Die Liebe des Ulanen 4  Der Spion von Ortry - Karl May - E-Book

Die Liebe des Ulanen 4 Der Spion von Ortry E-Book

Karl May

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Beschreibung

»Die Liebe des Ulanen«, ein packender Fortsetzungsroman über den deutsch-französischen Krieg 1870/71, erschien in 107 Lieferungen von September 1883 bis Oktober 1885 in der Zeitschrift »Deutscher Wanderer«. Der Jahrgang umfasste insgesamt 108 Lieferungen; in der Nummer 87 gab es keinen May-Text. Die vorliegende Textfassung folgt in 5 Bänden unverändert und ungekürzt der Erstausgabe des Münchmeyer-Verlags und entspricht damit vollständig der Originalfassung von Karl May. Der besseren Übersichtlichkeit wegen wurden zusätzliche Kapiteleinteilungen eingefügt. Der Ulanenrittmeister Richard von Königsau reist im Jahre 1870 inkognito und als buckliger Erzieher verkleidet nach Ortry in Lothringen, um im Schlosse des Gardekapitäns Albin Richemonte tragische Familiengeheimnisse aufzuklären und französischen Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland auf die Spur zu kommen. Auf dem Weg nach Ortry rettet er Marion, Richemontes schöner Enkelin, das Leben und entdeckt seine Liebe zu ihr. In dem geheimnisvollen Schloss Ortry, einem Gebäude mit Tapetentüren, geheimen Gängen und unterirdischen Verliesen bekämpft Köngsau die Machenschaften des finsteren Richemonte und gelangt schließlich auf die Spur eines Jahrzehnte zurückliegenden Verbrechens, durch das seinen Vorfahren ein furchtbares Schicksal zugefügt worden ist. Mutig und entschlossen nimmt Königsau den Kampf mit den Mächten des Bösen auf.

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelImpressum

1. Kapitel

Es war ein wunderschöner Morgen über die Gegend von Ortry aufgegangen. Die Sonne hatte den Thau von den Blättern und Halmen geleckt, nur hier und da glänzte ein goldener Tropfen aus dem tiefen Kelche einer Blume hervor. Die frühen Stunden waren vorüber, und die Sonne machte bereits ihre Wirkung höher geltend. Da ging Nanon durch den Wald.

Um diese Zeit pflegte Marion de Sainte-Marie dem Unterrichte beizuwohnen, welchen Doctor Müller ihrem Bruder Alexander gab. War es die Schwesterliebe oder das Interesse von den Lehrgegenständen, welches sie zu diesem Opfer veranlasste? Sie wusste es sich vielleicht selbst nicht zu sagen.

Nanon aber benutzte dann diese Zeit zu einem einsamen Spaziergange im Walde. Da war es freier, besser und schöner als im Zimmer bei den Büchern und – da draußen gab es allerlei Kräuter und Gräser, und zuweilen kam Einer, um dieselben abzupflücken und in seinen großen Sack zu stecken. Ein Plätzchen gab es, wo sie gar zu gern verweilte. Es war der Ort, an welchem sie zum ersten Male mit Fritz ausgeruht hatte. Und wunderbar. So oft Fritz in den Wald kam, er streckte sich gewiss nicht eher in das Moos oder in die Halde nieder, als bis auch er dieses Fleckchen erreicht hatte.

So strich sie leise und langsam zwischen den Bäumen dahin und trällerte, nicht ganz laut, aber auch nicht ganz halblaut, das Lied vor sich hin:

»Fern im Süd', das schöne Spanien,

Spanien ist mein Heimatsland,

Wo die schattigen Kastanien

Rauschen an des Ebro Strand,

Wo die Mandeln rötlich blühen,

Wo die süße Traube winkt,

Wo die Rosen schöner glühen

Und das Mondlicht goldner blinkt.«

Sie blieb stehen und lauschte. Kein Echo! Es gab aber hier doch gar keinen Berg, keine Felswand, wodurch ein Echo erzeugt werden könnte! Und sie war doch eine so große Freundin des Echo; sie hörte es so gern. Sie setzte also ihren Weg fort und sang weiter:

»Längst schon wandr' ich mit der Laute

Traurig hier von Haus zu Haus,

Doch kein einzig Auge schaute

Freundlich noch zu mir heraus.

Spärlich reicht man mir die Gaben;

Mürrisch heißet man mich gehn.

Ach, mich armen, braunen Knaben

Will kein Einziger verstehn!«

Sie hielt abermals inne, um zu lauschen. Über ihr allerliebstes Gesichtchen glitt ein glückliches Lächeln, denn jetzt, ja jetzt ließ sich ein Echo hören. Aber kam das von einem Berge oder von einer Felswand zurück? Wohl nicht, denn die Töne lagen um eine volle Octave tiefer, und die Worte waren auch ganz andere. Gibt es denn auch Echo's, welche nicht von Felswänden zurückgeworfen werden und die ihre eigenen Töne und Worte haben? Jedenfalls, denn das Echo, welches sich jetzt hören ließ, sang:

»Als beim letzten Erntefeste

Man den großen Reigen hielt,

Habe ich das Allerbeste

Meiner Lieder aufgespielt.

Doch, als sich die Paare schwangen

In der Abendsonne Gold,

Sind auf meine dunkle Wangen

Heiße Tränen hingerollt!«

Es war eine volle, kräftige Baritonstimme, welche diese Verse sang. Nanon lauschte, und erst als das letzte Wort verklungen war, setzte sie sich wieder in Bewegung, aber schneller als vorher. Sie kam dem erwähnten Plätzchen immer näher, und als sie es erreichte, da – da lagen Zwei im Moose, nämlich der volle Kräutersack und Fritz, der jetzige Besitzer dieses medicinisch und offizinell höchst wichtigen Gegenstandes.

Er hatte natürlich nicht die mindeste Ahnung, dass außer ihm noch irgendwer im Walde sein könne; ebenso wenig hatte er Jemand singen gehört. Er lag eben da und blickte zum Himmel auf wie Einer, der sich auf der Erde sehr wohl befindet und dies Denen, die da oben wohnen, von ganzem Herzen auch wünscht. »Guten Morgen, Herr Schneeberg!«, erklang es hinter ihm.

Wäre es möglich, dass er sich getäuscht hätte? Befand sich außer ihm doch noch Jemand im Walde? Wunderbar? Er sprang auf und tat, als ob er im höchsten Grade überrascht worden sei.

»Ah, Sie sind es!«, meinte er dann beruhigt. »Guten Morgen, Mademoiselle Nanon? Ich dachte, ich wäre ganz allein!«

»Darum haben Sie auch so schön gesungen!«

»Schön? Wohl kaum leidlich, denn ich habe niemals Gesangunterricht gehabt.«

»Aber Ihre Stimme ist hübsch!«

»Oh, wie eben die Stimme eines Kräutermannes sein kann!«

»Sie sind sehr bescheiden! Und was Sie da sangen, das war mein Lieblingslied!«

»Wirklich? Das hätte ich wissen sollen!«

Und doch hatte er es gewusst, denn sie hatte es ihm bereits einige Male gesagt, ganz mit denselben Worten, wie jetzt.

»Ich habe sogar, ehe ich Sie hörte, auch zwei Strophen desselben Liedes gesungen.«

»Drum! Drum hörte ich so Etwas aus der Ferne!

Gerade wie wenn es vom Himmel käme! Es war so schön!«

»Gehen Sie! Sie schmeicheln!«

Er legte die Hand auf das Herz und beteuerte eifrig: »Gewiss nicht! Ich sage die reine Wahrheit. Wenn Sie singen, so klingt es ganz anders als bei andern Leuten. Es muss bei Ihnen da drin ganz anders beschaffen sein! Viel zierlicher und accurater!« Dabei deutete er auf seine Brust. Sie war ihm jetzt ganz nahe gekommen und reichte ihm ihr kleines, weißes Händchen.

»Wie weich und fein!«, sagte er, indem er es leise und vorsichtig ergriff. »Gerade wie seidener Sammet, aber von der besten und allerteuersten Qualität. So ein Händchen ist doch etwas recht Wunderbares.«

»Wieso, Herr Schneeberg?«

»Es ist ein Meisterstück aus Gottes Hand und muss doch so viele irdische, dumme Arbeit vornehmen. Ein solches Händchen sollte immer ruhen dürfen. Es sollte nur da sein zum Entzücken Dessen, der ein Recht darauf hat. Meinen Sie nicht auch?«

»Sie sprechen stets in einer Weise, dass es Einem leid tut, das Geringste dagegen zu sagen.«

»Und Sie zeigen in Ihren nachsichtigen Worten eine Güte, über welche ich erröten möchte!«

Sie standen voreinander und blickten sich in die Augen, so offen, so treuherzig, so redlich, der hohe, starke Mann und sie, das liebliche, sonnige Mädchen. Sie sahen sich an, als ob sie sich noch gar nicht gesehen hätten. Sie lächelten und sagten Nichts dazu, bis Fritz endlich dachte, dass er nun doch wieder Etwas sagen müsse. Darum fragte er: »Sind Sie nicht ermüdet, Mademoiselle Nanon?«

»Eigentlich nicht, aber ein Wenig doch!«

»Wollen Sie nicht die Güte haben, Platz zu nehmen?«

»Wieder auf den Kräutern? Ich werde Ihnen noch den Sack durchsitzen, und dann wird Ihr Doctor zanken!«

»O, haben Sie keine Sorge! Der zankt nicht mit mir!«

»Weil Sie so gut und treu sind!«

»O nein, sondern weil er meint, dass Zanken doch nichts helfen und bessern würde. Kommen Sie! Es ist so weich, und ich habe ihn so gelegt, dass es bequem ist wie auf einem vornehmen Thronsessel!«

Sie setzte sich auf den Kräutersack und meinte lächelnd: »Sie werden mich gewiss noch ganz und gar verwöhnen!«

»Ich wollte, ich könnte das! Dann möchte ich den ganzen Tag und das ganze Jahr bei Ihnen sein, um Ihnen Alles so sanft und weich wie möglich zu machen!«

»Ja, so sind Sie! Nur immer für Andere sind Sie besorgt! Und wir Andern missbrauchen das nur zu sehr!«

»O, missbrauchen Sie das nur getrost!«, lachte er ganz glücklich. »Ich wollte, ich könnte Ihnen noch weit mehr dienen, als ich es vermag!«

