Die Liebe des Ulanen 5  Durch Kampf zum Sieg - Karl May - E-Book

Die Liebe des Ulanen 5 Durch Kampf zum Sieg E-Book

Karl May

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Beschreibung

»Die Liebe des Ulanen«, ein packender Fortsetzungsroman über den deutsch-französischen Krieg 1870/71, erschien in 107 Lieferungen von September 1883 bis Oktober 1885 in der Zeitschrift »Deutscher Wanderer«. Der Jahrgang umfasste insgesamt 108 Lieferungen; in der Nummer 87 gab es keinen May-Text. Die vorliegende Textfassung folgt in 5 Bänden unverändert und ungekürzt der Erstausgabe des Münchmeyer-Verlags und entspricht damit vollständig der Originalfassung von Karl May. Der besseren Übersichtlichkeit wegen wurden zusätzliche Kapiteleinteilungen eingefügt. Der Ulanenrittmeister Richard von Königsau reist im Jahre 1870 inkognito und als buckliger Erzieher verkleidet nach Ortry in Lothringen, um im Schlosse des Gardekapitäns Albin Richemonte tragische Familiengeheimnisse aufzuklären und französischen Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland auf die Spur zu kommen. Auf dem Weg nach Ortry rettet er Marion, Richemontes schöner Enkelin, das Leben und entdeckt seine Liebe zu ihr. In dem geheimnisvollen Schloss Ortry, einem Gebäude mit Tapetentüren, geheimen Gängen und unterirdischen Verliesen bekämpft Köngsau die Machenschaften des finsteren Richemonte und gelangt schließlich auf die Spur eines Jahrzehnte zurückliegenden Verbrechens, durch das seinen Vorfahren ein furchtbares Schicksal zugefügt worden ist. Mutig und entschlossen nimmt Königsau den Kampf mit den Mächten des Bösen auf.

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelImpressum

1. Kapitel

Fritz war an der anderen Seite des Wagens herangekrochen. Dort hatte sich auf dem Steinschutt ein kleines Dickicht von Farrenkraut und anderen Pflanzen gebildet, hinter denen er Schutz fand. Und von hier aus konnte er Alles beobachten und auch Alles hören. Er vernahm jedes Wort, welches gesprochen wurde.

Es fiel ihm gar nicht ein, zu glauben, dass der Maler seinen Platz verlassen habe. Daher erschrak er nicht wenig, als dieser so plötzlich von da oben herabgeprasselt kam. Das darauf folgende Gespräch überzeugte ihn von der Gefahr, in welcher er sich nun auch selber befand, und als er dann hörte, dass der Steinbruch durchsucht und der Eingang besetzt werden solle, zog er sich schleunigst zurück.

Dies konnte aber nicht so geräuschlos geschehen, wie es wünschenswert gewesen wäre. Man hörte seine eiligen Schritte und kam hinter ihm her. Desto eiliger sprang er von dannen. Er erreichte den Eingang und - rannte mit einem Menschen zusammen, welcher sich fest an den Stein geschmiegt hatte. Er glaubte natürlich, es mit einem Gegner zu tun zu haben und fasste die Person an, um sie aus dem Wege zu schleudern, musste aber sofort bemerken, dass dieser Mann ihm an Körperkraft zum Wenigsten gewachsen war, denn er selbst wurde von ihm so fest bei der Kehle gepackt, dass er fast den Atem verlor. In dem nun entstehenden Ringen, welches allerdings nur kaum einige Augenblicke währte, fühlte er, dass der Andere – einen Höcker trug.

»Herr – Doc – tor!«, gelang es ihm hervorzustoßen.

Da ließ der Andere sofort los und flüsterte: »Sapperlot! Fritz, Du?«

»Ja.«

»Was tust Du hier? Wer ist da drin? Man kommt.«

»Sie haben mich beinahe erwürgt! Aber fort, schnell fort, Herr Doctor.«

Er nahm ihn bei der Hand und riss ihn mit sich fort. In höchster Eile ging es über das angrenzende Feld hinweg, bis die Schritte der Verfolger nicht mehr zu hören waren.

»Wohin denn nur?«, fragte Müller.

»Nach dem Waldlocke.«

»Warum denn?«

»Habe jetzt keine Zeit. Später davon! Jetzt aber schnell!«

»Das muss notwendig sein. Also vorwärts! Sie rannten nach dem Walde und, als sie denselben erreicht hatten, in möglichster Schnelligkeit zwischen den Bäumen dahin. Dies ging zwar keineswegs ohne Beschwerden ab; aber sie hatten denselben Weg bereits bei Tage und auch bei Nacht gemacht, und so erreichten sie das Waldloch, ohne sich an den Baumstämmen Schaden getan zu haben.

»Jetzt sollten Sie Ihre Laterne bei sich tragen!«, sagte Fritz, endlich das Wort ergreifend.

»Ich habe sie.«

»O, das ist sehr gut. Vielleicht auch die Schlüssel?«

»Ja.«

»Herrlich! Brennen Sie an. Wir müssen hinein.«

Müller zog die Laterne und Streichhölzer hervor.

Während des Anbrennens hatte er Zeit zu der Frage: »Weshalb müssen wir hinein?«

»Um einen Menschen zu retten, um den es sonst auf jeden Fall geschehen ist.«

»Wer ist es?«

»Sie sollen es nachher erfahren. Jetzt brennt die Laterne, und wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Der, welchen ich meine, ist nämlich vom Steinbruche aus in den Gang geschafft worden. Wir dringen von dieser Seite ein. Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht noch zeitig genug, um zu bemerken, in welches Gewölbe er gesperrt wird.«

»Das genügt einstweilen. Also komm.«

Sie hatten den Boden des Waldloches erreicht und drangen auf die bereits bekannte Art und Weise in den unterirdischen Gang ein. Sie verfolgten denselben bis zum Kreuzungspunkt, wo die Gänge sich durchschnitten, und wollten eben um die Ecke biegen, um den Gang zu betreten, welcher in der Richtung nach dem Steinbruche fortlief, als Müller schnell einige Schritte wieder zurückfuhr.

»Was gibt's?«, fragte Fritz.

»Bald hätten wir eine Dummheit begangen.«

»Welche?«

»Du vermutest, dass sie sich in dem Gange da rechts um die Ecke befinden?«

»Ja.«

»Und wir wollten mit der Laterne um diese Ecke biegen?«

»Sapperlot! Ja. Sie hätten uns leicht bemerken können!«

»Stecken wir also die Laterne ein. Wir müssen, so gut es geht, im Finstern weiter!«

Nun erst, als sie von dem Lichte nicht mehr verraten werden konnten, gingen sie weiter. Kaum aber waren sie um die Ecke gelangt, so hielten sie bereits wieder an.

»Siehst Du?«, fragte Müller.

»Ja. Dieser kleine Lichtpunkt da vorn muss von einer Laterne kommen. Nicht?«

»Jedenfalls. Sehen wir genau hin, ob er sich bewegt.«

So leicht sie sich täuschen konnten, bemerkten sie doch, dass der helle Punkt sich vergrößerte.

»Die Laterne bewegt sich«, meinte Fritz.

»Ja, sie kommen näher. Warten wir hier!«

Sie verhielten sich ruhig, bis sich um den Punkt eine helle Umgebung bildete. Dann sagte Müller: »Sie sind nicht mehr hundert Schritte entfernt. Wir müssen uns also zurückziehen.«

»Aber wohin?«

»Dahin, woher wir gekommen sind.«

»Doch nicht hinaus in den Wald?«

»Keineswegs. Wir müssen sehen, was sie tun. Wir kehren also nur so weit, als es unsere Sicherheit erfordert, zurück.«

Sie schlugen den Rückweg ein und blieben dann in einiger Entfernung wieder halten. Sie brauchten nicht lange zu warten, so erschien am Kreuzungspunkte der Laternenschein.

»Sapperlot!«, flüsterte Fritz. »Sie kommen in diesen Gang herein. Wir müssen noch weiter rückwärts.«

»Nur aber nicht zu schnell! Ah, siehst Du? Sie bleiben stehen!«

Die Beiden konnten jetzt ziemlich deutlich vier Männer unterscheiden, welche ihre Schritte angehalten hatten. Es wurden einige Worte gewechselt, deren Schall in dem Gange bis her zu den Lauschern drang. Dann hörten diese ein Schloss öffnen, und der Lichtschein verschwand.

»Sie sind dort durch die erste Türe in das Gewölbe«, bemerkte Fritz. »Wollen wir näher?«

»Ja, obgleich es sehr gefährlich ist.«

Sie schlichen sich äußerst vorsichtig heran. Sie wagten viel, aber es gelang ihnen, die Tür zu erreichen, welche nur angelehnt war. Müller blickte durch die Lücke. Das Gewölbe war mit Fässern fast ganz angefüllt. Ganz hinten zeigte sich eine gerade noch wahrnehmbare Helligkeit.

»Sehen Sie Etwas?«, fragte Fritz.

»Ja. Horch!«

»Da wurde eine Tür zugeworfen.«

»Und nun klirrt ein Riegel. Ah! Sie kommen zurück. Also fort! Schnell!«

Sie eilten auf den Fußspitzen wieder nach dem Punkte, an welchem sie sich vorher befunden hatten. Doch hatten sie denselben noch nicht erreicht, so bemerkten sie hinter sich bereits wieder den Laternenschein.

