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»Die Liebe des Ulanen«, ein packender Fortsetzungsroman über den deutsch-französischen Krieg 1870/71, erschien in 107 Lieferungen von September 1883 bis Oktober 1885 in der Zeitschrift »Deutscher Wanderer«. Der Jahrgang umfasste insgesamt 108 Lieferungen; in der Nummer 87 gab es keinen May-Text. Die vorliegende Textfassung folgt in 5 Bänden unverändert und ungekürzt der Erstausgabe des Münchmeyer-Verlags und entspricht damit vollständig der Originalfassung von Karl May. Der besseren Übersichtlichkeit wegen wurden zusätzliche Kapiteleinteilungen eingefügt. Der Ulanenrittmeister Richard von Königsau reist im Jahre 1870 inkognito und als buckliger Erzieher verkleidet nach Ortry in Lothringen, um im Schlosse des Gardekapitäns Albin Richemonte tragische Familiengeheimnisse aufzuklären und französischen Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland auf die Spur zu kommen. Auf dem Weg nach Ortry rettet er Marion, Richemontes schöner Enkelin, das Leben und entdeckt seine Liebe zu ihr. In dem geheimnisvollen Schloss Ortry, einem Gebäude mit Tapetentüren, geheimen Gängen und unterirdischen Verliesen bekämpft Köngsau die Machenschaften des finsteren Richemonte und gelangt schließlich auf die Spur eines Jahrzehnte zurückliegenden Verbrechens, durch das seinen Vorfahren ein furchtbares Schicksal zugefügt worden ist. Mutig und entschlossen nimmt Königsau den Kampf mit den Mächten des Bösen auf.
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Seitenzahl: 613
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Seit den letzterzählten Ereignissen war eine Reihe von Jahren vergangen. Noch lebte Hugo von Königsau, der einstige Liebling des alten Feldmarschalls »Vorwärts«, in stiller Zurückgezogenheit auf seinen beiden, nebeneinander liegenden Gütern. Er genoss an der Seite seiner treuen Margot ein Glück, wie es nur wenigen Irdischen beschieden ist.
Ein einziges Mal wurde dasselbe getrübt, als Margots Mutter, Frau Richemonte, starb. Wäre außerdem eine Trübung desselben möglich gewesen, so hätte das nur dadurch sein können, dass er sich noch immer mit jener leeren, dunklen Stelle beschäftigte, welche in Folge des empfangenen Hiebes in seinem Gedächtnisse zurückgeblieben war.
Fast so alt geworden wie der treue Kutscher Florian Rupprechtsberger, der ihm aus Jeanette nach Preußen gefolgt war, saß er mit diesem stundenlang beisammen, um über diesen unaufgeklärten Punkt zu verhandeln; aber vergebens: denn es war und blieb ihm unmöglich, sich auf den Ort zu besinnen, an welchem er die Kriegskasse vergraben hatte. Wenn dann Margot dazu kam, so ahnte sie stets, welches der Gegenstand des Gespräches gewesen war. Sie legte ihm den Arm um den Nacken und meinte dann gewöhnlich in bittendem Tone: »Ich vermute, dass Du wieder über diese böse Kriegskasse nachgedacht hast. Ist es nicht so, lieber Hugo?«
»Leider ja!«, pflegte er dann entweder trübe oder ärgerlich zu antworten.
»Lass das doch endlich auf sich beruhen! Wie oft habe ich Dich schon darum gebeten, und doch willst Du mir nicht diesen einzigen Gefallen tun!«
»Ich möchte wohl gern, das darfst Du mir glauben; aber wenn der Gedanke kommt, so habe ich doch nicht die Macht ihn von mir zu weisen.«
»Es ist aber überflüssig und vergeblich. Selbst wenn Du Dich auf den Ort besinnen könntest, dürftest Du den Schatz ja doch nicht haben.«
»Warum nicht, meine Liebe?«
»Weil die Kriegskasse eine französische ist. Ihre Aneignung würde ja ein Diebstahl sein. Anders wäre es allerdings, wenn sie deutsches, oder überhaupt Eigentum der Verbündeten gewesen wäre.«
»Ich kann Dir nicht Unrecht geben. Aber wenn wieder einmal ein Krieg zwischen den Deutschen und Franzosen ausbrechen würde, wenn wir jene Gegend occupirten, dann hätten wir das Recht, uns der Beute, welche uns damals entgangen ist, zu bemächtigen.«
»Hoffen wir nicht, dass sich jene Zeit des Blutvergießens wiederhole.«
»Ich stimme Dir bei. Aber auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen würde es vorteilhaft für mich sein, wenn ich mich auf den Ort besinnen könnte. Ich könnte eine bedeutende Gratifikation von Frankreich erlangen, wenn ich anzugeben vermöchte, wo eine solche Summe zu finden ist.«
»Lass das gut sein, lieber Hugo! Wir sind ja nicht in der bedrängten Lage, eine Gratifikation zu bedürfen.«
Auf diese Bemerkung pflegte der alte Rittmeister nicht zu antworten; er tat, als sei er beruhigt, aber im Stillen sann und grübelte er weiter.
Margot hatte sehr Recht, wenn sie sagte, dass sie sich nicht in einer bedrängten Lage befänden. Ihre beiden Güter brachten ihnen ein, was sie brauchten. Übrigens hatten sie ja den großen Meierhof Jeanette von der verstorbenen Baronin de Sainte-Marie geerbt. Diesen Besitz hatten sie im Laufe der Jahre sehr verbessert und dann einem tüchtigen Pächter übergeben. Er stand jetzt viel höher im Werte als vorher, obgleich sie dort, da der Hof ja in Frankreich lag, sich nur äußerst selten sehen ließen.
Ihr Sohn Gebhardt war glücklich aus Afrika zurückgekehrt. Er hatte seine Forschungen veröffentlicht und sich dadurch einen ehrenvollen Ruf erworben. Das veranlasste ihn, auf diesem Felde weiter zu arbeiten. Er nahm zunächst Urlaub, um sich an weiteren Expeditionen zu beteiligen, welche ihm neue Ehren einbrachten. Darum kam er endlich um seinen Abschied ein. Da nicht die mindeste Aussicht auf einen Krieg war, so konnte er dies, ohne sich eine Blöße zu geben oder einen unwürdigen Verdacht auf sich zu laden. Er erhielt ihn sofort, da man gar wohl wusste, dass er dem Allgemeinen durch seine jetzige Tätigkeit weit mehr Nutzen bringe, als wenn man ihn auf eine enge Garnison beschränke. Und so war er von da an im Dienste der Wissenschaft oft lange Zeit von seinem Vaterlande abwesend.
Ida de Rallion war seine Frau geworden. Sie liebten sich von ganzem Herzen und fanden in ihrer Ehe ganz dasselbe Glück, welches Gebhardts Eltern in ihrer Vereinigung gefunden hatten. Freilich sah Ida es nicht gern, dass Gebhardt so oft und lang von der Heimat entfernt war; aber sie freute sich seines Ruhmes und fühlte doppelte Seligkeit, wenn er einmal zu ihr zurückkehrte. Während er in fernen Zonen weilte, fand sie ja Trost bei den geliebten Schwiegereltern, und als sie nun gar die Wonne hatte, erst einen Sohn und dann später auch eine Tochter zu haben, so pflegte ihr die Zeit des Wartens nicht mehr so lang zu werden wie früher.
Ihr Sohn war Richardt genannt worden. Vater und Mutter hingen in vereinter Liebe an ihm und dem kleinen Schwesterchen, und doch schien es beinahe, als ob ihre Zärtlichkeit von derjenigen der Großeltern fast noch überboten werde. Natürlich erhielt der Knabe die Bestimmung, einst Offizier zu werden, und seine Erziehung erhielt eine streng nach diesem Ziele visierte Richtung. Bei der reichen Begabung, durch welche er sich auszeichnete, brachten die Bemühungen seiner Großeltern, Eltern und Lehrer überreichliche Früchte, und es ließ sich hoffen und erwarten, dass er einst dem Stande, für welchen man ihn bestimmt hatte, alle Ehre machen werde. –
Während so die Familie Königsau sich eines reinen und beinahe ungetrübten Glückes erfreute, zog sich im Südwesten von ihnen eine schwere Wetterwolke gegen sie zusammen.
Napoleon der Dritte war erst Präsident und dann Kaiser von Frankreich geworden. Dieses Ereignis kam Zweien sehr gelegen, welche bisher vergeblich auf eine Erfolg versprechende Gelegenheit gewartet hatten, ihre Pläne in Ausführung zu bringen: Kapitän Richemonte und sein Verwandter und Adoptivsohn, welcher sich in Afrika Ben Ali genannt hatte.
Sobald der Neffe des Onkels Kaiser geworden war, ließ sich annehmen, dass für alle Diejenigen, welche an den Traditionen des ersten Kaiserreiches festgehalten hatten und Anhänger des Kaisers gewesen waren, nun endlich die längst ersehnte Zeit gekommen sei, sich geltend zu machen. Und sie hatten Recht. Der Neffe, welcher keineswegs den gewaltigen Geist des Onkels hatte, suchte doch, ein Portrait desselben zu sein. Er schmeichelte sich in seine Fußtapfen treten zu können, und war doch nichts als ein Nachäffer der äußeren Eigentümlichkeiten und Gepflogenheiten des großen Corsen.
Aber der Stand der Dinge in Europa war ihm günstig. Das Flittergold seiner Krone schien echtes Metall zu sein, und die Glasflimmer, mit denen er sich schmückte, warfen einen Glanz, welchen man für die Brillanz echter Diamanten hielt. Hatte der Onkel durch die Gewalt seines Genies sich zum Schiedsrichter der halben Welt gemacht, so gelang es dem Neffen, durch verschlagene Taschenspielerstückchen die Völker und sogenannten Diplomaten zu täuschen. Man staunte, man war verblüfft; man bewunderte ihn sodann, und das war es ja, was er beabsichtigte; denn vom Angestaunt- und Bewundertwerden bis zur wirklichen Herrschaft ist ja nur ein kleiner Schritt, und diesen Schritt zu tun, säumte er nicht.
Hatte Napoleon es verstanden, das Genie zu sich emporzuziehen, selbst wenn er es in der niedersten Klasse des Volkes zu suchen hatte, so äffte ihm auch hier der Neffe nach, indem er es nicht versäumte, sich Kreaturen zu schaffen, welche er für geeignet hielt, zu dem falschen Glanze seines Thrones einen kleinen Strahl hinzu zu fügen. Welchen Wert diese Männer hatten, zeigte sich erst, als dieser Thron zusammenbrach. Und vielleicht gab es nur zwei Männer, welche diesen Wert oder vielmehr Unwert erkannt hatten und richtig zu beurteilen verstanden – Bismarck und Moltke, welche es ja waren, unter deren Fausthieben der ganze Kartenbau des Kaiserreiches später zusammenfiel.