»Wirklich? Meinen Sie das wirklich?«

»Gewiss! Wollen Sie das etwa nicht glauben?«

»Ich glaube es, denn ich weiß, dass Sie niemals die Unwahrheit sagen. Aber gerade weil Sie so gütig sind, habe ich gar nicht das Herz, eine Bitte auszusprechen, von der ich heute eigentlich reden wollte.«

Er blickte ihr so selig entgegen; er nickte ihr aufmunternd zu und sagte: »Das ist es ja gerade, was ich wünsche! Ich wollte, Sie hätten alle Tage tausend Bitten, die ich gewähren könnte!«

»Das ist es ja eben! Ich weiß nicht, ob Sie im Stande sind, mir die gegenwärtige zu gewähren.«

»Ist's denn gar so schwer? Versuchen Sie es doch einmal!«

»Schwer ist's nun gerade nicht; aber Zeit gehört dazu, und die wird Ihnen wohl nicht zur Verfügung stehen.«

»Warum nicht? Zeit habe ich stets!«

»Ja, für Ihr Geschäft, aber nicht für mich!«

»Für Sie am Allermeisten. Doctor Bertrand lässt mich machen, was ich will. Also bitte, sagen Sie mir ja, womit ich Ihnen dienen kann!«

»Nun, so will ich es wagen. Ich muss Ihnen nämlich sagen, dass mein Vater gestorben ist.«

»Ihr Vater?«, fragte er erschrocken. »Herrgott, das ist ja ganz und gar traurig!«

»Allerdings, obgleich er nicht mein eigentlicher Vater, sondern nur mein Pflegevater, mein Vormund war.«

»So haben Sie keine rechten Eltern mehr, Mademoiselle?«

»Nein. Ich bin ein Waisenkind.«

»Gerade so wie ich!«

»Ja, gerade so wie Sie!«

Da ergriff er ihr Händchen, streichelte es, aber vorsichtig, um ihr ja nicht wehe zu tun, oder etwas an der Herrlichkeit dieses »Meisterstückes« zu verändern und sagte: »Gott schütze Sie. Man sagt, dass ein jedes Kind einen Engel habe, ein Waisenkind aber drei, nämlich zwei an Stelle des Vaters und der Mutter.«

»Das ist ein sehr lieber und schöner Glaube, aus dem man reichen Trost zu schöpfen vermag. Also mein Pflegevater ist gestorben und soll morgen beerdigt werden. Ich will hin, und auch meine Schwester kommt.«

»Eine Schwester haben Sie, eine Schwester?«

»Ja, ein gutes, heiteres herziges Wesen. Ich habe ihr telegraphiert, und sie wird morgen auf dem Bahnhofe sein. Dort empfange ich sie, und wir fahren weiter, nach Metz und von da nach Etain. Denken Sie sich, so weit wir Zwei!«

»Ja, das ist nun freilich schlimm! Zwei Damen, so allein!«

»Zwar fürchte ich keine Gefahr; aber man weiß doch niemals, was geschehen kann. Denken Sie, damals auf der Mosel.«

»Ja, wer sollte meinen, dass man da Schiffbruch leiden könne!«

»Und doch mussten Sie mich aus dem Wasser retten. Seit jener Zeit ist es mir, als ob ich nur dann sicher sein könne, wenn ich bei Ihnen bin. Darum kommt nun meine heutige Bitte, lieber Schneeberg – aber es fällt mir wirklich schwer, sie auszusprechen.«

Er lächelte ihr freundlich entgegen und sagte: »Nun, da muss ich sie Ihnen leicht machen. Wissen Sie, was mich recht froh und glücklich machen könnte?«

»Nun, was?«

»Wenn ich Sie begleiten dürfte. Aber so eine Dame, wie Sie, wird sich mit so einem armen Kräutersammler nicht abgeben wollen. Nicht wahr?«

»Wo denken Sie hin? Das war es ja gerade, um was ich Sie bitten wollte.«

»Wirklich? Dann hätten sich unsere Wünsche ja recht schön begegnet!«

»So wie immer! Aber, werden Sie denn auch Zeit haben?«

»So viel, wie Sie wünschen! Ich werde es meinem Herrn melden, und dann wird Alles abgemacht sein.«

»Gut! Werden Sie mit dem Vormittagszuge fahren können?«

»Das versteht sich ganz von selbst!«

»So treffen wir uns auf dem Bahnhofe! Wie freue ich mich, meine Schwester wieder zu sehen! Es sind Jahre vergangen, seit wir uns trennten. Wissen Sie, dass ich ihr von Ihnen geschrieben habe, von Ihnen und dem Löwenzahn? Ich dachte, sie könne sich erkundigen.«

»Wo?«

»Sie wohnt in Berlin.«

Er horchte auf. »In Berlin?«, fragte er. »Ist sie da verheiratet?«

»O nein. Sie ist Gesellschafterin gerade wie ich. Es geht ihr sehr gut. Ihre Herrin ist eine Gräfin von Hohenthal.«

»Von Hohen – Hohenthal?«, fragte er, indem er Mühe hatte, seinen Schreck zu verbergen.

»Ja. Ihr Sohn ist Husarenrittmeister.«

»So, so! Darf ich ihren Namen wissen?«

»Madelon heißt sie. Also Sie kommen gewiss?«

»Ganz gewiss!«

»So will ich wieder gehen. Marion wird mich erwarten.«

Sie erhob sich und reichte ihm die Hand.

»Sie wollen allein gehen?«, fragte er.

»Ja. Ich nehme morgen so viel von Ihrer Zeit in Anspruch, dass ich Sie heute nicht auch noch berauben will. Leben Sie wohl, mein bester Herr Schneeberg!«

»Adieu, Fräulein Nanon!«

Sie trennten sich. Sie ging, und er blieb zurück.

Als sie sich entfernt hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Na, na, was soll daraus werden! Hohenthals Madelon ist ihre Schwester! Die kennt mich ganz genau. Sie wird gleich ahnen, weshalb wir uns hier befinden. Was ist da zu tun? Es wird am Besten sein, ich frage den Herrn Rittmei – wollte sagen, den Herrn Doctor Müller. Was der sagt, das wird gemacht. Auf mich allein kann ich es nicht nehmen.« Er nahm seinen Sack auf die Achsel und schritt davon. Er war allerdings keineswegs wirklich verpflichtet, für Doctor Bertrand Pflanzen zu sammeln; oft aber, wenn es seine eigenartigen Geschäfte zuließen, brachte er officinelle Kräuter mit heim. Auch heute sagte er sich, dass er Muse zum Sammeln solcher Thee's habe, und so verweilte er noch längere Zeit in Wald und Feld. Es war bereits weit über Mittag, als er mit den Ergebnissen seines Botanisirens nach Thionville kam. Er begab sich, als er dieselben abgeliefert hatte, nach dem Gasthofe, in welchem damals die Seiltänzer logiert hatten und in dessen kleinem Zimmer er den Auftritt mit dem nachher verunglückten Mädchen erlebt hatte.

Als er quer über die Straße hinüber schritt, erblickte er Müller, seinen Herrn, welcher langsam, mit den Schritten eines Spaziergängers, daher geschlendert kam. Ein kurzer Wink zwischen Beiden genügte zum Verständnis, dass Fritz mit dem jetzigen Erzieher zu sprechen habe. Der Erstere trat in den Gasthof ein. In dem Gastzimmer befand sich kein Mensch; dennoch aber begab er sich nach dem erwähnten kleinen Stübchen, um von etwa noch ankommenden Gästen ungestört zu sein. Müller war so vorsichtig, die Straße vollends hinauf zu gehen und durch zwei Nebengassen zurückzukehren. Auch er begab sich nach dem hintern Zimmerchen, da er in der vorderen Stube Niemanden erblickte. Gerade als er dort eintrat, erhielt Fritz seine Flasche Wein, welche er sich bestellt hatte. Er grüßte fremd, als ob er den Letzteren nicht kenne, und bestellte sich ebenso Wein. Als derselbe gebracht worden war und die Kellnerin sich entfernt hatte, fragte er in halb lautem Tone: »Du hast mir Etwas zu sagen?«

»Ja, Herr Doctor.«

»Etwas Wichtiges?«

Fritz zuckte die Achsel, machte ein schelmisches Gesicht und antwortete: »Hm! Für mich vielleicht, für Sie aber wohl weniger. Es ist eine private Angelegenheit.«

»So, so! Lass doch einmal hören!«

»Ich brauche sehr notwendig einen kurzen Urlaub.«

»Weshalb?«

»Na, weil der Pflegevater gestorben ist!«

»Der Pflegevater?«, fragte Müller erstaunt. »Doch wohl nicht der Deinige?«

»Nein. Zweimal stirbt bekanntlich Keiner. Ich meine nämlich den Pflegevater von Mademoiselle Nanon.«

»Ah! Das verstehe ich nicht.«

»Nun, sie hat in der Gegend von Etain einen Pflegevater, welcher gestorben ist. Sie will ihn begraben helfen, und ich soll die Ehre haben, sie zu begleiten.«

»Du, Du!«, drohte Müller mit dem Finger. »Was soll ich davon denken? Ich will doch nicht hoffen, dass –!«

Er hielt inne, und Fritz fiel schnell ein: »Dass ich etwa nicht der Kerl bin, eine Dame zu begleiten und zu beschützen?«

»Eine alte, eine recht sehr alte, ja; aber eine so junge und zugleich hübsche? Nein!«

»Donnerwetter! Ein königlich preußischer Ulanenwachtmei –«

»Pst!«, warnte Müller.