»Stehen bleiben!«, flüsterte Müller. »Ihre Laterne leuchtet nicht hierher. Und wir können vielleicht hören, was sie sprechen.«

»Aber wenn sie hierher kommen!«

»So haben wir immer noch Zeit zur Flucht. Horcht!«

»Es sind nur Drei. Der Eine schließt zu.«

»Man hat also den Vierten eingesperrt. Pst! Sie sprechen.«

Man hörte den einen der drei Männer sagen: »Also nachher verhören wir ihn?«

»Ja, in einer Stunde sind wir fertig. Es hat Zeit bis dahin.«

»Der Kerl kann sich gratulieren!«

»Er mag sein, was er will, ob unschuldig oder ein Spion, er hat uns belauscht und muss unschädlich gemacht werden. Jetzt also wieder hinaus zu den Fässern!«

Sie entfernten sich in der Richtung, aus welcher sie vorher gekommen waren. Als der Schein ihrer Laterne nicht mehr zu erkennen war, fragte Fritz: »Haben Sie die letzten Worte verstanden, Herr Doctor?«

»Ja. Verhören wollen sie den Mann, verhören und unschädlich machen.«

»Das müssen wir verhindern.«

»Wer ist denn dieser Mann?«

»Ein Maler; wissen Sie, der dicke Maler, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.«

»Ah, dieser! Aber wie kommt dieser sonderbare Mensch in diese fatale Lage?«

»Es scheint überhaupt ein ausgemachter Pechvogel zu sein.«

»Und ein wunderbarer Kerl dazu.«

»Fast mehr als wunderbar, nämlich wunderlich. Ich traf ihn im Gasthofe und erfuhr da von ihm, dass der Pulvertransport heut Abend hier ankommen werde. Er wollte das beobachten, ich konnte ihn nicht davon abbringen.«

»Weiter!«

Fritz gab seine Aufklärung, und als er damit zu Ende war, meinte Müller: »Dieser Maler scheint trotzdem gar kein unebener Kerl zu sein. Wir müssen uns seiner annehmen. Welch ein glücklicher Zufall also, dass ich auf Dich getroffen bin!«

»Konnte mich beinahe das Leben kosten!«

»So schnell geht das Erwürgen nicht.«

»Aber wie kamen denn Sie zum Steinbruche?«

»Ich beobachtete den Alten und bemerkte, dass er nach den Gewölben ging. Ich folgte ihm, um vielleicht zu sehen, was er vorhabe. Du erinnerst Dich doch, dass der Gang nach dem Steinbruche verschüttet war?«

»Ja. Heut aber ist er jedenfalls geöffnet worden.«

»Und zwar von dem Alten selbst. Ich beobachtete ihn dabei. Natürlich nahm ich sogleich an, dass im Steinbruche Etwas geschehen werde. Das musste ich erfahren. Von meinem Lauscherposten aus konnte ich es nicht beobachten, darum verließ ich die Gewölbe durch das Waldloch und ging nach dem Bruche.«

»Ah, so also ist es!«

»Ja. Ich war kaum da angekommen, so hörte ich Jemand sehr eilig gelaufen kommen. Ich drückte mich eng an den Felsen, um ihn vorüber zu lassen; aber dieser Jemand wollte ebenso eng um den Felsen biegen und stieß also mit mir zusammen.«

»Das war ich!«

»Ja. Ich hielt Dich für einen Andern.«

»Und drückten mir daher ein ganz klein Wenig die Gurgel zusammen. Na, das ist nun überstanden. Was tun wir jetzt?«

»Wir suchen den Maler.«

»Aber wenn man uns dabei erwischt!«

»Wir haben eine Stunde Zeit.«

»Es gibt dennoch Eins zu bedenken, Herr Doctor.«

»Was?«

»Wenn wir ihn befreien, so schöpft der Alte Verdacht.«

»Das ist freilich wahr. Wie aber wollen wir das umgehen?«

»Ich weiß es auch nicht.«

»So muss es eben riskiert werden. Aber sonderbar ist diese Sache doch. Kannst Du Dich erinnern, dass wir auch in dem Gewölbe da gewesen sind?«

»Ja. Es steht voller Fässer.«

»Hast Du da eine Tür bemerkt?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Und dennoch hörte ich ganz deutlich, dass ein Riegel klirrte und eine Tür zugeworfen wurde.«

»Vielleicht war sie hinter den Fässern versteckt.«

»Anders nicht. Also beginnen wir!«

Sie begaben sich zu der betreffenden Tür. Müller zog den Schlüssel hervor, öffnete, trat mit Fritz ein und verschloss sodann die Tür hinter sich. Nun nahm er die Laterne aus der Tasche und öffnete sie. Er hatte sie gar nicht ausgelöscht gehabt. Ihr Schein beleuchtete die Fässerreihen.

»Wo mag sich die Tür befinden?«, fragte Fritz.

»Da ganz hinten muss es sein, wo ich den Lichtschein bemerkte. Suchen wir!«

Sie begaben sich nach der hinteren Mauer des Gewölbes und bemerkten auch sofort, dass da einige Fässer entfernt worden waren. Dadurch war eine bisher hinter ihnen verborgene, stark mit Eisen beschlagene Tür zum Vorschein gekommen.

»Hier muss es sein.«

»Jedenfalls.«

»Aber ob der Schlüssel hier auch schließt?«

»Wir werden sehen.«

Zu ihrer Freude tat der Schlüssel seine Schuldigkeit. Sie gelangten in einen leer stehenden kleinen, viereckigen Raum und sahen sich abermals einer Tür gegenüber. Auch diese wurde geöffnet. Müller trat ein. Dieser Raum war ganz ebenso beschaffen wie der vorige. Es war da Nichts zu sehen als eine dicke, menschliche Gestalt, welche an der Erde kauerte und sich mühsam erhob.

»Jetzt schon ins Verhör?«, fragte der Mann.

»Nein«, antwortete Müller.

»Was denn? Soll ich etwa eine Partie Sechsundsechzig mit Ihnen spielen?«

»Sie scheinen sehr gut gelaunt zu sein, Herr Schneffke!«

»Warum soll ich nicht! Ich bin hier sehr wohl versorgt.«

»So können wir also wieder gehen. Wir glaubten, Ihnen einen Gefallen zu erweisen, wenn wir Ihnen diese Schlösser öffnen und Ihre Stricke zerschneiden.«

»Sapperment, das klingt nicht übel! Wer sind Sie denn?«

»Ein Bekannter Ihres Bekannten.«

»Welches Bekannten?«

»Dieses da.« Er deutete dabei auf Fritz, der bisher hinter ihm gestanden hatte und also nicht zu sehen gewesen war.

»Bitte, leuchten Sie ihm doch einmal ins Gesicht!«

Müller tat es, und sogleich meinte der Maler: »Heiliges Mirakel! Was ist denn das? Wäre ich nicht an Armen und Beinen gebunden, so schlüge ich vor Erstaunen die Hände und Füße über dem Kopfe zusammen. Herr Schneeberg!«

»Freilich bin ich es.«

»Aber wie kommen denn Sie hierher?«

»Zu Fuß.«

»Das habe ich gesehen, Sie Spaßvogel. Aber –«

»Lassen wir das jetzt. Zeigen Sie einmal her!«

Er zog sein Messer hervor und schnitt die Stricke entzwei.

»So, da sind Sie nun frei. Ein anderes Mal aber unterlassen Sie gefälligst solche Dummheiten!«

»Welche Dummheiten?«

»Ich hatte Ihnen gesagt, dass Sie auf Ihrem Platze bleiben sollten.«

»Hm! Ja! Wir können ja gleich wieder hingehen!«

»Sie scheinen unverbesserlich zu sein.«

»Was hatte ich denn zu befürchten?«

»Den Tod, mein Bester!«

»Donner und Doria! Wäre es wirklich so schlimm gemeint gewesen?«

»Gewiss, ganz gewiss!«

»Nun, so will ich Ihnen herzlich danken! Um mich wäre es wohl nicht sehr schade gewesen; aber ich habe noch einige Pflichten zu erfüllen, welche mir heilig sind. Bitte aber mir zu erklären, wie es Ihnen möglich ist, mich zu befreien.«

»Jetzt ist zu einer Erklärung keine Zeit«, sagte Müller. »Wir müssen uns schleunigst entfernen, wenn diese Menschen nicht drei Gefangene haben sollen, anstatt nur einen.«

»Ist mir lieb. Gehen wir also!«

»Nicht so. Nehmen Sie die Stricke vom Boden auf. Wir dürfen sie nicht liegen lassen.«

»Warum nicht?«

»Der Kapitän darf sich nicht erklären können, auf welche Weise Sie entkommen sind.«

»Ganz richtig! Da sind die Stricke; ich bin also bereit.«

Sie gingen und Müller schloss alle Türen hinter sich zu. Durch den Gang gelangten sie in das Waldloch. Dem Maler fiel es freilich schwer, durch die niedrigen Ausgänge zu schlüpfen, welche für sein Kaliber gar nicht eingerichtet waren. Als er im Freien angekommen war, holte er tief Atem und sagte: »Meine Herren, es war dennoch eine verdammte Geschichte!«

»Das will ich meinen«, sagte Müller. »Sie können die Gefahr, in welcher Sie sich befunden haben, gar nicht taxieren.«

»Ist dieser alte Kapitän wirklich ein so gefährlicher Kerl?«

»Schlimmer als Sie denken. Doch jetzt das Notwendigste. Können Sie schweigen?«

»Beinahe wie ich selber.«

»Ich bitte Sie nämlich, von Dem, was Sie heute erlebt haben, Nichts verlauten zu lassen.«

»Diesen Gefallen kann ich Ihnen tun. Aber warum soll ich diese Menschen nicht zur Rechenschaft ziehen?«

»Das erfahren Sie wohl noch. Ich habe erfahren, wo Sie logieren. Wann reisen Sie ab?«

»Heute und morgen wohl noch nicht.«

»Warum?«

»Sehr einfach. Weil ich hier noch zu tun habe.«

»Ich will Sie nicht nach der Art und Weise Ihrer Geschäfte fragen; aber es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass es für Sie am Besten ist, sich schleunigst zu entfernen.«

»Warum?«

»Weil der Kapitän Alles tun wird, sich Ihrer zu bemächtigen.«

»Das sollte ihm wohl schwer gelingen. Viel eher würde ich mich seiner bemächtigen.«

»Trauen Sie sich nicht zu viel zu.«

»Dieser Kapitän ist der dümmste Kerl, den ich kennen gelernt habe.«

»Wieso?«

»Steckt mich ein und lässt mir meinen Revolver!«

»Das ist allerdings geradezu unglaublich. Dennoch rate ich Ihnen, vorsichtig zu sein. Lassen Sie sich nicht von ihm sehen. Ich denke, dass ich noch mit Ihnen sprechen werde. Gehen Sie nach Hause!«

»Nach Hause? Sapperment! Ich möchte nach dem Steinbruche!«

»Wozu?«

»Um diese Kerls weiter zu beobachten.«

»Überlassen Sie das lieber mir. Hier Herr Schneeberg wird Sie begleiten. Es genügt vollständig, wenn ich allein erfahre, was dort im Steinbruche heute in der Nacht passiert. Gute Nacht!«

Sein Licht verlöschte.