Seit einiger Zeit gehörte zu jenen Günstlingen des Kaisers und der Kaiserin ein Mann, der uns bereits begegnet ist, nämlich Graf Jules Rallion, welcher zu wenig Ehre besessen hatte, auf die Forderung Gebhardts von Königsau mit der Waffe in der Hand zu antworten.
Er war damals feig entflohen, hatte sich aber nach Gebhardts Entfernung sofort wieder eingefunden, um seine Bewerbung um seine Cousine Ida fortzusetzen. Er war aber mit Verachtung zurück- und zurechtgewiesen worden und hatte mit Grimm sehen müssen, dass der Deutsche seine schöne Verwandte als Frau in sein Vaterland führte.
Seit jener Zeit hasste er Königsau noch mehr als früher, und dieser Hass erstreckte sich auch auf Kunz von Goldberg, welcher es verstanden hatte, die zweite Cousine und ebenso auch die alte, strenge Tante zu gewinnen. Wie gern hätte er sich an diesen beiden Deutschen gerächt! Aber leider fand sich keine Gelegenheit dazu. Und eine solche herbeizuführen, dazu war er weder Mutig noch erfinderisch genug.
Obgleich ihm diese beiden Eigenschaften entgingen, gelang es ihm dennoch, sich bei Hofe einzubürgern. Eine Grafenkrone gibt Relief genug, um die Blicke von Schwächen abzuziehen, welche nicht geeignet waren, den Träger dieser Krone zu Ehren zu bringen. In Folge seines untertänigen Wesens und anderer negativen Eigenschaften, welche aber von einem glanzsüchtigen Fürsten lieber bemerkt werden als positive Vorzüge, wusste er sich besonders in die Gunst der Kaiserin einzuschmeicheln, und bald war es allgemein bekannt, dass die Stimme des Grafen Rallion das beste Mittel sei, sich das Kaiserpaar geneigt zu machen.
Kapitän Richemonte hörte davon. Schlau und rücksichtslos, wie er war, fand er bald Gelegenheit, sich dem Grafen auf eine verbindende Weise nützlich zu machen. Er erhielt Zutritt in dessen Gemächer, und seiner diabolischen Natur wurde es nicht schwer, bald einen gewissen Einfluss auf den schwachen Günstling zu gewinnen.
Nun erzählte er ihm von dem Baron de Sainte-Marie, welcher als Marabut gestorben sei und einen Sohn hinterlassen habe, welcher im Besitze der nötigen Papiere sei, sich als den rechtmäßigen Besitzer des Meierhofes Jeanette auszuweisen.
Der Graf nahm diese Erzählung mit Verwunderung entgegen. Als aber Richemonte erzählte, dass Bonaparte eine Nacht auf jener Besitzung zugebracht und dabei sein Herz verloren habe, fragte er schnell: »An wen, lieber Kapitän?«
»An meine Schwester.«
»Wie? Sie haben eine Schwester?«
»Ja, gnädiger Herr.«
»Eine Schwester, welche von Bonaparte geliebt wurde? Und Sie haben mir dieselbe noch nicht vorgestellt? Das muss ich sehr übel vermerken, Kapitän. Eine Dame, welche die Zuneigung des großen Kaisers besessen hat, würde persona grata am hiesigen Hofe sein. Sie haben da eine Unterlassungssünde begangen, welche ich Ihnen fast gar nicht verzeihen darf.«
»Ich hätte das, was Sie eine Unterlassungssünde nennen, sicherlich nicht begangen, Verehrtester, wenn es mir überhaupt möglich gewesen wäre, die Schwester Ihnen vorzustellen. Sie lebt nicht in Frankreich, sondern in Deutschland.«
Rallion blickte den Kapitän erstaunt an.
»In Deutschland?«, fragte er. »Wie kommt es, dass sie es sich bei den Feinden ihres kaiserlichen Geliebten gefallen lässt?«
»Sie würde sich die Anwendung des zärtlichen Wortes, welches Sie soeben in Anwendung brachten, wohl verbitten. Sie ist der Zuneigung des Kaisers nicht wert gewesen; sie hat sich ablehnend verhalten und ihm einen deutschen Leutnant vorgezogen, dessen Frau sie geworden ist.«
»Ah, sie ist in Deutschland verheiratet?«
»Ja, leider!«
»Welch ein Unsinn! Welch eine Dummheit! Welch ein Verrat an dem Lande, in welchem sie geboren wurde!« rief der Graf. »Aber ich habe freilich auch andere Mädchen gekannt, von denen diese ungeleckten deutschen Barbaren uns vorgezogen wurden. Man sollte diese Art von Frauenzimmern mehr als mit bloßer Verachtung strafen. Ich sage dies, obgleich Diejenige, von welcher soeben die Rede war, Ihre Schwester ist. Dem Patriotismus dürfen Sie das nicht übel nehmen!«
»Daran denke ich nicht im Entferntesten! Diese Abtrünnigkeit der Schwester ist es ja gewesen, welche veranlasst hat, dass ich mich von der Letzteren vollständig losgesagt habe.«
»Ah! Sie verkehren gar nicht mit ihr?«
»Nein. Ich denke aber, jetzt wenigstens aus der Ferne und durch den Advocaten mit meinem Herrn Schwager in Verhandlung zu treten; denn diese verhasste Familie ist es ja, welche sich unrechtmäßiger Weise in den Besitz jenes Meierhofes Jeanette gesetzt hat, dessen rechtmäßiger Eigentümer eigentlich der Baron de Sainte-Marie ist, von welchem ich Ihnen erzählte.«
Der Graf machte eine Bewegung der Überraschung und sagte: »Ah, wirklich? Ist es so? Das wäre ein Umstand, welcher hier sehr in Betracht zu ziehen sein dürfte. Wie heißt jener Schwager?«
»Königsau.«
Der Graf trat unter allen Zeichen der höchsten Überraschung einen Schritt zurück und rief: »Königsau? Wäre das möglich?«
»Ist Ihnen der Name bekannt?«, fragte der Kapitän, jetzt ebenso überrascht, wie vorher, der Graf.
»O, mehr als bekannt!«, antwortete dieser. »Wie ist der Vorname jenes Königsau?«
»Hugo.«
Der Graf sann einen Augenblick nach und meinte dann: »Ich lernte einst bei meiner Tante einen Leutnant von Königsau kennen, welcher erzählte, dass sein Vater viel mit diesem alten Barbaren, dem Marschall Blücher, verkehrt habe.«
»So hat er Hugo von Königsau gemeint und ist sein Sohn gewesen.«
»Er nannte sich Gebhardt.«
»Das stimmt. Ich bin zwar jetzt nicht in Deutschland gewesen, aber ich habe Erkundigungen über die Familie eingezogen. Hugo von Königsau hat einen Sohn, welcher Gebhardt heißt.«
»Und jetzt besinne ich mich, bei meiner Tante gehört zu haben, dass Königsau, der Vater, eine gewisse Margot Richemonte geheiratet habe.«
»Das eben war meine Schwester. Sein Sohn, jener Gebhardt, hat eine Dame Ihres Namens, welche Französin ist, eine gewisse Ida de Rallion, zur Frau genommen.«
Das Gesicht des Grafen verfinsterte sich. Es war darin der Ausdruck eines tiefen, unversöhnlichen Hasses zu erkennen.
»Diese Ida de Rallion war meine Cousine«, sagte er.
Der Kapitän warf einen forschenden Blick auf den Grafen. Seinem Scharfsinne fiel es nicht schwer, das Richtige zu erraten. Ein solcher Hass konnte nur entweder ein verlorenes Erbteil oder verschmähte Liebe, vielleicht auch Beides zugleich, zum Grunde haben.
»Ich hoffe nicht, dass Sie diese Cousine, welche nun ich eine Abtrünnige zu nennen mir erlaube, vermisst haben?«, fragte er schlau.
Der Graf ballte die Faust und antwortete: »Wir waren so viel wie versprochen mit einander«, sagte er. »Aber wenn Ihre Schwester einen deutschen Leutnant dem Kaiser vorgezogen hat, so darf ich mich nicht wundern, wenn es meiner Cousine eingefallen ist, mich gegen einen eben solchen Menschen zurückzusetzen. O, wie hasse ich diese Deutschen! Und wie erst hasse ich Alles was Königsau heißt und mit dieser Sippe in Verbindung steht!«
Der Kapitän nickte mit dem Kopfe. Er ließ jenes Fletschen der Zähne sehen, welches bei ihm in Augenblicken des Ärgers, des Grimmes zu bemerken war. Doch dabei spielte ein Zug um seinen Mund, welcher es einem aufmerksameren Beobachter, als der Graf war, leicht hätte erraten lassen, dass ihm der Zorn desselben ganz willkommen sei.
»Mein Hass begegnet sich mit dem Ihrigen«, sagte er, Rallion mit verstecktem Blicke beobachtend. »Ich gäbe viel darum, wenn ich ein Mittel wüsste, diese ganze Brut zu verderben!«
Der Graf ging sofort in die Falle, indem er eifrig zustimmte: »Das ist ja auch mein Wunsch! Leider reicht mein Einfluss nicht weit genug. Man darf eine Faust in der Tasche machen, weiter nichts.«
»Und doch hätten wir gerade jetzt die beste Gelegenheit, diesen Königsaus einen prächtigen Streich zu spielen«, meinte er nachdenklich.
