Die Liebe eines Sommers - Judith Kinghorn - E-Book

Die Liebe eines Sommers E-Book

Judith Kinghorn

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Beschreibung

Eine starke junge Frau, die nie den Glauben an die Liebe verlor, und eine schicksalhafte Entscheidung in Zeiten des Krieges.

England, 1914: Die junge Pearl tritt als Kammerzofe in den Dienst der großzügigen Lady Ottoline. Für Pearl beginnt ein Leben voller Intrigen und Skandale, aber auch voller Glamour und Zuversicht. Sie lernt den charismatischen Maler Ralph kennen, und die beiden beginnen eine leidenschaftliche Affäre. Doch ihre Liebe steht unter keinem guten Stern. Denn Ralph ist verheiratet … Als er in den Krieg ziehen muss, ist unklar, ob er jemals zurückkehren wird. Pearl erkennt, dass es Zeit ist, ein großes Geheimnis mit Ottoline zu teilen – ein Geheimnis, das sie für immer aneinander binden wird …

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Seitenzahl: 516

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Autorin

Judith Kinghorn wurde in Northumberland geboren und ist schon seit ihrer frühesten Kindheit fasziniert von Büchern und dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Hampshire und lässt sich von ihrem alten viktorianischen Haus immer wieder zu neuen Geschichten inspirieren.

Von der Autorin bereits erschienen

Die Sommertänzerin · Das Erbe von Temple Hill · Die Rose von Eden Hall

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Judith Kinghorn

Die Liebe eines Sommers

Roman

Deutsch von Anja Schäfer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Echo of Twilight« bei BERKLEY, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Judith KinghornCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Angela KuepperUmschlaggestaltung: © www.buerosued.deUmschlagmotiv: © Lee AvisonJaB · Herstellung: samSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-22951-1V002
www.blanvalet.de

Für meinen Vater William

»Es werden Dinge geschehen, die uns niedertrampeln und durchbohren, aber ich werde weitermachen als etwas, das hier und da ist wie der Wind, etwas Unbesiegbares, etwas, das sich von der dunklen Welt und dem hellen Himmel nicht unterscheiden lässt, ein starker Bewohner der Unendlichkeit und Ewigkeit.«

EDWARD THOMAS

TEIL EINS

1

Erinnerungen sind unbarmherzig. Sie lauern flüsternd oder verschwiegen in finsteren Gräben und warten nur darauf, sich ins Niemandsland unserer Träume zu stehlen. Sie wissen, woran wir uns erinnern wollen und was wir zu vergessen hoffen. Und sie wissen: Gerüchte und unsere Vorstellungskraft werden alle Lücken schließen.

Doch ich wusste nur, was mir erzählt worden war.

Es war ein goldener Augustabend, als meine Mutter sich von allen Fesseln befreite. Der Fluss muss geschimmert haben, als sie hineinlief und unterging. Das Wasser muss ihren Schmerz gelindert und fortgespült haben. Als ihr Leben zu Ende ging, kurz bevor ihr Herz stehen blieb und die Flut sie stromaufwärts trieb, musste sie doch gewiss an mich gedacht haben? Denn es war derselbe goldene Abend, an dem ich geboren worden war.

Dass mein eigener Anfang und das Ende meiner Mutter zusammenfielen, ließ mich häufig rätseln, ob es einen fließenden Übergang gab, ob die Leidenschaft, die an jenem Tag ihre Sinne überflutet hatte, in mich hineingeströmt war, ob auch meinen Namen eines Tages niemand aussprechen würde. Aber Kitty versicherte mir, dass ich nicht so sei wie meine Mutter. Nicht meine Geburt habe ihr jeglichen Halt geraubt, sagte sie; eine uneheliche Liebschaft war ihr Verderben gewesen.

Kitty war meine Großtante und die Frau, die mich großzog. In einem Punkt – wie in den meisten anderen Punkten auch – hatte sie recht: Ich war nicht wie meine Mutter. Mit dreiundzwanzig Jahren hatte ich eine angesehene Stellung und war beinahe verlobt. Mit dreiundzwanzig hatte ich bereits in fünf verschiedenen Grafschaften gelebt und die vage Absicht, alle einmal durchzuprobieren, alle Grafschaften Englands. Es war das Wörtchen reisen in der Annonce, das verlockend klang – der Zeitpunkt war rein zufällig.

Nur ein paar Tage später setzte mich Mrs. Bart unter Tränen darüber in Kenntnis, dass sie bei ihrer Schwester einziehen werde. Selbstverständlich erwähnte ich ihr gegenüber nicht, dass ich mich bereits um eine neue Stelle beworben hatte. Ich erklärte ihr, wie leid es mir täte, und sie sagte, sie und Mr. Darcy seien ebenfalls sehr traurig. Das war eine glatte Lüge. Ich wusste, dass der inkontinente Mops mich genauso hasste wie ich ihn. Aber Mrs. Bart meinte, sie werde dafür sorgen, dass ich für alle Unannehmlichkeiten entlohnt werde, und versprach mir ein hervorragendes Arbeitszeugnis.

Mein Jahr bei der alten Dame war nicht vergeblich gewesen. Als wenig begüterte Witwe habe sie mich gerne »eingearbeitet«, wie sie sagte, und ihr Faible für Vortragskunst und französische Ausdrücke war nicht spurlos an mir vorübergegangen. Aber in Wahrheit war ich für Mrs. Bart mehr eine Gesellschafterin als eine Kammerdienerin gewesen oder vielleicht mehr noch eine Zuhörerin, denn sie mochte es, wenn ich den Erzählungen aus ihrem Leben lauschte. Sie sprudelten nur so aus ihr hervor, ohne zeitliche Einordnung, ohne Erklärung, bis sie am Ende ganz ruhig und still wurde und keine Worte mehr übrig waren – bis zum nächsten Tag, wenn ein Traum oder ein halb vergessener Gegenstand die nächste Welle an Erinnerungen auslöste, die sie ins Dorset ihrer Kindheit versetzte. Sie beschrieb alles so verzückt, dass ich an Enden und Anfänge denken musste, denn Mrs. Bart, die sich ihrem Ende näherte und den Kreis schloss, kehrte zu ihren Anfängen zurück.

Mrs. Bart gab mir Der diskrete Schatten, eine Art Handbuch für Kammerdienerinnen in Pamphletgröße, das sie in einem Antiquariat gefunden hatte. Abgesehen von der altmodischen Sprache und einigen überholten Gepflogenheiten entsprach es dem gesunden Menschenverstand, denn Ehrlichkeit, Taktgefühl und Anstand blieben die notwendigen Voraussetzungen jeder Dienstanstellung. Dem gesunden Menschenverstand entsprang auch der Ratschlag: Eine Kammerdienerin muss eine ordentliche Person sein, zudem habe sie freundlich und ruhig zu reden und gut lesen und schreiben zu können. Und obwohl mir anfangs der Titel gefiel und das Zitat, dem er entnommen war – Eine Kammerdienerin ist der diskrete Schatten ihrer Herrin – , empörte mich der darauf folgende Satz: Sie ist nur spärlich zu sehen oder zu hören. Ein diskreter Schatten, der nur spärlich zu sehen oder zu hören war, klang eher nach einem Geist als nach einer Bediensteten aus Fleisch und Blut.

Zum Vorstellungsgespräch im Londoner Empress Club an der Dover Street fuhr ich mit dem Zug. Er galt, wie ich von Mrs. B. erfuhr, als der renommierteste und erlesenste aller Damenclubs in London. Sie hatte mich ermahnt, an mein Zwerchfell und eine aufrechte Haltung zu denken, meinem Gegenüber in die Augen zu blicken und beim Sprechen zu atmen – ein … und aus … und ein … und aus … Und sie hatte mir eingeschärft, nicht in mein Londoner F zurückzufallen. Aber sie übertrieb; das Londoner F war bei mir nie ausgeprägt gewesen – anders als bei Stanley, der immer irritiert war, wenn ich ihn darauf hinwies. »Th, Stanley«, mahnte ich und schob meine Zunge vorn an die Zähne, wie Mrs. B. es mich gelehrt hatte. »Es heißt think und nicht fink.«

Es dauerte nur einen Augenblick, bis Lady Ottoline die Lobby betrat, nachdem sie über mein Kommen benachrichtigt worden war. Lächelnd reichte sie mir die Hand. »Ottoline Campbell.«

»Pearl Gibson, Eure Ladyschaft.«

Ich war mit der korrekten Etikette nicht völlig vertraut, deutete aber einen leichten Knicks an. Ich hielt ihn bei der Begrüßung einer Dame von Stand für angemessen. Und die Geste schien sie zu freuen, denn ihr Lächeln wurde weicher, und sie sagte: »Welch überaus hübscher Hut.«

Als ich ihr erzählte, dass ich jede einzelne Seidenkirsche eigenhändig genäht hatte, klatschte Lady Ottoline in die Hände und hob die Augenbrauen: »Ach, dann können Sie ja gut mit der Nadel umgehen. Das ist beruhigend zu wissen.«

Sie war groß und hübsch, hatte eine glatte blasse Haut und mandelförmige braune Augen mit schweren Lidern. Ihr dunkles Haar wurde an den Schläfen ein wenig grau, und sie machte den zerstreuten Anschein – ein rascher Blick über meine Schulter, ein unterdrücktes Gähnen – von jemandem, der leicht gelangweilt war vom Leben.

»Bitte, hier entlang«, sagte sie.

Ich folgte dem süßen Duft von Gardenien durch einen lang gestreckten Salon, in dem eine Kapelle spielte und Bedienstete Teetabletts hierhin und dorthin trugen. Als ich die vorbildliche Haltung Ihrer Ladyschaft bemerkte, den langen Hals, den Rücken, so gerade wie die Säule für Lord Nelson, da richtete ich mich selbst noch weiter auf. Wir betraten einen weiteren, weniger prunkvollen Raum.