Es raschelte im Laube und dann war er verschwunden. Schneffke versuchte, mit seinen Augen das Dunkel zu durchdringen. Dann sagte er: »Dieser Herr hatte eine sehr bestimmte Art und Weise, mit Einem zu sprechen. Wer ist er?«

»Der Hauslehrer auf Schloss Ortry.«

»Ah! Wie heißt er?«

»Doctor Müller.«

»So so! War er vielleicht der Bekannte, von dem Sie sprachen?«

»Ja.«

»Hm, hm!«

»Warum brummen Sie?«

»Das tue ich stets, wenn ich über Dinge oder Personen nachdenke, welche mich interessieren. Er sagte ›Gute Nacht.‹ Ist er wirklich fort?«

»Natürlich.«

»Na, so wollen wir ihm gehorchen und auf den Steinbruch verzichten. Was haben Sie noch vor?«

»Nichts. Ich gehe nach Hause!«

»Schön! Gehen wir also mit einander. Sie kennen den Weg?«

»Genau. Legen Sie den Arm in den meinigen.«

»Das ist allerdings sehr notwendig. Wenn ich nämlich sehr genau und scharf nachdenke, so kommt es mir ganz so vor, als ob ich meinen Kopf nicht erhalten hätte, um ihn bei Nacht und Nebel an den Baumstämmen zu zerstoßen.«

»Das geht mir mit dem meinigen ebenso. Kommen Sie! Aber schweigen wir jetzt! Es ist nicht nötig, dass uns Jemand bemerkt.«

Der Dicke gehorchte dieser Aufforderung. Erst als der Wald hinter ihnen lag und man nun besser unterscheiden konnte, ob man beobachtet sei oder nicht, sagte er: »Sagen Sie mir einmal, was Sie von mir denken, mein lieber Herr Schneeberg!«

»Schön! Aber soll ich aufrichtig sein?«

»Ja.«

»Gut, so will ich Ihnen gestehen, dass ich Sie für einen sehr guten Kerl, aber auch für einen sehr großen Tolpatsch halte.«

»Donnerwetter! Wer das sagt, muss selbst ein Tolpatsch sein! Aber ich will es Ihnen nicht übel nehmen. Ich habe Pech, aber auch sehr viel Glück. Der Kapitän hätte mich nicht gefressen, denn ich hatte noch die Waffe; dennoch –«

»Was hätten Sie mit dem Revolver tun wollen?«, fiel Fritz ihm in die Rede.

»Den Alten erschießen!«

»Sie waren ja gefesselt!«

»Sapperment! Das ist wahr! Daran habe ich nicht gedacht. Schießen hätte ich ja gar nicht können! Desto mehr Dank bin ich Ihnen schuldig. Nun aber sagen Sie mir, wie Sie auf den Gedanken gekommen sind, mich heraus zu holen.«

»Sollte ich Sie etwa stecken lassen?«

»Nein. Aber ich hätte es für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten.«

»Und doch war es nicht schwierig. Ich kenne diese unterirdischen Gänge und traf dazu Herrn Müller, der fast noch besser orientiert ist, als ich. Da wurde es verhältnismäßig leicht, bis zu Ihnen zu gelangen.«

»Es gibt hier gewisse Heimlichkeiten; doch frage ich nicht nach ihnen, da sie mich nichts angehen. Aber dabei möchte ich doch sein, wenn sie zurückkommen und das Nest leer finden.«

»Sie werden sich Ihr Verschwinden gar nicht erklären können.«

»Der Kapitän weiß also wohl gar nicht, dass Sie auch Schlüssel besitzen?«

»Nein. Er darf nicht einmal ahnen, dass wir die Gänge kennen.«

»So werde ich also schon aus reiner Dankbarkeit schweigen, um Ihnen keinen Schaden zu machen. Aber, das ist mir noch viel zu wenig. Können Sie mir nicht die Freude machen, mir zu sagen, in welcher Weise es mir möglich ist, meinen Dank abzutragen?«

»Hm! Ich tat meine Pflicht, weiter nichts.«

»Das ist sehr bescheiden. Ich werde mich also ganz derselben Bescheidenheit befleißigen und Ihnen gegenüber auch nur meine Pflicht tun. Darf ich?«

»Ich wüsste nicht, welche Pflicht Sie meinen könnten.«

»Ich bin überzeugt, dass Sie das nicht wissen. Ich möchte Sie nämlich sehr gern glücklich sehen.«

»Halten Sie mich für unglücklich?«

»Nein; aber trotzdem könnten Sie noch glücklicher sein, als Sie es jetzt schon sind.«

»Das ist wahr. Es hat ein jeder Tag seine Hitze und seinen Schatten.«

»Nicht nur der Tag, sondern auch der Mensch. Auch Sie haben Ihre Hitze und Ihren Schatten.«

»Ich? Wieso?«

»Ihre Hitze heißt: Mademoiselle Nanon.«

»Lauscher! Aber Sie stellen nur eine Vermutung auf, die nicht gerechtfertigt ist.«

»Pah! Sie lieben Nanon!«

»Herr Schneffke!«

»Nun ja! Jetzt möchten Sie lieber gar grob werden, und doch meine ich es so gut mit Ihnen. Ich möchte Sie nämlich sehr gern von Ihrem Schatten befreien. Den haben Sie ja auch.«

»Was wäre das?«

»Ein gewisses Geheimnis, welches sich auf – hm, auf die Abstammung bezieht.«

»Sapperment! Was wissen Sie von diesem Geheimnisse?«

»Dass es enthüllt werden kann.«

»Etwa durch Sie?«

»Ja.«

»Spaßvogel! Wer hat zu Ihnen davon gesprochen?«

»Niemand.«

»So können Sie ja auch gar nicht wissen, dass ich ein Findelkind bin.«

»Sie? Ein Findelkind? Ach so! Aber von Ihnen ist ja gar nicht die Rede!«

»Nicht? Von wem denn? Sie sprachen doch von meiner Abstammung.«

»Ist mir nicht eingefallen! Von der Ihrigen nicht.«

»Von welcher denn?«

»Von derjenigen Nanons.«

Da hielt Fritz den Schritt an, legte die Hand fest um den Arm des Malers und sagte: »Herr Schneffke, dieses Thema ist mir zu heilig, als dass ich einen Scherz darüber dulden könnte!«

»Scherze ich denn?«

»Was sonst?«

»Ich spreche im Gegenteile sehr im Ernste.«

»Das werden Sie mir sehr schwer beweisen können!«

»Sogar sehr leicht.«

»Wollen Sie etwa behaupten, die Abstammung, von welcher wir sprechen, zu kennen?«

»Nicht gerade diese Behauptung ist es, welche ich aufstellen will; aber es gibt Zufälligkeiten, welche mit einander verglichen, zu Schlüssen führen können.«

»Zu Trugschlüssen!«

»Vielleicht. Heute aber habe ich keine Lust, Trug zu schließen. Seien wir aufrichtig! Sie interessieren sich für Nanon?«

»Ja.«

»Das heißt natürlich, Sie lieben sie?«

»Nichts Anderes.«

»Nun gut! Sie sollen Sie haben!«

»Sapperment! Sie widersprechen sich bedeutend!«

»Wieso?«

»Sie sagten erst heute, dass die Traube für mich viel zu hoch am Stock hänge.«

»Ja; aber inzwischen haben Sie mir einen großen Dienst erwiesen, und so will auch ich Ihnen nach Kräften förderlich sein. Mit einem Worte: Sie sollen Nanon haben.«

»Herr Schneffke, ich gestehe Ihnen aufrichtig, dass ich bis jetzt angenommen habe, Sie sprechen im Scherze. Aber der Ton, welchen Sie jetzt anschlagen, scheint mir Ernst zu bedeuten.«

»Es ist mein völliger Ernst.«

»Nun, Gottes Wege sind wunderbar; ihm ist Nichts unmöglich. Aber Sie werden mir glauben, wenn ich versichere, dass ich sehr gespannt auf Das bin, was Sie mir mitzuteilen haben.«

»Das glaube ich Ihnen. Ich vermute nämlich, dass Nanon nicht Eltern gewöhnlichen Standes gehabt habe. Ich war auf Schloss Malineau.«

»Ich auch. Und doch ist dort nichts zu erfahren gewesen.«

»Sie haben nichts erfahren und die beiden Schwestern auch nicht. Doch es ist trotzdem möglich, dass Andre Etwas erfahren. Glauben Sie, dass Nanon Sie wieder liebt?«

»Vielleicht.«

»Pah, vielleicht! Sie liebt Sie; das ist sicher! Ich habe es bemerkt, als ich auf der Birke hing. Aber glauben Sie, dass sie Ihnen ihre Hand reichen würde, wenn sie auf einmal Gewissheit bekäme, dass ihr Vater ein Adeliger sei?«

»Der Liebe ist Alles möglich.«

»Aber diesem Vater würde das vielleicht nicht passen.«

»Das steht abzuwarten.«

»Darum will ich Ihnen die Hand bieten, sich diesem Vater so zu verpflichten, dass er Ihnen die Tochter geben muss.«

»Sie sprechen gerade so, als ob Sie sich entschlossen hätten, meine Vorsehung zu sein.«

»Das ist auch wirklich der Fall. Sie sollen heut dem Maler Hieronymus Aurelius Schneffke nicht umsonst aus der Patsche geholfen haben. Können Sie jetzt mit mir noch einmal in den Gasthof kommen?«

»Es würde mich Niemand hindern, und doch möchte ich es unterlassen.«

»Warum?«

»Man soll nicht bemerken, dass wir mit einander zu tun haben. Der Wirt ist nämlich ein Verbündeter des Kapitän.«

»Ach so! Das ist schade! Ich hätte Ihnen gern bereits heute ein Mittel in die Hand gespielt, Nanons Abstammung zu entschleiern.«

»Sollte es wirklich ein solches Mittel geben?«

»Ich vermute es und glaube nicht, mich dabei zu irren.«

»Dann stehe ich Ihnen zu Gebote, aber nicht im Gasthofe. Ich werde Sie vielmehr bitten, mit nach meiner Wohnung zu kommen.«

»In die Apotheke?«

»Ja.«

»Wird das nicht auffallen?«

»Gar nicht. Es wird uns gar Niemand bemerken.«

»Gut, so gehe ich mit. Diese Apotheke ist übrigens ein Haus, für welches ich eine lebhafte Sympathie hege.«

»Warum?«

»Weil da drei Personen wohnen, denen ich das lebhafteste Interesse widme.«

»Darf man diese Personen kennen lernen?«

»Gewiss! Die erste sind natürlich Sie.«

»Großen Dank!«

»Die zweite Person ist die Engländerin.«

»Ach so! Hm! Ja! Und die dritte?«

»Der Lehrjunge!«

»Dieser? Wieso?«

»Ich habe ihm einmal Einiges abgekauft, was ich noch nicht in Gebrauch genommen habe und ihm in Folge dessen so recht Gemütlich unter die Nase reiben möchte. Das wird schon einmal passen! Aber hier ist die Stadt. Also mit zu Ihnen?«

»Ja. Ich befinde mich in einer Spannung, welche gar nicht größer sein kann. Lassen Sie uns eilen.«

Fritz befand sich natürlich im Besitze eines Hausschlüssels. Nach kurzer Zeit hatte er mit dem Maler sein Zimmer erreicht und dort Licht gemacht. Dann erwartete er mit Ungeduld die Mitteilung seines Gastes.

»Haben Sie Papier und Bleistift hier?«, fragte dieser.