»Ach so! Ich wollte sagen ein französischer Kräuterfex, der mit Blumen und Blüten umzugehen weiß, wird wohl auch verstehen, eine junge Dame zart genug anzufassen!«

»Also beim Anfassen bist Du schon?«

»Warum nicht?«

»Duldet sie das?«

»Was will sie machen!«

»Hm! Wie kommt sie denn gerade auf Dich?«

»Da ist jedenfalls nur der Kräutersack schuld!«

»Wieso?«

»Weil der ihr stets als Kanapee dient.«

»Ach so! Ich beginne, zu begreifen! Ihr trefft Euch zuweilen im Walde?«

»Freilich!«

»So ganz zufällig?«

»Ganz und gar!«

»Dann setzt Ihr Euch nieder und plaudert?«

»Natürlich!«

»Sie sitzt auf dem Sacke?«

»Gewöhnlich.«

»Und Du daneben?«

»Zuweilen. Es kommt auch vor, dass ich liege. Wir haben nämlich bei unseren Conferenzen jede Etiquette verbannt.«

»Das ist sehr praktisch. Und wovon unterhaltet Ihr Euch?«

»Vom Wetter, von Frostballen, von Clarinetten und auch wohl von sauren Gurken und hölzernen Pantoffeln.«

»Schlingel! Gibt es keinen bessern und interessanteren Unterhaltungsstoff?«

»O doch!«

»Nun?«

»Wir gucken uns an. Das ist das Liebste und Interessanteste, was wir machen können.«

»Fritz, Du bist verliebt!«

»Donnerwetter, ja, das ist wahr!«

»Und sie, die Nanon?«

»Die wohl schwerlich. Leider! So ein kleines Mäuschen wird sich in so einen großen Bären vergaffen!«

»Das ist richtig! Du hast übrigens auch ganz und gar Nichts an Dir, was geeignet sein könnte, das Herz eines jungen, hübschen Mädchens zu erobern!«

»Ah! Wirklich? Ja, das kann wahr sein. Es fehlt mir das Haupterfordernis, um Liebe und Anbetung zu erwecken.«

»Was?«

»Der Buckel, den Sie haben.«

»Du bist ein Galgenstrick! Aber lassen wir diese heikle Angelegenheit. Deine Bekanntschaft mit Nanon Köhler kann uns sehr nützlich werden. Wie lange soll der Urlaub währen?«

»Das weiß ich nicht. Doch wohl nicht länger als bis übermorgen Abend oder den nächsten Vormittag.«

»Wann fahrt Ihr ab?«

»Morgen mit dem Mittagszuge.«

»Nun gut! Du sollst den Urlaub haben, und hier auch das Reisegeld. Da, nimm!« Er zog die Börse und reichte dem Wachtmeister einige Goldstücke hin; dieser nahm sie mit lachender Miene in Empfang und sagte: »Großen Dank, Herr Doctor! Auf diese Weise kann ich nobel auftreten und mich sehen lassen. Das ist mir besonders deshalb lieb, weil eine alte, gute Bekannte mitfahren wird.«

Müller horchte auf. »Eine Bekannte?«, fragte er. »Von hier?«

»Nein, sondern von Berlin.«

»Das wäre?«, fragte Müller erstaunt.

Fritz streckte behaglich die Beine aus, machte ein höchst wichtiges Gesicht und sagte: »Ja, mein verehrtester Herr Doctor, das ist eine ganz verteufelte Geschichte. Wir können gewaltig in die Käse fliegen. Wer hätte aber auch so Etwas denken können.«

»Du machst mich besorgt. Was gibt es denn?«

»Hm. Sie kennen doch die Familie des Herrn Husarenrittmeisters von Hohenthal?«

»Natürlich! Ich bin ja mit dem Rittmeister innig befreundet. Wir besuchen uns sogar.«

»Das weiß ich. Sie kennen also auch die Gesellschafterin seiner gnädigen Frau Mutter?«

»Die kleine Madelon? Ja.«

»Fällt Ihnen nicht auf, dass sie gerade Madelon heißt?«

»Warum sollte mir das auffallen? Wohl weil dieser Vorname ein französischer ist?«

»Ja. Nanon und Madelon, Madelon und Nanon. Ist Ihnen der Familienname dieser kleinen Dame bekannt?«

»Hm. Ich glaube, ihn gehört zu haben. Ah, jetzt fällt er mir ein. Ich glaube, dass der Rittmeister ›Fräulein Köhler‹ zu ihr sagte!«

»So ist es! Und Nanon heißt auch Köhler. Daraus folgt, dass –«

»Dass sie verwandt sind?«, fiel Müller schnell ein.

»Sogar dass sie Schwestern sind!«

»Sapperment. Ist das wahr?«

»Ja. Nanon hat es mir selbst gesagt.«

»Und ich habe keine Ahnung davon gehabt. Wer hätte das denken können. Du willst doch nicht etwa sagen, dass diese Madelon kommen wird?«

»Gerade das will ich sagen. Auch sie ist von dem betreffenden Pflegevater erzogen worden. Nanon hat ihr telegraphiert, und nun wird sie morgen mit dem Mittagszuge in Thionville eintreffen, um sich ihrer Schwester anzuschließen.«

»Das ist unangenehm, höchst unangenehm!«

»Allerdings.«

»Du wirst Nanon nicht begleiten können.«

»Das habe ich mir auch gesagt. Man dürfte sich eigentlich gar nicht sehen lassen; aber – hm – ich habe mir das Ding genau überlegt; ich habe es nach rechts und links gewendet und bin da zu der Ansicht gekommen, dass es doch wohl besser ist, wenn ich mich vor ihr zeige.«

»Wieso?«

»Nun, erstens habe ich Nanon mein Wort gegeben. Es ließe sich zwar eine Ausrede nicht schwer erfinden, aber es könnte auffallen und, aufrichtig gestanden, fahre ich doch gar zu gern mit.«

»Deine persönlichen Gefühle müssen hier vor den Rücksichten der Klugheit zurücktreten.«

»Das wäre richtig, wenn es richtig wäre. Aber die beiden Schwestern haben einander seit Jahren nicht gesehen. Madelon wird dieser kleinen Nanon einige Tage widmen; sie wird nach dem Begräbnisse ganz sicher mit nach Schloss Ortry kommen, und dann ist es ja gar nicht zu vermeiden, dass Sie von ihr bemerkt und gesehen werden.«

»Das ist leider sehr richtig«

»Das kann gefährlich werden; das kann Alles verraten. Im Augenblicke des Erkennens hat man sich nicht so wie zu anderer Zeit in der Gewalt. Wie nun, wenn die kleine junge Dame vor Überraschung mit Ihrem wirklichen Namen herausplatzte!«

»Das wäre verteufelt.«

»Das meine ich auch, und darum ist es besser, dass ich mich vor ihr sehen lasse und sie vorbereite.«

»Das mag sein. Aber womit wollen wir unsere Anwesenheit, unser Incognito begründen?«

»Dies zu bestimmen, überlasse ich Ihnen. Die Wahrheit dürfen wir auf keinen Fall sagen.«

»Natürlich nicht. Du kennst wohl Einiges aus der Vergangenheit meiner Familie?«

»Ja, was ich so hier und da gehört und weggeschnappt habe.«

»Der alte Kapitän spielt da eine große Rolle –«

»Ich weiß es. Sie meinen, dass ich ihr auf diese Weise unsere Anwesenheit erklären soll?«

»Ja, es wird dies das Beste sein.«

»Jedenfalls. Aber, was soll ich ihr da sagen?«

»Das überlasse ich Dir. Du bist klug und vorsichtig genug, um das Richtige zu treffen und weder zu viel noch zu wenig zu sagen. Ich kann Dir keine Vorschriften machen, da ich ja nicht weiß, wie sich Euer Zusammentreffen gestalten wird.«

»Und darf Nanon davon hören?«

»Kein Wort!«, antwortete Müller schnell.

»Sie darf also gar nicht wissen, dass ihre Schwester mich kennt. Das erschwert die Sache.«

»Ich halte diese Madelon für klug, verschwiegen und gewissenhaft.«

»Ich auch. Ich hoffe, dass sie selbst gegen ihre Schwester nicht plaudern wird. Aber, hm, da macht mir eben der Augenblick des Zusammentreffens Sorge.«

»Du hast Dich mit Nanon auf den Bahnhof bestellt?«

»Freilich. Ihre Schwester weiß, dass sie dort von ihr erwartet wird. Da wird sich die Coupeetür öffnen; die beiden Schwestern fliegen sich in die Arme; ich stehe dabei wie ein Ölgötze, Madelon erkennt mich und schreit: Ei potz Blitz, bist Du nicht die Gustel von Blasewitz? Ich bin erkannt und entlarvt; die Butter fällt mir vom Brot; Nanon staunt mich an und fragt nach meinem Heimatsschein – es wird eine Scene, welche wir auf alle Fälle vermeiden müssen.«

»Sehr richtig.«

»Aber das Mittel. Es will mir augenblicklich nichts einfallen!«

»Es gibt da nur ein einziges Mittel, vorzubeugen, dass wir nicht verraten werden.«

»Und das wäre?«

»Du musst ihr entgegenfahren.«

»Alle Wetter. Das ist richtig. Und ich Dummkopf komme nicht selbst darauf. Aber wie weit fahre ich?«

»Der Zug trifft nach zwölf Uhr hier ein. Auf einem kleinen Anhaltepunkt, wo es keinen Aufenthalt gibt, hast Du keine Zeit, ihr Coupee zu entdecken. Du musst ihr unbedingt bis Trier entgegen fahren, und das ist nur mit dem Morgenzuge möglich.«

»Gut. In Trier hält der Zug zehn Minuten; das genügt, um einen Passagier ausfindig zu machen, zumal ich annehmen kann, dass sie nicht in dritter Classe fahren wird.«

»Du brauchst Dich nur an die Schaffner zu wenden. Du steigst bei ihr ein, und bis Du hier ankommst, ist die Angelegenheit in Ordnung gebracht. Ich weiß, dass ich keine Befürchtung zu hegen brauche, da ich mich auf Dich verlassen kann.«

»Keine Sorge, Herr Doctor. Aber wie kommt es, dass Sie sich jetzt in der Stadt befinden?«

»Ich kam, um beim Buchhändler einige Bücher zu kaufen. Horch! Es scheinen Gäste gekommen zu sein.«

Die Kellnerin hatte die nach dem großen Zimmer führende Tür nicht fest zugemacht, sondern nur angelehnt. Die Beiden hörten Schritte, und eine Stimme fragte: »Ist der Wirt zu Hause?«

»Ja«, antwortete das Mädchen.

»Gib mir einen Absynth und rufe ihn. Dich aber brauchen wir nicht dabei.«

Das Mädchen ging.

»Ah, eine heimliche Unterredung, wie es scheint!«, flüsterte Müller.

Er trat an die Tür, warf einen Blick durch die Spalte und gewahrte einen Mann, dessen Gesicht durch einen dunklen Vollbart verhüllt war. Er trug ganz gewöhnliche Kleidung, doch war der Eindruck, den er machte, ein martialischer. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und trank von dem Schnapse, den ihm das Mädchen gegeben hatte, ehe sie aus der Stube gegangen war.

Müller und Fritz verhielten sich unwillkürlich ganz schweigsam. Es währte eine ziemliche Zeit, bis der Wirt eintrat.