Das Rauschen des Seidenchiffons verklang. »Nehmen Sie Platz, Miss Gibson.«

Überall im Raum saßen etliche Damen, lasen oder schrieben schweigend Briefe, und ein leises Geflüster vom anderen Ende des Raumes lenkte meinen Blick auf ein Mädchen wie mich, das von einer silberhaarigen Frau mit Zwicker befragt wurde, die keinerlei Ähnlichkeit mit Lady Ottoline aufwies. Das Mädchen und ich tauschten einen kurzen Blick aus, und ich wusste, was sie dachte: Deine ist angenehmer.

»Sie kommen also aus Bournemouth?«

»Ja, Eure Ladyschaft, aber geboren wurde ich in London.«

»Aha, aber Sie waren kein GUM-Mädchen, nicht wahr?«

Ich kannte diesen Begriff und wusste, dass er nicht für Gehorsam und Manieren stand, wie einige der Mädchen, mit denen ich gearbeitet hatte, behaupteten. Die Abkürzung stand vielmehr für die Gesellschaft zur Unterstützung junger Mägde, einer Vereinigung, die Mädchen aus den Arbeitshäusern ausbildete, um sie von der Prostitution und Trunksucht abzuhalten und in gute Dienstmädchen zu verwandeln.

»Nein, ich war niemals ein GUM-Mädchen«, sagte ich und richtete mich in dem hohen Lederstuhl noch weiter auf.

Lady Ottolines Lächeln verschwand, sie senkte den Blick, und einen Augenblick lang dachte ich, sie wäre enttäuscht. Aber dann fuhr sie fort, fragte nach meinen Erfahrungen, und ich erzählte ihr, dass ich in Kent angefangen und mich weiter emporgearbeitet hätte. Sie erkundigte sich nach meinen Zeugnissen, und ich reichte ihr eins nach dem anderen, wobei ich das beste bis zum Schluss aufbewahrte.

»Grundgütiger«, sagte sie und hob den Blick von Mrs. B.s kunstvoller Handschrift. »Ich glaube, ich habe noch nie ein solch … überschwängliches Empfehlungsschreiben gelesen.«

Mrs. B. hatte mir freundlicherweise gestattet, ihren ersten Entwurf zu lesen und ihr beim Schreiben des zweiten Entwurfs zu helfen. Ich schlug nur drei Veränderungen vor: das Wort vorbildlich gegen mustergültig auszutauschen, geschätzt gegen verehrt und Bedauern gegen Trauer.

Lady Ottoline faltete das Papier zusammen und reichte es mir. Sie erkundigte sich nach meinen persönlichen Verhältnissen. Ich teilte ihr mit, dass ich keine Familie hätte, von der ich ihr erzählen könne. Ich wusste, dass ich Stanley besser nicht erwähnte – zumal der ungeklärte Umstand unserer Verlobung ohnehin eine private Angelegenheit war.

»Ich verstehe«, sagte sie. »Und keinerlei Verehrer?«

»Nein, keine, Eure Ladyschaft.«

»Quel dommage … Aus meiner Sicht allerdings wahrscheinlich nicht«, fügte sie zwinkernd hinzu. »Sehen Sie, ich benötige jemanden, der sich verpflichten kann … und zwar für mindestens zwei Jahre.«

»Das ist kein Hindernis. Ich suche nach einer langfristigen Stellung.«

Lady Ottoline lächelte erneut. Die Position, sagte sie, werde mit achtunddreißig Pfund und zehn Shilling im Jahr entlohnt, die wahlweise monatlich oder quartalsweise ausgezahlt würden, zudem würden natürlich Kost und Logis in üblicher Weise übernommen. Zudem sei jeder zweite Sonntag frei, mir stünden anfangs jährlich fünf Tage bezahlter Urlaub zu, nach zwei vollen Jahren dann zehn Tage.

Sie zählte alles in rascher Folge und ein wenig kurzatmig auf. Ich rechnete noch die Summen nach und verglich sie mit meinem dürftigen Lohn und den mir noch immer unbekannten Anstellungsbedingungen bei Mrs. B., als sie bereits fragte: »Wie klingt das für Sie, Miss Gibson?«

»Oh, das klingt gut, Eure Ladyschaft.«

»Verzeihen Sie, wenn ich es geradeheraus anspreche, aber ich habe einer Sache wegen Bedenken … nämlich, dass Sie recht viel umgezogen sind.«

»Nur um weiterzukommen … um ein wenig von der Welt zu sehen und mich emporzuarbeiten, Eure Ladyschaft.«

»Verständlich. Lobenswert vermutlich …«

Sie sah sich in ihrer zerstreuten Art um und blickte dann zur Decke auf. Auf den Stuckverzierungen lagen zahllose schimmernde Lichtflecke, Reflexionen von den Kristalltropfen des gewaltigen Kronleuchters.

»Als wären es Sterne«, dachte ich laut.

»Hm … nicht wahr?«

»Wissen Sie, erst vor drei Tagen habe ich abends eine Sternschnuppe gesehen und mir etwas gewünscht. Denn das muss man doch, wenn man eine Sternschnuppe sieht, nicht wahr? Meine Großtante hat immer gesagt: ›Wenn Wünsche Pferde wären, würden Bettler reiten‹«, fügte ich lachend hinzu.

Sie ließ den Blick mit neu erwachtem Interesse auf mir ruhen. Vielleicht hielt sie mich für etwas einfältig, oder vielleicht wartete sie darauf, dass ich erzählte, was ich mir gewünscht hatte. Das würde ich jedoch gewiss nicht tun.

»Nun«, sagte sie mit plötzlichem Nachdruck, »verfolgen Sie die Mode, Miss Gibson?«

»Oh ja, in vollem Umfang.«

Sie musterte erneut meinen Hut und auch das Blumensträußchen, das ich mir aus der Lady’s Pictorial abgeschaut und ans Revers meiner Jacke geheftet hatte. »Et parlez-vous français, Mademoiselle?«

»Oui, Madame – Eure Ladyschaft. Un peu … mais pas très bien.«

»Verfolgen Sie die gegenwärtigen Nachrichten, lesen Sie Zeitung?«

Ich überlegte einen Augenblick. Kitty hatte mich gewarnt, nicht alles zu glauben, was darinstand. Sie sagte, die Leute, die dort arbeiteten, würden dafür bezahlt, sich schlechte Nachrichten auszudenken, und hätten keinen geringen Anteil am Ableben meiner armen Mutter gehabt.

Ich sagte: »Ich bevorzuge Romane, Eure Ladyschaft.«

»Aha, und wen lesen Sie gerne?«

Ich war die beste Leserin an meiner kirchlichen Schule gewesen; damit hatte ich Verdienste für meine Zulassung erworben. Das erzählte ich Ihrer Ladyschaft und rasselte Namen herunter, bis sie mich unterbrach: »Ich glaube, Sie meinen Miss Eliot.«

»Nein … George.«

»Ja, das war der Name, unter dem sie schrieb. Eine Identität, die sie annahm, damit ihre Arbeit ernst genommen wurde. Ihr Name lautete eigentlich Mary Ann Evans.« Sie senkte den Blick und seufzte kopfschüttelnd: »Auch wenn wir in etwas aufgeklärteren Zeiten leben, ist der Kampf noch lange nicht vorüber … Und doch kann ich nicht anders als zu glauben, dass eines Tages unsere Zeit kommen wird. Sie nicht auch, Miss Gibson?«

Ich nickte. Ich fühlte mich geehrt, dass unsere Zeit mich einschloss.

»Ich muss gestehen, eine Leserin könnte enorm hilfreich für mich sein, denn Sie müssen wissen, dass ich ebenfalls schreibe.« Sie winkte mit einer Hand ab. »Nichts Ernsthaftes oder Anspruchsvolles, wenn Sie verstehen … lediglich Fortsetzungsromane für Damenzeitschriften und dergleichen. Es ist mehr eine Liebhaberei, aber ich habe schon eine Idee für einen Roman.« Sie hielt inne, legte den Kopf schräg und sah an mir vorbei. »Eine Liebesgeschichte.«

Für einen kurzen Moment schien etwas außerhalb dieses Raumes sie in den Bann zu ziehen: ein Gedanke, eine Erinnerung oder vielleicht auch nichts, ein noch unbeschriebenes Blatt Papier. Dann wandte sie sich mir wieder zu, senkte ihre schweren Augenlider, drehte die kleine juwelenbesetzte Uhr, die an ihrer Brust hing, zu sich um und sah darauf.

»Haben Sie Fragen, Miss Gibson?«

Ich hatte einige.

»In der Annonce wurden Reisen erwähnt, Eure Ladyschaft. Ich habe mich gefragt … wohin die Reisen führen werden.«

»Wir hegen recht viele Reisepläne«, sagte sie und erwähnte ihren Mann Lord Hector, ein Auslandsbüro irgendwo, ein Haus in London und ein weiteres in Northumberland, zudem Paris, Biarritz, die französische Riviera, die Schweiz und St. Moritz. Sie lächelte, als sie sagte: »Aber den Sommer verbringen wir meist in Schottland.« Und als sie den Namen des Anwesens nannte, tauchte vor meinem inneren Auge ein Schloss auf.

