sehenswürdigkeiten der Stadt, während Mamusia und Stefa die ganze Zeit an nichts anderes denken können als daran, wie man sie morgen in der Oper empfangen wird. Werden sie gut genug sein? Werden die russischen Tänzer zwei Polinnen akzeptieren, von denen die eine nur Corps-Tänzerin und die andere noch Elevin ist? Oder wird man ihnen das Gefühl geben, sie seien hergelaufene Eindringlinge? Sie drücken einander bang die Hände, und das tröstet sie beide ein bisschen.

Thetya seufzt tief. Sie hat mittlerweile nicht nur berühmte Bauten der Stadt gesehen, sondern auch einige elegante Damen. Thetya ist keine Tänzerin, sie ist hier, um ihren Schwestern den Haushalt zu führen. Und dafür zu sorgen, dass sie auf sich Acht geben und ihre Zukunft nicht verspielen.

Mamusia lächelt, als sie Thetyas Worte wiedergibt: »Meine Schwestern können sich nicht in diesen Warschauer Lumpengewändern an der Oper vorstellen. Ihr braucht etwas Anständiges anzuziehen, eine künstlerische Erscheinung ist wichtig.« Entschlossen gingen sie an die Arbeit: Nachdem sie sich einen Vorschuss auf Stefas Gage hatte auszahlen lassen, kauften sie Stoffe ein und fingen zu nähen an. Um Mitternacht schickte Thetya ihre Schwestern zu Bett. »Ihr braucht euren Schönheitsschlaf«, sagte sie. »Ich werde mich morgen ausruhen, während ihr diesen Russen zeigt, was ihr könnt: Die Spucke wird ihnen wegbleiben, wenn sie euch tanzen sehen.«

Mir laufen jedes Mal Schauer des Entzückens über den Rücken, wenn Mamusia diese Episode erzählt. Sie und Stefa können es kaum fassen, als sie am nächsten Morgen das Wunder sehen, das Thetya über Nacht zustande gebracht hat: Kleider, die noch schicker und eleganter sind als die raffinierte Garderobe der Kiewer Schönen. Drei sind es – der Stoffhändler hat ihnen Rabatt gegeben –, und sie sind so geschnitten, dass sie die schlanken Taillen der Schwestern betonen. Rüschen und Plisseefalten verleihen den Röcken Fülle. Der Stoff ist mattschimmernd blau, das bringt ihre blonden Haare schön zur Geltung und passt auch zu den Schuhen – jede besitzt nur ein einziges Paar. »Ihr hättet uns sehen sollen, wie wir zur Oper marschiert sind. Mit hoch erhobenem Haupt, Blick geradeaus, unsere Absätze klackten auf dem Pflaster. Alle haben sich nach uns umgedreht.«

Es gibt noch mehr Geschichten aus der Kiewer Zeit. Von dem Tag, als Mamusia stolz fünfunddreißig Rubel mit nach Hause brachte, ihre erste Gage: Sie, die Jüngste, verdiente jetzt Geld und fiel niemandem mehr zur Last. Man nannte sie Die Gazelle: langer Hals und winzig kleine Füße, anmutig schön und dabei ernst und klug. Zwanzig Jahre lang tanzte sie an der von Setow geleiteten Oper an der Seite der italienischen Ballerinen Virginia Zucchi und Carlotta Brianza. Sie trat auch in Odessa, in Moskau und in Sankt Petersburg auf, und überall erhielt sie viel Beifall und Lob für ihre Leistungen. Subtil und doch meisterhaft, schrieb ein Kritiker. Und sie erzählt von dem Tag, als Tomasz Nijinsky, ein strahlend gutaussehender polnischer Tänzer, der sieben Jahre jünger ist als sie, ihr seine Liebe erklärt. Er ist ihr verfallen. Er verspricht, dass er bei ihr sein will in guten und in schlechten Tagen, dass er sie nie verlassen wird.