»Du lässt mich lange warten!«, sagte der Mann zu ihm. »Und meine Zeit ist kurz bemessen.«

»Kann ich dafür? Was gibts?«

»Versammlung.«

»Ach so. Dann hast Du allerdings gehörig zu laufen. Versammlung für Alle?«

»Nein, nur die Anführer.«

»Wann?«

»Punkt elf Uhr.«

»In den Ruinen?«

»Nein; das ist nicht mehr möglich, seit wir damals belauscht worden sind. Möchte nur wissen, welchem Subjecte es gelungen ist, sich einzuschleichen. Einen Verdacht hat man.«

»Ah. Wirklich? Wer?«

»Es läuft ein fremder Kerl den ganzen Tag im Walde herum, um Kräuter zu sammeln. Man hat ihn auch bei den Ruinen gesehen. Vielleicht ist Der es gewesen.«

Der Wirt schüttelte den Kopf und antwortete: »Der? Das fällt ihm gar nicht ein.«

»Kennst Du ihn?«

»Ja. Er ist der Pflanzensammler von Doctor Bertrand. Ich kenne ihn genau, da er bei mir viel verkehrt.«

»Was ist es für ein Mensch?«

»Der ist ebenso dumm, wie er lang und stark ist. Saufen kann er, wie ein Loch. Aber sonst ist ganz und gar nichts mit ihm. Er tut das Maul nicht auf, spielt weder Billard noch Karte; der hat für Nichts Sinn als für seinen Kräutersack!«

»Das ist sein Glück. Wollte er seine Nase in unsere Angelegenheit stecken, so würde sie ihm bald breit gedrückt werden. Woher stammt er?«

»Aus Genf, überhaupt aus der französischen Schweiz, glaube ich. Um den brauchen wir uns nicht zu grämen.«

»Schön. Der Kapitän hat ihm misstraut und will ihn beobachten lassen. Ich werde ihn also beruhigen.«

»Das kannst Du getrost tun. Also in den Ruinen kommen wir nicht zusammen? Folglich beim alten Turme?«

»Auch nicht. Wo denkst Du hin. Wie können wir so Etwas wagen! Hast Du denn die Kerls vergessen, welche damals das Grab geöffnet haben?«

»Ah, richtig. Ihr hättet sie erschießen sollen.«

»Pah. Du hast gut Reden. Der Kapitän hatte den Klingeldraht falsch angebracht; es läutete zu spät. Wir waren nur drei Personen am Wachen, und als wir kamen, ging eben der Spectakel los, nämlich das Donnern und Blitzen.«

»Diese Kerls mögen schön erschrocken sein.«

»Und wie! Der Eine riss sofort aus. Er schrie Etwas in einer fremden Sprache, welche der Teufel vielleicht versteht, ich aber nicht.«

»Habt Ihr Keinen erkannt?«

»Nein. Es waren Drei. Also Einer riss aus, aber die beiden Anderen blieben furchtlos stehen. Natürlich kam der Kapitän dazu, von dem Glockenzeichen herbeigerufen. Er befürchtete, dass diese Zwei bleiben würden, um zu lauschen, was nun von unserer Seite geschehen werde; darum mussten wir uns vollständig still verhalten. Und wirklich. Ein Rascheln, welches später zu hören war, überzeugte uns, dass sie sich zwar entfernt hatten, aber wiedergekommen seien.«

»Schlauköpfe.«

»Ja. Ich möchte wissen, wer es gewesen ist. Erst am Morgen entfernten sie sich, und von da an hatten wir Gelegenheit, das Loch wieder zuzuwerfen und die Zerstörung, welche sie angerichtet hatten, zu beseitigen.«

»Hoffentlich aber ist der Alte so klug gewesen, das Arrangement verändern zu lassen!«

»Jedenfalls. Er schweigt natürlich darüber; aber ich vermute, dass einige Kameraden, welche ich mehrere Tage lang nicht zu Gesichte bekam, heimlich bei ihm arbeiten mussten.«

»So bleibt uns nur noch das Trou du bois, wo wir uns versammeln könnten?«

»Jetzt, ja. Also heut Abend zehn Uhr im Trou du bois. Jetzt muss ich weiter.«

»Ist Etwas mitzubringen?«

»Nein. Wir werden einige Befehle erhalten; das ist Alles. In einer Viertelstunde ist's abgemacht. Adieu!«

Er gab dem Wirte die Hand und ging. Der Letztere begleitete ihn hinaus und kehrte nicht wieder zurück.

Die beiden Lauscher blickten einander an. Dann nickte Fritz wohlgefällig vor sich hin und sagte mit gedämpfter Stimme: »Bon! Das war famos! Nicht?«

»Sehr gut!«

»Der Wirt muss von unserer Anwesenheit gar nichts wissen.«

»Jedenfalls. Darum wollen wir die Tür zumachen, damit er, wenn er unsere Gegenwart bemerkt, nicht auf die Vermutung kommt, dass wir Etwas hören konnten.«

Fritz drückte die Tür ins Schloss, nahm wieder Platz und sagte: »Also auf mich haben diese Kerls Verdacht! Wie gut, dass ich dies weiß! Jetzt kann ich mich darnach verhalten.«

»Und ich freue mich sehr, dass nicht ich es bin, auf den ihr Augenmerk gefallen ist. Seit mich der Kapitän mit Dir in den Ruinen sah, war ich überzeugt, dass der Verdacht sich einzig gegen mich richten werde.«

»Heut Abend wieder eine Zusammenkunft! Alle Wetter! Wenn man die belauschen könnte!«

»Den Ort wüssten wir. Im Trou du bois.«

»Das heißt auf Deutsch im Waldloche. Kennen Sie vielleicht diesen Ort, Herr Doctor?«

»Nein; aber ich muss ihn zu erfahren suchen.«

»Die Erkundigung könnte auffallen!«

»Nein. Ich spreche auf dem Nachhausewege beim Förster vor.«

»Wenn nun Der mit ihnen unter der Decke steckt?«

»Ich halte mich an den Forstgehilfen. Dieser ist ein junger, unerfahrener Mensch, vor dem mir nicht bange zu sein braucht.«

»Was werden Sie tun, wenn Sie erfahren, wo dieses Waldloch sich befindet?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen; ich muss die Umstände berücksichtigen.«

»Vielleicht kommen Sie auf den Gedanken, die Versammlung zu belauschen?«

»Möglich!«

»Donnerwetter! Das ist gefährlich!«

»Allerdings«, antwortete Müller, indem er die Achsel zuckte.

»Es kann Ihnen an den Kragen gehen!«

»Das kann mich nicht abhalten, meine Pflicht zu tun!«

»Aber Sie haben sich vor allen Dingen zu erhalten, schon um Ihre Aufgabe zu erfüllen.«

»Die erfülle ich ja eben, indem ich horche!«

»Aber man jagt Ihnen unter Umständen eine Kugel durch den Kopf!«

»Ich bin auch bewaffnet. Übrigens wirst Du mir wohl die nötige Vorsicht zutrauen.«

»Man kann bei aller Klugheit und Vorsicht in die allerdickste Tinte geraten!«

»Ich danke Dir für die Besorgnis, welche Du für mich zeigst! Aber denke an Dich selbst! Hast Du etwa gezaudert, als Du damals des Nachts Dich bei der Ruine befandest?«

»Nein. Ich habe allerdings meine Nase, die sie mir so gern breit schlagen möchten, sofort in die Ruine gesteckt.«

»Und das Leben dabei gewagt!«

»Pah! Man hat mir nichts getan!«

»Aber man hätte Dich beinahe ergriffen, und dann wäre es jedenfalls aus mit Dir gewesen!«

»Ja, Matthäi am Letzten wäre es gewesen! Aber ich hätte mich doch vorher ganz gehörig meiner Haut gewehrt, und es ist doch auch ein Unterschied zwischen Ihnen und mir zu machen!«

»Das sehe ich nicht ein!«

»O! Ein Ritt- und ein Wachtmeister!«

»Pst!«

»Schön! Also ein Doctor der Philosophie und ein Kräutermann! Wenn sie mich wegputzen, so sind Sie immer noch Manns genug, Ihre Aufgabe zu lösen; dreht man aber Ihnen den Kopf auf den Rücken, so ist's aus mit der Laterne. Also, lieber Herr Doctor, schicken Sie lieber mich nach dem Trou du bois!«

»Das geht nicht! Ich muss selbst da sein!«

»So nehmen Sie mich wenigstens mit.«

»Du musst ausschlafen!«

»Pah! Etwa der morgenden Reise wegen?«

»Natürlich!«

»Das fehlte noch! Ich bitte wirklich von ganzem Herzen, nicht ohne mich zu gehen!« Das klang so treu und dringend, dass Müller nicht zu widerstehen vermochte. Er antwortete: »Gut! Wenn ich Dir damit einen so großen Gefallen tue!«

»Einen sehr großen! Wo treffen wir uns?«

»Punkt zehn Uhr da, wo vom Schlosse aus der Fußweg in den Wald tritt.«

»Werden Sie bis dahin wissen, wo das Waldloch zu suchen ist?«

»Ich hoffe es. Natürlich bewaffnest Du Dich!«

»Das versteht sich ganz von selbst! Befehlen Sie vielleicht, dass ich mich nun zurückziehe?«

»Nein. Wir warten noch. Gehen wir jetzt, und der Wirt erblickt uns, so schöpft er Verdacht. Sieht er uns aber erst später, so meint er vielleicht, dass wir erst später gekommen sind. Apropos! Hast Du Abu Hassan wiedergesehen?«

»Nein.«

»Er ist seit jener Nacht spurlos verschwunden.«

»Aber seine Requisiten befinden sich noch hier im Gasthofe.«

»So kehrt er sicher zurück.«

»Auf alle Falle. Er müsste sonst gewärtig sein, dass man ihn steckbrieflich verfolgt. Er hat ja vor Gericht seine Aussage über den Tod der Schauspielerin zu tun. Bleibt er damit im Rückstande, so wird er gesucht.«

»Solltest Du ihn sehen, so benachrichtigst Du mich sofort!«

»Sie haben mit ihm zu sprechen?«

»Ja. Ich muss mir über Einiges klar werden. Ich bedaure jetzt, nicht aufrichtiger mit ihm gewesen zu sein. Übrigens möchte ich jetzt am Schlusse ein aufrichtiges Wort mit Dir reden, Fritz!«