»Ich muss heute Nachmittag noch mit zwei weiteren Mädchen aus Mrs. Warrens Verzeichnis Vorstellungsgespräche führen«, sagte Lady Ottoline und beendete unser Gespräch. »Wenn Sie sich also gern noch die Geschäfte oder Sehenswürdigkeiten ansehen wollen und gegen … fünf Uhr wieder herkommen möchten? Dann werde ich Ihnen meine Entscheidung mitteilen können.«

»Ich fürchte, das wird mir nicht möglich sein, Eure Ladyschaft. Um fünf Uhr habe ich selbst noch ein Vorstellungsgespräch.«

»Ich verstehe«, sagte sie und musterte mich. Sie hielt einen Augenblick inne und fragte dann: »Ihr Vorstellungsgespräch – ist es zufällig bei Lady Hanbury?«

»Nein, Eure Ladyschaft.«

»Lady Desborough?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Aber doch nicht bei Mrs. Asquith, oder? Ich hörte, dass sie wieder jemanden sucht.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Eure Ladyschaft, würde ich es gern für mich behalten.«

Lady Ottoline lächelte. »Das freut mich sehr. Diskretion ist mein erstes und wichtigstes Einstellungskriterium.«

2

Stanley wartete wie verabredet um fünf Uhr an der Erosstatue – Zeitung lesend, in seinem guten Anzug und mit Mütze.

»Guten Tag, der gut aussehende Herr.«

Er faltete die zerknitterten Seiten und schob sie unter seinen faltigen Ärmel. Er blickte mich an, während ich mich umsah und ihm Zeit gab, mich zu mustern. Ich war dieses anfängliche Unbehagen gewohnt, das sich bei jeder unserer Begegnungen einstellte, doch nach ein paar Augenblicken wandte ich mich ihm zu: »Nun?«

»Du siehst hübsch aus.«

»Was steht drin?«, fragte ich und sah nickend zur Zeitung unter seinem Arm.

»Die übliche Schwarzmalerei … Irgendein Erzbischof wurde ermordet.«

Die Luft war warm und sein Gesicht feucht. Unter dem Rand seiner Mütze glänzten Schweißperlen auf seiner blassen Haut, und an der einen Seite seines Schnurrbarts, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte, hatte sich Schorf gebildet. Ich hatte ihn schon seit über zwei Monaten nicht gesehen, seitdem er das letzte Mal in Bournemouth gewesen war. Es war ein Sonntag gewesen, mein üblicher freier Tag, und trotz des kalten Windes, der vom Meer hereinblies, waren wir die Promenade hinauf- und hinunterspaziert und am Pier entlanggegangen. Alles hatte geschlossen gehabt, und wir hatten nirgendwohin gehen können, aber der Gedanke an eine Zeit, in der das anders sein würde, hatte mich warm gehalten.

Ein eigenes Zuhause war eine sonderbare Vorstellung, denn ich hatte noch nie wirklich eines gehabt. Die ersten paar Jahre meines Lebens hatte ich unter dem Blechdach meines Großvaters verbracht; nach seinem Tod waren Kitty und ich in ein möbliertes Zimmer gezogen, und ich hatte Zimmer und Bett mit ihr geteilt, bis ich eine Stellung annahm.

»Der Tanztee Veez-a-veez …«, begann Stanley. Er sprach gern auf Latein – zumindest glaubte ich, dass es Latein war, denn er behauptete es. »… ist ein wenig kostspielig, fürchte ich. Ebenso wie das Trocadero.«

Ich hatte Stanley kennengelernt, als ich außerhalb von Winchester in Hampshire gearbeitet hatte. Ich war Zimmermädchen gewesen und er Hausdiener und – buchstäblich – dabei zu gehen. Ich bin stolz, sagen zu können, dass unsere Liebschaft erst begann, nachdem er die Stellung verlassen hatte und anfing, mir Briefe aus London zu schreiben.

»Wohin wollen wir dann?«, fragte ich. »Ich habe nur etwa eine Stunde Zeit, bevor ich zum Bahnhof muss.«

»Es gibt natürlich immer noch das A. B. C.«

Ich fragte mich manchmal, ob ich Stanley Morton für etwas Besseres hielt, als er war, und ob mir eine Fernbeziehung eigentlich gefiel. Denn trotz Kittys Sprichwort In der Ferne wächst die Liebe und trotz seines guten Aussehens schwang in seiner Gegenwart immer ein Stück Enttäuschung mit. Nicht, dass ich mir einen Dichter gewünscht hätte, und ich machte mir auch nichts aus dem Trocadero, aber er hätte daran denken können, mir beim Blumenhändler ein paar Schritte weiter Blumen zu besorgen – einen Strauß Veilchen oder eine einzelne Rose vielleicht. Und er hätte sich überlegen können, wo wir hingehen, wenn schon nicht zu seinem lang angekündigten Tanztee.

Ich sagte: »Schön, gehen wir ins A. B. C.«

Ich hatte Mrs. B. einmal meine Sorge um Stanleys mangelnde Vorstellungsgabe anvertraut, nicht lange nachdem er die Hochzeit erwähnt hatte. Nicht, dass er um meine Hand angehalten hätte, er sagte lediglich: »Vielleicht heiraten wir eines Tages.« Ich vermute, es war eher eine philosophische Aussage. Mrs. B. riet mir, diesbezüglich keine zu hohen Erwartungen zu hegen. Ihrer Ansicht nach fehlten dem männlichen Geist die Anlagen zur Vorstellungsgabe. Bei fünf Brüdern, drei Söhnen und zwei Ehemännern nahm ich an, dass sie wohl mehr über den männlichen Geist wusste als die meisten anderen.

In Wahrheit blieben mir noch zwei volle Stunden, bevor mein Zug nach Bournemouth fuhr, aber ich wollte nicht, dass Stanley auf den Gedanken kam, mich ins Lichtspielhaus auszuführen. Dort waren wir schon bei meinem letzten Besuch gewesen. Es war eine Tortur gewesen, mich auf Mary Pickfords Herzschmerz konzentrieren zu wollen, während Stanley Mortons Hände dort gelegen hatten, wo sie nicht hingehörten, und seine Zunge in meinem Ohr zu spüren. Anschließend hatten wir uns gestritten. Er sagte, das sei nur das, was jeder normale Kerl erwarte, und es gebe viele Mädchen, denen es gefalle. Gut, sagte ich, dann geh mit einem von denen aus. Ich kannte ebenfalls viele von ihnen: Mädchen, die zum Preis eines billigen Kleides mit Männern ausgingen, um zehn Monate später ein Kind wegzugeben. Arme gefallene Kreaturen wie meine Mutter.

Als wir zur Shaftesbury Avenue liefen und ich mich bei Stanley unterhakte, fragte er: »Wie war das Gespräch mit Lady Otterby?«

»Ottoline. Sie heißt Ottoline. Und sie ist viel jünger als Mrs. B.«

»Wie alt denn?«

»Ich bin nicht ganz sicher … Ende dreißig, vielleicht vierzig.«

»Freundlich?«

Ich nickte.

»Und du willst zu ihr?«

»Andernfalls wäre ich nicht den ganzen Weg hierhergefahren.«

»Ha, und ich dachte schon, es sei nur eine Ausrede, um mich zu sehen.«

Meine kleine Notlüge über ein weiteres Vorstellungsgespräch hatte Lady Ottoline erst ein wenig aus der Fassung gebracht. Aber sie hatte mir auch die Gelegenheit gegeben, einen Test – ihren Test – bezüglich meiner Diskretion zu bestehen. Sie vergebe Stellen normalerweise nicht sofort, sagte sie; sie sinne gern noch darüber nach. Darauf erwiderte ich nichts. Ihr Nachsinnen klang für mich nach einer privaten Angelegenheit. Aber mein Schweigen zahlte sich aus, und nach ein wenig Rascheln und Knistern, einem Blick durch den Raum und wieder zu mir, einem unsicheren kleinen Lachen und dann einem Seufzer sagte sie: »Wann wäre es Ihnen denn möglich anzufangen?«

Und damit war die Sache vereinbart. Lady Ottoline begleitete mich zur Lobby, schüttelte mir die Hand und sagte, sie werde alles schriftlich niederlegen und es mir mit der Abendpost senden.

»Ich habe sie bekommen«, sagte ich zu Stanley. »Ich habe die Stelle bekommen.«

Er blieb abrupt stehen. »Sie hat sie dir postwendend angeboten?«

Ich lächelte. »Sie sagte, es gebe keinen Grund weiterzusuchen. Ich sei genau die Richtige für die Stelle.«

Im A. B. C. war es voll, und wir waren glücklich, überhaupt einen Tisch zu bekommen. Wir bestellten Lammkeulen mit Kartoffelbrei, Kohl und Erbsen und natürlich Brot, Butter und Tee. Ich nahm keinen Nachtisch, aber Stanley aß Apfelkuchen und Custard. Man muss sagen, im A. B. C. bekam man wirklich ein gutes Abendessen – und die Preise waren auf Stanleys Niveau. Als Türsteher im Café Royal verdiente er nicht viel. Er arbeitete schon seit über zwei Jahren dort, stand herum, beobachtete, wie die Leute kamen und gingen. Als er angefangen hatte, hatte er noch geglaubt, aufsteigen zu können, Portier zu werden oder sogar in die Führung zu wechseln. Aber das kam mir nun nicht mehr wahrscheinlich vor. Kürzlich hatte er davon gesprochen, sich nach einem Büroposten umzusehen, irgendeiner Schreibarbeit, aber meines Wissens hatte er nichts in dieser Richtung unternommen.

