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Die sogenannten "Münchmeyer"-Romane, fünf Fortsetzungsromane, die der Schriftsteller Karl May zwischen 1882 und 1888 für den Dresdner Verlag H. G. Münchmeyer verfasste, gelten allgemein als Tiefpunkt von Mays Schaffen. Dennoch handelt es sich um hochinteressante Zeitdokumente. - "Die Liebe des Ulanen. Ein Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges" wurde zwischen September 1883 bis Oktober 1885 in 107 Lieferungen und 1.724 Seiten in der Zeitschrift "Deutscher Wanderer" veröffentlicht. Bei der vorliegenden Bearbeitung handelt es sich um eine freie Nacherzählung. Sie überträgt den Text in aktuelles Deutsch und moderne Rechtschreibung, behält aber den ursprünglichen Aufbau in wöchentlichen Lieferungen und, wo immer möglich, die von May gewählte inhaltliche Struktur bei. - Der Original-Text ist nachzulesen auf den Webseiten der Karl-May-Gesellschaft oder beim Projekt Gutenberg.
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Seitenzahl: 68
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Müller gönnte sich dieses wonnige Gefühl für einige Sekunden, ehe er sich zu einer Antwort durchrang.
»Ich danke Ihnen für Ihre Güte, Mademoiselle! Als Mann von Ehre hatte ich den Obersten zu fordern, aber er ist der Gast des Hauses, dessen Diener ich gegenwärtig bin.«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte sie in sehr bestimmtem Ton. »Kennen Sie den Großpapa?«
Zu gut, viel zu gut, viel besser, als ich wollte! - Aber das konnte Müller natürlich nicht sagen. »Das ist nach so kurzer Zeit noch kaum möglich.«
»Wobei ich Ihnen anhöre, dass Sie sich schon eine Meinung von ihm gebildet haben – und wie sollten Sie auch nicht. Lassen Sie mich Ihnen nur sagen, dass mein Großvater selbst ein leidenschaftlicher Fechter und Schütze ist. Einem Kampf zuzusehen, ist seine liebste Passion. Hätten Sie den Obersten gefordert, so hätte Großpapa Ihnen das gewiss nicht übel genommen. Ich bin im Gegenteil überzeugt, dass er fest damit gerechnet hatte und Ihnen von Herzen gern sekundiert – o, mein Gott!«
Dieser Ruf galt einem besonders grellen Blitz, der, fast zeitgleich begleitet von einem gewaltigen Donnerschlag, das ganze Felsengewirr vor dem Turm taghell erleuchtete. Der Blitz musste in unmittelbarer Nähe niedergefahren sein, vielleicht in einen der Fischteiche im nächsten Dorf. Und in seinem Licht war deutlich eine hohe, weiße Gestalt zu erkennen gewesen, die sich dem Turm näherte. Selbst als der Blitz erloschen war, sah man den langen weißen Fleck durch das Dunkel immer näher kommen, langsam, mit Bewegungen von unwirklicher Erhabenheit und ohne jede Hast inmitten des strömenden Regens, als sei diese Gestalt tatsächlich ein überirdisches Wesen, dem die elementaren Gewalten der Erde nichts anzuhaben vermochten.
Marion war bis in die Mitte des Turms zurückgewichen, jetzt fasste sie voll Entsetzen nach Müllers Arm.
»Liama, der Geist meiner Mutter!« Sie starrte hinaus in den Regen mit einem Ausdruck tiefsten Grauens im schönen Gesicht, drängte sich in den schmalen Raum hinter der Treppe und zog Müller mit sich. Von dort konnte dieser den vermeintlichen Geist kaum noch sehen, aber wenn er um die Ecke lugte, glaubte er doch zu erahnen, wie etwas Weißes durch und über die Felsen schwebte, immer näher, genau auf den Turm zu, und es kam aus der Gegend des Grabs. Müller hielt sich wahrlich nicht für abergläubisch, konnte sich aber dem Eindruck, den dieses Wesen auf ihn machte, doch nicht völlig entziehen.
Und nun gar Marion! Soeben war sie noch eine selbstbewusste junge Frau gewesen, doch nun wurde sie in einem Wimpernschlag wieder zum Kind, zu einem ängstlich weinenden Mädchen, das um die tote Mutter klagte. Wie alt mochte sie gewesen sein, als ihre Mutter starb? Sie schmiegte sich fester und fester an Müller, bebend am ganzen Körper, so eng, dass er unwillkürlich den Arm um sie legte. Sie schien es gar nicht zu bemerken. Und als die unheimliche Gestalt jetzt den Eingang erreicht hatte, wendete sie sich ab, presste die Augen zusammen und barg den Kopf an Müllers Brust.
Unter diesen Umständen konnte Müller seinen ursprünglichen Plan, das vermeintliche Gespenst aufzuhalten und anzusprechen, nicht verfolgen. Oder vielleicht hätte er es gekonnt, hätte er die Baronesse von sich geschoben und wäre hinter der Treppe hervor getreten.
Aber so dringend war die Klärung dieser Frage wohl auch wieder nicht.
Unter der Tür wendete sich die Erscheinung um, so dass sie zurück zum Wald blickte, erhob beide Arme und rief mit tiefer, klangvoller Stimme:
»Allah, ia Allah! Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts.« So viel konnte Müller verstehen, dann verließen ihn die wenigen Arabisch-Kenntnisse, die er den Büchern seines Vaters entnommen hatte. Die Gestalt ließ die Arme sinken, betete jedoch weiter, bis sie mit einem letzten »Allah, ia Allah, akbar Allah!« dem Wald den Rücken zuwendete und tiefer ins Turmgemach trat, ohne die verängstigten Lauscher dort zu bemerken. Mit unhörbaren Schritten glitt sie die Stufen hinauf, die Müller und Fritz vor wenigen Minuten erst solche Schwierigkeiten bereitet hatten, und verschwand im oberen Stockwerk.
