Die Liebe des Ulanen. Lieferung 6 - Karl May - E-Book

Die Liebe des Ulanen. Lieferung 6 E-Book

Karl May

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Beschreibung

Die sogenannten "Münchmeyer"-Romane, fünf Fortsetzungsromane, die der Schriftsteller Karl May zwischen 1882 und 1888 für den Dresdner Verlag H. G. Münchmeyer verfasste, gelten allgemein als Tiefpunkt von Mays Schaffen. Dennoch handelt es sich um hochinteressante Zeitdokumente. - "Die Liebe des Ulanen. Ein Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges" wurde zwischen September 1883 bis Oktober 1885 in 107 Lieferungen und 1.724 Seiten in der Zeitschrift "Deutscher Wanderer" veröffentlicht. Bei der vorliegenden Bearbeitung handelt es sich um eine freie Nacherzählung. Sie überträgt den Text in aktuelles Deutsch und moderne Rechtschreibung, behält aber den ursprünglichen Aufbau in wöchentlichen Lieferungen und, wo immer möglich, die von May gewählte inhaltliche Struktur bei. - Der Original-Text ist nachzulesen auf den Webseiten der Karl-May-Gesellschaft oder beim Projekt Gutenberg.

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Seitenzahl: 58

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Die Liebe des Ulanen. Lieferung 6

»Monsieur Schneeberg! So sagen Sie doch etwas!«

Fritz wusste nicht, wie ihm geschah. Eine Grafenkrone? Und jene beiden schattenhaften Umrisse, jene Fremden, von denen er, seitdem er ein Kind gewesen war, heimlich geträumt hatte, seine Eltern – sie hatten plötzlich ein Gesicht erhalten! Wie sollte ein Mann das so schnell begreifen?

»Ich bitte um Verzeihung, Mademoiselle. Mir ist gerade, als hätte ich einen Schlag vor den Kopf bekommen. Ich kann es gar nicht fassen. Fünfundzwanzig Jahre habe ich dieses Ding da am Hals baumeln gehabt, und nie ...!« Er fasste sich. »Glauben Sie denn wirklich, diese beiden Herrschaften könnten meine Eltern sein, Mademoiselle? Kennen Sie die Dame vielleicht?«

»Leider nicht dem Namen nach, Monsieur«, antwortete Nanon. »Aber ich bin ganz sicher, ihr bereits vor Jahren in Paris begegnet zu sein und dabei mit ihr gesprochen zu haben. Und mit nur ein wenig Mühe wird es uns gewiss gelingen, ihren Namen zu erfahren.«

»In – Paris?« Fritz schüttelte den Kopf. »Aber das kann doch gar nicht sein. Wenn meine Mutter eine vornehme Französin wäre, wie käme ich denn in eine kleine Holzhackerhütte in … in der Schweiz?« Gerade noch rechtzeitig war ihm eingefallen, dass er gegenüber Nanon ja als Schweizer galt.

»Das wäre sogar sehr möglich, Monsieur Schneeberg!«, widersprach sie resolut. »Denn bei der Geschichte jener Dame waren mit fast völliger Sicherheit Böswilligkeit und Verbrechen im Spiel, und warum sollten Bosheit und Verbrechen ein Kind nicht auch über die Grenze schaffen, weit fort, um zu verhindern, dass die Eltern ihre Kinder wiederfänden?«

»Sie wollen andeuten, ich könnte geraubt worden sein? Und … Sie sprechen von Kindern, also mehr als einem?«

»Ja, Monsieur Schneeberg. Lassen Sie mich nur berichten. Ich habe Ihnen ja erzählt, dass die Tochter des Grafen Latreau mir und meiner Schwester viele Freundlichkeiten erwies. Dazu gehörte auch, dass Sie im Winter immer eine von uns nach Paris mitnahm, damit wir auch einmal in die Gelegenheit kommen sollten, zu tanzen und uns des Lebens zu freuen. Sie nahm im einen Jahr meine Schwester mit, im nächsten mich und so fort. Beide gleichzeitig hätte unser Pflegevater nämlich nicht fort gelassen.

Und in einem Jahr, als die Reihe an mir war, die Comtesse zu begleiten, besuchten wir eine Soiree, auf der ein junger Mann, der Sohn eines der Gäste, gemeinsam mit der Tochter des Hausherrn ein Duett sang. Er hatte eine wundervolle Stimme, die, um die Wahrheit zu sagen, als einzige den Vortrag erträglich machte. In meiner Nähe saß dabei eine sehr schöne Dame, die mir gleich aufgefallen war, da sie ganz in Schwarz gekleidet ging. Als das erste Lied geendet hatte und man den jungen Herrn um eine Zugabe bat, erhob sich diese Dame plötzlich von ihrem Stuhl und eilte nach draußen. Ich hatte es vielleicht als einzige bemerkt, da alles noch den jungen Mann umschwärmte, und da ich gesehen hatte, wie erschreckend bleich sie war und dass ihr Tränen über das Gesicht liefen, wagte ich, ihr nachzugehen.