»Wieso?«
»Indem wir sie zwingen, Jeanette herauszugeben.«
»Ah, wirklich! Das ist ja wahr!! Aber dann müsste Ihr Schützling vorher als Baron de Sainte-Marie anerkannt sein!«
»Dem steht nichts im Wege. Wir haben ja die klarsten Beweise in den Händen.«
»Darf ich dieselben sehen?«
»Wenn Sie erlauben, werde ich sie Ihnen vorlegen und Ihnen dabei auch Den vorstellen, welchen Sie meinen Schützling nennen.«
»Ich bitte Sie darum! Es wird mir nicht schwer werden, den Kaiser für ihn zu interessieren. Ja, ich hoffe sogar, dass dieser mit ihm und Ihnen zu sprechen verlangen wird. Er wird sofort auch für Sie Teilnahme empfinden, wenn ich ihm erzähle, dass Ihre Schwester schön und interessant genug war, die Augen Bonaparte's auf sich zu ziehen. Um dies zu können, muss ich aber besser unterrichtet sein, als dies jetzt der Fall ist. Wollen Sie mir nicht erzählen, auf welche Weise Ihre Schwester dem Kaiser begegnete?«
Richemonte folgte dieser Aufforderung. Seinem Berichte lag jener Überfall im Walde und der Aufenthalt Napoleons auf dem Meierhofe Jeanette zu Grunde. Dies war aber auch das einzige Wahre daran. Er fügte Ausschmückungen und Episoden hinzu, welche nur zu dem Zwecke erfunden waren, ihn selbst in einem günstigen Lichte, die Königsaus aber in einem desto gehässigeren erscheinen zu lassen.
Als er geendet hatte, meinte der Graf: »So also ist es gewesen! Interessant, höchst interessant! Ich will Ihnen gestehen, lieber Kapitän, dass Sie mir gleich im Augenblicke unserer ersten Begegnung eine warme Sympathie eingeflößt haben. Jetzt verstehen wir einander noch besser, und ich denke, dass eine Gelegenheit kommen werde, den Gefühlen, welche wir gleicherseits hegen, einen Ausdruck zu geben, welcher dieser deutschen Familie nicht angenehm sein wird. Ich bin nicht der Mann, der eines Menschen Verderben will, aber einem Königsau werde ich niemals verzeihen können, dass er diesen Namen trägt. Reichen wir uns die Hand zu dem Übereinkommen, uns gegenseitig zu unterstützen, wenn es gilt, denen, welche uns auf eine solche Weise beleidigten, zu zeigen, dass ein Franzose sich wenigstens von einem Deutschen nie ungeahndet beleidigen lässt!«
Nichts konnte dem Kapitän willkommener sein als diese Aufforderung. Er schlug sofort in die dargebotene Hand des Grafen und sagte: »Ich bin von ganzem Herzen bereit, auf ein solches Bündnis einzugehen. Es liegt ja in der menschlichen Natur, ja, es ist sogar die heiligste Pflicht eines Jeden, der sich einen Mann nennt, keine Beleidigung ungerächt zu lassen. Wir erfüllen also nur diese Pflicht, indem wir die Absicht, welche Sie andeuteten, zur Wirklichkeit werden lassen.«
»Sie haben Recht. Ich bin heute zur Kaiserin befohlen und werde nicht versäumen, die Angelegenheit des Barons de Sainte-Marie zum Vortrag zu bringen. Dass Baron Alban de Sainte-Marie der Mörder seiner Frau gewesen ist, darf der Sohn nicht entgelten. Und dass dieser Letztere zugleich der Sohn eines Mädchens ist, welches nicht zum Adel gehörte, kann auch kein Hindernis sein, die Rechte, welche sein Vater beanspruchen durfte, auf ihn übergehen zu lassen. Bringen Sie ihn sofort unverweilt zu mir, und dann werde ich Ihnen morgen am Vormittage mitteilen, welche Hoffnungen wir hegen dürfen!«
Diese für den nächsten Morgen angekündigte Unterhaltung fand statt, und es stellte sich heraus, dass Richemonte allerdings große Hoffnungen hegen durfte, seinen Plan in Erfüllung gehen zu sehen. Der Kaiser hatte verlangt, ihn in einer Privataudienz zu empfangen, bei welcher auch die Kaiserin zugegen sein sollte. Diese Letztere, die einstige Dame des im höchsten Grade schlüpfrigen spanischen Hofes, gutirte gewisse Dinge, welche sonst nicht vor das Ohr einer Dame zu gehören pflegen. Sie war neugierig, Etwas über die letzte Liebe Napoleons zu erfahren, und interessierte sich daher schon im Voraus lebhaft für den Mann, welcher ihr diesen Genuss bereiten sollte.
Die Audienz fand statt. Richemonte verstand es, diese Gelegenheit zu benutzen. Er stellte seine damaligen Erlebnisse und Taten in ein möglichst vorteilhaftes Licht, gab sich so zu sagen als Märtyrer, und als er entlassen wurde, ging er mit der Gewissheit von dannen, dass er, der einst aus der Armee Gestoßene, rehabilitirt werde. Und was den angeblichen Sohn des in Afrika verstorbenen Barons de Sainte-Marie betrifft, so hatte Napoleon der Dritte sich alle auf ihn bezüglichen Legitimationen und Documente vorlegen lassen und dann nach Durchsicht derselben sich befriedigt erklärt und das Versprechen gegeben, diese Angelegenheit sofort in die besten Hände niederzulegen.
Um diese Zeit befand Gebhardt von Königsau sich in der Heimat, und so war es die vollzählige Familie, welche von der amtlichen Mitteilung getroffen wurde, dass ein Sohn des einst verschwundenen Sainte-Marie erschienen sei und die Rückgabe des ihm rechtmäßiger Weise zukommenden Erbes verlange.
Es wurde sofort der Rat eines tüchtigen Juristen eingeholt; er bestand in einem Achselzucken. Die Achseln anderer Sachverständigen wurden ebenso gezuckt. Darauf ging die Nachricht ein, dass die betreffende Person sich vollständig als der Sohn des Barones ausgewiesen habe und selbst vom Kaiser als derselbe anerkannt worden sei. Sollte man einen langwierigen Actenkampf beginnen, dessen Ende gar nicht abzusehen sei? Nein! Königsau, Vater und Sohn, entschlossen sich, den Meierhof abzutreten, und in Wahrheit mussten sie noch froh sein, dass ihnen nicht auch noch zugemutet wurde, für die Zeit, während welcher derselbe in ihrem Besitze gewesen war, Entschädigung zu zahlen. Es war das kein geringer Verlust, welcher sie traf; aber sie verschmerzten ihn doch bei dem Gedanken, dass sie durch ihn noch lange nicht verarmt seien. Besaßen sie doch ihre zwei Güter, welche ihnen Niemand nehmen konnte.
Niemand? Wie leicht ist oft etwas möglich, was unmöglich scheint! Der erste Blitz, welchen die im Südwesten aufgegangene Gewitterwolke entsendete, hatte getroffen, wenn auch nicht zerstörend gewirkt. War aber dadurch die electrische Spannung ausgeglichen worden?
Der falsche Baron de Sainte-Marie hatte den Besitz der Meierei angetreten, aber nicht selbstständig, sondern unter der heimlichen Bevormundung des alten Kapitäns. Dieser hatte ein doppeltes Ziel erreicht. Er war, wenn auch nicht der nominelle, aber doch der tatsächliche Gebieter von Jeanette geworden und hatte sich zugleich an seinem Todfeinde gerächt.
Der Baron spielte in jeder Beziehung eine jämmerliche Rolle, freilich ohne sich derselben zu schämen. Ein einziges Mal hatte er es gewagt, dem Kapitän Widerstand leisten zu wollen, war aber auf das Energischeste zurückgewiesen worden. Der Kapitän hatte ihm erklärt, dass er hier auf dem Meierhof nichts zu sagen habe.
»Aber wer ist der Herr?«, hatte der Baron gefragt. »Du oder ich?«
»Ich!« hatte die feste und bestimmte Antwort gelautet.
»So? Ah! Und wer ist der Baron? Du oder bin ich es?«
»Du bist es; aber durch einen Mord. Du hast den Sohn des Einsiedlers erschossen und Dich an seine Stelle gesetzt. Ich will Dir ein für alle Male sagen, dass Du mir nicht dominiren kannst. Hüte Dich, mich zu reizen! Der Versuch dazu würde Dich Deine Baronie kosten.«
»Willst Du etwa damit sagen, dass Du mich als Mörder anzeigen willst?«
»Ja, nichts Anderes.«
»Du hast mir dabei geholfen!«
»Beweise es!«
»So beweise, dass ich der Mörder war, ohne dass Du dabei gezwungen sein wirst, Deine Mittäterschaft einzugestehen!«
»Rede nicht kindisch! Ich werde es Dir natürlich nicht sagen, wie ich es anfangen würde, Dich unschädlich zu machen. Du weißt ganz genau, dass Du mir nicht gewachsen bist, und das ist genug. Sei froh, dass Du, der einstige Spion, Baron de Sainte-Marie genannt wirst und ein behagliches, ruhiges und sorgenfreies Leben führen kannst, und sei ferner froh, dass ich Dir Deinen glühendsten Wunsch erfüllt habe, das schönste Weib der Erde zu besitzen!«
»Du meinst Liama?«
»Wen sonst?«
»Die ist ja nicht mein Weib!«
»Das ist nicht meine Sache, sondern die Deinige. Bist Du so dumm, sie nicht factisch als Frau zu besitzen, so ist das Deine eigne Schuld.«
»Ich bin ja nicht mir ihr getraut. Sie ist Muhammedanerin geblieben.«
»Das braucht kein Mensch zu wissen!«
»Und sie lässt sich von mir nicht berühren.«
»So handelst Du eben geradezu lächerlich. Du bist in sie verliebt noch weiter als bis zu den Ohren; Du girrst um sie wie ein Tauber um sein Täubchen; sie befindet sich vollständig in Deiner Gewalt, und doch wagst Du es nicht, sie anzurühren. Das verstehe, wer es verstehen kann; ich aber vermag nicht, es zu begreifen!«
Und doch war es sehr leicht zu begreifen. Einer reinen keuschen Weiblichkeit gegenüber fühlt ein mutloser Bösewicht sich ohne Macht. Das konnte der Kapitän, welcher doch ein Menschenkenner war, sich leicht sagen.
Diese beiden Menschen hatten Liama aus ihrer Heimat durch einen grässlichen Betrug hinweggelockt. Sie hatte ihnen vertraut und war ihnen in der Überzeugung gefolgt, dadurch ihren Vater und den geliebten Mann zu retten. Später hatte sie Gelegenheit gehabt, ihr Tun und Treiben zu beobachten, und war sie misstrauisch geworden. Es war ihr der Zweifel gekommen, ob das ihr gegebene Versprechen erfüllt worden sei. Sie hatte nach Beweisen verlangt, dass ihr Mann und Vater am Leben geblieben seien, und diese Beweise waren ihr aber nicht geliefert worden. Hatte sie die beiden bereits früher gehasst, so hasste sie dieselben jetzt noch viel mehr. Es kam ihr der Gedanke an Flucht; aber wie sollte sie diese bewerkstelligen? Sie verstand kein Wort Französisch; sie wurde in Jeanette fast wie eine Gefangene gehalten und bemerkte, dass sie keinen einzigen Augenblick ohne Aufsicht gelassen wurde. Der Kapitän war von allem Anfange an gegen die wahnwitzige Liebe seines Verwandten gewesen; er hatte dennoch Gründe gehabt, derselben zu willfahren; aber er sah gar wohl ein, in welcher Gefahr er Liama gegenüber sich stetig befand, und so war es kein Wunder, dass er ihr feindlich gesinnt blieb und sie fest im Auge behielt.