»Das muss man dir lassen, Pearl«, sagte Stanley und leckte Custard vom Löffelrücken, »du bist eine Eins. Ich meine, kommst hierher und schnappst dir eine Stelle – einfach so.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wette, es gibt Hunderte Mädchen da draußen, die noch nie von jemandem wie Otterby mir nichts, dir nichts eine Stelle angeboten bekommen haben.«

»Ottoline, Stanley. Sie heißt …«

»Du bist ein verdammter Lügner, Walter Giddings!« Eine Frau am Nachbartisch stellte scheppernd ihre Tasse ab und stand auf. Einen Augenblick lang blieb sie vollkommen reglos stehen, während Walter Giddings weiterhin seine Rauchringe zur Decke blies. Dann marschierte sie durch den überfüllten Saal zur Tür, und Walter Giddings sah ihr nicht einmal hinterher.

Sie war besser dran ohne ihn.

Ich sah Stanley wieder an. »Wie gesagt, ihr Name ist Ottoline, Lady Ottoline Campbell. Sie möchte, dass ich möglichst rasch anfange … Ich werde unterwegs sein, recht viel reisen … nach Frankreich, Northumberland …«

»Northumberland?«, unterbrach mich Stanley. »Das liegt in Schottland.«

Ich lächelte. »Nicht ganz – aber dorthin fahren wir ebenfalls. Sie besitzen ein Anwesen in Schottland.«

Besser, ich brachte es gleich mit einem Mal hinter mich, vor allem jetzt, da er gegessen hatte. Mit vollem Magen seien Männer fügsamer, betonte Mrs. B. stets. Stanley sagte danach nicht viel, und ich beglich die Rechnung. Ich wusste, dass er ein wenig knapp bei Kasse war, seinen Lohn noch nicht bekommen hatte.

Als ich aufstand, sah ich Walter Giddings betont missbilligend an. Er grinste und zwinkerte mir zu.

»Das war ja ein Schwerenöter.«

»Wer?«

»Walter Giddings … Ich hoffe nur, sie nimmt ihn nicht zurück.«

Ich hakte mich wieder bei Stanley unter, und wir liefen unter dem dreckigen Laub der Bäume denselben Weg zurück zum Piccadilly Circus und zum Untergrundbahnhof. Wir blieben beide stehen, als wir seinen Namen hörten, drehten uns beide um, und dann zog Stanley rasch seinen Arm zurück.

»Ist das deine Schwester?«, fragte das Mädchen atemlos und mit rosa Wangen.

»Oh nein … Nein, das ist Miss Gibson. Wir haben zusammengearbeitet.«

»Ach, genau wie wir«, sagte das Mädchen. Sie warf ihr Eisstäbchen auf den Asphalt und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab. »Schön, Sie kennenzulernen.«

Ihre Hand war klebrig. Ich lächelte.

»Eileen – Miss Poynter«, sagte Stanley. »Sie arbeitet drüben im Hotel.«

»Als Strafe für meine Sünden«, sagte Eileen, zog eine Grimasse und rollte die Augen gen Himmel. Dann sah sie wieder Stanley an. »Ist deine Schwester denn schon wieder fort, Stan?«

Stanleys Augenlider zuckten. »Wir müssen nun weiter«, sagte er und fasste mich am Arm. »Miss Gibson muss ihren Zug erwischen.«

»Ah … ich verstehe. Nett, Sie kennenzulernen … Bis später, Stan.«

»Du schienst mit Eileen Poynter ja sehr vertraut zu sein«, bemerkte ich, als wir uns den Stufen zur Untergrundbahn näherten.

Er lachte. »Du bist doch nicht eifersüchtig, oder?«

»Nein. Aber weshalb dachte sie, ich wäre deine Schwester?«

»Nicht den leisesten Schimmer.«

»Hast du ihr erzählt, du hättest eine Schwester?«

Wir standen direkt vor den Stufen, er blieb stehen und drehte sich zu mir um: »Natürlich habe ich ihr nicht erzählt, ich hätte eine Schwester … Ehrlich gesagt glaube ich, sie ist ein wenig verwirrt.«

»Aha?«

»Bei der Arbeit haben sie endlose Mühen mit ihr … damit sie Dinge im Kopf behält. Ein hoffnungsloser Fall, wirklich ein hoffnungsloser Fall.«

»Aber weshalb sagte sie ›bis später‹? Du erwähntest doch, du gingest heute nicht mehr arbeiten.«

»Das ist doch nur so eine Redensart – bis später. Zum Kuckuck noch mal, Pearl, mit dir ist es ja wie bei der Spanischen Inquisition.« Er holte sein Taschentuch hervor, schob seine Mütze zurück und wischte sich über die Stirn. Dann hob er den Blick zum bewölkten Himmel. »Sieht nach Gewitter aus.«

Wir standen ein paar Minuten da, blickten uns um und nicht an, beobachteten die Tauben, die auf den mit verstreutem Müll bedeckten Gehwegplatten pickten, die Blumenverkäuferin, die ihren Stand zusammenpackte, und den Zeitungsjungen, der etwas über den ermordeten Erzherzog verkündete.

»Tja, dann gehe ich wohl am besten«, sagte ich.

»Musst du wohl.«

»Ich schreibe dir, sobald ich Genaueres weiß.«

»Ja, tu das.«

»Und ich sende dir die Adresse … Du wirst mir doch schreiben, oder?«

»Natürlich.«

»Dann tschüss.«

Er schob den Kopf vor und küsste mich auf die Wange. »Lebwohl … gute Reise.«

Ich wollte, dass er noch etwas sagte. Ich wollte, dass er sagte: Vergiss nicht, dass ich dich sehr gern habe, wie beim letzten Mal, aber er schwieg. Und als ich mich umwandte, um ihm beim Hinabsteigen zu winken, war er schon fort. Beinahe sofort verspürte ich Bedauern und die vertraute Sehnsucht. Ich wünschte, ich hätte ihm die Wahrheit gesagt über meinen Zug, wünschte, ich hätte ihm erlaubt, mich in ein Lichtspielhaus auszuführen und mich anschließend zum Bahnhof zu begleiten. Dann hätte er mir vielleicht gesagt, dass er mich liebe. Denn man muss wissen, niemand hatte das bisher zu mir gesagt, nicht einmal Kitty.

3

Und doch habe ich all die schöne Zeit meines frühen Lebens ihr zu verdanken, meiner Kitty. Ich sehe sie noch immer vor mir, höre sie reden und spüre die Wärme ihrer papiernen Hand an meiner Wange.

Kitty. Sie war schon weißhaarig und weise, als ich geboren wurde. Ich war vielleicht vier und fast so groß wie der Ofen, als sie mein Universum auf den Kopf stellte und mir erklärte, sie sei gar nicht meine Mutter, ich hätte aber, wenn auch nur sehr kurz, eine solche gehabt. Einen Vater erwähnte sie einstweilen nicht. Doch ein paar Jahre später, bald nachdem mein Großvater – Kittys Bruder – gestorben war und in einer Zeit meines Lebens, in der ich mich nach Antworten sehnte, erzählte sie, ich hätte auch einen Vater gehabt. Ihrem Tonfall entnahm ich, dass er ebenfalls nicht mehr lebte, und ich stellte zwei schlichte Fragen: War er ein netter Mann gewesen? Die Frage konnte sie nicht beantworten; sie hatte ihn nie kennengelernt. Wie hieß er? Sie konnte sich nicht erinnern; es war schon zu lange her.

Man kann etwas nur dann eine Enthüllung nennen, wenn tatsächlich etwas enthüllt wird, doch bei mir löste das Wissen, eine Mutter und einen Vater gehabt zu haben und somit augenscheinlich wie jeder andere Mensch zu sein, nur ein vages Gefühl der Enttäuschung aus. Meine Eltern waren nichts als namen- und konturlose Figuren, schemenhaft und aus der fernen Vergangenheit. Ich spürte weder Trauer noch Kummer, denn ich hatte sie nie kennengelernt, und ich hatte ja Kitty.

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich begriff, dass meine Mutter nach meiner Geburt nicht während der Dämmerung in die Themse gewatet war, um paddeln zu gehen, sondern um sich zu ertränken, sich das Leben zu nehmen. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich begriff, dass meine Eltern nie verheiratet gewesen waren. Aber Kitty muss etwas gesagt – oder angedeutet – haben, denn ich wusste um die Scham und weshalb es sie schmerzte, über meine Mutter, ihre Nichte, zu sprechen. Ich begriff, dass die Dinge, von denen man am besten gar nicht spricht, lediglich zwei Menschen waren.

Somit wurde der Name meiner Mutter nur selten, wenn überhaupt erwähnt und der Name meines Vaters nie. Meine Kindheit und Jugend zogen sich wie eine Ziehharmonika zusammen, und in dem Balg lagen die Trümmer eines nicht zu Ende geführten Lebens, eines Lebens, dem ich nicht nacheifern wollte. Wie Kitty versuchte ich, mir die Qualen nicht vorzustellen, die meine Mutter in ihren letzten Momenten erlitten hatte; wie Kitty entschied ich, meinem Vater jedes Urteil zu ersparen, indem ich seine Existenz einfach vergaß.

Wie Kitty …

Ohne einen Penny in der Tasche sah sie dennoch stets hübsch und adrett aus. Sie war stolz, würdevoll, bescheiden und gottesfürchtig. Als altmodische und von Natur aus abergläubische Frau schien sie kein Problem damit zu haben, sowohl ihre heidnischen Rituale als auch ihren Gottesglauben auszuüben: Sie suchte am Himmel nach Zeichen und Omen für Unheil oder Glück, warf regelmäßig Salz über die Schulter, klopfte auf Holz, begrüßte freundlich eine einsame Elster, damit sie ihr kein Pech brachte, und freute sich beim Anblick einer Sternschnuppe oder eines vierblättrigen Kleeblatts. Sie war ein charmantes Gemenge aus Widersprüchen mit ihrem Mitgefühl für die Armen und ihrer Ehrfurcht vor der Oberschicht, ihrem Gefallen an Mode und ihrer Sparsamkeit, ihrem verschmitzten Frohsinn und ihrer Selbstgefälligkeit. Und wenn es ihr an Wissen mangelte, griff sie stets auf ein Sprichwort zurück.