Sie hat ihn auf der Bühne springen sehen, so federleicht, als schwebte er. Sie hat ihn bei der Lesginka auf die Knie fallen und hochhüpfen sehen, als wäre er im Kaukasus zu Hause, bei der Prisjadka die Beine werfen sehen wie ein Kosakenkrieger. Sie hat den tosenden Applaus gehört, den er erhielt, dieser Pole, der russische und ukrainische Tänze beherrschte wie kein Zweiter. Er war nicht groß, aber Leidenschaft verlieh ihm eine Kraft, die über die seiner Muskeln und Sehnen hinausging. Und diese Leidenschaft erfüllte ihn auch, wenn er nicht auf der Bühne stand. Seine Ausstrahlung hob ihn hervor aus jeder Menge, seine Stimme war unverwechselbar. Seine Anwesenheit gab jedem Fest den rechten Glanz.

Viermal wies sie ihn zurück. Narwany nannten sie und ihre Schwester ihn, zu leidenschaftlich, zu wenig solide. Ihm müsste doch klar sein, dass er seiner künftigen Ehefrau kaum mehr zu bieten hätte als ein Nomadenleben, immer nur Wanderschaft von einer Provinzbühne zur nächsten? Dass ein Unfall, ein einziger falscher Schritt seine Karriere beenden und ihn brotlos machen kann? Als er in ihre Garderobe kam, um zum fünften Mal um ihre Hand anzuhalten, hatte er eine Pistole dabei. Er hielt sie sich an die Schläfe und drohte, sich hier an Ort und Stelle zu erschießen, wenn sie ihn nicht erhörte.

4.

Wir sind in Odessa. Ich bin fünf Jahre alt. Es ist ein warmer Frühlingstag, und ich sitze auf den hölzernen Eingangsstufen des Hauses, in dem wir wohnen, und warte darauf, dass mein Vater vom Theater kommt. Waslaw und Stassik spielen im Hinterhof. Ich gehe nicht gerne dorthin, weil dort der Schweinekoben ist. Es ist nicht allein der Gestank, der mich stört, ich muss auch immer daran denken, wie an unserem ersten Tag hier ein Schwein zum Schlachten abgeholt wurde; sein panisches Quieken hallt mir noch in den Ohren. Jetzt ist ein Ferkel in dem Koben, und ich hoffe, dass wir längst woanders sind, wenn es groß und fett genug zum Schlachten ist.

Als mein Vater endlich um die Ecke biegt, laufe ich ihm entgegen und falle ihm jubelnd um den Hals. »Mein treues kleines Mädchen«, sagt er. Seine Bartstoppeln kitzeln an meiner Wange. Er riecht nach Zigaretten und Kölnischwasser, dazu ein leichter Hauch von etwas, das mir als der Geruch des Theaters vertraut ist, eine Mischung aus Staub, Kreide, Schweiß und Leim.

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«, fragt er.

Die Truppe ist die meiste Zeit auf Reisen, darum bringt Mamusia uns Polnisch lesen und schreiben bei. Stassik und Waslaw haben außerdem einen russischen Hauslehrer.

»Ja«, sage ich und berichte ihm, dass Mamusia mich gelobt hat, weil meine Bewegungen sich deutlich verbessert haben. Ich erzähle auch, dass ich ganz allein eine Geschichte von einer polnischen Prinzessin gelesen habe, die lieber sterben als einen deutschen Prinzen heiraten wollte.

Mein Vater strahlt. Er hebt mich hoch und hält mich so fest, dass die Knöpfe seines Mantels sich in meine Wange drücken. Dann setzt er mich wieder ab und streicht mir über den Kopf. Hand in Hand gehen wir ins Haus. In dem dunklen Flur riecht es nicht nur nach sauer eingelegtem Gemüse und Pilzragout, sondern auch nach Kohlenstaub und Urin. Mein Vater flucht leise auf Russisch: »Swolotsch!«

Gemeinsam betreten wir die Wohnung, ich weiche nicht von seiner Seite. Er hängt seinen Mantel ordentlich an die Garderobe, zieht die Schuhe aus und steckt Schuhspanner hinein, damit sie ihre Form behalten. Vor dem Essen sitzt er immer in seinem Sessel und trinkt ein Glas von dem Bier, das Mamusia für ihn kalt gestellt hat – wenn es draußen kühl ist, auf dem Sims vor dem Fenster, an einem Tag wie heute in einem Eimer mit Wasser. Er rutscht etwas beiseite, um mir Platz zu machen, und ich schmiege mich an ihn, den Kopf an seiner Brust. Dann führt er meine Hand an seine Brusttasche, und ich ziehe das silberne Zigarettenetui hervor, in das eine Widmung dankbarer Verehrer seiner Kunst eingraviert ist. Mit leisem Klicken springt der Deckel auf.