Dennoch aber hätte das arme, betrogene Weib ihren Entschluss, zu fliehen, ausgeführt, wenn nicht ein Ereignis eingetreten wäre, welches sie zwang, noch auszuhalten. Sie wurde nämlich Mutter und gab einem Mädchen das Leben, in dessen lieben Gesichte sie die Züge ihres Saadi wiederzusehen glaubte. Dieser ihr von dem Kadi angetraute Mann war der Vater des lieblichen Kindes. Alle ihre Liebe, welche sie dem Ersteren nicht mehr zu widmen vermochte, concentrirte sich auf das Letztere. Sie vergaß ihr Elend und lebte nur in dem Wesen, welchem sie das Leben gegeben hatte.
Diese Liebe war es auch, welche ihr die Kraft und Ausdauer verlieh, sich den Ansprüchen und Liebkosungen des Barons zu widersetzen. Er besuchte sie täglich wiederholt in den Räumen, welche ihr ausschließlich angewiesen waren und welche sie nicht verlassen durfte. Er knüpfte an die Erhörung seiner Wünsche die Erlaubnis zu einer freieren Bewegung; aber mit dem Scharfsinne des Naturkindes erkannte sie seine Schwäche und erriet, dass er dem Kapitän gegenüber vollständig machtlos war, während dieser Letztere es eigentlich war, in dessen Händen sie sich befand.
Je länger und fester sie widerstand, desto mehr steigerte sich die Gier des Barones. Es gab Augenblicke, in denen er sich fast sinnlos gebärdete. Dazu kamen Bilder aus der Vergangenheit, welche ihn des Nachts beängstigten. Finstere, drohende Schatten bewegten sich in seinen Träumen; Schüsse knallten, blutige Tropfen umspritzten ihn, und wenn er dann erwachte, war es ihm, als ob er mit wirklichen Gestalten zu kämpfen gehabt hatte; er stöhnte und wimmerte leise vor sich hin, und es gab nur Einen, der ihn zum Schweigen brachte – der alte Kapitän, welcher erst zu Drohungen, dann aber zu Tätlichkeiten griff, um die Geister zu bannen, die sich des Barons bemächtigt hatten.
Diese Anfälle traten je länger desto öfterer ein. Es kam vor, dass der Baron selbst durch die angegebenen Mittel nicht zur Ruhe und zum Schweigen gebracht werden konnte. In diesem Zustande der Angst, Furcht und Verzweiflung verlangte er nach Liama, und der alte Richemonte war klug genug, sich diesem Wunsche nicht zu widersetzen. Liama, die Betrogene, wurde die Trösterin des Betrügers. Ihr bloßer Anblick genügte, ihn zu beruhigen und ihm den Gebrauch seiner Sinne zurückzugeben.
Dies rettete ihr vielleicht das Leben. Der Kapitän kannte ihren glühenden Wunsch nach Befreiung aus ihren Fesseln. Ihr Entkommen aber wäre sein Verderben gewesen, und da ihre immerwährende und unausgesetzte Bewachung keine leichte war, so ließ sich bei seiner Rücksichts- und Gewissenslosigkeit wohl vermuten, dass er zu dem Entschlusse kommen könne, sich durch eine Gewalttat seine Sicherheit wiederzugeben. Aber ebenso gefährlich war ihm der Wahnwitz des Barons, und da die Ausbrüche desselben nur durch Liama gemildert und beruhigt werden konnten, so war es notwendig, sie leben zu lassen.
Das Kind der Baronin, von welchem der Baron wohl wusste, dass es nicht das seinige sei, wurde schweigend von ihm anerkannt und auf den Namen Marion getauft. Sein junges Leben bildete die Kette, durch welche die unglückliche Mutter in ihrer Gefangenschaft festgehalten wurde. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, ohne dasselbe zu fliehen; das erkannte der Kapitän, und daher bewachte er die kleine Marion noch sorgfältiger als ihre Mutter, und bedeutete die Letztere übrigens noch, dass der geringste Ungehorsam gegen ihn dem Mädchen das Leben kosten werde. Das war mehr als genug, jeden Fluchtgedanken von Liama fern zu halten.
Was die Bevölkerung der Umgegend betrifft, so war derselben wohl bekannt geworden, dass der Baron verheiratet sei; das Weitere ging ja keinem Menschen etwas an. Zwar gelang es zuweilen zufälliger Weise einem Auge, die schöne, Geheimnisvolle Frau zu erblicken; aber warum dieselbe sich in so außerordentlicher Verborgenheit halte, das versuchte man gar nicht, zu ergründen. Vornehme Herrschaften haben ja ihre Schrullen.
Selbst wenn Graf Rallion, welcher hier und da einmal nach Jeanette kam, zugegen war, wurde Liama nicht zur Gesellschaft gezogen. Ein kleiner Umstand hätte ja leicht Alles verraten können. Dass der Graf einmal energisch nach der Baronin verlangen könne, stand gar nicht zu erwarten. Er erkundigte sich in zwar höflicher aber gleichgültiger Weise nach ihr, wenn er kam; er ließ sich ihr dann empfehlen, wenn er wieder abreiste; das war Alles, was er tat.
Dieses Verhalten war zwar seltsam, aber dennoch leicht zu erklären.
Die Beiden, er und der Kapitän, hatten sich nach und nach einander immer besser kennen gelernt. Jeder erblickte ein höchst brauchbares Werkzeug in dem Andern. War der Graf feig und gewissenlos, so war der Kapitän feig und rücksichtslos. Der Erstere hielt es am Liebsten mit der weniger gefährlichen Hinterlist, während der Letztere vor keiner Gefahr, vor keiner Tat zurückbebte, wenn es galt, seinen Zweck zu erreichen. So ergänzten sich Beide, sobald ihre Zwecke dieselben waren, und dieser Fall kam nicht sehr selten vor.
Wenn sie bei einander saßen, kam die Rede stets auch auf die Familie Königsau. Beide fühlten sich sehr befriedigt darüber, dass es ihnen gelungen war, ihr den Meierhof Jeanette zu entreißen; aber noch weit größere Freude hätten sie empfunden, wenn ihnen die Mittel geworden wären, diese verhasste Familie ganz und vollständig zu verderben.
So befanden sie sich einst bei einer abermaligen Anwesenheit des Grafen in dem Zimmer des Kapitäns und unterhielten sich über dieses Thema. Sie suchten mit wahrhaft diabolischem Scharfsinne nach einem Wege, auf welchem es möglich sei, eine vollständige Rache auszuüben, aber all ihr Sinnen und Forschen führte zu keinem befriedigenden Resultate. Darum gingen sie missmutig auseinander, um sich schlafen zu legen.
Der Kapitän hatte die Gewohnheit, stets, bevor er sich zur Ruhe begab, seine geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Er hatte heute von einem Getreidehändler eine größere Summe Geldes geschickt bekommen, welche von ihm noch nicht gebucht und nachgezählt worden war. Darum schloss er den Laden, setzte sich an den Schreibtisch und zog das Geld hervor.
Die leichte Arbeit war bald getan, und eben hatte er das Geld wieder verschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt, als es ihm war, als ob er draußen auf dem Gange leise Schritte vernehme.
Er lauschte. Ja, wirklich! Da draußen schlich sich Jemand näher, und hielt vor seiner Türe an. Wer war das? Was wollte man? Kam ein Diener, um ihm noch etwas Notwendiges mitzuteilen? Das war sehr unwahrscheinlich. Er hatte Geld gezählt; der Gedanke an einen Dieb lag ihm daher nahe. Rasch entschlossen, wie er stets war, löschte er sein Licht aus, nahm das Terzerol, welches stets geladen neben seinem Bette hing, und legte sich in das Bett. Er deckte sich so zu, dass nur sein Kopf zu sehen war, so, dass man nicht bemerken konnte, dass er noch angekleidet sei.
Das Terzerol schussbereit haltend, wartete er still und bewegungslos der Dinge, die da kommen sollten.
Er brauchte nicht lange zu warten. Er bemerkte, dass fast unhörbar, wie von der Hand eines Fachkundigen, von Außen ein Schlüssel angesteckt wurde. Er hatte den seinigen von Innen abgezogen und dann den Nachtriegel vorgeschoben. Nach seiner Ansicht war es also unmöglich, in das Zimmer zu gelangen, da der Nachtriegel ja nicht mittelst eines Schlüssels zurückgeschoben werden konnte. Aber er täuschte sich. Zu seinem Erstaunen hörte er, dass der Riegel leise, ganz leise sich bewegte, und ein kühler Luftzug, welcher hereindrang, verriet ihm trotz der Dunkelheit, dass die Tür geöffnet worden sei.
Er lauschte in atemloser Spannung. Eine ganze Weile lang war nicht der Hauch eines Geräusches zu vernehmen. Es stand fest, dass Derjenige, welcher geöffnet hatte, unter der Türe stand und horchte, um zu hören, ob der Kapitän fest schlafe. Dieser ließ daher jetzt die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge eines Schläfers hören, welcher im ersten Schlummer liegt.
Diese Manipulation war von Erfolg. Fast unhörbare Schritte nahten sich langsam bis in die Nähe des Bettes. Abermals wurde gelauscht, und dann erhellte ein plötzlicher Lichtstrahl das ganze Zimmer.
Der Kapitän hielt das eine Auge fest geschlossen; das Lid des anderen aber, welches mehr im Schatten war, öffnete er ein ganz klein wenig und gewahrte so einen Mann, welcher ungefähr drei Fuß vor seinem Bette stand und den Schein einer rasch geöffneten Blendlaterne auf das Letztere fallen ließ. Eine Waffe war nicht zu sehen. Er hatte eine Maske vor das Gesicht gebunden und beobachtete den Kapitän, ob derselbe wirklich fest im Schlafe liege.
Richemonte setzte sein ruhiges Atmen fort, war aber bereit, bei der geringsten, gefährlich erscheinenden Bewegung des Eingedrungenen die Hand mit dem Terzerole unter der Bettdecke hervorzustrecken.