Kitty beherrschte ihre Sprichwörter so gut wie ich das Packen und das Umziehen in die nächste Grafschaft. Denn das Neue verhieß doch immer etwas Besseres. Mein Wohl lag im Lebwohl. Wie ein kleiner Stern auf seiner Umlaufbahn, dem Universum ausgeliefert, überließ ich mich meinem Schicksal. Und dieses Schicksal trug nun einen Namen: Lady Ottoline. Somit fand ich mich zehn Tage nach meinem Vorstellungsgespräch in London wieder, allerdings nicht zum Bleiben, sondern nur, wie man so sagt, auf Durchreise.

Ich frönte dem Müßiggang mit einer Tasse Tee in der hinteren Ecke einer Imbissstube im Bahnhof King’s Cross, beobachtete, wie die Leute kamen und gingen, und fragte mich, wohin sie wohl reisten und weshalb. Ich dachte an Stanley und den Brief, den ich ihm vor ein paar Tagen geschrieben hatte, und an die zweieinhalb Shilling, die Mrs. B. mir mit einer Orange und ihrem Segen zugesteckt hatte, und überlegte, ob es in Northumberland wohl schöne Geschäfte gab und ob man in Biarritz große Hüte trug. Über all das dachte ich nach, als ein goldener Haarschopf meine Aufmerksamkeit erregte.

Ich glaubte keinen Augenblick lang, dass ich an jenem Tag als Einzige bezaubert sein könnte von diesem Licht in den düsteren Wänden der belebten Imbissstube. Ich glaubte keinen Augenblick lang, dass ich als Einzige gefesselt sein könnte von einer Aura, die so hell strahlte, als hätte sich die Sonne persönlich darauf niedergelassen, um ihr Werk zu verrichten. Denn von besagtem Mann strahlte eine Wärme aus, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte.

Er trug keinen Hut, keine Krawatte. Seine Kleidung hatte die blassen Farben wärmerer Gefilde und war zerknittert und zerknautscht von einer zweifellos langen Reise; ein staubiger Rucksack hing ihm über der Schulter, in der Hand hielt er eine abgenutzte lederne Geldbörse. Jemand aus den Kolonien, dachte ich, während ich beobachtete, wie er sich hinsetzte; vielleicht kam er für eine Weile aus Indien zurück.

Über seine Zeitung gebeugt, nahm er – die Ellbogen auf dem Tisch, eine Hand an der Stirn, gebräunte Finger im Haar – die Pose einer der alten Statuen ein, die Stanley und ich im Britischen Museum gesehen hatten und die hinter einem dicken roten Seil eingeschlossen waren. Eine der Skulpturen, die ich zu gern berührt hätte.

Von Zeit zu Zeit blickte er auf und sah sich um, als prüfe er, wer anwesend war. Wartete er auf jemanden – eine Frau womöglich? Würde es hier, in der Gaststube, zu einem lang ersehnten Wiedersehen kommen? Ich wünschte, sie würde erscheinen – um zu erfahren, wie sie aussah, um ihrem Treffen beizuwohnen. Doch in meiner Zerstreuung hatte ich die Zeit vergessen, und so erhob ich mich zögernd. Mir war heiß, und ich war ein wenig durcheinander. Ich bahnte mir durch die umherstehenden Tische und Stühle einen Weg an ihm vorbei. Doch als ich draußen stand und nach oben blickte, um auf der Tafel meinen Zug zu finden, sagte eine tiefe Herrenstimme: »Bitte erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen.«

Er stand in einem Sonnenstrahl, sein Haar noch heller als zuvor, und lächelte, als er meinen Koffer anhob. »Es überrascht mich nicht, dass Sie damit Ihre Mühe hatten … Ich hoffe, es liegt keine Leiche darin.«

Ich versuchte zu lachen. In meinem Koffer befanden sich elf Romane, zwei Gedichtbände, meine Bibel und mein Gebetbuch, dazu das Lexikon und der Wildblumenführer, die Mrs. B. mir beide geschenkt hatte, meine zwei Dienstkittel und -blusen, ein Kleid für tagsüber und eines für sonntags, ein Wecker, mein Waschetui, die Bürste und der Spiegel, die Kitty mir beide hinterlassen hatte, mein Nachthemd, Kittys Tuch, Wintermantel und Stiefel, ein paar Galoschen und ein leerer Bilderrahmen, den ich bei der Lotterie einer Wohltätigkeitsveranstaltung gewonnen hatte. Es war mein gesamter Besitz.

»Wohin soll es gehen?«, fragte er.

»Zum Bahnsteig 1 … Richtung Newcastle.«

»Folgen Sie mir.«

Und so folgte ich ihm: vorbei am Bücherstand, an Trägern und Karren, durch das Meer aus Mützen und Strohhüten, wallenden Kleidern und Röcken, auf den belebten, geschäftigen Bahnsteig zu.

»Welcher Waggon?«

»Waggon zwei.«

»Am besten gehen Sie so weit wie möglich vor, denken Sie nicht? Dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Sie ein Abteil für sich allein bekommen.«

Ich war ein wenig irritiert, als er mit meinem Koffer vor mir her über den Bahnsteig lief, und ich musste in den Laufschritt verfallen, um mitzuhalten, bahnte mir meinen Weg zwischen mit Schildchen markierten Kinderwagen und Fahrrädern hindurch. Mit Initialen versehene Koffer wurden gerade in den Waggon des Schaffners verladen. Wir waren beinahe am anderen Ende des Zuges angelangt, als er über die Schulter zu mir herübersah: »Hier?«

Ich nickte.

Er deutete auf die offene Waggontür, folgte mir, hinein in ein – tatsächlich – leeres Abteil. Nachdem er meinen Koffer in die Gepäckablage gehoben hatte, dankte ich ihm, und er lächelte.

»Stedman«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ralph Stedman.«

Ich reichte ihm meine weiß behandschuhte Hand. »Ottoline Campbell.«

Er hob die Augenbrauen. »Ottoline Campbell«, wiederholte er. »Reisen Sie von Newcastle aus weiter, Miss … Mrs. Campbell?«

»Miss«, sagte ich und hielt inne. »Ja – ich bin auf dem Weg nach Northumberland, um meine geliebte alte Tante zu besuchen.«

»Aha, ein Kurzbesuch also.«

»Leider ja … Ich bin recht viel auf Reisen.«

Seine Augen wirkten beinahe wild. Sie waren weder braun noch grün noch blau oder bronzen, sondern honigfarben und umrandet von blassen Wimpern und dichten, sonnengebleichten Augenbrauen.

»Und wohin geht die Reise von Northumberland aus – zurück nach London?«

Ich wandte den Blick ab und zog meine Handschuhe aus. »Ja, zurück ins triste alte London, aber lediglich für kurze Zeit, danach reise ich nach Biarritz.«

»Nach Biarritz? Dort bin ich erst vor einer Woche gewesen – auf meiner Rückreise aus Spanien. Wann gedenken Sie zu reisen? Ich frage nur, weil … nun ja, weil viele unserer Landsmänner nach England zurückkehren.«

»Tatsächlich?«

»Ich denke, Sie wären gut beraten, Ihre Reise zu verschieben und eine Weile abzuwarten … wie die gegenwärtige Krise sich entwickelt.«

»Ja, das mag sein«, sagte ich und wandte den Blick erneut ab, unbestimmt und unsicher, was noch zu sagen wäre.

»Verzeihen Sie mir, aber Ihr Name klingt sehr vertraut. Sind wir uns vielleicht schon einmal begegnet – in Biarritz?«

Ich überlegte nur sehr kurz, dann schüttelte ich den Kopf: »Nein, ich denke nicht.«

»In Paris?«

Ich sah zur Decke hinauf und schloss kurz die Augen. »Ich glaube, ich würde mich daran erinnern, wenn wir uns in Paris begegnet wären, Mr. Stedman.«

»Gewiss – wie könnte man jene vergessen, denen man dort begegnet ist.«

Ich lachte. Er sah mich an.

»Sie sind nicht zufällig verwandt mit Lord Hector Campbell, oder?«, fragte er.

Ich tippte mir mit dem Finger ans Kinn und schüttelte erneut den Kopf. »Nein … Es tut mir leid, aber dieser Name kommt mir gar nicht vertraut vor.«

Unruhig und bang fragte ich mich, ob er beabsichtigte, in diesem Abteil Platz zu nehmen, ob ich Ottoline bleiben und mich mit ihm bis nach Newcastle über Biarritz, Landsmänner und Krisen unterhalten müsste. »Reisen Sie ebenfalls mit diesem Zug, Mr. Stedman?«, fragte ich daher.

Er nickte: »Ja, bis nach Edinburgh – dritter Klasse.«

Mir sank das Herz. Zum ersten Mal in meinem Leben und dank der Frau, deren Namen ich mir leihweise zugelegt hatte, reiste ich zweiter Klasse. Nun wünschte ich mir, einfach Pearl Gibson zu sein und dritter Klasse zu reisen, zusammen mit Ralph Stedman.