Ich fand die Dame in einer Fensternische, das Taschentuch gegen die Augen gepresst. Als ich sie ansprach, war sie zunächst unangenehm berührt, aber als sie sah, wie jung ich war, noch ein Kind, und wie ängstlich besorgt ich sie musterte, da nahm sie meine Hand und gestand mir stockend, dass sie deshalb in Trauer gehe, weil sie selbst einmal zwei Söhne gehabt habe, Zwillingssöhne, die nun genau in dem Alter sein müssten wie der junge Herr, der gerade so schön gesungen hatte. Dessen Anblick habe ihr das ganze Ausmaß ihres Verlusts urplötzlich wieder zu Bewusstsein gebracht, so dass sie die Contenance verloren habe. Aber mir die Geschichte ihrer verschwundenen Kinder zu erzählen, beruhigte sie etwas, wie es oft guttut, sich einem Fremden gegenüber auszusprechen, und sie gewann ihre Fassung so weit zurück, dass Sie ihre Tränen trocknen, nach ihrem Wagen schicken und sich bei der Hausherrin unter dem Vorwand einer Unpässlichkeit entschuldigen konnte.«

Fritz lauschte andächtig. »Sie sprechen von verschwundenen Kindern. Die Zwillinge waren also nicht gestorben?«

»Nein, sie waren während einer Reise verloren gegangen, wohl in Folge eines Unfalls oder Unglücks. Die Eltern hatten einen abgelegenen Ort besuchen wollen und fürchteten, dass dieser Weg für die Säuglinge zu lang wäre mitten im Winter. Daher schickte man die Kinder wohl versorgt mit einem Schlitten und dem Gepäck voraus zum nächsten Rasthof. Dort jedoch kamen sie nie an; man fand den Schlitten später umgekippt im Schnee und von den Bediensteten keine Spur. Natürlich war man in Aufruhr und setzte alles in Bewegung, um eine Spur der Kinder zu finden. Zunächst glaubte man noch an ein Unglück, da die Kinder jedoch trotz eifriger und langer Suche nicht wiederzufinden waren, musste man bald schon zusätzlich ein Verbrechen befürchten. Jedoch war nie eine Lösegeldforderung gestellt worden, und so musste die Dame davon ausgehen, dass ihre Kinder inzwischen tot waren. Aber auch ihre kleinen Leichen seien nie gefunden worden. Dass niemand etwas über den Verbleib der Zwillinge in Erfahrung bringen konnte, sei doppelt verwunderlich, da ihre Kleidchen gezeichnet gewesen seien und jedes der Kinder den Zahn eines Löwen an einem feinen Goldkettchen am Hals getragen habe.« Sie hielt Fritz den Anhänger vor die Augen. »Solch einen Zahn, Monsieur Schneeberg!«

Er nahm den Zahn zwischen zwei Finger und musterte ihn, als habe er ihn noch nie gesehen. Und wie oft hatte er dieses Ding in Wahrheit betrachtet, diese einzige Verbindung zu einem Leben, das seines hätte sein sollen und das er nie kennengelernt hatte. In seinem Inneren tobte es, aber über die Lippen brachte er kein Wort. »Verzeihen Sie, Mademoiselle, wenn ich gerade stumm bleibe wie ein Fisch, aber das kommt alles so plötzlich. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht; ich wage ja kaum, zu hoffen! Vielleicht handelt es sich ja auch um einen Irrtum, eine Verwechslung … Den Ort, an dem die Kinder verloren gegangen sind, wissen Sie nicht zufällig?«

»Nein. Ich habe mit der Dame ja nur sehr kurz gesprochen, und sie war sehr bewegt. Ich hörte später in einem Gespräch, das sie beiläufig erwähnte, dass sie die Gattin oder Witwe eines preußischen Generals sei, doch das mag eine irrige Annahme gewesen sein, denn mir klang sie eher nach einer Französin.«

»Wenn Sie doch den Namen wüssten, Mademoiselle!«, stieß Fritz hervor.

»Ich werde ihn erfahren, ganz gewiss! Ich werde an Mademoiselle Ella schreiben, die noch in Paris ist, und sie wird ihn für uns in Erfahrung bringen.«

»Nach so langer Zeit? Sie sagten, Sie seien noch ein Kind gewesen, als sie die Dame trafen. Wer wird da jetzt überhaupt noch von ihr wissen?«

Sie lachte herzlich, fasste seine Hände und drückte sie. »Oh, Sie kennen ganz offensichtlich Paris nicht, Monsieur! Paris ist ein einziges Zirkuszelt voller schwatzender Klatschbasen, und die Hälfte dieser Basen sind Vettern! Ich bin ganz sicher, dass noch heute von dieser traurigen und mysteriösen Geschichte gesprochen wird, und gewiss findet sich irgend eine ältliche Dame, der über ihrer Handarbeit der Name jener schönen Dame einfällt.«

»Ich wollte es mir so sehr wünschen, Mademoiselle!«, gestand er stockend. »Wenn Sie wüssten, wie oft ich, seit ich denken kann, zu Gott gebetet habe um einen Hinweis, einen Fingerzeig, einen kleinen Wink, in welche Richtung ich zu suchen hätte. Und dabei trug ich den Fingerzeig jeden Tag um den Hals! - Aber ich will mir nicht zu viel wünschen«, fügte er hastig hinzu. »Ich glaube Ihnen, dass Sie sich sicher sind, Mademoiselle Nanon, aber eine Täuschung wäre ja dennoch möglich.«