Ich nehme eine Zigarette und gebe sie ihm. Er tippt mit dem Ende auf der Armlehne auf, bevor er sie anzündet. »Damit der Tabak dichter wird«, hat er mir einmal erklärt. »Dann brennt er schön gleichmäßig.«

Mamusia inspiziert den Tisch, rückt da oder dort eine Gabel zurecht, poliert einen Löffel blank, oder zieht ein bisschen am Tischtuch, damit das gestickte Muster genau in der Mitte ist. Papa erzählt ihr von der Besprechung, die Mamusia verpasst hat, weil sie nach der Probe gleich zu uns nach Hause geeilt ist.

Es war reine Zeitverschwendung. Mamusia kann froh sein, dass ihr das erspart geblieben ist. Theaterleute sind ein schreckliches Volk, die reinsten Giftschlangen, sagt mein Vater. Neidisch bis dorthinaus. Die warten alle nur darauf, dass du einen Moment lang nicht auf der Hut bist, dann beißen sie zu.

»So schlimm ist es dann doch wieder nicht, Tomasz«, sagt Mamusia.

»Du hast nicht so viel mit ihnen zu tun wie ich.« Mein Vater macht Rauchringe, er weiß, dass ich darauf warte. Sie schweben durch die Luft wie die Heiligenscheine, die ich von Bildern her kenne.

Ich warte darauf, dass mein Vater übers Tanzen redet. Dass er Mamusia fragt, was sie von den Veränderungen in seinem Part hält, die er sich überlegt hat. »A tendu, dann préparation, eine schnelle sissonne battue sans changer en arrière … arabesque, chassé … eine Drehung, eine doppelte Pirouette … Was meinst du?« Und Mamusia wird innehalten, ganz egal was sie gerade tut, kurz nachdenken, dann nicken und sagen: »O ja, Tomasz. Das wird wunderbar funktionieren.«

Sosehr ich auch wünsche, die Zeit möge stehenbleiben, ist die Zigarette meines Vaters bald heruntergebrannt, das Glas Bier ausgetrunken, und wir werden zu Tisch gerufen. Waslaw und Stassik tauchen mit roten, verschwitzten Wangen auf und müssen auf ein Taschentuch spucken, mit dem Mamusia ihnen die Gesichter sauberwischt, bevor sie zum Händewaschen geschickt werden.

Mamusia kann ausgezeichnet kochen, und bringt immer köstliche polnische und russische Gerichte auf den Tisch: dampfende Rote-Bete-Suppe, mit Pilzen gefüllte Piroggen, dazu reichlich saure Sahne. Am allerliebsten mag ich Zwetschgenknödel, die mit zerlassener Butter übergossen und mit Zucker und Zimt bestreut werden. Waslaw und Stassik mögen lieber die Koteletts, die Mamusia Bitki nennt: Das Fleisch wird mit einem Holzhammer dünn geklopft und dann gebraten.

»Hör auf, so herumzuhampeln, Stassik. Man spricht nicht mit vollem Mund, Waslaw. Du musst dein Essen besser kauen, Bronia.«

Immer wieder Ermahnungen. Man soll die Kinder der Nijinskys an ihren guten Manieren erkennen. Gerade sitzen, nicht schlürfen, Ellbogen vom Tisch, nicht dazwischenreden, wenn Erwachsene sprechen. Zu Letzterem muss man mich nicht ermahnen, denn ich will unbedingt hören, was meine Eltern über Katharina, Tochter des Banditen reden. Mein Vater spielt in dem Stück den Diavolino, einen Räuber, der die Tochter seines Hauptmanns liebt. Mit einem kühnen Sprung überquert er einen Wasserfall, weil die Brücke kaputt ist. Mein Vater ist so stolz auf diesen Sprung!

Die Geschichte von Diavolino und Katharina fasziniert mich. Ich habe Waslaw gefragt, wie die Geschichte ausgeht, und er sagte zuerst, das sei geheim, aber als ich ihm keine Ruhe ließ, gestand er schließlich, dass er es auch nicht wusste.