Er nahm seine Tasche. »Ich lasse Sie nun in Frieden, Miss Campbell, aber es war mir eine Freude … À bientôt.«

Ich konnte mich nicht erinnern, was es bedeutete, aber es klang französisch, und so sagte ich: »Bon voyage, Mr. Stedman.«

Das Licht schien ein wenig schwächer zu werden, als sich die Türen schlossen. Erschöpft von der Begegnung und doch zugleich seltsam beschwingt, nahm ich Platz. Meine Angewohnheit, mich beim Reisen als eine andere auszugeben, hatte mich schon einmal in Bedrängnis gebracht, und nachdem ich als Tess Durbeyfield nach Dorset gereist war, hatte ich mir geschworen, damit aufzuhören. Ich hatte damals gerade erst den Roman zu Ende gelesen, musste noch immer über ihn und über sie nachdenken und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sich jemand – und am wenigsten die beiden alten Matronen, neben denen ich saß – etwas dabei dächte. Aber der weitergeflüsterte Name wehte durch den warmen Waggon wie eine leichte Sommerbrise. Und unter immer wieder aufbrandendem Gekicher hatte ich den Zug verlassen, lange bevor wir Bournemouth erreicht hatten – und über eine Stunde lang auf den nächsten warten müssen.

Es war nicht ungewöhnlich für Mädchen wie mich – Mädchen in Stellung – , Marotten zu entwickeln und sich die Gewohnheiten und Eigenarten derer anzueignen, die gemeinhin über ihnen standen. Ich kannte einige Mädchen, die andere atemberaubend nachahmen konnten: Sie imitierten Stil, Akzent und feine Eigenheiten der Damen des Hauses so gut, dass man niemals hätte ahnen können, dass sie es nicht persönlich waren. Und Mrs. B.s Unterweisung hatte sich ausgezahlt. Selbst sie sagte, meine Vokale klängen vollkommen, und ich könne wahrhaftig als junge Dame durchgehen. Daran musste ich denken und übte lustlos mein A, E, I, O, U, als der Zug sich in Bewegung setzte und die Tür geöffnet wurde. Rasch stellte ich meine Füße ab.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen geselle?«

Der Gentleman setzte sich, nahm seinen Hut ab, steckte sich ein Monokel ans Auge und blätterte seine Zeitung auf. Peter Robinson veranstaltete einen »Großen Sommerschlussverkauf«, und bei Waring and Gillow waren Teppiche im Sonderangebot.

»Das sind Nachrichten, hm? Verdammtes Geschäft mit den Ängsten, was?«

»Ja, in der Tat … Ich schätze, wir müssen abwarten, wie die gegenwärtige Krise sich weiter abspielt«, sagte ich und lächelte den Fabriken und Schloten entgegen, deren Backstein und Wellblech von der Sonne beschienen wurde.

»Sich abspielt?« Der Mann ließ die Zeitung sinken und beugte sich vor. »Mein liebes Mädchen, wir reden hier nicht von einem Klavierkonzert … Wir stehen vor einer drohenden Katastrophe!«

Er schüttelte den Kopf, verschwand wieder hinter seiner Zeitung, und ich wünschte, er wäre mit seinem Mundgeruch und Katastrophengerede nicht in dieses – in mein! – Abteil gekommen. Als der Zug Fahrt aufnahm, eine Reihe hübscher Häuschen nach der nächsten vorüberflog und ich hoffte, in kein weiteres Gespräch mit diesem Mann verwickelt zu werden, lehnte ich mich zurück und schloss die Augen …

Ich trage Rouge und Lippenstift. In der großen Glasscheibe gegenüber spiegelt sich sein Gesicht, und ich drehe mich um, als er sagt: »Darling.«

»Ralph!«

Er ist den ganzen Weg aus Spanien zu Fuß zu unserem Rendezvous in dieser Bar in Biarritz gelaufen, und sein Mund ist trocken und ausgedörrt, als wir uns küssen.

»Ich muss mit dir allein sein«, flüstert er …

Ich lag noch immer in Mr. Stedmans Armen – und versuchte tugendsam zu bleiben – , als mein Gegenüber ein lautes Schnarchen von sich gab. Sein Kopf fiel vornüber, sein Monokel rutschte herunter, die Zeitung glitt zu Boden. Und draußen flogen die akkuraten grünen Felder Englands vorüber.

4

Was mir in Northumberland gleich auffiel, war die Art des Lichts, die Weite des Himmels. Er wölbte sich scheinbar endlos zur Erde – wie ein großer Baldachin, festgenagelt und verankert im leeren Land. Die eigentümliche Leuchtkraft ließ dem Schatten wenig Spiel, und Northumberland war, wie ich auf der Stelle beschloss, die hellste Grafschaft, die ich bislang bereist hatte, wobei ich Mrs. B. und andere vom schillernden Licht und den häufigen Regenbogen im Lake District hatte erzählen hören und von der langen Sommerdämmerung in Schottland.

Wie befohlen, hatte ich von Newcastle aus eine Nebenstrecke nach Norden genommen, und als wir zwischen trostlosen Zechendörfern hindurchratterten, konnte ich gelegentlich einen Blick auf die stahlgraue See werfen. Doch nach etwa einer Stunde wurde die Landschaft lieblicher, vertrauter, ein Flickenteppich aus kleinen Feldern inmitten hügeliger Heide und Ginster, die See noch blauer zwischen den grünen und goldenen Schattierungen. Ich dachte: Jetzt habe ich England einmal durchquert, ich binganz oben!, während der kleine Zug langsamer wurde. Als ich die sonnigen Ruinen einer Burg erkennen konnte, wusste ich, dass ich mein Ziel erreicht hatte: Warkworth.

Ich trat hinunter auf den Bahnsteig eines charmanten kleinen Bahnhofs im Nirgendwo. Lady Ottoline hatte angekündigt, jemand werde auf mich warten, aber alles war verlassen bis auf einen jungen Mann mit fettigen Haaren und Uniform. Er musterte mich lächelnd von oben bis unten. Dann fragte er mich nach meinem Ziel, sagte, Birling Hall liege nicht weit entfernt, höchstens zwanzig Minuten zu Fuß, und beschrieb den Weg. »Den können Sie hierlassen«, sagte er in merkwürdig kehligem Akzent und nickte in Richtung meines Koffers. »Ich pass drauf auf, bis ihn wer holt«, fügte er hinzu und stierte auf meine Brüste.

Und so zog ich los in den staubigen Nachmittag, begleitet vom unaufhörlichen Gesumme aus den Hecken und dem Geschrei der Möwen, die über die angrenzenden Felder kreisten. Der Straßenrand war dicht von Nesseln und Disteln bewachsen und von Wildblumen, deren Namen mir vertraut waren: Wiesenkerbel, Fingerhut, Tausendschön und Blutroter Storchschnabel. Über ihnen schwirrten kleine Schmetterlinge mit orange geränderten Flügeln. Ich hielt alle paar Meter an, um meinen Koffer abzustellen, und verfluchte meine Bücher, denn meine Arme schmerzten von ihrem Gewicht.

Als ich schon über zwanzig Minuten gelaufen war, setzte ich mich auf meinen Koffer, um meine Schuhe von kleinen Steinchen zu befreien. Haarsträhnen klebten mir an Stirn und Hals. Meine ehemals weißen Handschuhe waren nun grau, meine Bluse unter der Wolljacke verschwitzt. Und vor mir erstreckte sich die Straße noch endlos wie ein Fluss aus geschmolzenem Silber. Aber in der Ferne, eingebettet zwischen schillernden Bäumen und wie eine Luftspiegelung, sah ich die unscharfen Umrisse eines Gebäudes – Teile einer Steinfassade, Dächer und Schornsteine.

Jedes Haus, in dem ich in Stellung gewesen war, hatte anders ausgesehen. Mrs. B.s Haus – eine viktorianische Ziegelvilla mit weitem Seeblick – war zweifellos das bescheidenste, aber auch wärmste gewesen. Vielleicht deshalb, weil es, wie Mrs. B. behauptete, den Schwanz des Golfstroms erwischt hatte, oder vielleicht, weil es im Kontrast stand zu dem Haus, in dem ich davor in Stellung gewesen war. Es hatte sich in Hampshire befunden und war vor unseren Augen verfallen: Es hatte weder Strom noch Badezimmer gegeben, und überall war es feucht gewesen. Im Winter waren die Scheiben innen so vereist gewesen wie außen. Birling Hall, das sah ich beim Näherkommen, war sicher so groß wie das Haus in Kent, in dem ich gewesen war, und es wurde immer größer, je näher ich kam.

Die schmiedeeisernen Tore standen offen, und ich blieb einen Augenblick unter den hohen Birken stehen, die eine breite Einfahrt säumten. Ich fühlte mich benommen, und mein Mund war wie ausgedörrt. An einer Ferse hatte ich schmerzhafte Blasen, und ich sehnte mich danach, die Schuhe auszuziehen. Hinter dem gestreiften Rasen schwenkte das Pampasgras seine Federn, und ein von Pferden gezogener Lieferwagen fuhr zwischen den Schatten einer weiteren Einfahrt hindurch. Dahinter, in der Ferne, eingerahmt von zwei riesigen Wellingtonien, sah ich einen schmalen stählernen Streifen Meer.

Ich lief weiter auf das Haus zu. Der Stein war verwittert und dunkel, und obgleich viele Fenster offen standen – einige mit halb geschlossenen Blenden – , war keinerlei Anzeichen von Leben zu erkennen. Aber ich wusste, dass ich möglicherweise dennoch beobachtet wurde, deshalb hielt ich mich aufrecht und versuchte nicht zu humpeln, als ich mich der bogenförmigen Einfahrt näherte, vorbei an einem glänzend polierten Automobil, und auf die Eingangstür mit den Steinsäulen zulief. Ich stellte mich mit beiden Beinen in die Mitte der großen Kokosmatte und zog an der Glocke. Eine Innentür wurde geöffnet, und ein streng aussehender Butler im typischen Frack zu gestreiften Hosen erschien. Ich kratzte meine Zunge vom Gaumen. »Poll Gimsen«, wiederholte er.