»Ja. Wollen Sie schreiben?«

»Nein, sondern zeichnen.«

»Was denn?«

»Das werden Sie bald sehen. Geben Sie her!«

Er erhielt das Verlangte, setzte sich an den Tisch und sagte: »Brennen Sie sich eine Cigarre an und lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden. Ich muss meine Zeichnung aus der Erinnerung machen, und da heißt es, die Gedanken zusammen zu nehmen.«

Fritz folgte diesem Rate. Er rauchte, und Schneffke zeichnete; Minute um Minute verging; es wurden Viertelstunden daraus, Fritz befand sich wie auf Kohlen; aber er sagte kein Wort, um nicht zu stören. Endlich, als bereits über eine Stunde vergangen war, legte Schneffke den Stift weg, hielt das Papier in gehörige Entfernung, um es genau zu betrachten, und sagte dann: »Ich denke, dass es gelungen ist.«

»Was haben Sie gezeichnet? Darf ich es sehen?«

»Ja. Hier ist es.«

Fritz sah einen Frauenkopf von wunderbarer Lieblichkeit. Er hielt denselben sich in kürzerer und größerer Entfernung vor die Augen und sagte dann: »Ein allerliebster Scherz!«

»Scherz? Wieso?«

»Das ist ja Nanon!«

»Nanon? Ah! Wirklich?«

»Ja. Sie haben die Nanon in spe gezeichnet, so wie sie sein wird, wenn sie einige Jahre älter und Weib geworden sein wird.«

»So, so!«, lächelte Schneffke. »Sind Sie Ihrer Sache gewiss? Ich habe ganz im Gegenteile gedacht, Madelons Bild zu zeichnen.«

»Madelons? Hätte ich mich geirrt? Ja, richtig! Es ist nicht Nanon, sondern Madelon.«

»Sehen Sie das nun genau?«

»Ganz genau. Es ist keine Täuschung möglich.«

»Aber mein Lieber, wenn es nun wirklich meine Absicht gewesen wäre, Nanon zu zeichnen! Sehen Sie sich das Bild genau an!«

Fritz musterte nochmals das Porträt und sagte dann: »Ich werde nicht klug daraus! Das ist sowohl Nanon als auch Madelon, nur älter und ausgebildeter.«

»Sie werden nicht klug? Und doch habe ich Sie für klug gehalten. Ich werde Ihnen auf die Sprünge helfen. Wenn dieses Porträt dasjenige von Madelon und Nanon ist und doch auch wieder nicht ist, wessen Porträt muss es dann sein?«

»Das einer Schwester vielleicht.«

»Haben die beiden Genannten eine Schwester?«

»Nein.«

»So haben Sie also falsch geraten. Weiter!«

Fritz dachte einen kurzen Augenblick nach; dann zuckte es wie eine Erkenntnis über sein männlich hübsches Gesicht.

»Meinen Sie etwa die Mutter?«, fragte er.

»Warum nicht?«

»Ah! Also die Mutter soll es sein! Haben Sie denn die Dame gekannt? Sie ist längst tot.«

»Ich habe sie nie gesehen.«

»Aber wie kommen Sie dazu, ihr Porträt zu zeichnen?«

»Ich habe einmal ein Bild gesehen, ganz so wie dieses. Und darunter standen die Worte, welche ich jetzt auch unter diesen allerliebsten Kopf schreiben werde. Hier!«

Das Letztere war nicht nach der Wahrheit gesagt; aber es passte so in seinen Plan. Fritz warf einen Blick auf die Worte und las: »Mon doux et aimé becquefleur - mein süßer, lieber Kolibri! Herrgott! Mann, wie kommen Sie zu diesen Worten?«

»Ganz so, wie ich gesagt habe. Ich habe sie gelesen.«

»Und Nanon hat mir gesagt, sie wisse von ihrer Mutter, dass diese von dem Vater stets mit dem Kosenamen Kolibri bedacht worden sei. Wie kommen Sie dazu, aus diesem Namen zu schließen, dass –«

»Nun dass –«

»Dass dieser Kopf das Porträt von Nanons Mutter sei.«

»Hm! Dieses Geheimnis müssen Sie mir schon lassen. Sie werden später das Weitere erfahren.«

»Schön! Aber Sie spannen mich auf die Folter!«

»Ich hoffe, dass es keine unangenehme Folter sein wird.«

»Darf ich Nanon das Bild zeigen?«

»Ja.«

»Auch Madelon?«

»Auch ihr, doch stelle ich meine Bedingungen.«

»Bedingungen? Ich hoffe, Sie werden nichts Unmögliches verlangen.«

»Nein. Was ich verlange, das ist zu Ihrem eigenen Glücke. Sie dürfen das Bild den beiden Mädchen zeigen; aber Sie sagen nicht, von wem es ist.«

»Warum nicht?«

»Ich habe meine Absicht dabei.«

»Dann kann ich ja nichts erreichen!«

»O doch! Sie sollen das Bild nämlich noch einer dritten Person zeigen, aber auch ohne zu sagen, von wem Sie es haben.«

»Wer ist diese Person?«

»Es ist – ah, wissen Sie, wer hier im Hause verkehrt?«

»Ich kenne sie Alle.«

»Ich habe sie im Garten bei der Engländerin gesehen.«

»Meinen Sie etwa Master Deep-hill?«

»Deep-hill, ja, so heißt er.«

»Und ihm soll ich das Bild zeigen?«

»Ja.«

»Wozu?«

»Sie werden von ihm Auskunft erhalten.«

»Was aber antworte ich, wenn man mich nach dem Zeichner fragt?«

»Das Porträt ist nicht ein Porträt, sondern ein Studienkopf, entworfen von einem Freunde, an den Sie schreiben werden, um Aufklärung zu erhalten.«

»Ja. Diese Aufklärung habe ich von Ihnen zu erbitten?«

»Ja. Ich will jetzt im Hintergrunde bleiben.«

»Lauter Rätsel! Von Deep-hill soll ich Auskunft erhalten, und von Ihnen Aufklärung! Warum geben Sie mir diese nicht gleich jetzt?«

»Ich will mich vorher überzeugen, ob meine Vermutung das Richtige trifft oder nicht.«

»So muss ich mich fügen. Hoffentlich treffe ich Nanon bereits morgen. Und Deep-hill wird auch kommen. Wo finde ich Sie dann?«

»Im Gasthofe. Aber, Sie sagten, dass der Wirt der Verbündete des Kapitäns sei. Das ist, nach Dem, was heut für mich geschehen ist, gefährlich. Ich werde mich also ausquartieren.«

»Wohin?«

»Das weiß ich noch nicht, werde es Ihnen aber durch einige Zeilen, die ich Ihnen sende, mitteilen.«

»Ich bitte sehr darum! Diese Angelegenheit ist mir so wichtig, dass ich keine Minute verlieren möchte.«

»Nun, laufen Sie nur nicht schon während der Nacht nach Schloss Ortry, sondern lassen Sie die Damen erst ausschlafen! Jetzt aber ist's genug. Ich werde gehen.«

Sie schieden unter den Versicherungen herzlicher Freundschaft voneinander. Fritz war so erregt, dass er nicht schlafen konnte. Er lief noch stundenlang im Zimmer umher, schmiedete Pläne und verging sich in tausenderlei Vermutungen. Endlich fühlte er sich doch körperlich und seelisch so angegriffen, dass er das Lager suchte.

2. Kapitel

Die Folge blieb nicht aus. Als er erwachte, war der Mittag nahe; es hatte bereits elf Uhr geschlagen. Und als er dann durch das Fenster blickte, sah er – Doctor Müller die Straße heraufkommen und in das Haus treten.

Was hatte dieser Besuch zu bedeuten? Er trank seinen Kaffee und kleidete sich zum Ausgehen an, um zu versuchen, ob er Nanon treffen könne.

 Da trat Müller bei ihm ein.

»Warst Du heute bereits fort?«, fragte dieser.

»Nein.«

»So kann ich auch von Dir nichts erfahren. Ich hielt es für möglich, dass Du ihm zufälliger Weise begegnet seist.«

»Wem?«

»Deep-hill.«

»Diesem? Sie suchen ihn?«

»Ja. Ich hatte ihn zu sprechen und fand ihn nicht. Ich erkundigte mich und erfuhr, dass der Kapitän gesagt habe, der Amerikaner sei heimlich abgereist.«

»Und das glauben Sie nicht?«

»Nein. Er hätte ganz sicher vor seiner Abreise noch mit mir gesprochen. Ich ging daher jetzt zu meiner Schwester, habe aber auch nichts weiter erfahren, als dass er gestern am Nachmittage hier gewesen sei.«

»Ist er dann auf dem Schlosse gewesen?«

»Nein. Es hat ihn Niemand gesehen.«

»Donnerwetter! Niemand gesehen! Da fällt mir ein – ah, das wäre doch ein verdammter Streich!«

»Was?«

»Dieser Maler Schneffke strich gestern im Walde herum, und ich erfuhr von ihm, dass er dem Amerikaner begegnet sei.«

»Wo?«

»Eben draußen im Walde.«

»In welcher Gegend?«

»Es muss gewesen sein, kurz bevor ich mit dem Maler zusammentraf, also vermutlich zwischen dem alten Turme und der Klosterruine.«

»So muss ich hinüber zu diesem Schneffke.«

»Er hat sich ausquartiert.«

»Wohin?«

»Das weiß ich noch nicht; er wird mir es aber jedenfalls heute noch mitteilen.«

»Schade. Ich befinde mich in hoher Besorgnis um Deep-hill. Der Kapitän trachtet ihm nach dem Leben; das weiß ich sehr genau. Wer weiß, was da geschehen ist!«

»Himmelelement! Und grad jetzt brauche ich den Amerikaner so notwendig!«

»Wozu?«

»Wegen einer Auskunft über Nanons Eltern.«

»Dieser soll Auskunft geben können?«

»Ja. Bitte, Herr Doctor, haben Sie die Güte, sich einmal dieses Bild zu betrachten!«

Er erzählte Müllern seine Unterredung mit dem Maler. Der erstgenannte hörte aufmerksam zu, betrachtete das Bild sehr genau und sagte dann:

»Dieser Aurelius Hieronymus Schneffke ist in Wirklichkeit ein psychologisch höchst interessanter Mensch. Er scheint eine Zusammensetzung von Klugheit und Dummheit, List und Vertrauensseligkeit zu sein. Was er Dir hier gesagt hat, das beweist, dass er noch weit mehr weiß. Aber wie er den Amerikaner zu dieser Angelegenheit in Beziehung bringen kann, das weiß ich nicht. Dieser Letztere aber ist nicht verreist. Ich werde nach ihm forschen.«

»In den Gewölben?«

»Auch das.«

»Soll ich helfen?«

»Ja. Ich will jetzt meine Erkundigungen weiter fortsetzen und erwarte Dich dann Punkt drei Uhr im Waldloche.«

Er ging und bald darauf verließ auch Fritz die Stadt, um die Nähe des Schlosses aufzusuchen. Der Zufall war ihm außerordentlich günstig, denn als er vom alten Turme her den Weg nach dem Park einschlug, kamen ihm – die beiden Schwestern entgegen.