»Wird Diavolino die Banditentochter am Ende heiraten?«, fragt er jetzt.

»Wieso willst du das wissen?« Die Stimme meines Vaters klingt streng.

»Nur so.«

»Was ist wichtiger, Waslaw«, fragt mein Vater weiter, »wer am Ende wen heiratet oder das Tanzen?«

Waslaw blickt von seinem Teller auf. Einen Moment lang sieht es so aus, als wollte er etwas sagen – vielleicht, dass ich diejenige bin, die es wissen will –, aber er lässt es sein.

Mein Vater erwartet eigentlich gar keine Antwort. Er hat sich auch nicht wirklich geärgert, wie mir klar wird, als ich ihn die neue Schrittfolge beschreiben höre, die er sich für Diavolino ausgedacht hat. Er hat eine Arabesque und zwei Pirouetten eingefügt, die mehr Dynamik in den letzten Tanz bringen. »Bei den Proben hat es sich gut bewährt«, schließt er. »Ich bin gespannt, wie das Publikum es aufnehmen wird.«

Mamusia lächelt und nickt bestätigend zu seinen Worten. Er ist der Beste, sagt ihr Lächeln, der Begabteste, derjenige, der sich von allen am meisten plagt. Tomasz Nijinsky ist ein echter Künstler, auch wenn er nur auf Provinzbühnen tanzt. Er hat dieses Schicksal aus freiem Willen auf sich genommen, seinen Kindern zuliebe. Damit er eines Tages sagen kann: »Ich bin der Vater von Stanislaw und Waslaw Nijinsky, Premiers danseurs, und von Bronislawa Nijinska, Prima ballerina assoluta. Sie sind Absolventen der Kaiserlichen Ballettschule und tanzen an den kaiserlichen Theatern, ihre Zukunft ist gesichert, sie werden ihre Kunst nie für Brot opfern müssen.«

Wir wollen, dass er stolz auf uns sein kann, wir sind es ihm schuldig. Er soll so stolz auf uns sein, wie sein Landsmann Felix Kschessinski stolz auf seine Tochter Matilda ist, die kein Geringerer als der Zar selbst die edelste Zierde des russischen Balletts nannte.

Ich esse langsam und mit Andacht, schneide genau bemessene Bissen, schmecke mit der Zunge, bevor ich zu kauen beginne. Stassik schlingt heißhungrig sein Essen hinunter, ist immer als Erster fertig und verlangt nach mehr. Mamusia sagt, das liegt daran, dass er in einer Entwicklungsphase ist, wo er schnell wächst, und das stimmt. Waslaw isst wie ich langsam und hebt sich die besten Stücke bis zuletzt auf. Er hänselt seinen Bruder gern ein bisschen. Darum hält er jetzt seine Gabel mit einem Stückchen Fleisch hoch und fährt sich immer wieder genüsslich mit der Zunge über die Lippen, bis Mamusia ihm sagt, er soll damit aufhören.

»Womit aufhören?«, fragt er ganz unschuldig. »Mit dem Essen? Willst du, dass ich verhungere?«

»Weißt du«, sagt Mamusia und lächelt ein bisschen boshaft, »manchmal treibst du mich so weit, dass ich nur noch beten kann, und dann frage ich mich, ob ich besser den heiligen Simon oder den heiligen Judas anrufen soll. Den einen bittet man um Geduld, der andere hilft in hoffnungslosen Fällen.«

Waslaw steckt sich das Fleisch in den Mund und beginnt zu kauen.

Mein Vater lacht. »Den heiligen Judas, keine Frage. Das ist ein hoffnungsloser Fall.«

Zum Nachtisch gibt es Kuchen und warmes Kompott aus Äpfeln und Pflaumen. Meine Eltern reden über Mykolajiw, die nächste Station der Truppe. Mamusia gefällt es dort nicht, weil die Wohnung sehr klein ist. Aber die Stadt liegt an einem Fluss, am Bug; vielleicht können wir da baden.