Der Verlarvte schien befriedigt zu sein. Er wendete sich ab und trat völlig unhörbar zum Schreibtische. Dabei fiel der Schein der Laterne auf die Tür, und der Kapitän bemerkte, dass dieselbe zugeklinkt worden sei. Der Dieb schien in seinem Handwerke außerordentlich gewandt und erfahren zu sein.
Er griff in eine Tasche und zog einen Schlüssel hervor. Es zeigte sich, dass derselbe ganz genau in das Schloss jenes Faches passe, in welchem das Geld lag. Der Mann öffnete, zog den Kasten auf und steckte das Geld zu sich, und zwar mit einer Sicherheit, als ob er von den Verhältnissen auf das Genaueste unterrichtet sei. Dann schloss er das Fach wieder zu, steckte den Schlüssel ein und schickte sich an, sich ebenso leise zu entfernen, wie er gekommen war.
Ihm dies zu gestatten, lag aber ganz und gar nicht in der Absicht des Kapitäns. Dieser war schlau genug, einzusehen, dass er sich vor allen Dingen der brennenden Laterne bemächtigen müsse, wenn es ihm gelingen solle, sich des Diebes zu bemächtigen und einen jedenfalls gefährlichen Kampf im Finstern zu vermeiden. Er fuhr daher in dem Augenblicke, an welchem der Mann sich vom Schreibtische abwendete, aus dem Bette empor und mit einem raschen Sprunge an dem Diebe vorüber, welchem er dabei die Laterne entriss. Sich zwischen ihn und die Tür stellend, ließ er den Schein des Lichtes auf ihn fallen und hielt ihm zugleich das Terzerol entgegen.
»Halt!«, gebot er ihm in nicht zu lautem aber doch befehlendem Tone.
Der Mann war so überrascht, so erschrocken, dass er einige Augenblicke lang wie erstarrt stehen blieb. Dann aber drehte er sich, da ihm die Flucht durch die Tür unmöglich schien, nach dem Fenster um.
»Abermals halt!«, gebot der Kapitän. »Auch dort lasse ich Dich nicht durch, mein Bursche!«
Da zog der Mensch ein langes Messer aus der Tasche und machte Miene, sich den Ausgang mit demselben zu erzwingen.
»Stecke das Messer ein, Kerl, sonst drücke ich los!«
Dieser Befehl war in einem so nachdrücklichen Tone gegeben worden, dass der Dieb die Hand mit dem Messer sinken ließ.
»Weg das Messer, sage ich; sonst schieße ich!«, wiederholte Richemonte. »Eins – zwei – dr –!«
Er kam nicht dazu, die »Drei« auszusprechen. Der Dieb mochte immerhin ein verwegener Kerl sein, aber er musste doch einsehen, dass eine Kugel schneller ist als eine Messerklinge. Er steckte also das Messer langsam wieder zu sich.
»Lege das Geld wieder hin auf den Schreibtisch!«
Der Mann schien zögern zu wollen, als aber Richemonte ihm mit dem erhobenen Terzerole drohend einen Schritt näher trat, wendete er sich nach dem Tische, zog die Beutel, in denen sich die Summe befand, hervor und legte sie an den angegebenen Ort.
»Nun die Maske ab!«, befahl der Kapitän.
»Das tue ich nicht!«
Das waren die ersten Worte, welche er hören ließ. Bei dem Tone dieser Stimme zuckte der Kapitän zusammen. »Alle Teufel! Höre ich recht?«, fragte er. »Du willst Dein Gesicht also nicht sehen lassen, mein Bursche?«
»Nein!«
»So weiß ich gar wohl, warum!«
Der Mann schwieg; darum fuhr Richemonte fort: »Du schämst Dich, Dein Gesicht zu enthüllen, weil es jedenfalls schmachvoller ist, seinen Herrn zu bestehlen als einen Fremden. Habe ich Recht, Henry?«
Er erhielt keine Antwort.
»Nun«, meinte der Kapitän, »wenn Du weder sprechen, noch Dich demaskieren willst, so ist das um so schlimmer für Dich. Ich werde Leute herbeirufen, während ich im andern Falle vielleicht geneigt sein dürfte, diese Angelegenheit unter vier Augen mit Dir in Ordnung zu bringen.«
Er war sonst ganz und gar nicht der Mann, eine solche Milde walten zu lassen; aber es war ihm im gegenwärtigen Augenblicke ein Gedanke gekommen, welcher mehr wert war, als die Genugtuung, einen Dieb bestraft zu sehen.
»Ist das wahr?«, fragte jetzt der Mann.
»Ja.«
»So versprechen Sie es mir mit Ihrem Ehrenworte!«
»Unsinn! Einem Spitzbuben gibt man kein Ehrenwort. Das merke Dir! Ich habe ja noch gar nicht gesagt, dass unter dem Ordnen unter vier Augen eine Straflosigkeit gemeint sei; aber es ist dennoch möglich, dass dieser Fall eintritt, wenn Du mir nämlich unbedingt gehorchst. Versprechen aber werde ich nichts.«
»Nun ich bin ja doch in Ihrer Hand. Diese verdammte Pistole hatte ich in meinem Programme nicht mit aufgeführt. Ich muss mich also auf Gnade oder Ungnade ergeben.«
»Gut! Also fort mit der Larve!«
Jetzt gehorchte der Mann. Er nahm die Larve ab, und nun kam ein Gesicht zum Vorscheine, welches einem vielleicht noch nicht ganz dreißig Jahre alten Manne gehörte. Dieses Gesicht hätte keineswegs den Verdacht erregt, einem Spitzbuben anzugehören. Die Züge waren regelmäßig und beinahe hübsch zu nennen. Freilich weiß man ja, dass gerade solche Gesichter am Meisten täuschen.
»Henry!«, sagte der Kapitän. »Also habe ich mich doch nicht getäuscht, als ich glaubte, Dich an der Stimme zu erkennen. Mein eigener Diener bricht bei mir ein!«
Es mochte in dem Tone, oder aber in dem Gesichte des Alten etwas für den Dieb Beruhigendes liegen, denn die Züge des Letzteren nahmen einen frivolen Ausdruck an, indem er antwortete: »Aber er wird dabei erwischt!«
»Ja, Mensch! Das Erwischen ist schlimmer als das Einbrechen. Ich wenigstens rechne Dir das Erstere viel mehr an, als das Letztere. Du hast Dich da ganz schauderhaft blamiert!«
»O, Herr Kapitän, ich werde es nicht wieder tun!«
»Was? Das Einbrechen oder das Erwischenlassen?«
»Das weiß ich nicht genau!«
Der Alte bemühte sich, ein grimmiges Gesicht zu ziehen, und doch vermochte er es nicht, ein befriedigtes Zucken zu verbergen. Das grimmige Zähnefletschen, welches man jetzt hätte erwarten sollen, war ganz und gar nicht zu bemerken.
»Bist Du toll!«, meinte er. »Ist das die Stimme eines Spitzbuben, welcher auf der Tat ertappt worden ist?«
»Nein«, lachte der Mann. »Es sind vielmehr die Worte eines ehrlichen Menschen, welcher offen sagt, was er denkt.«
»Du weißt also wirklich noch nicht genau, ob Du nach der Lehre, welche Du gegenwärtig empfängst, das Einbrechen lassen wirst?«
»Nein, ich weiß es nicht.«
»Donnerwetter! Kerl! Mensch! Was soll ich da von Dir denken? Hast Du nicht bereits in der Schule gelehrt bekommen, dass nur die wahre Reue Rücksicht und Begnadigung verdient?«
»Ja; aber ich glaube nicht daran.«
»Henry, Du bist wirklich ein ganz und gar schlechter Kerl!«
»Das ist vielleicht recht gut für mich. Ich habe sehr oft gesehen und erfahren, dass es den schlechtesten Menschen am Besten geht, während die Guten elend und unglücklich sind.«
»Das ist aber nicht der regelrechte Verlauf der Dinge, und eine Ausnahme darf man sich doch nicht zur Richtschnur dienen lassen!«
»O doch! Die Ausnahme, welche ich mir zum Vorbilde genommen habe, werden Sie jedenfalls gelten lassen!«
»Ah! Welche wäre das?«
»Sie selbst!«
»Ich? Tausend Donner! Mensch, werde um Gotteswillen nicht frech! Das könnte Dir bei mir sehr üble Früchte bringen.«
Der Dieb, welcher als der Diener Henry erkannt worden, ließ sich keineswegs irre machen. War er im Augenblicke des Ertapptwerdens erschrocken gewesen, so schien er sich jetzt vollständig beruhigt zu fühlen. Er zeigte ein cynisch sicheres Lächeln und antwortete achselzuckend: »Wollen Sie mich wirklich zum Fürchten machen, Herr Kapitän?«
»Glaubst Du etwa, dass ich scherze?«
»Ja, gerade das glaube ich!«
»Das wäre toll! Ich sage Dir, dass ich ganz und gar nicht mehr geneigt bin, auf den Gedanken zurückzukommen, Nachsicht walten zu lassen.«
Der Mann verneigte sich tief und fast ironisch und antwortete: »Herr Kapitän, Sie werden diesen Gedanken dennoch festhalten. Ich kenne ein Mittel, Sie dazu zu bewegen.«
»Wirklich? So bin ich neugierig, ob Du es wagen wirst, es in Anwendung zu bringen.«
Der Dieb warf den Kopf leicht und sorglos zur Seite und meinte: »Es ist ganz und gar kein Wagnis dabei. Ich schlage vor, Herr Kapitän, unsere gegenwärtige Lage in Ruhe zu besprechen.