Dann erschien zum Glück Lady Ottoline. »Ach, meine Liebe … Wir dachten, Sie kämen erst mit dem Zug um vier Uhr achtundzwanzig.«

Sie nahm meine Hand, führte mich in die abgedunkelte Diele zu einem samtbezogenen Sessel und wies mich an, Platz zu nehmen. Jemand reichte mir ein Glas Wasser. Lady Ottoline trat zurück und sah zu, wie ich es hastig trank, während der Butler mit meinem Koffer davonlief. Im Haus war es vollkommen still bis auf das laute Ticken einer Standuhr unter der Treppe, wo ein Bronzegong in einem stabilen Mahagonigehäuse hing. Auf einem runden Tisch vor mir lagen sorgfältig arrangiert die Ausgaben der Times, der Morning Post, der Illustrated London News, der Country Life und des Connoisseur, dazu der Fahrplan der Bradshaw’s Railway und das Verzeichnis des Postamts.

»Es tut mir leid, entsetzlich leid, dass Sie vom Bahnhof aus laufen mussten. Es ist ja gar nicht so furchtbar weit, aber mit einem Koffer – und dann an einem Tag wie diesem … nun, ich kann mich nur entschuldigen«, sagte Lady Ottoline.

Ich konnte mich nicht entsinnen, dass sich schon einmal jemand bei mir entschuldigt hätte, aus welchem Grund auch immer, und ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Dann hörte ich das vertraute Klipp-klapp von Pfoten auf Marmorfliesen und sah einen kleinen rostbraunen Hund mit langen Schlappohren und hervorstehenden Augen. Er knurrte mich an, und ich dachte: Schon wieder so einer!

»Lollipop! Wirklich … das verkneifen wir uns aber, vielen Dank.« Lady Ottoline hob den Hund hoch und küsste ihn. »Das ist meine Lola, obwohl ich sie meist kurz Lolly oder Lollipop nenne«, sagte sie verwirrenderweise. »Sie wird schon alt – wie ihre Mama«, fuhr sie fort. Sie sprach mit dem Hund, als wäre er ein Säugling. »Lolly ist ganz aufgeregt, dass Sie hier sind, nicht wahr, Darling? Ja … ja, das bist du. Und gleich zeigen wir Miss Gibson alles, nicht wahr? Ja, das tun wir.« Sie sah zu mir herüber. »Sind Sie bereit für eine kleine Führung durch das Haus?«

»Oh ja, es geht mir wieder gut, Mylady.« Aber als ich aufstand, zuckte ich vor Schmerz zusammen – und sie zuckte ebenfalls. »Nur eine Blase an der Ferse«, sagte ich.

Sie holte tief Luft. »Dann müssen Sie Ihre Schuhe ausziehen!«

Und so folgte ich auf Strümpfen dem süßen Duft der Gardenien über den kühlen Marmor und durch endlose, mit Teppichen ausgelegte Korridore. Während Lady Ottoline die Türen der großen, hellen Zimmer öffnete, gestikulierte sie und drehte sich zu mir um. »Der grüne Salon, den wir nur im Winter nutzen … die Bibliothek, wie Sie sehen … Mein Salon, wobei ich mir immer noch nicht über diese Tapete im Klaren bin … Der Tagessalon … Das Billardzimmer … Das Raucherzimmer …« Und so ging es in einem fort.

Ich war noch nie zuvor in einem Haus mit so opulentem Mobiliar gewesen, und es erschien mir beinahe zu schön, als dass man darin wohnen wollte. Jedes Zimmer besaß seinen ganz eigenen Charakter, und die Gesamterscheinung – aus golden und bronzefarben gemusterten Tapeten, prächtigem Brokat aus Samt und Seide, polierten und vergoldeten Mahagonilampen mit ihrer Fransenverzierung, aus Wandteppichen und Läufern, schimmernden Briefbeschwerern und Kristallvasen mit frischen Blumen – war wie ein Kunstwerk, ein Fest für die Sinne aus Farbe und Licht, aus weichem Gewebe und Düften.

»Das Studierzimmer Seiner Lordschaft …«, sagte Lady Ottoline und öffnete eine weitere Tür, diesmal die zu einem finsteren Raum mit Eichenpaneelen, schweren dunkelgoldenen Vorhängen und einem dunkelrot-violetten Orientteppich. Dann sagte sie: »Mein Lieber, Miss Gibson ist hier – ein wenig früher als erwartet … Ich führe sie gerade durch das Haus.«

Der Gentleman nahm seine Brille ab, stand auf und kam zu uns herüber. Er sah vornehm aus, groß und schlank, mit vorstehender Stirn, einer langen Nase und Geheimratsecken; seine Schnurrbartspitzen waren elegant gewachst, und das schütter werdende graue Haar war glatt an den Kopf gekämmt und in der Mitte gescheitelt. Er sah auf meine Füße, als er mir die Hand schüttelte.

»Blasen«, sagte Lady Ottoline ohne weitere Erklärung.

Der Gentleman zog eine Grimasse. »Welch ein Pech. Überaus schmerzhaft.«

Ottoline reichte ihm den Hund. »Leider wird mein Mann furchtbar in Beschlag genommen von den Ereignissen auf dem Kontinent«, flüsterte sie und schloss hinter uns die Tür. »Ist das nicht alles entsetzlich beängstigend?«

»Eine drohende Katastrophe, Eure Ladyschaft.«

Oben im Hauptflur führte eine Doppeltür in die Räume Ihrer Ladyschaft: ein Schlafzimmer mit palastähnlichen Ausmaßen und hohen Südfenstern Richtung Garten, umrahmt von üppigem Chintz ganz im Stil der Wände und Bettüberwürfe; daneben ein Ankleidezimmer mit maßgeschreinerten Schränken und Kommoden; ein großes, modernes Badezimmer, in dem das weiße Porzellan, das Glas und der graue Marmor leuchteten, während das Sonnenlicht durch ein weiteres Südfenster hineinströmte.

»Meine Garderobe, meinen Tagesablauf und alles Weitere werde ich morgen mit Ihnen durchgehen«, sagte Lady Ottoline, als wir zurück in den Flur traten und weiterliefen.

Wir eilten durch die nächsten Gänge. »Gästezimmer … Gästezimmer … Gästezimmer … Gästezimmer …«, sagte Ihre Ladyschaft und deutete mit der Hand auf Türen, die sie gar nicht erst öffnete. Dann stiegen wir eine vertraute schmale Treppe hinauf und kamen in einen ähnlich vertrauten, langen Korridor, gern als Jungfrauenflügel bezeichnet, in dem die Zimmer der weiblichen Bediensteten lagen.

»Sie sind hier bei den anderen Mädchen untergebracht, aber meiner Ansicht nach haben Sie das hübscheste Zimmer. Und natürlich müssen Sie es mit niemandem teilen.«

Das Zimmer ähnelte in nichts denen, die ich bislang bewohnt hatte, und ich konnte erst gar nicht glauben, dass es mir gehören sollte. Wie das Zimmer Ihrer Ladyschaft lag es gen Süden. Die Sonne strömte auf einen gold-grün gemusterten Teppichboden – Auslegware ohne Flecken und Löcher. Vor dem Fenster hingen Vorhänge – richtige Vorhänge – , und in der Ecke stand ein Waschtisch mit einem Spiegel. Es gab einen Polstersessel und ein Bücherregal, eine Kommode, einen Schrank und ein großes Messingbett mit etlichen Kissen aus gestärktem weißem Leinen. Ist das alles für mich? Alles für mich, musste ich fortwährend denken, und einen Augenblick lang fürchtete ich schon, mir kämen die Tränen.

»Ich hoffe, es gefällt Ihnen«, sagte Ihre Ladyschaft und lief zum offenen Fenster. »Es wurde frisch gestrichen – und diese Vorhänge sind auch neu«, fügte sie hinzu und strich mit dem Handrücken über den Stoff. »Nicht jeder schätzt Gelb, aber ich fand, es passt zu Ihnen.«

»Sie sind wunderschön«, sagte ich. Wie Sie, dachte ich.

Ich beobachtete, wie sie aus dem Fenster blickte, und ich glaube, es war in diesem Moment ihrer stillen Versenkung, in der ihr Lächeln verschwand, dass ich zum ersten Mal eine unbeschreibliche Traurigkeit an ihr verspürte. Und wegen dieser Traurigkeit und weil niemand zuvor eine Farbe für mich ausgesucht hatte, sagte ich: »Gelb ist sogar meine Lieblingsfarbe, Eure Ladyschaft.«

Sie drehte sich zu mir um. »Nun, das ist doch ein gutes Zeichen, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Ich lasse Sie nun auspacken. Nehmen Sie sich den restlichen Tag Zeit, um anzukommen und sich zurechtzufinden – und gönnen Sie sich ein Fußbad. Mr. Watts wird augenblicklich da sein. Er wird Ihnen bei allem Notwendigen zur Seite stehen und Sie mit den anderen bekannt machen. Er ist schon sehr lange bei uns … ein außerordentlich guter Butler und entgegen allem Anschein ein sehr liebenswerter Mann.« Sie blieb an der Tür stehen. »Ah, ich denke, Sie können eine Stärkung gebrauchen. Ich werde Ihnen etwas hinaufbringen lassen.«

Wenig später saß ich an dem kleinen Tisch unter meinem Fenster. Ich faltete meine gestärkte Leinenserviette auseinander und beäugte den silbernen Tortenständer vor mir, auf dem sich delikate Sandwiches, Scones und Kuchen türmten. Ich goss duftenden Darjeeling in die Porzellantasse und blickte über die Gärten hinweg zu den Maisfeldern. Was würde Kitty jetzt von mir denken?, fragte ich mich.