Und als ob ihre Worte Wunderkräfte besäßen, zuckte ein letzter Blitz vom Himmel, ein fürchterlicher Donnerschlag erscholl, und dann ward es still. Der Regen goss noch eine Minute lang hernieder, dann wurde er dünner und hörte auf. Die Helligkeit des Tages kehrte zurück. - War die fremdartige Erscheinung noch immer im oberen Teil des Turms?
Müller stand mit Marion noch an derselben Stelle, den Arm eng um sie geschlungen, und hätte sich am liebsten von dort auch nicht mehr fortbewegt. Besorgt schaute er auf sie hinunter. Sie war bleich, hielt die Augen geschlossen und regte sich nicht, sie schien einer Ohnmacht nahe.
»Marion!« flüsterte er leise. Und biss sich sofort auf die Lippen.
Dieses Wort erweckte sie. Es war ein unvorsichtiges, ein unverschämtes Wort, auf das er, der Fremde, der Hauslehrer, kein Recht hatte, schon gar nicht ihr, der Baronesse, gegenüber! Sie öffnete die Augen und schaute ihm von unten ins Gesicht, wurde sich da erst bewusst, wie eng sie sich an ihn geschmiegt hatte und wie kompromittierend diese Szene auf einen Beobachter wirken musste. Eine tiefe Röte verdrängte die Blässe aus ihrem Gesicht, sie ließ den Arm sinken, der sich an ihm festgeklammert hatte, und trat zurück, so dass auch er gezwungen war, seinen Arm von ihr zu nehmen.
»Wo ist sie hin?«, flüsterte sie.
»Nach oben.« Müller deutete zur Treppe.
»Lassen Sie uns fliehen!«, bat sie.
Er schüttelte den Kopf und raunte zurück: »Nein, bleiben wir. Warten wir ab, ob sie zurückkehrt! Oder glauben Sie wirklich, es sei ein Geist gewesen?«
»Ja«, antwortete sie einfach. »Der Geist meiner Mutter.«
»Geister erscheinen nicht des Tages. Geister werden auch nicht nass. Aber mir schien, dass der weiße Haik, den sie nach arabischer Sitte trug, vom Regen triefte. Und Geister beten doch nicht mit lauter Stimme die Worte des Koran.«
»Aus dem Koran waren diese Worte?« Sie warf einen Blick zur Treppe und schauderte.
»Ja, ich glaube, sie erkannt zu haben, ohne wirklich arabisch zu sprechen.«
»Meine Mutter war Muslimin«, gestand Marion. »Ich erinnere mich, die unverständlichen Worte gehört zu haben, als ich klein war, oft, jeden Abend und jeden Morgen. Bitte, Monsieur Müller, bringen Sie mich fort von hier! Ich zittere am ganzen Körper!«
Er sah es, es begriff es vielleicht sogar, aber nun war sein Forschergeist erwacht, und vielleicht auch der Wunsch, ihr einen weiteren Dienst erweisen zu können. »Und wenn es nun kein Geist war, Baronesse? Wenn es sich um ein Wesen aus Fleisch und Blut handelte? Sie sind doch eine moderne junge Frau!«
»Monsieur, bitte lästern Sie nicht! Lassen Sie uns gehen!«
»Bitte, bleiben Sie nur einen einzigen Augenblick hier! Ich werde ihr folgen. Ich will nur sehen, wo sie hingekommen ist.«
»Um Gottes willen, nein! Verlassen Sie mich nicht! Gehen Sie nicht fort von mir! Ich muss heim; ich muss zu Gott beten, damit er der Mutter die ewige Ruhe schenke. Kommen Sie!«
Sie packte seine Hand und zog ihn fort. Er hatte keine Wahl, als ihr zu folgen, besaß aber noch so viel Geistesgegenwart, im Vorbeihuschen Marions Schultertuch von der Treppe zu fischen, das dort noch immer vergessen auf der untersten Stufe lag. Der Geist musste glatt darüber weg geschritten sein, ohne es zu bemerken, oder es hatte ihn nicht interessiert. Und tatsächlich war es so, sah Müller, als er im hellen Licht der Baronesse das Tuch wieder umlegte. Deutlich sichtbar war auf dem Tuch der nasse Abdruck eines schmalen Fußes zu erkennen, umgeben von schwarzer Walderde und braunen Kiefernnadeln.
Eines ließ sich mit Sicherheit sagen: dieses Gespenst schwebte recht nah über dem gewöhnlichen Erdboden.
Als Müller ihr das Tuch umlegte, warf Marion unwillkürlich einen Blick zurück und deutete erschrocken nach der Zinne der Ruine. Dort oben stand die weiße Gestalt mit hoch erhobenen Händen, nach Osten gewendet, wo Mekka liegt, mit dem Stein der heiligen Kaaba. Man hörte die unverständlichen Silben ihres lauten Gebets herab schallen, dem Gewitter nach. Hinter ihr leuchtete im Westen die untergehende Sonne, und über ihr spannte ein Regenbogen seine herrlichen Farben auf. Müller hatte das Gespenst des Turms gesehen, aber das Geheimnis nicht berühren dürfen.
Kapitel 3. Ein Zauberer