Sie waren sehr erfreut, ihn zu sehen und luden ihn ein, sie auf dem Spaziergange zu begleiten. Es war ein schöner Tag und in Folge dessen auch der schmalste Fußweg leicht zu gehen. So vertieften sie sich in den Forst, bis die Damen müde wurden und den Vorschlag machten, im Moose auszuruhen. Während der Unterhaltung, welche nun geführt wurde, kam auch die Rede auf die Erlebnisse in Malineau, auf den alten Berteu und dessen Familie. Natürlich wurde auch dabei die verstorbene Mutter erwähnt.

»Ihren Papa also haben Sie gar nicht gekannt?«, fragte Fritz, der froh war, das Gespräch auf dieses Thema gebracht zu wissen.

»Nein.«

»Sie wissen auch nicht, was er war?«

»Gar nichts wissen wir, außer einigen Unbedeutendheiten.«

»Da fällt mir ein: Sagten Sie nicht einmal, Mademoiselle Nanon, dass Ihr Papa die Mama gern Kolibri gerufen hätte?«

»Ja.«

»Eigentümlich. Daran wurde ich gestern sehr lebhaft erinnert.«

»Wieso?«

»Ich suchte alte Briefe durch und fand dabei ein Blatt mit einem Studienkopf. Unter dem Letzteren befand sich die eigentümliche Unterschrift: Mein süßer, lieber Kolibri.«

»Wirklich? Gewiss?«, fragten die Schwestern.

»Ja.«

»Das ist allerdings höchst wunderbar. Wessen Porträt war es?«

»Es war kein Porträt, sondern ein Studienkopf!«

»Wenn man ihn doch einmal sehen könnte.«

»Das hat keine Schwierigkeiten. Aber es hat auch keinen Zweck. Es ist ja ein ganz fremder Kopf.«

»Aber die Unterschrift macht ihn so interessant!«

»Nun, wenn ich nicht irre, habe ich das Blatt bei mir.«

»Dann bitte, bitte! Dürfen wir es sehen?«

»Sehr gern!«

Er nahm die Brieftasche heraus, suchte eine Zeitlang darin und zog dann das Blatt hervor und gab es ihnen. Er befand sich in außerordentlicher Spannung, welchen Eindruck es machen werde. Er brauchte nicht lange zu warten. Kaum hatten die Schwestern einen Blick auf den Kopf geworfen, so fuhren sie auf.

»Die Mama!«, rief Madelon.

»Ja, unsere Mama! O, mein Gott, das ist sie wirklich, die liebe, gute Mama!« rief auch Nanon.

Fritz stellte sich ganz verwundert und fragte: »Wie? Ihre Mama soll das sein?«

»Ja, sie ist es.«

»Das ist jedenfalls eine Täuschung!«

»Nein, nein! Es ist gar kein Zweifel.«

»Erinnern Sie sich Ihrer Mutter denn noch so deutlich?«

»Ganz und gar! Wir waren nicht sehr alt, als sie starb, aber wir hatten Sie so sehr lieb, und wen man so lieb hat, den kann man nie vergessen.«

Und Madelon fügte hinzu: »Selbst wenn wir uns irrten, denken Sie doch hier an diese Unterschrift! Wer könnte da noch zweifeln.«

»Wie aber kommt mein Freund zu diesem Bilde!«

»Von wem ist es?«

»Ein Freund von mir hat es gezeichnet, damals ein angehender Maler. Er schenkte es mir, weil ich mich an diesen Zügen nicht satt sehen konnte.«

»Ah, es hat Ihnen gefallen?«

»Sehr, o sehr!«

»Aber wie kann dieser Freund unsere Mama kennen? Ah, ich spreche ja wirklich wie ein Kind! Ich weiß ja gar nicht einmal, wo er gelebt hat. Vielleicht in dieser Gegend?«

»Nein, sondern in Deutschland. Ich glaube nicht, dass er jemals in diese Gegend gekommen ist.«

»Wo befindet er sich jetzt?«

»Auf einer Reise. Er schreibt mir, dass er bald heimkehren will und mich dabei besuchen werde.«

»So kennt er Ihren jetzigen Aufenthalt?«

»Ja.«

»Und hier, hier wird er sie besuchen?«

»Ja. Er steigt hier ab, um einen Tag bei mir zu bleiben.«

»O bitte, Monsieur, fragen Sie ihn doch nach diesem Bilde!«

»Ganz gewiss werde ich es tun.«

»Und – aber nein, das wäre zu unbescheiden.«

»Was?«

»Das Bild unserer guten Mama! O, Monsieur!«

Es traf ihn dabei ein Blick aus ihren schönen Augen, welcher zu beredt war, als dass er ihn nicht hätte verstehen können. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

»Es geht nicht, Mademoiselle Madelon. Ich würde gern Ja sagen, aber es geht wirklich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil – na, weil Sie zu Zweien sind.«

»Ist das wirklich ein Grund?«

»Gewiss. Zu Zweien können Sie es nicht besitzen, denn die Eine wohnt hier und die Andere in Berlin.«

»Sie sind nicht so gut, wie ich dachte!«

»Sie irren. Um Ihnen das zu beweisen, will ich an einen Ausweg denken. Soll ich?«

»Was meinen Sie?«

»Ich habe früher einmal ein Wenig gezeichnet –«

»Ach so! Sie wollten –?«

»Wenigstens versuchen.«

»Werden Sie es bringen?«

»Vielleicht. Dann kann Jede eins erhalten.«

»Sie Lieber, Guter!«

»Vorhin nannten Sie mich nicht so, Mademoiselle Madelon!«

»Verzeihen Sie! Ich bin überzeugt, dass Sie der Tochter nicht zürnen werden, dass sie das Bild ihrer verstorbenen Mutter zu besitzen wünscht.«

»Wie sollte ich zürnen!«

»Wann aber kommt Ihr Freund?«

»Wahrscheinlich sehr bald.«

»Das ist herrlich! Er wird uns sagen müssen, wer ihm zu diesem Kopfe gesessen hat. Er ist so characteristisch gehalten und so sauber gearbeitet, gerade – ah, es wäre wohl lächerlich dies zu sagen.«

»Was?«

»Ich sah während der Bahnreise die Tierbilder eines Mitreisenden, des Tiermalers Schneffke. Dort waren es Tierköpfe und hier ist es ein Menschenkopf, aber dieser ist ganz in derselben Manier gehalten. Man möchte beinahe sagen, dass Schneffke auch diesen Kopf gezeichnet habe.«

Fritz wunderte sich über den Scharfblick der Dame. Er hatte seinen Zweck erreicht. Er hatte den Beweis, dass dieser Kopf wirklich derjenige sei, für welchen Schneffke ihn ausgegeben hatte. Nun brannte er darauf, mit dem Amerikaner zusammenzutreffen.

Er begleitete die beiden Schwestern bis in die Nähe des Schlosses zurück und begab sich dann nach dem Waldloche, wo er sich zunächst überzeugte, dass er nicht beobachtet werde. Zur angegebenen Zeit stellte sich Müller ein.

»Sind wir hier sicher?«, fragte er.

»Es ist Niemand in der Nähe.«

»So wollen wir den Eingang öffnen.«

»Der Amerikaner ist also wirklich verschwunden?«

»Ja. Wir müssen sehen, ob er hier vielleicht in eine Falle geraten ist.«

»Dann können wir auch gleich nach einem Zweiten sehen, Herr Doctor.«

»Was meinst Du?«

»Sie sprachen unlängst von einem Keller des Mittelpunktes, wenn ich mich nicht irre?«

»Ja. Ich vermutete meinen Vater dort.«

»Wir fanden diesen Keller aber nicht. Heute während der Nacht nun ist mir ein Gedanke gekommen –«

»Den ich errate. Es wird ganz der meinige sein. Du hast an Schneffke gedacht?«

»Ja.«

»Er befand sich in einem Locale, in welchem wir noch nicht gewesen waren.«

»Und dieses Local lag nicht weit vom Mittelpunkte.«

»Richtig! Und aus dem Raume, in welchem der Maler steckte, führte eine Tür weiter.«

»Wohin mag sie gehen?«

»Wir werden es heute sehen. Gestern Abend gab es keine Zeit zu dieser Untersuchung.«

»Waren Sie noch im Steinbruche?«

»Ja. Es war eigentlich nicht notwendig. Ich habe nichts Neues gehört. Aber meine Vermutung über die Richtung des Ganges hat sich bestätigt. Dieser Letztere ist nur an seinem Ausgange in den Steinbruch zugeschüttet. Räumt man den Schutt hinweg, so steht der Eintritt offen. Jetzt aber komm. Wir wollen beginnen.«

»Aber der Alte?«

»Ich fürchte ihn nicht.«

»Das weiß ich. Besser aber ist es doch auf alle Fälle, dass er uns nicht überrascht. Wie mag er sich das Verschwinden des Malers erklären?«

»Lassen wir ihm dies selbst über. Komm!«

Sie zogen den Stein hinweg, krochen in die Öffnung und schlossen diese dann von innen. Auf dieselbe Weise gelangten sie dann auch in den Gang. Dort angekommen, brannte Müller seine Laterne an.

Nun suchten sie das Gewölbe auf, in welchem gestern Herr Hieronymus Aurelius Schneffke gesteckt hatte. Alle Türen, welche sie öffneten, verschlossen sie hinter sich wieder.

An Ort und Stelle angekommen, schloss Müller die zweite Türe auf, welche er gestern bemerkt hatte. Diese führte in eine runde Halle, welche vollständig leer war und keine andere, zweite Türe besaß. Aber gerade in der Mitte ging ein ungefähr sechs Fuß im Durchmesser haltendes Loch in die Tiefe hinab.

»Was mag das sein?«, fragte Müller.

»Ein Brunnen vielleicht.«

»Möglich. Aber man erkennt keine Spur irgendeiner Vorrichtung, wie sie bei Brunnen gewöhnlich sind. Dieses Loch kommt mir verdächtig vor.«

»Ob es tief sein mag?«

»Wollen sehen.« Er suchte nach einem Steine, um ihn hinabzuwerfen, doch war nicht das kleinste Steinchen zu sehen.

»Ich habe Siegellack einstecken«, bemerkte Fritz.

»Schön. Brich ein Stück davon ab.«

Sie ließen das Stückchen hinabfallen und horchten. Es dauerte mehrere Sekunden, ehe sie einen leisen Ton vernahmen. Der Brunnen war ungewöhnlich tief.