Die Augen des Alten wurden vor Erstaunen größer und weiter. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Fast scheint es, als ob Du glaubest, mir hier mein Verhalten vorschreiben zu können.«
»So ist es auch.«
»Schurke!«
»Pah! Vielleicht können Sie mich gerade darum am Besten gebrauchen, weil ich ein Schurke bin. Sie entsinnen sich doch, dass ich zuerst bei dem Grafen Rallion conditionierte?«
»Wozu diese Frage? Die Empfehlung des Grafen war es ja, welche mich bewog, Dich in meine Dienste zu nehmen.«
Der Diener zuckte lächelnd die Achseln und sagte dann: »Glauben Sie nicht etwa, dass Sie dem Grafen für diese Empfehlung Dank schuldig sind. Er war im Gegenteile sehr froh, mich los zu werden.«
Dem Alten wäre vor Erstaunen über eine solche Frechheit beinahe das Terzerol entfallen. Er machte ein Gesicht wie ein Mensch, welcher absolut nicht weiß, was er denken soll, und rief: »Kerl! Ich werde an Deinem Verstande irre.«
»Ich nicht, Herr Kapitän! Der Graf benutzte mich zu allerlei Dingen, zu welchen sich nicht jeder Andere eignet. Ich gewann dadurch Einsicht in Verhältnisse, in welche man nicht gern fremde Augen blicken lässt, und der Graf mochte bemerken, dass meine Hochachtung vor ihm je tiefer sank, desto mehr er mich in jene Verhältnisse eindringen ließ. Er sah sich genötigt, mich mit guter Miene zu entlassen, und da Sie um dieselbe Zeit ihm sagten, dass Sie in der Lage seien, sich einen zuverlässigen und verschwiegenen Diener zu suchen, so wurde ich Ihnen von ihm sehr warm empfohlen. Dadurch wurde er mich auf gute Art los, ohne gewisse Rachegedanken in mir zu erregen.«
»Wenn das wirklich die Wahrheit ist, so schulde ich ihm allerdings sehr wenig Dankbarkeit!«
»Es ist wahr. Ich trat bei Ihnen ein und machte ganz dieselbe Erfahrung wie bei dem Grafen, und zwar eine, die mir nicht angenehm sein konnte.«
»Welche Erfahrung meinst Du, Spitzbube?«
»Ich wurde zu außerordentlichen Diensten verwendet, ohne aber auch ebenso außerordentlich honoriert zu werden.«
»Mensch, ich erwürge Dich!«, rief der Alte vor Zorn.
»O, was das betrifft, so soll das Erwürgen eine der angenehmsten Todesarten sein! Ich hatte da zum Beispiel bei Ihnen den Wächter der Baronin und der kleinen Marion zu machen. Das erforderte einen Tag und eine Nacht angestrengte Aufmerksamkeit; aber eine Gratifikation wollte sich, ärgerlicher Weise für mich, nicht einstellen –«
»Mensch, Du hast die beste Anlage zum Galgenfutter!«
»Mag sein! Ich habe immer Unglück gehabt. Mein Ziel war, so viel zu verdienen, dass ich einmal sorgenfrei von meinem Einkommen leben könne; aber es rückte in immer weitere Ferne, bis ich auf den Gedanken kam, dem Glücke ein Wenig nachzuhelfen. Ich sah heute, welche Summe Sie empfingen. Einen Schlüssel zu Ihrem Schreibtische hatte ich schon längst bereit –«
»Ah! So ist es!«, dehnte der Kapitän. »Wer hat den Schlüssel gefertigt?«
»Ich selbst. Sie müssen nämlich wissen, dass ich ursprünglich Kunstschlosser bin. Ich wusste, dass Sie stets den Nachtriegel vorzuschieben pflegen; daher machte ich mich während Ihrer Abwesenheit an Ihr Türschloss, um demselben eine solche Einrichtung zu geben, dass beim Aufschließen von draußen auch der Riegel mit zurückgeschoben werde.«
»So hattest Du auch einen Schlüssel zur Tür?«
»Natürlich! Heute nun wollte ich mir die erwartete Gratifikation von Ihnen holen. Es war Alles so schön vorbereitet; dass es misslingen konnte, vermag ich nicht zu begreifen, und ich möchte Sie ersuchen, mir zu sagen, in welcher Weise Ihr Verdacht, dass Ihr Geld in Gefahr stehe, abgeholt zu werden, entstanden ist.«
Das war eine mehr als ungewöhnliche Unterredung zwischen Herrn und Diener. Der Kapitän, welcher doch selbst ein Bösewicht war, konnte dennoch nicht begreifen, wie der Diener es wagen könne, mit solcher Frechheit und Unverschämtheit zu sprechen. Er glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen und fragte daher: »Schuft! Habe ich recht gehört? Du verlangst von mir noch gar die Mitteilung, was meinen Verdacht erregt habe?«
»Ich habe sie nicht verlangt, sondern nur darum gebeten.«
»Der Teufel wird Dir antworten, aber nicht ich! Ich hatte es erst mit Dir anders vor. Nun ich aber sehe, welch ein galgenreifer Patron Du bist, werde ich mich hüten, Milde walten zu lassen.«
»O, Sie werden sicherlich nichts unternehmen, was Ihnen Schaden bringen könnte. Dazu sind Sie zu klug.«
»Welchen Schaden könnte es mir bringen, wenn man Dich einige Jahre lang hinter Schloss und Riegel steckt?«
»Den Schaden, dass ich Schloss und Riegel von meinem Munde nehmen würde.«
Die Augen des Alten flammten grimmig auf. Es war, als ob er den Diener mit seinem Blicke versengen und verbrennen wolle.
»Tod und Teufel!«, rief er. »Willst Du mir etwa drohen?«
»Ja!«, antwortete Henry, indem er seine Gestalt hoch und zuversichtlich aufrichtete. »Halten Sie das für unmöglich? Ich gebe zu, dass der Einbruch, welchen ich unternahm, etwas unvorsichtig ausgeführt wurde; ich bin in solchen Sachen sonst niemals leichtsinnig gewesen; hier aber sagte ich mir, dass ich selbst im Falle, dass ich von Ihnen erwischt werde, nichts zu fürchten habe. Und dass ich einen Augenblick erstarrt schien, war nicht eine Folge der Angst oder Furcht, sondern nur der momentanen Überraschung.«
Dem Kapitän war es, als ob er diesen Menschen sofort zermalmen müsse. Er setzte die Hähne seines Terzerols in Ruhe, warf die Waffe auf den Tisch und ballte die Fäuste, als ob er bereit sei, zum Angriffe vorzugehen. Henry aber zeigte nicht die mindeste Besorgnis; er trat vielmehr einen Schritt näher und sagte im Tone größter Kaltblütigkeit und Seelenruhe: »Ich will nicht hoffen, dass Sie sich mit mir messen wollen. Ich bin nicht unerfahren im Handgemenge, da ich Soldat gewesen bin.«
»Was? Soldat warst Du?«, knirschte der Alte. »Macht man auch Diebe zu Soldaten?«
»Jawohl. Diebe, Räuber und Mörder. Man macht sie nicht bloß zu Soldaten, sondern sogar zu Offizieren. Es ist möglich, dass es der größte Spitzbube bis zum Kapitän und Ehrenlegionär, vielleicht noch höher bringen kann.«
Jetzt endlich zeigte sich jenes gefährliche Zähnefletschen, welches dem Alten in Augenblicken des höchsten Zornes eigen war.
»Wie meinst Du das, oder wen meinst Du?«, fragte er.
»Wen? Hm. Das ist vielleicht nicht ganz gleichgültig. Ich will nur erwähnen, dass ich die angedeutete Erfahrung in Afrika, in Algerien gemacht habe.«
Der Schnurrbart des Alten sank augenblicklich herab, und das Fletschen der Zähne war verschwunden. »Wie? Was?«, fragte er. »In Afrika, in Algerien warst Du? Dort hast Du gestanden?«
»Ja.«
»Als was?«
»Nur als Chasseur d'Afrique«, lachte der Diener.
Da entfärbte sich der Kapitän. Sein Gesicht war leichenblass geworden. Er begann zu ahnen, dass Henry ihn selbst gemeint habe, als er sagte, dass der größte Spitzbube es bis zum Kapitän und Ehrenlegionär bringen könne.
»Mensch, warum hast Du mir das nicht früher gesagt!«, rief er.
Der Diener zuckte die Achseln und antwortete: »Weil ich nicht glaubte, dass es Sie interessieren würde.«
»Wie lange warst Du dort?«
»Lange genug, um ein Wenig Arabisch verstehen zu lernen.«
Der Alte fuhr zurück. Erst bei diesen Worten Henrys begann er das Richtige zu ahnen.
»Ah!«, fragte er in tief grollendem Tone. »Du verstehst Arabisch?«
»So ziemlich!«
»Du hast die Baronin bewachen sollen, und sie hat Arabisch gesprochen?«
»Ja«, lachte der Diener.
»Mit Dir?«
»Nein, kein Wort.«
»Mit wem sonst?«
»Mit der kleinen Comtesse Marion.«
»Lüge nicht.«
»Warum sollte ich lügen? Ich ersehe keinen Grund dazu!«
»Wie könnte sie mit dem Kinde sprechen, welches ja kaum zu lallen versteht!«
»Hm! Haben Sie noch keine Mutter beobachtet? Haben Sie noch nie gesehen oder gehört, dass eine Mutter bereits mit ihrem Neugeborenen spricht, um ihm süße Namen zu geben und ihm Allerlei mitzuteilen, was eben ein Mutterherz sagt und versteht?«
»Unsinn. Kinderei!«
»Nein, kein Unsinn. Das Mutterherz quillt über von Glück und Liebe; es will sich mitteilen, und daher spricht die Mutter mit dem Kinde, obgleich sie weiß, dass dasselbe kein Wort versteht. Aber wenn die Augen des Kindes offen und lächelnd auf die Mutter gerichtet sind, so versteht sich die Letztere in die süße Täuschung, von dem kleinen Lieblinge verstanden worden zu sein.«
»Nichts als Schwätzerei!«
»Wohl nicht. Was da gesprochen wird, ist nicht immer unsinniges Zeug. Und wenn eine Frau, welcher es an Umgang und Gesellschaft keineswegs mangelt, mit ihrem Kinde redet, was wird dann eine Andere, welche arm, einsam und gefangen, wie die Frau Baronin gehalten wird, erst recht tun? Mit ihrem Kinde reden. Und was wird sie mit ihm sprechen? Was wird sie ihm erzählen?«
Das Auge des einstigen Chasseurs d'Afrique und jetzigen Einbrechers war scharf und triumphierend auf den Alten gerichtet.
»Nun, was?«, fragte dieser stockend.
»Sie wird ihm erzählen, warum sie so arm, so elend ist. Sie wird ihm erzählen von der Wüste, von den hingemordeten Stämmen der Beni Hassan, von Saadi, dem richtigen Vater des Kindes –«
»Tausend Donner.«
»Von dem Fakihadschi Malek Omar«, fuhr der Diener unbeirrt fort, »und von dessen Sohne oder Gefährten Ben Ali, der aber gar nicht sein Sohn sein kann.«
»Mensch, Du faselst.«
»Ich wiederhole nur Das, was ich gehört habe.«
»Du träumst oder hast geträumt!«
»O, ich war im Gegenteile sehr wach und munter. Aber in diesem Augenblicke ist Alles ja gleichgültig; es würde seine Bedeutung erst vor dem Richter erhalten. Für jetzt frage ich Sie bloß, ob Sie geneigt sind, mich als Einbrecher anzuzeigen.«
Der Alte steckte die Hände in die Tasche, als ob, wenn er ihnen die Bewegung raube, auch sein Inneres zur Ruhe kommen müsse.