»Ganz wie der Herr Doctor befehlen!«

»Sage mir einmal ohne allen Rückhalt: Liebst Du diese Nanon wirklich?«

Der Gefragte wurde rot. Er blickte eine Weile vor sich nieder, hob dann den Kopf, richtete seine treuherzigen, guten Augen auf Müller und antwortete: »Herr Doctor, das ist eine ganz und gar verdonnerte Frage! Man ist so manchem Gesichte gut gewesen; aber was Liebe ist, wirkliche, richtige Liebe, hm! Wenn Sie mir doch sagen könnten, was das ist?«

»Nun«, antwortete Müller lächelnd, »in diesem Punkte bin ich gerade ebenso gescheit wie Du. Auch ich bin nicht im Stande, eine Definition von diesem Worte zu geben.«

»Nicht? Da will ich es doch einmal versuchen!«

»Lass Dich hören!«

»Ist das Liebe, wenn man ein Mädchen zum ersten Male sieht und sie doch gleich mit Haut und Haar fressen möchte?«

»Nein; das ist vielmehr der Heißhunger eines Menschenfressers.«

»So! Oder ist das Liebe, wenn man so ein Mädchen an das Herz nehmen und gar nicht wieder von sich lassen möchte?«

»Vielleicht.«

»Wenn man für sie durchs Feuer gehen und tausend Mal für sie sterben möchte, wenn das möglich wäre?«

»Hm! Hübscher ist es doch jedenfalls, für die Geliebte zu leben als für sie zu sterben!«

»Das leuchtet auch mir ein. Aber, Alles in Allem gerechnet, bin ich doch wohl auf der richtigen Fährte, wenn ich annehme, dass ich dieser Nanon von ganzem Herzen gut bin.«

»Hast Du Dir aber auch überlegt, was daraus folgen kann?«

»Ja.«

»Nun, was?«

»Eine Hochzeit oder ein alter Junggeselle.«

»Unsinn!«

»Herr Doctor, das ist kein Unsinn! Wenn dieses Mädchen meine Frau nicht werden will, so bleibe ich ledig!«

»Das ist fester Entschluss?«

»Ja!«

»Und da tust Du noch zweifelhaft, ob Du sie wirklich liebst?«

»Gut, so will ich den Zweifel zur Tür hinauswerfen!«

»Dann bedenke, wer sie ist!«

»Ein wunderbar gutes und liebes Mädchen!«

»Eine Gesellschafterin, ohne Familie und Vermögen!«

»Habe ich etwa Vermögen oder Familie?«

»Fritz! Du weißt ja, dass ich daran arbeite, das Geheimnis Deiner Geburt zu enthüllen!«

»Lassen Sie lieber den Vorhang drüber! Ich bin jetzt ein ganz und gar glücklicher Kerl. Ich habe Sie; ich habe meine Uniform – wollte sagen, meinen Kräutersack; ich kann zuweilen einige Augenblicke mit Nanon sprechen; ja, ich darf sogar morgen mit ihr verreisen! Das ist bereits mehr, als dazu gehört, zufrieden zu sein.«

»Aber wenn Du doch der Sohn eines Grafen, eines Generals wärst?«

»Dieses Glück wäre wohl nicht so groß wie dasjenige, der Mann dieser Nanon sein zu dürfen!«

»Nun gut, sprechen wir jetzt nicht weiter darüber. Wenn es mir gelingt, diesen Bajazzo ausfindig zu machen, so –«

»So werden Sie vielleicht erfahren«, fiel Fritz ein, »dass wir Spinnewebe gesponnen haben!«

Da wurde die Tür geöffnet; der Wirt blickte herein.

Er machte, als er die Beiden sah, ein finsteres Gesicht, trat näher und fragte, sich an Fritz wendend: »Sind Sie schon lange hier?«

Fritz machte das dümmste Gesicht, welches er fertig zu bringen vermochte, und antwortete: »Sie wissen es ja.«

»Ich? Ich sah Sie nicht kommen!«

»O doch! Als ich zum ersten Male bei Ihnen einkehrte, standen Sie unter der Tür.«

»Ah, wer fragt denn darnach!«

»Sie doch!«

»Ist mir nicht eingefallen!«

»Donnerwetter! Sie fragten mich doch, wie lange ich bereits hier bin, in Thionville!«

»Da haben Sie mich falsch verstanden. Ich meine, wie lange Zeit Sie bereits hier sitzen, nämlich heute.«

»Hm! Ich habe nicht nach der Uhr gesehen.«

»War Jemand im vorderen Zimmer?«

»Die Kellnerin.«

»Kein Gast?«

»Nein.«

Jetzt schien der Wirt beruhigt zu sein. Er wendete sich an Müller und fragte diesen: »Sie waren noch nie bei mir, Monsieur. Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Aus welchem Grunde fragen Sie? Muss man, um ein Glas Wein bei Ihnen zu trinken, sich legitimieren?«

»Nein; das nicht; aber ich liebe es, die Herren zu kennen, welche bei mir verkehren. Sie wissen ja, Monsieur, es ist Pflicht eines Wirtes, Jeden nach seinen begründeten Ansprüchen zu behandeln.«

»Möglich. Was mich betrifft, so sind meine Ansprüche nicht groß. Ich bin Erzieher.«

»Wo?«

»Auf Schloss Ortry.«

Ein leises Zucken ging über das Gesicht des Wirtes. Er ließ sein Auge von dem Einen auf den Andern herüber und hinüber schweifen und fragte: »So sind Sie Herr Doctor Müller?«

»Ja.«

»Sie haben das gnädige Fräulein gerettet?«

»Ja.«

»Und dann auch den jungen Baron Alexander?«

»Es gelang mir, ihn vor dem gefährlichen Sturze zu bewahren.«

»Sie müssen ein sehr mutiger Mann sein!«

Dabei musterte er ihn mit offenbar misstrauischem Blicke.

»Pah! Man tut seine Pflicht!«, meinte Müller kalt.

»Haben diese Herren sich zufällig getroffen?«

»Zufällig«, nickte der verkleidete Offizier, der damit ja auch die Wahrheit sagte.

»Kennen Sie sich vielleicht?«

Das war denn doch zu unverschämt. Müller stand auf, warf ein Geldstück auf den Tisch und antwortete: »Bringen Sie Ihre Fragen bei Schulknaben an, nicht aber bei Einem, der selbst gewohnt ist, Antworten zu hören. Hier die Bezahlung! Adieu!«

Er ging.

Der Wirt blickte ihm nach und sagte dann, zu Fritz gewendet: »Ein grober Mensch!«

»Ja«, meinte der Kräutersammler kurz.

»Finden Sie das nicht auch?«

»Sogar sehr! Ich hätte ihn beinahe beohrfeigen mögen!«

»Wieso?«

»Er trat hier ein, als ich mich eben niedergesetzt hatte. Meinen Sie etwa, dass er grüßte?«

»Nicht?«

»Fiel ihm gar nicht ein! Ich wollte ein Gespräch beginnen –«

»Er mochte nicht?«

»Nein. Ich fing vom Wetter an; er aber gönnte mir nicht einmal einen Blick. Ich brachte Verschiedenes vor, lauter prächtige und interessante Sachen; wissen Sie, was er da zu mir sagte?«

»Nun?«

»Ich solle den Schnabel halten!«

»Das ist allerdings sehr stark!«

»Sehr! Mich wundert es, dass er es nicht auch zu Ihnen gesagt hat. Schnabel! Als ob man ein Staar oder eine Blaumeise wäre! Dieser Kerl wird dem jungen Baron eine schauderhafte Bildung beibringen!«

»Ja, das scheint so! Aber, sagen Sie: Ist wirklich Niemand in der vorderen Stube gewesen?«

»Nein.«

»Sie haben nicht gehört, dass Jemand gesprochen hätte?«

»Kein Wort!«

»So ist's also doch gut! Ich erwarte nämlich den Briefträger; er ist aber, wie ich nun höre, noch nicht dagewesen. Waren Sie heute bereits nach Pflanzen aus?«

»Ja. Allüberall, im Walde und im Felde.«

»Wo sind da Ihre liebsten Stellen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, wo Sie sich am Allerliebsten aufhalten?«

»Hm! Im Bette.« Fritz sagte das, indem seine Miene die größte Unbefangenheit zeigte. Der Wirt warf ihm einen zornig forschenden Blick zu und fragte: »Monsieur, wollen Sie mich etwa zum Narren haben?«

Fritz sah erstaunt zu ihm auf und antwortete: »Wieso? Sie fragen mich, wo ich mich am Allerliebsten aufhalte, und ich sage es Ihnen. Was ist da weiter daran?«

Der Wirt sah ein, dass er es mit einem Menschen zu tun habe, dem die Intelligenz nicht mit Scheffeln zugemessen worden sei. Er beruhigte sich also und erklärte: »Ich meine, ob Sie im Walde vielleicht ein Lieblingsplätzchen haben, an welchem Sie sich am Liebsten aufhalten.«

»Ich gehe dahin, wo ich meine Pflanzen finde; andere Plätze können mich gar nicht interessieren.«

»Sind Sie oft beim alten Turme?«

»Brrrr! Dort geht es ja um!«

»Wer sagte Ihnen das?«

»Alle Welt weiß es ja!«

»Oder gehen Sie zuweilen nach der großen Ruine, welche mitten im Walde liegt?«

»Was soll ich in Ruinen? Dort wächst Das, was ich suche, jedenfalls nicht.«

»Oder halten Sie sich öfters am Trou du bois auf?«

Fritz merkte natürlich, dass er ausgehorcht werden solle. Je mehr der Wirt in ihn drang, ein desto dümmeres Gesicht machte er. Jetzt freute er sich innerlich, dass der Ort erwähnt wurde, von dem er gern wissen wollte, wo er liege. Er fragte darum: »Am Trou du bois? Was ist das?«

»Ein Loch im Walde.«

»Das heißt, ein Ort, an welchem sich keine Bäume befinden?«

»Nein. Es ist ein großes Loch in der Erde.«

»Es gibt viele Löcher im Walde, bei denen ich gewesen oder vorübergekommen bin.«

»Es ist, wenn Sie von dem großen Steinbruche aus über die nächste Waldesecke eine gerade Linie ziehen.«

»Was verstehe ich von dem Steinbruche, der Waldesecke und der Linie! Wer soll das begreifen!«

»Ich meine, wenn Sie auf dieser Linie fortgehen, so gelangen Sie in Zeit einer guten halben Stunde nach dem Loche.«

»Meinetwegen. Fällt mir gar nicht ein, eines alten Loches wegen, welches mir gar nichts angeht, eine Linie durch den Steinbruch und den Wald zu ziehen. So eine Heidenarbeit. Da habe ich mehr zu tun.«