»Hast Du den Schall richtig gehört?«, fragte Müller.

»So ziemlich.«

»Klang es nach Wasser?«

»Ja. Auf festen Grund ist das Siegellack nicht gefallen.«

»Das denke ich auch. Wollen eine zweite Probe machen.«

Er nahm die sämtlichen Streichhölzchen, welche er bei sich trug, brannte sie an und warf sie hinab. Die schwefelige Flamme sank ziemlich schnell zur Tiefe und verlöschte unten so schnell, dass mit Gewissheit auf Wasser zu schließen war.

»So ist es also vergebens«, sagte Müller. »Es ist ein Brunnen, weiter nichts, kein Schacht, wie ich erst dachte. Wir wollen aber nichts unversucht lassen und noch an die Wände klopfen.«

Auch das führte zu Nichts. Die Mauern waren rundrum massiv, natürlich mit Ausnahme der Tür, durch welche sie Beide gekommen waren.

»Also wieder hinaus! Suchen wir nun den Amerikaner!«

»Aber wo? Diese unterirdischen Gänge sind so ausgedehnt, dass man tagelang vergebens suchen kann.«

»Ich habe eine Vermutung. Da vorn, wo wir den Alten mit Rallion belauschten, scheint der Gefängnisraum zu sein. Wollen zuerst dort nachsuchen.«

Sie bogen von diesem jetzigen Gange nach links ab, welcher in der Richtung nach dem Schlosse führte. Sie erreichten die wohlbekannte Tür und den Keller, in welchem die Kisten standen. Hier blieben sie zunächst stehen, um zu lauschen. Es war nichts zu hören. Dennoch aber begaben sie sich nach dem Hintergrunde, wo Müller an die Tür klopfte.

»Ist Jemand da drin?«, fragte er.

Keine Antwort.

»Steckt Jemand hinter dieser Tür?«, wiederholte er.

Da war es, als ob ein Räuspern zu vernehmen sei.

»Warum wird nicht geantwortet?«

Abermals dasselbe Räuspern, aber keine Antwort.

»Es steckt Jemand drinnen, unbedingt«, sagte Fritz. »Aber warum antwortet man nicht?«

»Werden es gleich erfahren.«

Müller schob die Riegel zurück und öffnete. Er ließ den Schein der kleinen Laterne auf den Boden fallen, wo eine Gestalt zusammengekrümmt lag.

»Warum antworten Sie nicht?«, fragte er.

Beim Klange dieser Stimme sprang der Bewohner dieses Loches blitzesschnell empor.

»Höre ich recht?«, fragte er. »Sie, Herr Doctor?«

»Ja.«

»Ich dachte, der Kapitän sei es; darum antwortete ich nicht.«

»Ach so! Aber, Master Deep-hill, wie kommen Sie in diese schauderhafte Lage?«

»Der alte Teufel hat mich in die Falle gelockt. Wie aber kommen Sie hinter seine Schliche und dann hierher, um mir zu öffnen?«

»Davon nachher! Jetzt kommen Sie zunächst heraus! So! Schieben wir die Riegel wieder vor. Setzen Sie sich auf diese Kiste, und erzählen Sie uns, wie es der Alte angefangen hat, Sie herabzulocken!«

»Zunächst die Frage: Kennen Sie diese Räumlichkeiten alle?«

»Ja.«

»Und auch den Zweck, zu welchem sie gebraucht werden?«

»Sehr genau.«

»Gut, so werde ich keine Sünde begehen, wenn ich davon spreche.«

Er erzählte nun, wie er gestern dem Alten im Walde begegnet sei und was darauf Alles geschehen war. Als er zu Ende war, fragte er dann: »Welchem Umstande habe ich nun aber diese so unerwartete Befreiung zu verdanken?«

Müller klärte ihn darüber auf und erkundigte sich dann angelegentlichst: »Was werden Sie nun tun, Master?«

»Ich gehe natürlich direkt von hier aus zum Staatsprocurator, um diesen Satan in Ketten schlagen zu lassen!«

»Vielleicht tun Sie das doch nicht.«

»Nicht?«, stieß der Amerikaner hervor. »Halten Sie mich für wahnsinnig? Soll ich so einem Teufel etwa noch gar eine öffentliche Belobung zu Teil werden lassen?«

»Das nicht. Aber ich werde Sie bitten, die Anzeige aus Rücksicht auf mich zu unterlassen.«

»Jede Bitte will ich Ihnen erfüllen, jede, jede, aber nur diese eine nicht! Er hätte mich verschmachten lassen, und ich wäre auch wirklich verschmachtet, denn selbst die Qualen einer Hölle hätten mich nicht zwingen können, ihn in den Besitz der verlangten Summe zu bringen.«

»So werde ich Ihnen die Gründe mitteilen, welche mich zu meiner Bitte bewegen. Diese werden Sie wenigstens anhören.«

»Das kann ich Ihnen nicht versagen.«

»Ich danke! Sie ahnen nicht, was ich in diesem Augenblicke wage, Monsieur. Ich spiele va banque, aber ich weiß, dass Sie ein Ehrenmann sind, der mein Vertrauen nicht zu missbrauchen vermag. Sie sind ein Franzose und lieben Ihr Volk und Ihr Vaterland?«

»Ich liebe mein Vaterland; aber die Erfahrungen, welche ich gegenwärtig mache, sind nicht geeignet, mich an meine Landsleute zu ketten.«

»Sie haben gesagt, dass Sie die Deutschen hassen?«

»Zu wem?«

»Zu diesem da.« Er ließ den Lichtschein auf Fritzens Gesicht fallen.

»Ah, der Pflanzensammler!«, sagte der Amerikaner erstaunt. »Sie, Sie kommen, mich zu befreien?«

»Warum soll er das nicht? Er wird noch mehr für Sie tun, wie Sie bald erfahren werden. Lernen Sie erst die Deutschen kennen. Auch ich bin einer.«

»Auch Sie?«, fragte Deep-hill, indem er einen Schritt zurücktrat. »Wirklich, auch Sie?«

»Ja. Sie verzeihen, dass ich Ihnen das nicht früher sagte! Die Umstände gestatteten das nicht.«

»Aber, mein Gott, diese Dame, Miss Harriet de Lissa?«

»Ist meine Schwester.«

»Also auch eine Deutsche?«

»Ja.«

»Was höre ich da! Das ist ja – ah!«

Er holte tief, tief Atem. Wäre es heller gewesen, hätte man sehen können, dass beinahe Todesblässe sein Angesicht bedeckte. Müller legte ihm beruhigend die Hand auf die Achsel und sagte: »Bitte, urteilen Sie nicht jetzt, sondern nachher! Fritz, gehe vor an die Tür und passe auf, dass wir nicht überrascht werden. Hörst Du Schritte, so kommst Du sofort zurück!«

»Ein Deutscher! Sie ein Deutscher!«, wiederholte Deep-hill. »Und das sagen Sie mir hier, hier an diesem Orte, an welchem Ihre Feinde den Tod, welcher Ihr Volk treffen soll, in solcher Ausdehnung vorbereiten! Wenn das der alte Kapitän wüsste!«

»Nur Gott lenkt die Geschicke der Völker; den Kapitän fürchten wir nicht. Bitte, setzen Sie sich mir gegenüber, und hören Sie mir zu!«

Der Amerikaner setzte sich und Müller begann mit halblauter Stimme zu erzählen von seinem Großvater Hugo und seiner Großmutter Margot. Er erzählte weiter und weiter, Alles was seine Familie erlitten und erduldet hatte. Er nannte den Namen Königsau nicht, aber den Namen des Kapitäns nannte er.

Deep-hill hörte wortlos zu und selbst als die Erzählung zu Ende war, schwieg er noch eine ganze Weile; dann sagte er leise vor sich hin: »Schrecklich! Kann es wirklich solche Menschen geben?«

»Gewiss! Sie haben das ja selbst an sich erfahren.«

»Ich?«

»Ja. Hat man nicht ein heißgeliebtes Weib und zwei herzige Kinder von Ihrer Brust gerissen? Der das tat, war ein Franzose, Ihr eigener Vater, und Ihr Weib, welches mit allen Lebensfasern an Ihnen hing, war eine Deutsche.«

»Sie irren! Sie liebte mich nicht; sie war mir nicht treu. Sie verließ mich schamlos eines Buhlen wegen!«

»Das ist Lüge!«

»Das denken Sie, aber beweisen können Sie es nicht. Warum hat sie sich nicht von mir finden lassen? Ich habe sie gesucht an allen Orten, bis auf den heutigen Tag. Wo ist sie? Wo sind meine Kinder? Sie ist es selbst gewesen, die sich mir geraubt hat, sich und meine Kinder. Mein ganzes Vermögen würde ich opfern, um nur meine Kinder zu sehen! Wo sind sie, wo?«

»Halten Sie Ihr Weib wirklich dessen fähig, sie, die Sie einst nicht anders nannten als »mon doux et aimé becquefleur«?«

Da fuhr Deep-hill von seinem Sitze auf und fragte: »Herr, woher wissen Sie das?«

»Warten Sie einen Augenblick!«

Er holte den von Schneffke gemalten Frauenkopf und gab das Blatt dem Amerikaner.

»Lesen Sie und sehen Sie!«, sagte er, indem er das Licht der Laterne auf die Zeichnung fallen ließ.

Der Blick des Amerikaners fiel auch darauf. Seine Hände begannen zu zittern; ein tiefer, tiefer Atemzug hob seine Brust, ganz als ob seine Lunge zerspringen wolle. »Amély, Amély!«, sagte er dann. »Ja, es ist Amély, mein Kolibri! O Gott, o Gott!«

Er ließ das Blatt aus den Händen fallen und brach selbst beinahe in sich zusammen. Er vermochte nicht, ein plötzliches, gewaltig hervorbrechendes Schluchzen zu unterdrücken.