»Setze Dich!«, gebot er.
Er schritt, als Henry gehorcht hatte, mehrere Male im Zimmer auf und ab, trat dann zur Tür, schob den Riegel vor und wendete sich dann mit weit gedämpfterer Stimme als vorher an den Anderen:
»Es ist also wahr, dass Du die Baronin in ihrem Arabisch belauscht hast?«
»Ja, Herr Kapitän.«
»Und sie hat wirklich Das gesagt, was Du vorhin erwähntest?«
»Wüsste ich sonst davon?«
»Wovon hat sie sonst gesprochen?«
Das Gesicht des Dieners nahm einen unbeschreiblich schlauen, aber ebenso zurückhaltenden und berechnenden Ausdruck an. Wäre ein Zeichner zugegen gewesen, so hätte er diesen Menschen als die Personification der größten Verschlagenheit in die Mappe bringen können.
»Von sehr Vielem noch«, antwortete er.
»Ich will das hören! Verstehst Du? Ich muss es wissen!«
»Hm! Ich kann es nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil es mir nicht augenblicklich einfällt.«
»So besinne Dich. Denke nach.«
»Das geht nicht so schnell und auf Commando, wie Sie es wünschen und verlangen. Es können Tage, ja Wochen vergehen, ehe ich mich klar und deutlich erinnern kann.«
»Ich verstehe Dich, Hallunke. Aber glaube ja nicht, dass die dunklen Andeutungen, welche Du doch nur gehört haben kannst, im Stande sein werden, mich in Verlegenheit zu bringen.«
»O, es waren mehr als dunkele Andeutungen! Warum erhält übrigens die Frau Baronin keine Gelegenheit, Französisch zu lernen? Warum darf Niemand mit ihr sprechen?«
»Das geht Dich den Teufel an! Du hast mir zu antworten, nicht aber mich zu fragen! Also gestehe, ob Du mit der Baronin gesprochen hast!«
»Kein Wort!«
»Das lügst Du! Ich glaube Dir nicht!«
»Dann halten Sie mich leider für dümmer, als ich bin. Es lag mir natürlich daran, so viel wie möglich zu hören und zu erlauschen; darum musste ich so tun, als ob ich kein einziges Wort verstehe. Hätte die Baronin das Gegenteil gemerkt, so hätte ich wohl vergebens gewartet, meine Neugierde befriedigt zu sehen.«
»Du hattest nicht zu lauschen und nicht hinzuhören!«
»Sollte ich mir die Ohren verbinden?«
Der Kapitän war für den Gegenstand ihres Gespräches so außerordentlich interessiert, dass er es gar nicht beachtete, welch ein Spiel sein Diener mit ihm trieb und in welchen Ausdrücken dieser sich bewegte. Er drohte nur: »Ich werde mich bei meiner Schwiegertochter erkundigen, und ich befinde mich im Besitze der nötigen Mittel, sie zum Geständnisse zu bringen, ob Du mit ihr gesprochen hast.«
»Tun Sie das! Ich kann ruhig sein.«
»Ich hoffe es. Aber nun sage mir, was Du getan hättest, wenn Dir der jetzige Raub geglückt wäre?«
»Was hätte ich tun sollen? Ich hätte das Geld einstweilen vergraben.«
»Aber der Verdacht hätte auf Dich kommen können!«
»Das glaube ich nicht!«
»Der Dieb konnte nur im Hause sein!«
»Pah! Man hätte keine Spur entdeckt. Es war kein Schloss verletzt. Sie hatten Ihr Geld gezählt und sich dann eingeriegelt. Der Diebstahl wäre vollständig unerklärlich geblieben und auch niemals aufgeklärt worden. Das Geld hätte ich wie gesagt, an einem sicheren Orte einstweilen vergraben.«
»Aber man hätte die Nachschlüssel bei Dir finden können. Ich hätte natürlich Haussuchung halten lassen.«
»Man hätte nichts gefunden. Auch sie wären vergraben worden.«
»Aber der Zufall und der Teufel treiben oft ihr Spiel. Am sichersten für Dich wäre doch die Flucht gewesen!«
Bei diesen Worten hielt er sein Auge forschend auf Henry gerichtet. Dieser bemerkte diesen lauernden Blick und antwortete: »Halten Sie mich für unzurechnungsfähig! Ich hätte ja grade durch diese Flucht den Verdacht auf mich gelenkt!«
»Hm! Ich sehe, dass ich mich vielleicht in Dir getäuscht habe. Da Du Dich erwischen ließest, so hatte ich keine große Meinung von Deiner Umsicht und Geschicklichkeit.«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich überzeugt war, im Falle des Misslingens straffrei auszugehen. Bei anderer Gelegenheit würde ich sicherlich nicht ergriffen werden.«
»Bist Du so überzeugt davon?«
»Vollständig! Ein tüchtiger Einbrecher schlägt lieber zehn Angreifer tot, als dass er sich ergreifen lässt.«
»Mensch, ich beginne zu glauben, dass Du ein höchst gefährliches Subjekt bist!«
»Möglich!«, nickte Henry kaltblütig.
»Du sprichst vom Einbrechen ganz in der Weise, als ob Du Ähnliches bereits begangen hättest.«
»Ich leugne es auch gar nicht.«
»Und als ob Du bereit seist, ganz dasselbe wieder zu tun?«
»Hier wenigstens nicht, Sie werden schon dafür sorgen, dass Ihre Kasse von jetzt an sicher ist.«
»Aber anderwärts?«
Henry blickte seinen Herrn ziemlich lange von der Seite an; dann meinte er langsam und mit Betonung: »Das wird ganz allein von der Lage abhängen, in welche Sie mich versetzen. Jagen Sie mich ohne Zeugnis fort, so erhalte ich keine Stelle wieder und muss sehen, was ich tue.«
»Wie nun, wenn ich Dich nicht fortjage?«
»Wollen Sie den Fuchs im Stalle behalten?«
»Nein. Aber ich will ein anderes Tier zum Vergleiche heranziehen. Der Leopard raubt und mordet, aber sobald man klug ist, kann man sich seiner zur Jagd bedienen.«
Der Diener nickte leise vor sich hin. »Das oder so etwas Ähnliches habe ich mir gedacht«, sagte er. »Das lag auch mit in meiner Calculation, ehe ich mich daran machte, den Schlüssel in Ihr Schloss zu stecken.«
Der Alte, welcher noch immer auf und ab schritt, blieb jetzt vor ihm halten und sagte: »Henry, wenn das wahr ist, so bist Du allerdings ein Kopf der zu gebrauchen ist. Ich habe wirklich Lust, Dich zu begnadigen!«
»Damit Sie mich als Jagdleopard gebrauchen können?«, lachte der Diener.
»Ja.«
»Versuchen Sie es einmal, Herr Kapitän!«
»Wärst Du bereit dazu?«
»Warum nicht? Aber man muss seine gute Rechnung dabei finden.«
»Ich würde dafür sorgen, dass dies der Fall ist. Aber hier gilt es Verwegenheit, Verschlagenheit und Verschwiegenheit.«
»Mit diesen drei Gerichten kann ich Ihnen aufwarten! Sagen Sie mir nur, was ich zu tun habe!«
»Geduld! Geduld! Ich muss vor allen Dingen Deiner sicher sein.«
»Sind Sie das etwa nicht?«
»Du verlangst doch nicht etwa, dass ich Dir ganz plötzlich vertraue, nachdem ich Dich wenige Minuten vorher beim Einbruche ertappt habe.«
»Habe ich Ihnen nicht gerade durch diesen Einbruch bewiesen, dass Sie mir Ähnliches sorgenlos anvertrauen können?«
»Vielleicht. Aber – hm, es geht doch nicht! Es fehlt Dir Etwas, was jedenfalls unumgänglich notwendig vorhanden sein muss.«
»Was?«
»Hm! Du verstehst nicht Deutsch!«
Da stand Henry vom Stuhle auf und antwortete lächelnd: »Wer hat Ihnen diese Lüge aufgebunden?«
»Alle Wetter! Verständest Du es?«
»Leidlich, vielleicht sogar besser als leidlich.«
»Wo hast Du es gelernt?«
»Von meiner Gouvernante.«
Richemonte nahm an, dass diese Antwort ein Scherz sein solle, aber als er sah, welch ernstes Gesicht der Diener dabei zeigte, fragte er: »Eine Gouvernante hast Du gehabt, Kerl?«
»Eine ganze Reihe vielmehr. Es konnte es keine bei mir aushalten, denn ich war ein verdammt wilder Bube. Meine Eltern ließen mir Alles zu. Ich weiß ihnen das jetzt keinen Dank, denn sie allein sind schuld, dass ich das geworden bin, was ich bin.«
»Wer war Dein Vater?«
Der Einbrecher starrte fast eine ganze Minute lang in das Licht der Laterne, ohne zu antworten. Was zuckte nur jetzt über sein nicht unschönes Gesicht? Waren es Schatten, von der Laterne darüber hingeworfen, oder waren es die Zeichen einer plötzlich über ihn gekommenen Rührung, einer milden, reuigen Regung, wie sie ja auch der ärgste Verbrecher nicht immer von sich zu weisen vermag? Dann aber fuhr er mit der Hand durch die Luft und antwortete, indem seine Stimme einen halb heiseren Klang hatte: »Pah! Man soll nicht an Vergangenes denken, sondern es lieber ruhen lassen! Ich sitze auf der Lawine, und sie rollt bergab. Vielleicht begräbt sie mich unter sich, vielleicht auch rettet mich ein kühner Sprung im rechten Augenblicke.«
»Nun also, was war Dein Vater?«
»Erlassen Sie mir die Antwort. Sie kann nichts nützen und es hätte ja auch keinen Zweck, wenn ich Ihnen eine Unwahrheit aufladen wollte. Es mag genug sein, dass mir mein jetziges Schicksal nicht an der Wiege gesungen und prophezeit wurde. Was ich war, das geht mich nichts mehr an; ich will es vergessen; ich will nichts mehr davon sagen und hören. Und was ich jetzt bin, das will ich aber auch ganz sein!«
Da streckte ihm der Kapitän die Hand entgegen und sagte: »So ist es recht! Ich sehe ein, dass ich mich auf Dich werde verlassen können. Hat Dir das Geschwätz dieser dummen Baronin wirklich erlaubt, einen kleinen, kurzen Blick in verborgene Sachen zu werfen, so wirst Du erkannt haben, dass auch mein Schicksal kein erfreuliches gewesen ist. Aber ich habe gerade wie Du gesagt: Die Vergangenheit vergessen, die Gegenwart ergreifen und für die Zukunft sorgen. So ist es mir gelungen, und ich bin überzeugt, dass es auch Dir gelingen wird, Herr Deines Geschickes zu werden. Der Mensch ringt dem Schicksal kein Jota mehr ab, als was sein eigener Wert beträgt. Kann ich mich auf Dich verlassen?«
Henry schlug in die dargebotene Hand ein und antwortete: »Ich denke es und werde es Ihnen beweisen.«
»So lass uns aufrichtig sprechen! Schreckst Du vor einem Diebstahle zurück, wenn er Dir reichlich belohnt wird?«
»Nein.«
»Auch wenn es ein schwerer, ein Einbruch sein würde?«
»Nein.«
»Aber wenn man Dich dabei überraschte und Dich ergreifen wollte?«
»Pah! Ich würde gut bewaffnet sein!«
»Das heißt, Du würdest von den Waffen entschlossenen Gebrauch machen und Dich verteidigen?«
»Ja. Wer mich angreifen wollte, müsste daran glauben!«
»Welche Belohnung würdest Du fordern?«
»Das käme auf die Schwierigkeit des Unternehmens und auf den Wert des Objectes an, Monsieur Kapitän.«
»Beides ist bis jetzt noch nicht zu bestimmen. Aber erkläre mir noch einen Widerspruch. Erst sagtest Du, dass Du eigentlich Kunstschlosser seist, und dann ließest Du ahnen, dass Deine Wiege nicht an einer gewöhnlichen Stelle gestanden habe.«
»Beides ist richtig. Ich stürzte von der Stelle hinab, auf welcher ich geboren wurde. Ich wurde zunächst ein Glücksritter und später etwas noch weniger Gutes, und dabei war es notwendig, sich zuweilen mit gewissen Schlosserarbeiten zu beschäftigen. Einer meiner Collegen hatte dieses Handwerk, oder, wie es hier genannt werden muss, diese Kunst gelernt, und zu ihm ging ich in die Lehre.«
»Das befriedigt mich. Für heute mag es genug sein. Vielleicht ist es zu Deinem Glücke, dass Du heute Deine Kunst an meiner Kasse versuchtest. Ich hoffe, Du bist überzeugt, dass Du von mir nichts zu befürchten hast?«
»Ich befürchte nicht das Mindeste!«
»Nun, solltest Du dennoch einen kleinen Zweifel hegen, so will ich denselben hiermit zerstreuen. Da, nimm!«
Er öffnete den einen der noch auf dem Tische liegenden Beutel, welcher lauter Gold enthielt, nahm eine Hand voll heraus und gab es ihm.