Der Wirt lachte laut auf. Er fühlte sich außerordentlich befriedigt und sagte, noch immer lachend: »Aber, Monsieur, ich habe doch auch gar nicht gemeint, dass Sie eine wirkliche Linie ziehen sollen.«

»Na also! So lassen Sie mich auch mit dieser Linie in Ruhe. Warum reden Sie überhaupt von ihr, wenn Sie gar nicht verlangen, dass ich sie ziehen soll.«

»Sie sind köstlich, wieder köstlich. Also Sie waren noch nicht an dem Loche. Sie kennen es nicht?«

»Nein.«

»Finden Sie nicht, dass der Wald, gerade dieser Wald sehr einsam ist?«

»Wie jeder andere auch.«

»O, es gibt doch Wälder, in denen viel Verkehr ist. Dieser Wald wird aber wohl nicht viel von Menschen besucht?«

»Ich weiß nichts davon. Wenigstens habe ich nicht gefunden, dass dort so viele Menschen verkehren, dass sie geradezu mit den Köpfen zusammen rennen.«

»Aber zuweilen trifft man Jemand?«

»Ja.«

»Wen denn zum Beispiel?«

»Den Förster, einen Holzhauer oder einen Handwerksburschen.«

»Sonst Niemanden?«

»Ich kann doch nicht wissen, wer da herumläuft. Ich habe verteufelt wenig Personen gesehen.«

»Aber man spricht davon, dass besonders zur Nachtzeit zuweilen viele Menschen dort zu treffen sind.«

»Unsinn. Welcher vernünftige Kerl läuft des Nachts im finsteren Walde herum.«

»O! Man redet Eigentümliches.«

»Dummheiten redet man! Gäbe es hier eine Grenze, die sich durch den Wald zieht, so wäre es möglich, dass sich Pascher an derselben herumtreiben. Wenn man aber da von Leuten redet, welche sich des Nachts im Walde herumtreiben, so befindet man sich gehörig auf dem Holzwege. Ich weiß das viel besser.«

Der Wirt stutzte. Sollte dieser dumme Bursche dennoch vielleicht Etwas ahnen? Er fragte darum: »Nun, wer könnte es denn sonst sein, wenn es keine Leute sind, Monsieur?«

»Hm! Ja! Davon darf man eigentlich nicht sprechen.«

»Nicht? Warum nicht?«

»Es ist gefährlich!«

»Wieso gefährlich?«, fragte der Wirt, dessen Misstrauen wieder zu wachsen begann.

»Weil sie Einem sonst erscheint, sogar wenn man gar nicht in den Wald geht, sondern im Bette liegt.«

»Wer denn? So reden Sie doch.«

»Na, leise darf man schon davon sprechen. Also wissen Sie, was sich des Nachts im Walde herumtreibt? Menschen sind es nicht.«

»Nun, wer sonst?«

»Kommen Sie her.«

Der Wirt trat ihm näher.

Fritz fasste ihn am Arme, zog seinen Kopf zu sich nieder und flüsterte ihm in das Ohr: »Die wilde Jagd.«

Dann ließ er den Arm des Wirtes wieder los, schüttelte sich, als ob es ihn schaure, machte ein höchst ernstes Gesicht, nickte einige Male sehr bedeutungsvoll und fügte dann hinzu, indem er drei Kreuze schlug:

»Ja, so ist es, wenn man auch nicht laut davon sprechen darf. Aber des Nachts brächte mich keine Macht der Erde in den Wald, selbst wenn man zehn Pferde vorspannte!«

Jetzt fühlte sich der Wirt nun ganz und gar überzeugt, dass er es mit einem höchst unschädlichen und im Superlativ harmlosen Menschen zu tun habe. Er nickte, indem er innerlich sehr belustigt war, dem Pflanzensammler Verständnisinnig zu und sagte: »Ja, so ist es! Ich habe auch bereits davon gehört!«

»Wissen Sie auch, wer während der wilden Jagd in den Wald geht, dem dreht der wilde Jäger das Gesicht hinter auf den Rücken?«

»Ich habe es gehört.«

»Und dann muss er mit jagen und hetzen in alle Ewigkeit. Der Himmel behüte mich dafür.«

»Ja, das ist schlimmer selbst als das Fegefeuer und die ewige Verdammniß. Es graut Einem, wenn man nur daran denkt. Ich will lieber an meine Arbeit gehen.«

Er ging; aber als er sich in dem vorderen Zimmer befand und die Türe hinter sich zugemacht hatte, drehte er sich um, schlug ein Schnippchen und brummte vergnügt: »O Du tausendfacher Dummkopf Du! Du bist im ganzen Leben nicht zu kuriren. Und diesen albernen Menschen haben wir für gefährlich gehalten. Sind wir da nicht noch viel dümmer gewesen als er?«

Und drinnen im kleinen Zimmer lächelte Fritz leise vor sich hin und sagte zu sich selbst: »Jetzt wird er da draußen lachen und seine Glossen reißen. Dieser Franzmann ist doch ein unendlich gescheiter Kerl. Er hat die Güte gehabt, mir die allerbeste Auskunft zu geben. Nun weiß ich genau, woran ich bin. Diese Linie vom Steinbruch aus über die Ecke des Waldes ist ganz famos. Ich werde den Herrn Doctor erfreuen, wenn ich ihm heute Abend sagen kann, wo sich dieses Waldloch befindet. Ich breche sofort auf, um es mir anzusehen. Aber vorher muss ich nach Hause, erstens um beim Wirte keinen Verdacht zu erregen, und zweitens um mir noch eine Waffe zu holen. Man weiß nicht, ob ich gleich draußen bleiben muss.«

Er ging, um einen Revolver zu sich zu stecken, und verließ dann die Stadt, indem er die Richtung nach dem ihm sehr wohl bekannten Steinbruche einschlug.

Müller war froh gewesen, vom Wirte loszukommen. Er nahm sich vor, nicht direkt nach Schloss Ortry zu gehen, sondern das Forsthaus aufzusuchen. Er lenkte also von der Straße ab und schlug eine Richtung ein, welche auch an dem erwähnten Steinbruch vorüberführte. –

2. Kapitel

Unterdessen hatte sich auf dem Schlosse eine aufregende und etwas stürmische Scene ereignet. Noch befanden sich nämlich die beiden Rallions hier, Vater und Sohn. Die Wunde, welche Fritz bei seiner Flucht aus der Ruine dem Ersteren in die Hand beigebracht hatte, war als nicht bedeutend erkannt worden. Der Schnitt jedoch, welchen Fritz dem Sohne versetzt hatte, war fataler. Erstens verursachte er eine heftige Entzündung und große Schmerzen, und sodann entstellte er das Gesicht, auf welches der Oberst stets sehr eitel gewesen war.

Es verstand sich ganz von selbst, dass die beiden Grafen sich nicht in der allerbesten Laune befanden. Ihre heimlichen Angelegenheiten befanden sich zwar scheinbar im besten Gange, aber in Beziehung der beabsichtigten Verbindung des Obersten mit Marion wollte sich kein erfreulicher Fortschritt zeigen. Darum war Rallion, der Vater, am Morgen, als Marion beim Unterrichte ihres Bruders zugegen war, zu dem alten Kapitän gegangen. Er fand denselben über Briefen und Berechnungen sitzend. Der Alte reichte ihm die Hand und fragte ihn nach dem Grunde des unerwarteten Besuches.

»Hier«, sagte Rallion, »lesen Sie die Zeilen, welche mir durch die Morgenpost zugegangen sind.«

Der Kapitän nahm das Papier. Es enthielt nur wenige Zeilen, welche also lauteten:

»Dem Grafen Jules Rallion auf Ortry!

Kommen Sie sofort. Ihre Gegenwart ist dringend notwendig, um Gegenströmungen zu bekämpfen.

Herzog von Gramont.«

Der Befehl war also von dem Minister des Auswärtigen unterzeichnet, welcher, der Kaiserin zur Seite stehend, zu der Kriegspartei gehörte.

»Was sagen Sie dazu?«, fragte Rallion.

»Dass Sie reisen müssen. Wer mag der Schöpfer dieser Gegenströmung sein?«

»Das ist mir hinlänglich bekannt, interessiert mich aber augenblicklich gar nicht. Sie selbst sagen, dass ich reisen müsse. Aber denken Sie dabei auch an die Absichten, welche mich zu Ihnen führten?«

»Natürlich.«

»Sie sind unerfüllt geblieben.«

Der Alte blickte verwundert auf. Er legte die Feder weg, zupfte an den Spitzen seines Schnurrbartes und sagte: »Dass ich nicht wüsste. Sie haben gesehen, dass unsere Organisation nahezu vollendet ist. Sie haben ferner die Vorräte gesehen, welche sich täglich vergrößern und –«

Rallion schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab und fiel ein: »Das ist es nicht, was ich meine; ich denke vielmehr an unsere Privatangelegenheit.«

»Nun, ist diese nicht in Ordnung?«

»Was nennen Sie Ordnung, bester Kapitän?«

»Den gegenwärtigen Zustand der Dinge!«

»Pah, ich finde ihn sehr unbefriedigend, also nicht in Ordnung.«

Der Alte sah ihn groß an; auf seiner Stirn zeigte sich eine Falte des Unmutes.

»Mein lieber Graf«, sagte er, »wenn ich von Ordnung spreche, so weiß ich, was ich sage. Ich hoffe, Sie kennen mich.«

»Ja, ich kenne Sie allerdings; aber selbst der sorgfältigste Rechner irrt sich einmal. Vielleicht nähern wir uns einem Facit, an welches wir nicht gedacht haben.«

»Wieso? Es gibt Gründe, welche uns eine Verbindung unserer Kinder dringend wünschen lassen. Ich habe Ihnen gesagt, dass Marion die Gemahlin Ihres Sohnes wird. Beide haben sich hier eingefunden, um sich kennen zu lernen. Ist das nicht genug?«

»Nein.«

Da zog ein eigentümliches Lächeln über das Gesicht des Alten.