Müller verhielt sich ruhig. Endlich raffte Deep-hill das Blatt wieder auf und fragte: »Lebt sie noch?«

»Nein; aber sie hat ihre Rechtfertigung hinterlassen!«

»Haben Sie sie gekannt?«

»Nein. Nur der Zufall hat mir dieses Blatt in die Hand gegeben. Das und das Weitere werden Sie dort von meinem Diener erfahren.«

»Ihr Diener? Ah! Sie selbst sind der Sohn jener Familie, von welcher Sie erzählten?«

»Ja, Sie raten richtig.«

»Und Sie sind gekommen, sich an dem Kapitän zu rächen?«

»Nein. Ich überlasse Gott die Rache; aber ich tue meine Pflicht. Werden Sie mir vielleicht dabei Hindernisse bereiten, Monsieur Guston de Bas-Montagne?«

»Wie? Sie kennen meinen Namen?«

»Natürlich, da ich nicht nur das Bild Ihrer Frau besitze, sondern auch – sind Sie stark genug, es zu hören?«

»Was?«

»Ihre Kinder –«

»Meine Kinder? Gott, o Gott! Sagen Sie, sagen Sie, leben Sie noch?«

»Ja.«

»Wo, wo? Schnell, schnell!«

»Wenn Sie es wünschen, können Sie sie heute noch sehen.«

»Natürlich, natürlich wünsche ich es! Mein Gott! Meine Kinder am Leben! Ich soll sie sehen! Welch eine Seligkeit! Sagen Sie, Herr Doctor, wo befinden sie sich denn?«

»Hm!«, lächelte Müller. »Sie haben sie vielleicht bereits gesehen, eine der Schwestern aber ganz gewiss.«

»Wo? Wo denn?«

»Hier in der Nähe. Jedenfalls können Sie sich auf ihre Frau Gemahlin besinnen?«

»Sehr gut, sehr gut! Sie steht noch ganz lebensvoll in meinem Gedächtnisse.«

»Auch ihre Züge?«

»Ja, ja. O, dieses liebe, milde, zarte, freundliche Angesicht habe ich doch nicht vergessen können!«

»Nun gut! Ist Ihnen hier nicht vielleicht eine Dame begegnet, welche Ihrer verstorbenen Frau ähnlich ist?«

»Doch, o doch! Ich war ganz frappiert über die Ähnlichkeit.«

»Wer war es?«

»Fräulein Nanon. Ich wiederhole, dass ich beim Anblicke dieser jungen Dame fast bestürzt war; aber –«

»Was aber?«

»Ich erkundigte mich nach ihrem Namen. Er lautete Charbonnier. Die Ähnlichkeit musste also eine ganz zufällige sein.«

»Haben Sie sich auch nach ihren Familienverhältnissen erkundigt, Herr Deep-hill?«

»Ja. Sie ist eine Waise.«

»Aus?«

»Aus Schloss Malineau in der Gegend von Etain.«

»Aber Sie erfuhren doch auch, dass sie eine Schwester hat?«

»Ja. Ich bin mit dieser Schwester gefahren. Sie befand sich mit Ihrer Fräulein Schwester im Coupee.«

»Und die Züge von Fräulein Madelon sind Ihnen nicht aufgefallen? Die beiden Schwestern sehen sich ja außerordentlich ähnlich.«

»Madelon trug im Coupee Halbschleier.«

»Aber auffallen muss Ihnen doch wenigstens jetzt nun, dass es zwei Schwestern gibt, welche Waisen sind, ihren Vater nicht gekannt haben und eine so große Ähnlichkeit mit Ihrer Frau besitzen!«

»Allerdings. Aber – wollen Sie etwa sagen, dass Nanon und Madelon meine Kinder sind?«

»Ja, sie sind es.«

»Mein Gott! Wirklich?«

»Es ist gar kein Zweifel möglich!«

»Aber wie wollen Sie das beweisen? Die bloße Ähnlichkeit ist noch kein Beweis.«

»Das ist wahr. Aber dort mein Diener wird im Stande sein, Ihnen weitere Aufklärungen zu geben.«

»So kommen Sie, schnell, schnell! Wir gehen sofort nach Schloss Ortry, wo ich die Kinder treffen werde.«

Es war eine leicht zu erklärende Eilfertigkeit über ihn gekommen. Er wendete sich, um schnell zu gehen; Müller aber hielt ihn zurück und sagte: »Halt, nicht so rasch! Denken Sie wirklich daran, jetzt nach Ortry zu gehen?«

»Gewiss! Natürlich!«

»Und der alte Kapitän?«

»Was frage ich jetzt nach ihm!«

»Was Sie betrifft, so ist es freilich begreiflich, dass Sie jetzt an nichts Anderes denken, als Ihre Kinder zu finden; aber ich bitte dringend, auch auf mich Rücksicht zu nehmen.«

»Wieso?«

»Ich möchte ein Zusammentreffen zwischen Ihnen und dem Kapitän jetzt noch vermeiden.«

»Warum?«

»Aus naheliegenden Gründen, welche mir ganz außerordentlich wichtig sind, obgleich wir sie jetzt nicht zu erörtern brauchen. Mir ist jetzt das Allerwichtigste die Frage, wie Sie sich in Bezug auf den Kapitän zu verhalten gedenken.«

»Wegen der Anzeige?«

»Ja.«

»Nun, angezeigt wird er. Seine Strafe muss er leiden. Ich lasse mich nicht zum Zwecke der Beraubung von ihm einsperren.«

»Wenn ich Sie nun ersuche, von dieser Anzeige jetzt noch abzustehen?«

»Aus welchem Grunde aber?«

»Ich habe Ihnen bereits eine Andeutung gegeben. Es sind in diesen unterirdischen Gewölben noch Menschen eingesperrt, welche ihre Lebensbedürfnisse nur durch den Kapitän erhalten. Wenn er arretiert wird und nichts von ihnen gesteht, müssen sie elend verkommen und verschmachten.«

»So muss man ihn zum Geständnis bringen!«

»Wodurch?«

»Durch Zwang.«

»Welchen Zwang meinen Sie? Die Zeiten der Tortur sind glücklicherweise vorüber.«

»So muss man, sobald man ihn eingesperrt hat, nach diesen Unglücklichen schleunigst suchen!«

»Meinen Sie, dass man sie finden wird, ehe sie verschmachtet, verhungert und verdurstet sind?«

»Halten Sie dieses Nachforschen für so schwer?«

»Gewiss. Bedenken Sie, dass sich jedenfalls auch mein Vater unter ihnen befindet!«

»Dann möchte ich allerdings Ihren Wunsch berücksichtigen.«

»Und noch Eins, was ich Ihnen als Ehrenmann ja wohl nicht zu verheimlichen brauche: Es gibt noch gewisse andere Gründe, welche es mir wünschenswert erscheinen lassen, dass der Alte jetzt noch frei bleibt.«

»Politische?«

»Auch mit.«

»Hm! Ich verstehe und werde Sie natürlich nicht verraten. Zeige ich den Kapitän an, so müssen Sie als Zeuge dienen. Er aber soll jetzt noch nicht wissen, dass Sie sein Feind sind.«

»So ist es, Herr Deep-hill. Also –?«

»Gut! Ich stehe jetzt noch von einer Anzeige ab. Aber nach Ortry muss ich dennoch, um meine Töchter zu sehen!«

»Das ist nicht notwendig. Fritz Schneeberg mag Sie zu meiner Schwester führen, welche sich wegen Ihres Verschwindens bereits in großer Besorgnis befand.«

»Wirklich?«, fragte der Amerikaner rasch.

»Ja. Ich ging zu ihr, um mich zu erkundigen, ob Sie vielleicht bei ihr gewesen seien. Ihr Erscheinen wird sie beruhigen. Dann führe ich Ihnen Ihre Töchter zu.«

»Werden sie von Ortry fort können?«

»Wer will sie halten?«

»Der Alte!«

»O, der ahnt ja nichts. Also gehen wir! Vorher aber wollen wir dafür sorgen, dass hier keine Spur meiner Anwesenheit zu finden ist.«

»Tun Sie das! Vorher aber noch Eins, mein bester Herr Doctor! Sie haben mir nicht nur die Freiheit wiedergegeben, sondern Sie haben mir sogar das Leben gerettet. Ich hätte die Sonne nie wieder gesehen. Sie können versichert sein, dass ich Ihnen das nicht vergessen werde. Ich bleibe Ihr Schuldner für die ganze Lebenszeit. Verfügen Sie über mich ganz nach Ihrem Belieben!«

Müller warf ihm einen ernsten, forschenden Blick zu und fragte dann sehr langsam und mit Nachdruck: »Wirklich nach Belieben?«

»Ja.«

»Wissen Sie, was das heißt? Haben Sie auch an die Tragweite dieses Wortes gedacht?«

»Gewiss!«

»Nun, was mich betrifft, das heißt, meine Person, so haben Sie allerdings nicht die geringste Verbindlichkeit. Ich adressiere Ihre Dankbarkeit dort an Den, den ich jetzt meinen Diener nenne, und an noch Einen, den Sie wohl noch kennen lernen werden. Dennoch aber sehe ich voraus, dass ich gezwungen sein werde, Sie mit Bitten zu belästigen. Werden Sie diese berücksichtigen, so sind Sie nicht mein Schuldner, sondern ich bin der Ihrige.«

»Bitten, welche mit Ihrer vermutlichen Mission hier in Beziehung stehen?«

»Ja.«

»Ich werde sie erfüllen.«

»Aber Sie sind Franzose!«

»Und Sie sind Deutscher. Ich hasste die Deutschen. Ich kam, um das Meinige zu ihrem Nachteile beizutragen. Aber ich denke jetzt bereits ganz anders, Herr Doctor. Betrachten Sie mich immerhin als Ihren Schuldner! Und nicht nur als das, sondern auch als Ihren Freund. Sie können versichert sein, dass ich nichts tun werde, was Ihnen bei der Erfüllung Ihrer Pflichten hinderlich sein könnte.«

»Ich danke Ihnen! Ich halte Sie für einen Ehrenmann, fühle mich aber dennoch durch Ihre Versicherung doppelt beruhigt, wie ich Ihnen aufrichtig gestehe.«

»Und noch Eins, Herr Doctor. Wer ist dieser Zweite, von dem Sie vorhin sprachen?«

»Dem Sie Dank schulden?«

»Ja.«

»Ein Maler, welcher sich jetzt in der Gegend von Thionville befindet.«

Das fiel dem Amerikaner auf. Er fragte: »Er ist also nicht von hier?«

»Nein.«

»Wohl ein kleiner, dicker Kerl?«

»Ja.«

»Mit Calabreserhut und goldener Brille?«

»Allerdings.«

»Ah, den kenne ich, wenn Sie nämlich diesen sogenannten Hieronymus Aurelius Schneffke meinen.«

»Den meine ich allerdings.«

»Ihm bin ich Dank schuldig?«

»Ja, sogar sehr großen, wie Sie jedenfalls recht bald erfahren werden.«

»Oh weh!«

»Was?«

»Ich bin mit ihm zusammengeraten.«

»Weshalb?«

»Einer Kleinigkeit wegen. Mein verteufeltes Temperament! Ich bin nämlich ungemein hitzig, Herr Doctor!«

»Das lässt sich bei einiger Mühe und Aufmerksamkeit wohl ändern. Doch kommen Sie jetzt! Dieser Ort ist nicht zum Verweilen einladend. Und was wir noch zu besprechen haben, dazu wird ja später Zeit.«

Sie gingen.

Draußen im Freien angekommen, gab Müller Fritz den Befehl, in der Stadt sofort nach dem Maler zu suchen und ihn zum Apotheker zu führen. Dann trennten sie sich.