»Danke, Monsieur!«, meinte Henry, indem er das reiche Geschenk in seine Tasche verschwinden ließ. »Wenn ich von der Höhe dieses unerwarteten Geschenkes auf das schließen soll, wobei es sich um den erwähnten weiteren Einbruch handelt, so darf ich es mir nicht als einen Pappenstiel denken.«
»Es wird sich allerdings nicht um eine Kleinigkeit handeln.«
»Sie sollen mit mir zufrieden sein!«
»Ich hoffe es! Das Nähere vielleicht bald. Alles Übrige, das heißt, Deine jetzige Arbeit und so weiter, bleibt beim Alten. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«
Er ging und begab sich leise nach demjenigen Teile des Schlosses, in welchem die Dienerschaft schlief.
In seinem kleinen Zimmerchen angekommen, öffnete er die Laterne und warf sich in einen Stuhl. Er stemmte den Kopf in die Hand und begann zu grübeln. Das Licht beleuchtete sein Gesicht, und wenn es einmal aufflackerte, so huschten gespenstige Schatten durch den Raum. Er bemerkte es nicht. Woran mochte er denken? An die Eltern, denen er vorhin die Schuld aufgebürdet hatte, ihn zu Dem gemacht zu haben, der er war – zum kühnen und verschlagenen Verbrecher? Wer kann das wissen! Wusste doch er selbst es kaum. Er gab sich seinen Gedanken widerstandslos hin, ohne Rechenschaft von sich zu fordern.
Das Licht brannte herab: es flackerte einige Male kurz auf und verlöschte dann. Erst jetzt erwachte er aus seinem Grübeln.
»Finster«, murmelte er. »So geht es auch mit dem Lichte der Jugend, des Glückes und des Lebens. Aber sorgen wir dafür, dass ein neues vorhanden sei, um angezündet zu werden, wenn das alte verlöschen will! Was nutzt das Grübeln und Sorgen! Ich sehe, dass ich richtig gerechnet und mich in dem Kapitän nicht getäuscht habe. Er meint mir überlegen zu sein; er denkt, in mir ein gutwilliges, dankbares und einträgliches Werkzeug gefunden zu haben; er wird entschlossen sein, mich auszunutzen, bis er mich nicht mehr braucht. Aber er irrt sich. Ich werde ihm dienen um meines eigenen Vorteiles willen, aber mich zu betrügen, das soll ihm nicht gelingen!«
Als am anderen Morgen der Kapitän erschien, um sich mit dem Grafen zum Frühstücke, welches sie allein einnahmen, niederzusetzen, zeigte sein sonst so strenges Gesicht einen Ausdruck von Heiterkeit, welcher Rallion sofort auffallen musste. Dieser fragte daher: »Über welches Glück sind Sie denn bereits heute am frühen Tage hinweggestürzt, dass ich Sie bei so vorteilhafter Laune sehe?«
»Heute nicht, sondern bereits am gestrigen Abende, gleich nachdem wir uns getrennt hatten«, antwortete der Gefragte. »Und zwar ist es ein Glück, welches Sie ebenso nahe angeht, wie mich selbst.«
»Sie machen mich um so neugieriger. Darf man dieses Glück, von welchem ich mir also auch einen Teil erhoffe, kennen lernen?«
»Ja. Erinnern Sie sich des Gegenstandes, über welchen wir vor unserer Trennung sprachen?«
»Natürlich! Wir sprachen über Königsau.«
»Und fanden keine Handhabe, sehr fataler Weise. Aber ich bin sehr erfreut, Ihnen sagen zu können, dass mir ein außerordentlich glücklicher Gedanke gekommen ist.«
»Ist er wirklich glücklich und auch ausführbar, so ist er mehr als Goldes wert. Ich hoffe, dass ich ihn erfahren werde.«
»Das versteht sich. Vorher will ich Ihnen aber von einem anderen Glücke berichten, welches ich gestern Abend noch gehabt habe. Es wurde nämlich bei mir eingebrochen.«
Der Graf öffnete erstaunt den Mund und sah den Alten erwartungsvoll an.
»Eingebrochen?«, fragte er.
»Ja.«
»Hier im Schlosse?«
»Ja, sogar in meinem Schlafzimmer.«
»Himmel! Welch ein Wagnis! Eingebrochen in Ihrem Schlafzimmer! Und das nennen Sie ein Glück?«
»Sogar ein sehr großes, ein sehr bedeutendes.«
»Das begreife der Teufel! Ich halte einen Einbruch für einen sehr gewagten Streich von Seiten des Einbrechers und für ein großes Malheur für den Betroffenen.«
»Hm. Ja. Von gewagten Streichen sind Sie ja überhaupt nie ein Freund gewesen!«
Der Graf runzelte die Stirn und fragte in nicht sehr freundlichem Tone: »Zweifeln Sie etwa an meinem Mute?«
»O, ganz und gar nicht«, lachte der Alte. »Es gibt ja sehr verschiedene Arten von Mut.«
»Das ist mir neu. Mut ist doch Mut!«
»O nein. Es gibt Mut der Unbesonnenheit, den Mut der Liebe, den Mut der Entsagung, der Verzweiflung, ja, sogar den Mut der Feigheit.«
»Der letztere ist ein Unding!«
»Keineswegs. Aber jedenfalls war er Demjenigen fremd, welcher gestern Abend bei mir eingebrochen ist.«
»Was hat er gestohlen?«
»Nichts, gar nichts. Der Einbruch ist ihm nicht gelungen. Ist das nicht ein Glück für mich zu nennen, da ich über zwanzigtausend Franks im Kasten hatte, den er öffnete?«
»Das wäre allerdings ein Glück!«
»Und das nicht allein. Ich habe ihn sogar erwischt und festgehalten. Ist das kein Glück?«
»Ein sehr großes. Festgenommen also haben Sie ihn? Sie allein?«
»Ja.«
Der Graf machte eine Bewegung des Schreckes und rief: »Unvorsichtiger! Wie können Sie so Etwas wagen! Einen Einbrecher festzunehmen! Ohne alle andere Hilfe! Wie nun, wenn er Sie massacrirt hätte? Das wäre ja leicht möglich.«
»Er hat es aber doch nicht getan.«
»Er hatte also den Kasten offen?«
»Ja, und das Geld bereits in der Tasche; aber ich zwang ihn, es wieder herauszugeben.«
»Kapitän, das ist wirklich entsetzlich! Das sind leichtsinnige Jugendstreiche von Ihnen. Ich rühme mich doch auch meiner gehörigen Portion von Mut und Verwegenheit, aber einem Einbrecher jage ich seinen Raub niemals wieder ab. So etwas kann höchst unglücklich ausfallen, wie sehr zahlreiche Beispiele beweisen. Aber, da fällt mir ja ein, dass man gar nichts gehört und bemerkt hat.«
»Was sollte man denn hören?«
»Hilferuf und Kampfgetümmel!«
»Nichts weniger als das. Es ist vielmehr sehr ruhig dabei hergegangen.«
»Das begreife ich nicht. Wo steckt denn der Kerl? Es war nur einer?«
»Glücklicherweise, ja.«
»Sie haben ihn doch sofort in Eisen schmieden und forttransportieren lassen?«
»Fällt mir gar nicht ein.«
»Nicht? Was denn sonst?«
»Ich habe ihn wieder freigelassen.«
Da machte der Graf ein Gesicht, als ob er geradezu Ungeheuerliches vernommen habe. Er starrte den Kapitän eine ganze, lange Weile sprachlos an und rief dann aus: »Freigelassen? Sie scherzen doch wohl nur?«
»Nein, ich spreche im völligen Ernste.«