»Hm!«, sagte er. »Sollten Sie so heißblütig sein, an eine sofortige Vermählung zu denken?«

»Das kann mir nicht einfallen. Aber eine Sicherheit wünsche ich doch zu erhalten.«

»Sie haben mein Wort. Genügt Ihnen das nicht?«

»Nein.«

Der Graf sagte das ruhig, konnte sich aber doch nicht enthalten, einen ängstlichen Blick auf den Kapitän zu werfen. In den Augen desselben leuchtete es zornig auf. »Wie?«, fragte er. »Was sagen Sie? Mein Wort, mein Versprechen, mein Ehrenwort genügt Ihnen nicht?«

»Wie hoch Ihr Wort mir steht, das wissen Sie. Sie haben es oft und zur Genüge erfahren. Aber in diesem Falle kommt es in eben dem Grade, vielleicht noch mehr, auf das Wort noch einer anderen Person an.«

»Wen meinen Sie? Den Baron? Oder die Baronin?«

Der Graf kannte die Verhältnisse des Hauses genau. Er lachte verächtlich auf und sagte: »Pah! Nach dem Willen oder den Wünschen dieser Beiden fragen Sie doch auf keinen Fall!«

»Allerdings. Sie können also nur Marion selbst meinen?«

»Ja; sie ist es.«

»Nun, da beruhigen Sie sich sehr. Marion wird gehorchen!«

»Sie erlauben mir, das zu bezweifeln!«

»Wieso? Haben Sie Gründe?«

»Beobachten Sie doch die Dame, wie sie sich meinem Sohne gegenüber verhält!«

»Nun, wie denn?«

»Kalt abweisend, fast möchte ich sagen verächtlich.«

»Ja, das Mädchen hat Temperament, und Ihr Sohn gibt sich keine Mühe, sich ihrem Ideale zu nähern. Denn ein Ideal, so ein lächerliches Phantom, schafft sich ja jedes junge Ding. Er mag versuchen sie zu gewinnen!«

Der Graf schüttelte den Kopf.

»Dazu habe ich keine Zeit. Ich bin gekommen, Sicherheit mit hinweg zu nehmen. Jetzt muss ich reisen. Was bieten Sie mir?«

»Ah! Denken Sie vielleicht an eine Verlobung?«

»Vielleicht!«

»Bei dem Zustande Ihres Sohnes? Er hütet das Bett; er ist Patient; er ist entstellt!«

»Nun, so mag mir die Zusage Marions genügen. Diese aber muss ich haben, wenn ich beruhigt abreisen soll.«

»Sie ist nicht nötig, Graf!«

»Und dennoch verlange ich sie. Wie nun, wenn Marion bereits gewählt hätte?«

Da zogen sich die Spitzen des weißen Schnurrbartes in die Höhe. Der Alte hatte jetzt jenes bissige Aussehen, welches man in den Augenblicken des Zornes an ihm zu beobachten pflegte.

»Die?«, fragte er in verächtlichem Tone. »Was hätte denn die zu wählen!«

»Und wenn es nun doch so wäre!«

»So bin doch ich Derjenige, dem sie zu gehorchen hat und dem sie gehorchen muss!«

»Überzeugen Sie mich!«

»Graf, Sie sind wirklich unbegreiflich! Aber aus alter Freundschaft will ich Ihnen den Willen tun. Ich werde mit Marion sprechen.«

»Wann?«

»Wann reisen Sie?«

»Morgen früh.«

»Ihr Sohn bleibt hier?«

»Ja. Sein Zustand verträgt nicht, dass er seinen hiesigen Aufenthalt unterbricht.«

»Nun gut, so werde ich nach der Tafel mit Marion reden, und dann können Sie ihre Zustimmung aus ihrem eigenen Munde vernehmen.«

»Ich will es hoffen!«

»Übrigens habe ich Ihnen auch außer dieser Angelegenheit eine höchst erfreuliche Mitteilung zu machen. Ich erhielt, gerade wie Sie, heute Briefe; darunter befindet sich Einer, den wir längst mit Sehnsucht erwartet haben.«

Der Graf horchte auf. »Doch nicht aus New Orleans?«, fragte er rasch.

»Ja, doch.«

»Gott sei Dank! Wie lautet er? Zustimmend?«

»Ja. Die Firma sendet uns einen ihrer Beamten, einen Master Deep-hill, welcher den Auftrag hat, mit uns abzuschließen. Der Mann hat die Millionen bei sich und wird morgen mit dem Mittagszuge hier eintreffen.«

»Von Trier oder Luxemburg aus?«

»Auf der ersteren Linie.«

»So haben wir gewonnen! Dies gibt mir die Hoffnung, dass auch die Privatangelegenheit sich glücklich ordnen lassen wird.«

»Verlassen Sie sich auf mich!«

Damit war diese Besprechung zu Ende.

An der Mittagstafel ging es sehr einsilbig, fast möchte man sagen, düster her. Der Baron speiste wie ein Automat; er war geistesabwesend und sprach kein Wort. Der junge Graf konnte nicht erscheinen; sein Vater hatte keine Lust, ein Gespräch zu beginnen. Der alte Kapitän konnte es noch immer nicht verwinden, dass er gezwungen worden war, den Erzieher mit an dem Tische zu sehen. Die Baronin, Marion und Nanon berücksichtigten diese Verhältnisse durch tiefes Schweigen, und wenn ja ein lautes Wort gehört wurde, so waren es nur Müller und Alexander, welche miteinander sprachen.

Nach Tische, als sich Alle erhoben, beorderte der Kapitän Marion und die Baronin auf sein Zimmer. Dies geschah in jenem harten, befehlenden Tone, welcher nie etwas Gutes verhieß.

Der Alte ging langsam in dem Raume auf und ab. Die Baronin war die Erstere, welche erschien. »Wo ist Marion?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich hatte natürlich Grund, sie hier zu vermuten.«

Sein Schnurrbart zuckte, aber er sagte doch nichts. Die Baronin nahm Platz, und Beide warteten, bis endlich Marion in das Zimmer trat.

Der Alte lehnte sich an seinen Schreibtisch, musterte sie eine Weile und begann dann: »Warum kommst Du nicht sofort?«

Ihr Gesicht war bleich aber ruhig. Sie ahnte, welches der Gegenstand der Unterhaltung sein werde. Sie hob ihr Auge zu ihm auf und antwortete: »Ich musste erst Papa nach seinem Zimmer bringen.«

»Pah! Er kann selbst gehen! Du hast meinen Befehlen stets ohne alles Zaudern nachzukommen. Ich habe sehr Wichtiges mit Dir zu besprechen.«

»So erlaube, dass ich mich setze!«

Sie machte Miene, nach einem Sessel zu greifen; er aber hielt sie durch eine gebieterische Handbewegung davon ab.

»Das ist nicht nötig!«, sagte er. »Was ich Dir zu sagen habe ist zwar wichtig, aber auch kurz. Du wirst gehorchen, und so ist die Unterredung in einer Minute beendet.«

Er fuhr sich mit der Hand über die kahle glänzende Stirn, wendete sich an die Baronin und fragte: »Sie wissen, Madame, weshalb ich Marion heimgerufen habe?«

»Ja, Herr Kapitän«, antwortete sie.

Auf ihrem Gesichte lag ein Lächeln nicht zurück zu haltender Befriedigung. Sie wusste, worüber jetzt gesprochen werden sollte. Sie hasste Marion, hasste sie von ganzer Seele, und so freute sie sich, sie los zu werden, und ebenso großes Vergnügen gewährte ihr der Gedanke, dass das schöne Mädchen einem Manne gehören werde, den sie nicht lieb hatte.

»Und weshalb Graf Rallion mit seinem Sohne sich gegenwärtig auf Ortry befindet?«, fragte er weiter.

»Ja.«

»Ich denke mir, dass dieses Arrangement nicht gegen Ihren Geschmack sein wird?«

»Ich fühle mich vielmehr sehr befriedigt von demselben. Oberst Rallion hat eine Zukunft und ist überdies eine sehr interessante Persönlichkeit.«

»Hörst Du, Marion! Der Brief, mittelst welchem ich Dich zurückrief, enthielt bereits einen ziemlich deutlichen Wink. Seit Deiner Rückkehr wirst Du die Güte und Zweckmäßigkeit meiner Absichten erkannt haben, und so bin ich überzeugt, dass Du dem Grafen eine freudige Antwort geben wirst, wenn er Dich jetzt besucht, um Dich zu fragen, ob er Dich von heute an als die Verlobte seines Sohnes betrachten darf?«

Das ernste, blasse Gesicht Marions war sich während dieser Rede vollständig gleich geblieben. Noch stand sie an der Tür. Sie hatte auf ihre Absicht, einen Sessel zu nehmen, verzichtet. Auf ihre Stiefmutter hatte sie nicht einen einzigen Blick geworfen. Dem Alten aber blickte sie voll, fest und offen in die Augen und auch ihre Stimme klang fest und sicher, als sie jetzt fragte: »Du meinst, dass ich den Obersten Rallion heiraten soll?«

»Ja.«

»Welche Gründe hast Du dazu?«

»Viele Gründe habe ich, verstanden? Und was ich habe, das geht Dich nichts an. Du hast nichts darnach zu fragen!«

Sie nickte leise vor sich hin und fragte: »Aber was ich habe, das geht Dich etwas an! Nicht?«

»Ja! Natürlich!«

»Und Du hast darnach zu fragen?«

»Ja!«

»Nun, so will ich die kurze Unterhaltung nicht unnützer Weise in die Länge ziehen und Dir sagen, dass ich Zweierlei habe.«

Das war doch ein ganz und gar eigentümliches Verhalten!

Es zuckte über sein Gesicht wie Wetterleuchten; dann fragte er: »Nun, was ist es, was Du meinst?«

Seine Stimme hatte einen wegwerfenden, beleidigenden Ton.

»Zweierlei, woran Du gar nicht zu denken scheinst«, antwortete sie; »nämlich meine Menschenrechte und meinen persönlichen Willen!«

Da zog sich sein Bart drohend empor. Er fragte: »Was soll das heißen?«

»Dass ich den mir von Dir anbefohlenen Bräutigam zurückweise. Ich werde den Obersten Rallion nie heiraten!«

»Ah! Das ist lustig!«, lachte er. »Wie willst Du das anfangen, Marion?«

»Frage Dich vielmehr, wie Du es anfangen willst, mich zur Frau eines Mannes zu machen, den ich verabscheue!«

»Das kannst Du Dir denken! Ich werde Dich zwingen!«

Sie zuckte die Achsel, und dieses charactervolle, feste Achselzucken stand ihr gar prächtig zu dem ernsten, bleichen Gesichte.

»Auch das begreife ich nicht, wie Du mich zwingen willst«, antwortete sie. »Ich bin kein Kind. Die Obrigkeit gewährt mir ihren Schutz. Wenn ich einem Mann gehöre, so wird es nur derjenige sein, den ich mir selbst wähle. Ich räume in dieser Angelegenheit weder Dir noch einem anderen Menschen einen Einfluss oder gar ein Recht über mich ein!«

Das war dem Alten zu viel. Er trat einen Schritt auf sie zu und donnerte: »Das wagst Du mir zu sagen, mir, mir?«

»Ja, Dir!«, antwortete sie kalt.