Nach dem Essen helfe ich Mamusia und dem Dienstmädchen den Tisch abräumen und das Geschirr abspülen, während mein Vater sich von meinen Brüdern berichten lässt, was sie den Tag über gemacht haben. »Der Russischlehrer hat sich schon wieder beklagt«, flüstert Mamusia mir zu. Ich muss noch nicht Russisch lernen, aber da der Unterricht im Kinderzimmer stattfindet, bin ich meistens dabei und bekomme alles mit. Ich verstehe gar nicht, warum Waslaw und Stassik die russische Schrift so schwierig finden; ich kann sie mittlerweile schon recht gut lesen und schreiben.

»Raus mit der Sprache, Waslaw«, höre ich meinen Vater sagen. »Beantworte meine Frage. Ich habe nicht gefragt, was Stassik getan hat, sondern, warum du die Zeit deines Lehrers verschwendest und mein Geld dazu. Nur für den Fall, dass du es vergessen hast: Um in die Kaiserliche Ballettschule aufgenommen zu werden, genügt es nicht, dass man gut tanzen kann.«

Man hört in seiner Stimme jetzt wirklichen Ärger. »Grins nicht so dumm, Stassik. Hände auf den Tisch. Und du, Waslaw, schau mich an, wenn du mit mir redest.«

Die Küche ist warm, es riecht nach nasser Asche, weil das Dienstmädchen die Glut im Herd mit Wasser gelöscht hat, und nach versengten Federn, denn sie hat die Herdplatte mit einem Hühnerflügel saubergewischt.

Aus dem Esszimmer klingt Waslaws Stimme herüber. Er verspricht, im Unterricht besser aufzupassen und dem Lehrer zu gehorchen. Der Ton ist ernst und klar, genau richtig offenbar, denn der Vater spricht die erlösenden Worte: Żeby mi to było ostatni raz! Ich hoffe, das ist das letzte Mal.

Stuhlbeine scharren über den Boden, und mein Vater, der jetzt nicht mehr verärgert klingt, sagt meinen Brüdern, sie können gehen.

Es ist noch Zeit zum Spielen. Waslaw und Stassik rufen nach mir. Mamusia nickt und nimmt mir das Küchentuch ab.

»Geh nur, Bronia«, sagt sie. »Den Rest mache ich alleine.«

5.

Wann wird mir klar, dass Stassik sich verändert hat?

Ich erinnere mich daran, dass Waslaw sich bei einer unserer Theatervorstellungen über ihn ärgert, weil Stassik immer wieder seinen Text vergisst. Er wirft ihm vor, er wolle uns den Spaß verderben, bis schließlich Stassik sich in eine Ecke zurückzieht und überhaupt nicht mehr mitspielt. Die Hände an den Kopf gedrückt, murmelt er: »Es riecht so schlecht … es riecht so schlecht.«

Die seltsamen Momente häufen sich. Einmal, während des Ballettunterrichts, wirft sich Stassik hin und schlägt mit den Fäusten auf den Boden. Er schlurft und stolpert beim Gehen. Er schreit hysterisch, wenn jemand einen Stuhl von der gewohnten Stelle wegrückt oder wenn Mamusia ihm Milch in der falschen Tasse gibt. Manchmal sitzt er regungslos da und starrt die Wand an. Wenn ich ihn frage, was er da sieht, schüttelt er sich wie ein nasser Hund und sagt: »Nichts.«

Ich nehme jetzt auch am Russischunterricht teil, obwohl ich erst sechs bin. Ich genieße es, weil ich bei den Rechtschreibübungen und den Nacherzählungen immer die Beste bin. Waslaw lässt keine Gelegenheit aus, mich daran zu erinnern, dass er mir im Tanzen weit voraus ist und es das sei, was eigentlich zählt. Mein Vater habe zu Mamusia in einem Moment, als er dachte, niemand höre zu, gesagt, Waslaw sei außergewöhnlich begabt. Stassik erklärt, Unterricht aller Art sei blöd. Sobald der Lehrer auftaucht, klagt mein Bruder über Kopfweh. »Als ob da ein Messer stecken würde«, jammert er und deutet auf seine rechte Schläfe. Mamusia legt ihm eine kalte Kompresse auf die Stirn, sagt ihm, er solle sich ausruhen und später, wenn es ihm wieder besser geht, zum Unterricht dazukommen.