Meine geliebte Kitty hatte mir weitaus mehr als Gebete und Sprichwörter beigebracht. Mein Bestreben aufzusteigen, mich von der Schande meiner Geburt zu befreien und einen Platz in der Welt zu finden, hatte ich zweifellos ihr zu verdanken. Sie hatte mich ermuntert, eine Stellung im Haushalt anzunehmen. So könne man leben, hatte sie gesagt; man habe ein Bett zum Schlafen, jeden Tag eine gute Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf. Aber man müsse schon ein ganz außergewöhnliches Mädchen sein, um Kammerdienerin zu werden, hatte sie mich ermahnt.

An jenem Abend stellte mich Mr. Watts den anderen vor. Sie reihten sich nebeneinander auf und schüttelten mir die Hand. Er klärte mich über die monatlichen Tanzabende für die Dienerschaft auf, über die »geselligen Abende« mit Kartenspielen, Domino und Ratespielen rund um das Allgemeinwissen und über die Tombola Ihrer Ladyschaft, bei der es Gewinne gab wie Badesalze, Taschentücher, Pralinen, Bücher und, zu Weihnachten, einen Präsentkorb von Fortnum & Mason. Dies sei, so sagte er, ein sehr fröhliches Haus. Später nahm er mich beiseite und erinnerte mich leise daran, dass ich als Kammerdienerin Ihre Ladyschaft vor den anderen Bediensteten verträte und daher auf mein Betragen achten und Geschwätz unterlassen müsse.

Von Mr. Watts erfuhr ich, dass die Zechen im Norden und Kapitalerträge aus Minen, von denen einige sogar in Argentinien lagen, Lord Hector Campbells Vermögen vermehrt hatten, aber dass das Anwesen in Schottland trotz seines Namens und seiner schottischen Abstammung in Lady Ottolines Besitz sei. Dort habe sie jeden langen und glücklichen Sommer ihrer Kindheit verbracht. Und als ich mir Lady Ottoline als Kind vorstellte und versuchte, mir das Anwesen auszumalen, fragte ich, ob eine Burg dazugehöre.

»Ich schätze, man könnte es so nennen … aber in Wahrheit ist es wohl mehr ein befestigtes Gemäuer.«

Ich war enttäuscht. Die Vorstellung von einem befestigten Gemäuer gefiel mir nicht gerade, und obwohl der Name des Anwesens – Delnasay – beinahe märchenhafte Vorstellungen weckte und ich weiterhin Türmchen und Tourellen vor mir sah, speckte ich mein Fantasiebild ab und ließ die Zugbrücke und den Burggraben verschwinden.

»Aber wenn Sie auf der Suche nach Burgen sind, Miss Gibson, sind Sie auf dem richtigen Fleck Erde gelandet«, sagte Mr. Watts. »Davon haben wir unseren gerechten Teil abbekommen, müssen Sie wissen, zum Beispiel jene in Warkworth. Ich vermute, Sie kennen sie von Mr. Turners berühmtem Gemälde oder vielleicht von Shakespeare?«

Dem war nicht so, aber ich nickte lächelnd.

Ich aß viel in diesen ersten Tagen in Birling. Manches war mir neu und unbekannt, wie Blutwurst, Pease Pudding, Stottie Cake oder Räucherhering. Und zum Frühstück gab es alle Sorten von Eiern: große, kleine, bunte und gesprenkelte, von Enten, Teichhühnern, Kiebitzen und anderen Vögeln des Anwesens, die für diese Region typisch waren. Jeden Tag wurden ein ordentliches Mittag- und Abendessen aufgetischt: Steak mit Bohnen und Klößen, Taubenpastete, Lammbraten mit Minze aus dem Garten und zahllose gedämpfte Gerichte. In den anderen Häusern hatte es sonntags für gewöhnlich Roast Beef und Yorkshire Pudding gegeben, montags wurden die Reste kalt serviert, dienstags gab es Cottage Pie oder Frikadellen oder manchmal Leber mit Speck; dann gab es ein weiteres Wochengericht – ausnahmslos Hammel – und, natürlich, freitags Fisch. Aber nach meiner Zeit bei Mrs. B. – die sich von hart gekochten Eiern und Kraftbrühe ernährt und von ihrer schlecht entlohnten Dienerschaft dasselbe erwartet hatte – fühlte ich mich, als wäre in Birling jeden Tag Weihnachten. Ich hatte noch nie in einem Haushalt gearbeitet, in dem das Essen so im Überfluss vorhanden und die Dienerschaft so gut genährt war, und ich fragte mich, ob es in Schottland wohl genauso werden würde, denn ich genoss das Essen.

Ergreifend war das eine Wort, mit dem Lady Ottoline Schottland beschrieb. Sie stand vor dem langen Spiegel in ihrem Ankleidezimmer – wo wir Woll- und Tweedkleidung heraussuchten – und rückte ihre karierte Jagdmütze zurecht. »Ich denke, Sie werden Schottland ganz ergreifend finden«, sagte sie. Ich stand auf den Zehenspitzen und schob die Hutnadel mit der Silberdistel aus Amethyst in den Stoff. »Es ist ein wilder, wilder Ort … vielleicht mein spirituelles Zuhause«, fügte sie hinzu. Und als sie ihr Spiegelbild begutachtete, den Kopf in diese und jene Richtung wandte, wurde in meiner Vorstellung aus der bereits verkleinerten Burg ein leeres, verlassenes Gebäude, eingehüllt in dichten, wabernden Nebel. Sie löste die Hutnadel und drehte sich zu mir um. »Es ist ganz anders als hier … primitiver vermutlich, aber dennoch schrecklich romantisch.«

Ich versuchte zu lächeln, aber ein primitiver Ort vermochte mich nicht zu begeistern. Ich hatte beinahe zehn Jahre damit verbracht, Züge und Omnibusse zu erwischen, war durch morastige Straßen gelaufen, um mich aus jeder Form von Primitivität zu befreien und Behaglichkeit zu finden. Zudem konnte ich mir Ihre Ladyschaft nicht in einer wilden, wilden Gegend vorstellen – oder in einem primitiven, befestigten Gemäuer. Sie schien mir, selbst damals schon, eine Frau grenzenlosen Anstands und Liebreizes zu sein, eine sanfte Frau mit zarter Haut und ebensolchem Gemüt. Und so begann ich Beklommenheit gegenüber Schottland zu empfinden, insbesondere angesichts des ständigen Geredes über einen drohenden Krieg, und ich schrieb an Stanley, um ihm meine Befürchtungen mitzuteilen: In wenigen Tagen sollen wir abreisen, spätestens Ende des Monats, aber ich weiß nicht mehr, ob das wirklich gut wäre. Heimlich hoffe ich sogar, dass das Schicksal eingreift und unsere Reise in den Norden verbietet … Nicht, dass ich mir einen Krieg wünsche, natürlich …

Obwohl die Antwort von Stanley immer noch ausstand, hatte ich keine Zeit, mir um sein Schweigen viele Gedanken zu machen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Lady Ottolines Eigenheiten zu verinnerlichen – ihre Vorlieben, Abneigungen und Wünsche. Sie war sehr darauf bedacht, dass ich Birling als mein neues Zuhause betrachtete, und bestand darauf, mir das Gelände persönlich zu zeigen.

Wir traten aus dem Salon auf die geflieste Terrasse, zu der alle großen Fenster der Zimmer im Südflügel des Hauses blickten und wo Mr. Watts gerade mit einem langen Haken die Sonnenblenden herabließ. Lady Ottoline deutete auf eine Silhouette in der Ferne: Das sei der Burgturm in Warkworth, sagte sie.

»Spukt es dort?«, fragte ich.

»Natürlich. In den besten Gemäuern spukt es immer … Warkworth hat die Graue Lady.«

Ich hätte gern mehr über die Graue Lady erfahren, aber als ich mich umdrehte, war Lady Ottoline schon weitergelaufen. Mit gesenktem Sonnenschirm stand sie unter der von Glyzinien bewachsenen Pergola. Als ich näher kam, sah ich, wie sie die Augen schloss und mit ihrer Wange, ihrer Nase und dann ihrem Mund mehrfach über eine der hängenden Blüten strich, wie um sie zu küssen – gerade so, als verliere sie sich in einer intimen Träumerei.

Rasch blickte ich zu Mr. Watts hinüber. Glücklicherweise wandte er uns den Rücken zu.

Lady Ottoline öffnete die Augen und lächelte mich an. »Himmlisch. Ganz betörend.«

Sie hob ihren Sonnenschirm, und wir schlenderten weiter.

Am anderen Ende der Terrasse stand ein steinernes Bauwerk aus Säulen und Bogen. »Loggia« nannte Lady Ottoline es. Von hier führten Stufen hinab in einen tiefer liegenden italienischen Garten mit einem großen quadratischen Becken und einem Bronzespringbrunnen mit einem Jungen und einem Delfin in der Mitte. Weiter hinten, hinter der enormen Rasenfläche, stand unter einer gewaltigen Himalaya-Zeder und einem Affenschwanzbaum das Tor zu einem Gehölz, in dem jedes Frühjahr nacheinander Schneeglöckchen, Primeln, gelbe Narzissen und Glockenblumen wuchsen.

Wir standen schweigend da und beobachteten über den Wiesen die Feldlerchen, die bei ihrem Flug sangen. »In Whittingham Wood sang einmal eine Nachtigall«, flüsterte Lady Ottoline in Gedanken versunken. »In meinem ersten Monat hier, im Juni dreiundneunzig … Ja, das war das letzte Mal, dass in dieser Gegend eine Nachtigall sang.«