Müller wendete sich der Richtung des Schlosses zu. Da er auf den gebahnten Pfaden einen Umweg gemacht hätte, so drang er in gerader Richtung mitten durch den Wald. Er war noch gar nicht weit gekommen, so blieb er stehen. »Was war das?«, dachte er, indem er lauschte.

Es war ein eigentümlicher Ton, welcher sich jetzt wieder hören ließ, an sein Ohr gedrungen. »Was mag das sein? Die Stimme eines Tieres? Das ist ein Brummen oder Blöcken, wie ich es noch gar nicht gehört habe – so dumpf, verworren und tief!«

Er horchte weiter. Der Ton ließ sich zum dritten Male vernehmen.

»Dieser Laut lässt sich nicht unter die Tierstimmen registrieren. Das ist keineswegs etwas Gewöhnliches. Wollen einmal sehen!«

Er ging dem Schalle nach und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um zu horchen. »Wahrhaftig, das ist ein Mensch! Er ruft in zwei Sprachen, deutsch und französisch, wie aus der Erde heraus.«

»Holla!«, rief er laut. »Wer ist hier?«

»Vorwärts, vorwärts!« klang es als Antwort.

»Wohin denn?«

»Zu mir!«

»Ja, wo sind Sie denn?«

»Donnerwetter! Im Loche!«

»Und wo ist das Loch?«

»Sehen Sie es denn nicht?«

»Nein.«

»Mohrenelement! Es ist tief genug. Sie müssen doch an meiner Stimme hören, wo ich stecke.«

»Jedenfalls in der Erde. Aber gerade deshalb täuscht der Schall. Rufen Sie noch einmal, aber lauter.«

»Me voilâ - ici, ici! Hier, hier!«, brüllte es.

»Schön! Jetzt wirds deutlicher. Rufen Sie weiter.«

Er ging langsam, um sich nicht zu täuschen, dem Schalle nach, schien sich aber doch von dem Orte, den er suchte, zu entfernen.

»Lauter!« befahl er.

»Hier! Hier! Oder soll ich etwa singen?«

»Ja, singen Sie!«, lachte Müller.

»Schön!«, klang es ihm dumpf und hohl entgegen.

Aber dann erscholl es, wie aus einem Grabe heraus, aber bei jedem Schritte, den er tat, deutlicher:

»Mein Lieb ist eine Alpnerin,

Gebürtig aus Tyrol.

Sie trägt, wenn ich nicht irrig bin,

Ein stattlich Camisol!«

»Halt! Aufhören!«, gebot Müller. »Ich bin da!«

»Gott sei Dank!«, antwortete es.

Müller stand nämlich vor einer grünen, dichtmoosigen Stelle, in deren Mitte ein kleines Loch zu sehen war. Dieses Letztere hatte kaum den Durchmesser einer halben Elle. War hier wirklich ein Mann hinabgestürzt? In diesem Falle musste die eigentliche Öffnung weiter sein und wurde von dem elastischen Moose trügerisch versteckt. Darum ging er nicht weiter, sondern er blieb in vorsichtiger Entfernung vor dem Loche halten.

»Sind Sie hier hinab?«, fragte er.

»Ja.«

»Das ist doch kaum möglich!«

»Warum?«

»Ihrer Stimme nach sind Sie kein Kind, und für einen Mann ist das Loch zu klein.«

»Nein, ein Kind bin ich nicht, und dick bin ich auch genug, für zwei Männer. Aber dennoch bin ich hier herab.«

»Gestürzt?«

»Gestiegen nicht, Sie Esel!«

»Aha! Ist es tief?«

»Freilich!«

»Wie tief denn?«

»Na, ich kann mich täuschen. Hier unten ist es finster, und wenn ich emporblicke, sehe ich des Mooses halber auch nur einen halbdusteren Fleck. Dreimal Mannestiefe wird es wohl betragen.«

»Sind Sie aus Versehen hinab?«

»Aus was sonst? Etwa aus Übermut, um das Genick zu brechen, he?«

»Nein«, antwortete Müller, welchem die kräftige Weise des Unbekannten Spaß machte. Dieser hatte sich jedenfalls keinen Schaden getan, und so war kein Grund zur Angst und Besorgnis vorhanden.

»Oder«, rief es von unten herauf, »halten Sie mich vielleicht für einen Regenwurm, der sich in die Erde bohrt, um von den Maulwürfen gefressen zu werden? Kommen Sie herunter, so werden Sie sehen!«

»Was denn?«

»Ob ich Ähnlichkeit mit einem Wurme habe!«

»Das werde ich zu sehen bekommen, wenn Sie wieder herauf sind.«

»Schön! Aber wie komme ich hinauf?«

»Können Sie klettern?«

»Ja, wie eine Katze.«

»Nun, so ist es ja leicht.«

»Wieso denn?«

»Machen Sie es wie ein Essenkehrer – schieben Sie sich mit Hilfe des Rückens und der Kniee empor!«

»Schöner Rat! Was denken Sie denn?«

»Geht das nicht?«

»Nein! Absolut nicht!«

»Warum nicht?«

»Erstens bin ich zu schwer, und zweitens ist das Loch viel zu weit für so eine Essenkehrermanipulation.«

»Wie aber wollen Sie sonst in die Höhe kommen?«

»Holen Sie gefälligst eine Leiter!«

»Schön! Da müssen Sie aber eine tüchtige Weile warten. Eine Leiter kann ich nur auf dem Schlosse bekommen.«

»Donnerwetter! Das machte ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Hm! Das kann ich nicht einem Jeden sagen! Wer sind Sie denn eigentlich?«

»Zunächst möchte ich Sie fragen, wer Sie sind.«

»Ein Pole.«

»Ah! Was denn?«

»Maler.«

»Maler? Sapperment! Wie heißen Sie?«

»Schneffka.«

»Schneffka? Ah, das ist hochinteressant!«

»Hochinteressant? Sie dummer Kerl! Mir kommt es in dieser Mördergrube nicht sehr interessant vor!«

»Natürlich heißen Sie Hieronymus Aurelius?«

»Sapperment! Sie kennen mich?«

»Habe die Ehre!«

»Woher denn?«

»Ich bin Doctor Müller.«

»Doctor Müller? Juchhei! Das ist der Richtige! Das ist Der, den ich hier ganz allein gebrauchen kann.«

»Warum?«

»Hier gibt es Geheimnisse.«

»Wirklich? Welche denn?«

»Das Loch ist nicht von ungefähr. Es ist mit Fleiß gemacht, ganz künstlich. Ein breites, tiefes Loch. Oben darauf Knüppel gelegt, darauf Erde und diese Erde mit Moos bepflanzt. Die Knüppel müssen an der Stelle, wo ich durchgebrochen bin, verfault sein. Das ganze Ding ist so eingerichtet wie eine Grube in den indischen Dschungeln, um Tiger zu fangen.«

»Dieses Mal ist es kein Tiger!«

»Etwa ein Rhinoceros?«

»Will es nicht in Abrede stellen.«

»Hole Sie der Teufel!«

»Schön!«

»Vorher, ehe er Sie holt, holen Sie mich aber fein hübsch hinauf!«

»Das geht am Besten mit Hilfe einer Leiter. Warum aber soll ich die nicht vom Schlosse holen?«

»Wegen des alten Kapitäns.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Er darf nicht wissen, dass Einer hier hereingestürzt ist.«

»Warum nicht?«

»Weil es, wie gesagt, hier Geheimnisse gibt. Ich stecke nämlich nicht in einem gewöhnlichen Loche, sondern hier ist ein Gang oder Stollen mit Türen rechts und links.«

»Sapperment! Da darf der Alte allerdings kein Wort erfahren. Drei Männer tief? Hm! Wie stellt man das an, Sie heraufzubringen? Soll ich herunterkommen, um Sie zu heben?«

»Wollen Sie sich auf diesen Kalauer Etwas einbilden?«

»Gar nichts. Aber wenn Sie sich zehn Minuten gedulden wollen, so habe ich Hilfe.«

»Was für welche?«

»Es sind unweit von hier Bäume gefällt worden, junger, dreißigjähriger Wuchs. Ich hole einen Stamm.«

»Stecken ihn in das Loch?«

»Ja.«

»Schön! Laufen Sie!« Müller entfernte sich. Er war an dem Holzschlage vorübergekommen. Dort angelangt, fand er einen Stamm, welcher von den Ästen befreit und stark genug war, den dicken Maler zu tragen. Er nahm ihn auf die Achsel und trug ihn zurück. Wieder beim Loche angekommen, untersuchte er sehr sorgfältig den Boden, um nicht selbst einzubrechen. Dann ließ er den Stamm hinabrutschen.

»Ah! Sakkerment!«, schrie es unten.

»Was gibts?«

»Tun Sie doch das Maul auf, ehe Sie mich anspießen oder zerstampfen.«

»Ich dachte, Sie merkten es ganz von selbst. Wird es gehen auf diese Weise?«

»Will's versuchen.«

Müller hörte ein Stöhnen und Pusten, dann erscholl es aus der Tiefe herauf: »Das ist doch eine ganz verfluchte Patsche, in die ich da geraten bin.«

»Wieso?«

»Es will nicht gehen.«

»Ich denke, Sie können klettern!«

»Gewiss! Aber der Baum dreht sich immer um sich selbst herum. Ich bin doch nicht hier herabgerutscht, um Reitschule oder Caroussel zu treiben!«

»So gibt es nur ein Mittel: Ich halte den Stamm.«

»So brechen Sie durch!«

»Nein. Die künstliche Decke hält doch fester, als ich dachte. Noch besser aber wird es sein, ich komme auch einmal hinab.«

»Dann stecken wir Beide in der Tinte.«

»Keine Sorge! Bin ich unten, so kann ich schieben, und Sie kommen viel leichter herauf.«

»Na, da versuchen Sie es!«

»Treten Sie auf die Seite.«

»Bin es schon!«

Müller umfasste zunächst mit den Händen den Stamm, schlang dann auch die Beine um denselben und rutschte hinab.

Müller war leichter hinab gerutscht als er sich gedacht hatte.

»Da bin ich!«, sagte er, als er den Boden unter seinen Füßen fühlte.

»Station Hölle! Fünf Minuten Aufenthalt!«, verkündete Herr Hieronymus Aurelius Schneffke.

»Vielleicht auch etwas länger.«

»Habe keine Lust dazu!«

»Befinde ich mich einmal hier, so will ich doch auch genau wissen, wo ich bin.«

»Dazu gehört eine Laterne.«

»Habe ich.«

»Sapperment! Sie scheinen Tag und Nacht bereit zu sein, als Einbrecher einzusteigen.«

»Man muss hier stets au fait sein. Aber, Herr Schneffke, was treiben Sie im Walde?«

»Studien.«