Er kommt nie. Stattdessen reißt er Seiten aus seinen Heften und faltet Papierschwalben daraus. Oder er schüttet Tinte darüber und nennt das Schreiben, seine Schrift sei nur anders als die gewöhnliche. »Schau«, sagt er und zeigt auf ein Blatt Papier, »ich habe das Wort ›Burg‹ geschrieben.« Aber da ist bloß ein verschmierter Tintenklecks. Einmal sehe ich Stassik dasitzen, vor ihm ein Buch. Sein Finger fährt langsam die Zeilen entlang, während er die Buchstaben zu entziffern versucht. Seine Zungenspitze steht aus dem Mund vor, so konzentriert ist er. »Wenn du willst, lese ich es dir vor«, sage ich, aber er klappt das Buch zu und schüttelt den Kopf.

Bald gibt mein Vater es auf, mit Stassik Ballett zu üben, und unterrichtet Waslaw gemeinsam mit mir. Wenn Waslaw neun ist, soll er die Aufnahmeprüfung für die Kaiserliche Ballettschule machen. Bis dahin ist nur noch ein gutes Jahr Zeit, er muss sich ranhalten. »Du, Bronia«, erinnert mich mein Vater, »bist als Nächste dran.« Als ob ich das vergessen könnte!

Lasse ich mir zu deutlich anmerken, wie glücklich ich bin? Wahrscheinlich, aber Stassik scheint es nichts auszumachen. Er sitzt teilnahmslos da und sieht uns beim Üben zu. Manchmal sagt er, ihm ist langweilig, und dann sagt mein Vater, er soll draußen spielen. Aber das will er nicht, und wenn mein Vater ihn fragt, warum nicht, antwortet er, die Kinder auf der Straße lachten ihn aus und sagten, er sei dumm.

Waslaw will nicht über Stassik reden. Wenn ich das Thema anschneide, tut er so, als hörte er mich nicht, und wenn ich nicht lockerlasse, sucht er schleunigst das Weite. Er findet immer eine Beschäftigung, die seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nimmt. Er lässt einen Ball auf dem Boden aufhüpfen, abwechselnd mit der rechten und der linken Hand, und springt selbst in perfekter Harmonie mit dem Ball. Oder er übt einen Kartentrick, der besondere Fingerfertigkeit verlangt.

Es ist, als ob er glaubte, wenn er nicht darüber spricht, was mit Stassik passiert, sei es nicht wirklich.

6.

Hunderte von Kindern bewerben sich um die Aufnahme in die Kaiserliche Ballettschule, aber nur wenige sind auserwählt.

Mamusia wird nicht müde, uns immer wieder daran zu erinnern, dass es nicht genügt, gut zu tanzen, aber meistens sieht sie dabei Waslaw an, der ständig Ärger mit den Lehrern hat. »Man muss in allen Fächern ausgezeichnete Leistungen vorweisen. Lesen und Schreiben, Geschichte, Geografie, Rechnen.«

Mein Vater macht sich um das Sorgen, was er Waslaws Allgemeinbildung nennt. Die ständig wechselnden Privatlehrer, sagt er zu Mamusia, sind allesamt ihr Geld nicht wert. Wenn wir, seine Kinder, es je zu etwas bringen sollen, müssen wir auf eine ordentliche Schule gehen.

Eine neue Dringlichkeit klingt aus seinen Worten. Im März ist Waslaw acht geworden, er hat nur noch ein Jahr Zeit, sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Außer einer richtigen Schule braucht er auch Ballettunterricht bei Lehrern vom Mariinski-Theater. Und er braucht das, was unsere Eltern Protekcja nennen, die Gunst von Leuten, die an der Schule etwas zu sagen haben.

Diese Reden haben vorerst nichts an sich, was mich beunruhigen könnte. Ich mache mir auch keine Sorgen, als ich meinen Vater sagen höre, dieses Zigeunerleben müsse ein Ende haben. Wir könnten nicht länger von einem Ort zum nächsten reisen, wir müssten nach Sankt Petersburg.

Aber wenn ich an die Aufnahmeprüfung denke, fängt mein Herz zu rasen an, und mein Mund wird trocken, und das, obwohl ich erst sechs bin. Was ist, wenn ich durchfalle? Dann kann ich nie eine Ballerina assoluta werden. Ich suche Trost in meinen Übungen, in Mamusias Versicherungen, dass ich von Tag zu Tag besser werde, aber die Angst lässt sich nicht verscheuchen.