»Du ahnst nicht, welche Mittel ich habe, Dich zu zwingen!«

»Du kannst nicht ein einziges haben!«

»Du bist ruiniert, wenn Du nicht gehorchst!«

»Wohl! Ich werde das zu tragen wissen!«

»Deine Familie ist ebenso ruiniert!«

Da schüttelte sie mit einer wahrhaft königlichen Bewegung den Kopf und antwortete, indem sich ein geringschätziges Lächeln um ihre Lippen zeigte: »Ich bitte Dich dringend, solche verbrauchte Theatercoups zu vermeiden! In Romanen und auf der Bühne kommt es vor, dass eine Tochter, welche ihre Familie liebt, um diese vor dem Untergange zu retten, ihre Hand einem ihr verhassten Manne gibt. Hier aber spielen wir nicht Theater, und sodann habe ich auch keine Veranlassung, meiner Familie ein solches Opfer zu bringen!«

»Ungeratene Person! Weißt Du, dass wir Dich aus dem Hause stoßen können?«

»Tut es! Dann bin ich frei! Das ist es ja, was ich wünsche!«

»Ah!«, knirschte er. »Frei! Frei will sie sein. Du gibst mir da gerade das Mittel, Dich zu zähmen, in die Hand. Ich werde Dich einsperren, bis Du Dich fügst!«

»Das darfst Du nicht. Das Gesetz bestraft die unerlaubte Freiheitsberaubung.«

»Was frage ich nach dem Gesetze. Hier gilt einzig und allein mein Wille. Den Deinigen werde ich zu brechen wissen. Du hast mir sofort zu sagen, dass Du mir gehorchen willst.«

Die Baronin hatte eine Art Widerstreben erwartet, aber keinen Widerstand. Sie erhob sich, besorgt über die Scene, welche sich jetzt entwickeln werde. Der Alte hatte sich bei den letzten Worten Marion noch um einen Schritt genähert. Sie zeigte dennoch keine Spur von Furcht, sondern sie antwortete ohne die mindeste Scheu: »Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe.«

»So kommen die Folgen über Dich! Zeig her, Mädchen!«

Er wollte mit beiden Händen nach ihr fassen, fuhr aber mit einem lauten Schreckensruf zurück. Auch die Baronin sprang in die äußerste Ecke des Zimmers. Marion hatte die rechte Hand in der Tasche gehabt. Als der Alte sie erfassen wollte, zog sie dieselbe hervor: eine große Brillenschlange fuhr ihm mit weit geöffnetem Rachen entgegen.

»Was ist denn das!«, rief er. »Woher ist diese Bestie?«

»Ein Gruß aus Algerien ist es«, antwortete sie. »Fasse mich an, wenn Du den Mut dazu hast.«

»Ah! Du hast mit Abu Hassan, dem Zauberer, gesprochen?«

»Ja«, antwortete sie.

»Wo ist er hin?«

»Suche ihn! Und nun zwinge mich, den Obersten zu heiraten.«

Sie drehte sich um und verließ das Zimmer. Jetzt erst atmete die Baronin wieder auf.

»Mein Gott«, sagte sie. »Welch ein Auftritt. Welch ein Affront. Dieses Mädchen wagt es, ein so giftiges, scheußliches Tier anzurühren.«

Der Alte wendete sich zu ihr und sagte: »Jammern Sie nicht. Dieses Mädchen hat mich überrumpelt. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass es geschehen ist. Die Schlange ist nicht giftig; die Zähne sind ihr genommen; sie würde zunächst ihre Trägerin beißen und töten.«

»Warum flohen Sie denn?«

»Die Überraschung. Aber es soll ihr nichts nützen. Wann und wo hat sie mit diesem Abu Hassan gesprochen? Was hat er ihr erzählt? Das muss ich wissen; das muss ich erfahren.«

»Kennen Sie diesen Menschen?«

Jetzt erst merkte er, dass er sich eine Blöße gegeben hatte. Darum fuhr er sie zornig an: »Was geht Ihnen das an! Gehen Sie! Gehen Sie zu der Dirne, und sagen Sie ihr, dass ich ganz bestimmt erwarte, dass sie bis zur Dämmerung des heutigen Tages ihren Entschluss ändere. Tut sie das nicht, so wird sie einsehen müssen, dass ich viel mächtiger bin, als sie.«

Er schob die Baronin zur Tür hinaus und verschloss die Letztere hinter sich. Niemand wusste, was er jetzt vornahm. Und selbst, als nach einiger Zeit der Graf klopfte, wurde nicht geöffnet, sondern es ertönte nur die Frage: »Wer ist draußen?«

»Ich, Graf Rallion.«

»Was wollen Sie?«

»Antwort.«

»Warten Sie bis zur Dämmerung. Ich habe jetzt keine Zeit.«

Der Graf musste ohne Resultat zurückkehren.

Als Marion in ihr Zimmer kam, fand sie dort Nanon ihrer harrend. Diese hatte natürlich den Befehl des Alten vernommen und ahnte, dass die Freundin des Trostes bedürfen werde. »Mein Gott, wie bleich Du bist!«, rief sie ihr entgegen. »Was ist geschehen?«

»Was ich längst erwartete.«

»Oberst Rallion?«

»Ja, liebe Freundin.«

»Dein Großvater verlangte es?«

»Ja.«

»Was hast Du geantwortet?«

»Das, was ich mir vorgenommen hatte: Ich werde nie Gräfin Rallion sein.«

Sie setzte sich neben Nanon auf das Sofa. Die Freundin brannte vor Begierde, über die stattgefundene Scene unterrichtet zu werden, sagte aber doch vorher: »Weißt Du, was Du über den Obersten sagtest, als Du ihn zum ersten Male gesehen hattest?«

»Nun?«

»Er sei nicht übel.«

»Weiter nichts?«

»Er erscheine galant, ja chevaleresk. Und nun?«

»Das war nicht ein Urteil von mir, sondern ich hatte nur die Absicht, den ersten Eindruck zu bezeichnen, den er auf mich machte.«

»Und dieser Eindruck hat sich verwischt?«

»Vollständig. Der Oberst ist ein Laffe, und nicht nur das, sondern er erscheint mir noch schlimmer, ein herz- und gewissenloser Mensch. Und sein Vater macht einen Eindruck auf mich, der mich zum Fürchten bringt. Denke an das Verhalten des Obersten gegen diesen armen, braven Doctor Müller.«

Nanon nickte.

»Ihm sein Gebrechen vorzuwerfen, an welchem er doch so schuldlos ist!«

»Müller hat die Beleidigungen nur aus Rücksicht für mich so ruhig hingenommen. Er ist ein außerordentlicher Mensch. Er zwingt mir, trotzdem er bloß Lehrer ist, die allergrößte Achtung ab.«

»Du bist ja ganz begeistert!«, bemerkte Nanon lächelnd.

»Fast.«

»Den Grund denke ich zu kennen.«

»Welchen?«

»Seine sonderbare Ähnlichkeit mit – mit Deinem Ideale.«

»Es mag sein, dass dieses Naturspiel einen ganz unwillkürlichen Eindruck äußert; aber auch davon abgesehen ist dieser Müller ein Mann, den man achten und vielleicht sogar – lieben könnte, wenn –«

»Nun, wenn?«

»Wenn er nicht – nicht –«

»Wenn er nicht nur Lehrer und noch dazu buckelig wäre?«

»Das allerdings. Er hat einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich gemacht. Es ist mir oft, als wenn ich ihn umarmen müsse. Dir als meiner innigsten Freundin darf ich das sagen. Ich könnte ihm mein Leben, meine Seele anvertrauen.«

»O weh! Und das Ideal?«

Marion blickte trüb vor sich hin. »Es wird mir unerreichbar bleiben«, sagte sie. »Wo ist er, den ich damals gesehen habe? Wo ist es? Ist er Mann, ist er Jüngling? Es ist eine Torheit, sein Herz an ein Phantom zu hängen. Ich bin geteilt. Ich bestehe jetzt aus zwei Einzelwesen, welche ich Beide nicht begreife. Die Wirklichkeit wird mich leider bald zur Selbsterkenntnis bringen. Ich fürchte, dass ich einer trüben Zeit entgegengehe.«

Da legte Nanon den Arm um die Freundin und sagte: »Ich werde mit Dir dulden; ich werde Dich nicht verlassen.«

»Ja, Du Liebe, Du Gute, das wirst Du. Ich muss leider annehmen, dass der Großvater auf Schlimmes sinnt. Er ist höchst rücksichtslos und gewalttätig. Er wollte mich einsperren.«

»Einsperren? Mein Gott, wie bist Du dem entgangen?«

»Ich habe ihm gedroht.«

»Womit?«

»Mit dem Gesetze.«

Das war allerdings wahr, aber die volle Wahrheit wollte sie doch nicht sagen. Der Besitz der Schlange war der Freundin bisher noch Geheimnis geblieben. »Dieses Gesetz wird Dich schützen«, sagte Nanon.

»Wenn ich Gelegenheit habe, es anzurufen. Wenn man sich meiner aber plötzlich bemächtigt, wie will ich da Zuflucht zu dem Richter finden?«

»Ich würde Anzeige machen.«

»Wer weiß, ob es fruchten würde. Wie waren wir vor kurzer Zeit noch so glücklich. Und jetzt? Weißt Du, wie Müller mit mir ins Wasser sprang?«

»Und der Andere mit mir«, fügte Nanon schnell hinzu.

»Jetzt ist es mir, als ob mir ein ganz ähnliches Unwetter, eine ganz gleiche Gefahr nahe sei. Und wenn ich während des Unterrichtes bei dem Bruder sitze und Müllers Augen ruhen so forschend auf mir, so ist es mir, als ob ich mich ihm auch in dieser Gefahr anvertrauen könne und müsse.«

»Ist das nicht phantastisch, liebe Marion?«

»Was nennst Du phantastisch? Gehören Gefühle in das Reich der Wirklichkeit oder Phantasie? Willst Du mich belächeln, dass ein einfacher Hauslehrer einen solchen Eindruck auf mich macht, dass ich stets und immer an ihn denken muss?«

»Nein. Er ist ja Dein Lebensretter; er hat auch Deinen Bruder gerettet.«