»Schau mich an«, sagt Waslaw, als ich es ihm gestehe. »Habe ich vielleicht Angst?«

Selbst wenn er keinen einzigen Blick in ein Schulbuch werfen würde, wird die Schule ihn aufnehmen. »Du wirst es sehen, Bronia«, sagt er und verspricht, dass er mir, wenn ich an der Reihe bin, alles beibringen wird, was ich brauche, um die Prüfung zu bestehen.

Wir sind unser Leben lang umhergereist, aber der Umzug nach Sankt Petersburg ist etwas anderes. Die Stimmung in den letzten Sommermonaten vor unserer Abreise ist gedrückt, immer wieder macht mein Vater seinem aufgestauten Ärger Luft, und Mamusia verstummt, Tränen in den Augen. Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern schließt sich mit dumpfem Knall, und wenn ich lausche, höre ich Mamusia schluchzen, und mein Vater stapft ruhelos im Raum hin und her. Jede Kleinigkeit regt ihn auf, denke ich. Wenn das Dienstmädchen mit Töpfen klappert, während er die Ausgaben für den Haushalt zusammenzuzählen versucht. Stassiks Ungeschicklichkeit. Wenn Mamusia ihn fragt, wo er so lange gewesen ist und mit wem er zusammen war.

Sogar dann, wenn Waslaw im Unterricht eine Übung außergewöhnlich gut gemacht hat, bekommt er von meinem Vater nichts anderes zu hören als: »Noch einmal von vorn … Kinn hoch … höher … höher … du bist ein Nijinsky, also nimm dich zusammen, verdammt!«

Mich verschont er mit seinem Zorn, aber das bringt Waslaw gegen mich auf. Sobald der Unterricht beendet ist, macht er sich aus dem Staub. »Nirgendwohin«, antwortet er, wenn ich ihn frage, wohin er geht, oder: »So weit die Füße tragen.«

Er will mich nicht mitnehmen, alles Betteln hilft nichts. Ich bin zu klein. Ich bin ein Mädchen. Ich bin zu schwach. Ich wäre ihm nur ein Klotz am Bein.

Noch eine Erinnerung: Ein sonniger Nachmittag, goldene Stäubchen tanzen in der Luft.

Ich sitze am Esstisch. Neben mir isst Stassik ein Butterbrot mit Zucker drauf. Eine grün schillernde Schmeißfliege dreht brummend ihre Kreise. Vor mir auf dem Tisch liegt der Kopf einer Sonnenblume. Er ist noch halb voll. Ich nehme mir einen Kern nach dem andern, beiße die Spitze ab und sauge, bis die schwarz-weiß gestreifte Schale leer ist.

Ich will eine Zeichnung fertig machen, an der ich schon seit einer Weile arbeite. Ein Pferd, das eine Kutsche zieht. Die Kutsche mit dem großen Fenster und den hohen Rädern war leicht zu zeichnen, aber das Pferd sieht komisch aus. Die Beine sind zu kurz, der Rücken ist zu lang und hässlich krumm. Ich versuche das Pferd auszuradieren, aber es gelingt nicht recht, die missratene Gestalt bleibt sichtbar.

Mamusia sitzt auch mit am Tisch und stopft Socken. Ich sehe ihr an, dass sie nervös ist, immer wieder wirft sie einen Blick zur Uhr. Schließlich steht sie auf und öffnet das Fenster. »Wo ist er denn dieses Mal, Bronia?«, fragt sie. Sie lehnt sich hinaus, vielleicht ist Waslaw unter den Jungen, die auf der Straße spielen. »Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Waslaw sagt mir nie, wohin er geht, er erzählt mir höchstens hinterher, wo er gewesen ist, und er hat jedes Mal lauter aufregende Dinge erlebt. Ein Stalljunge hat ihm erlaubt, auf einem Pferd zum Fluss zu reiten, ohne Sattel, und hat ihm ein Elsternnest gezeigt. Er hat zur Unterhaltung einiger Flussschiffer einen Hopak getanzt, und sie haben ihm einen ganzen Rubel geschenkt und ihn ein Stück weit auf ihrem Kahn mitgenommen. Er kann mir Beweise vorlegen: eine Münze, ein Halstuch, ein bläulich geflecktes Ei, das er ausgeblasen hat. Manchmal bringt er Geschenke mit. Für mich Stücke Treibholz, die wie der Schwanz einer Nixe oder eine Schlange aussehen, für Stassik ein Hufeisen, für Mamusia eine mandelförmige blaue Holzperle, deren gefurchte Oberfläche an einen Schildkrötenpanzer erinnert.

Mamusia beugt sich noch weiter vor, als hätte sie ihn auf der Straße entdeckt, aber offenbar hat sie sich getäuscht, denn sie sagt: »Wo er nur so lange bleibt? Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein?«

Aus dem Elternschlafzimmer schallt die Stimme meines Vaters. »Przestań, na miłość boską. Hör auf, ich flehe dich an.« Er zieht sich gerade fürs Theater an, aber er hat die Tür offen stehen lassen und alles mitgehört, was wir gesprochen haben. »Der Junge wird ja ganz verweichlicht, wenn du ständig so ein Gejammer machst.«

Etwas fällt hinunter und rollt über den Boden. Man hört einen Fuß aufstampfen, dann ist es still.

Stassik neben mir zittert, er fasst meine Hand und drückt sie so ängstlich, dass sich tief in meinem Bauch etwas zusammenkrampft. Dasselbe Gefühl habe ich, wenn ich auf einer Schaukel sehr hoch schwinge oder wenn ein Karussell abrupt anfährt.

Bevor Mamusia etwas sagen kann, geht die Tür auf, und Waslaw kommt herein, keuchend, verschwitzt, sein Gesicht ist schmutzig. »Da bin ich wieder«, sagt er fröhlich.

Mamusia seufzt erleichtert, man sieht an ihren Schultern, wie die Spannung von ihr abfällt. »Wo bist du gewesen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«

»Am Fluss. Schau, was ich dir mitgebracht habe.«

Waslaw kramt in seiner Tasche, als mein Vater aus dem Schlafzimmer kommt, rote Flecken auf dem Hals und auf den Wangen, die Manschetten seines Hemds offen. Von seiner Hand baumelt schlaff wie ein toter Fisch eine Krawatte. »Schluss jetzt mit diesem Verhör! Kann ich mich denn nicht mal mehr in Ruhe anziehen?«

Waslaws Körper strafft sich, er stellt den rechten Fuß etwas nach vorn, als wollte er gleich anfangen, den Hopak zu tanzen. Stassik, der meine Hand losgelassen hat, schaukelt mit dem Oberkörper vor und zurück. »Aufhören. Aufhören. Aufhören«, murmelt er.

Aber mein Vater hört nicht auf. »Weißt du nicht, dass es gefährlich ist, am Fluss zu spielen? Bist du zu dumm, das zu kapieren? Hast du überhaupt keinen Verstand in deinem sturen Schädel?«

Wie Schläge gehen die Worte auf Waslaw nieder, hart und verletzend.

»Ich kann schwimmen. Und überhaupt: Was kümmert es dich, wohin ich gehe?«

»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden!«

»Ich rede, wie es mir passt.«

»Nicht in meinem Haus! Nicht, solange ich hier bin.«

Die Lautstärke steigert sich mit jedem Satz. Mamusia drückt die Handflächen schützend auf Stassiks Ohren. Meine Augen flitzen von meinem Vater zu Waslaw und zurück. Ungezogener Fratz … Streuner … Tunichtgut … Schwachkopf … Verräter …

»Verschwinde jetzt in dein Zimmer, Waslaw. Und da bleibst du, bis du dich entschuldigst.«

»Bei dir? Da kannst du lange warten!«

Mein Vater holt aus, als wollte er Waslaw ins Gesicht schlagen, dann lässt er die Hand sinken. Mamusia hält immer noch Stassik. Sie beißt sich auf die Lippen, und da bemerke ich erst, wie rot ihre Augen sind, wie geschwollen.

»Geh auf dein Zimmer, Waslaw! Sofort!«

Waslaw setzt sich in Bewegung, ganz langsam, aufreizend langsam. Ein Schritt, zwei, drei. Lautlos wie eine Katze, dann knallt die Tür hinter ihm zu.

»Aufhören … aufhören … aufhören«, stöhnt Stassik.

»Was starrst du