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Ein gestohlener Kuss, ein altes Herrenhaus voller Geheimnisse und eine große Liebe in stürmischen Zeiten …
England 1926. Die Familie Forbes versammelt sich in ihrem Landhaus Eden Hall in Surrey. Doch dieses Jahr ist alles anders: Daisy, die jüngste der drei Töchter, findet heraus, dass ihr geliebter Vater eine Affäre hat. Und das ist noch nicht alles, denn ausgerechnet mit dieser Frau soll sie die Feiertage verbringen! Daisy ist schockiert und enttäuscht. Doch schon bald muss sie sich mit ganz anderen Dingen beschäftigen, denn sie erhält einen Heiratsantrag von einem Mann, ein anderer erklärt ihr seine ewige Liebe und ein dritter stiehlt Daisy ihren ersten Kuss. Für wen soll sie sich entscheiden? Und was wird aus ihrer Familie werden?
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Seitenzahl: 529
JUDITH KINGHORN
Roman
Aus dem Englischen
von Anja Schäfer
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»The Snow Globe« bei New American Library, New York.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe März 2016 bei Blanvalet Verlag,
einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Judith Kinghorn
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Blanvalet Verlag, in der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotive: Getty Images/LOOK-foto/Ingolf Pompe;
mauritius images/Alamy; www.buerosued.de
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Redaktion: Angela Kuepper
LH · Herstellung: sam
ISBN: 978-3-641-17202-2V001
www.blanvalet.de
Für Elizabeth, meine Mutter
Vögel tun es, Bienen tun es,
selbst dressierte Flöhe tun es.
Cole Porter
TEIL 1
Dezember 1926
1
Als Eden Hall gerade erbaut worden war, waren bei der Lokalzeitung zahlreiche Leserbriefe eingegangen, was das dortige elektrische Licht betraf. Es sei gefährlich, zu grell und gehöre nicht aufs Land, hatten die Leute geschrieben. Wenn diese Londoner so etwas nötig hätten, sollten sie gefälligst in der Stadt bleiben.
Ein Vierteljahrhundert später und zwei Wochen vor Weihnachten stand Eden Hall erneut in der Zeitung. Diesmal nicht seiner Größe oder hellen Beleuchtung wegen, genau genommen ging es gar nicht um das Anwesen selbst, sondern um die achtzehnjährige Daisy Forbes, die sich an der landesweiten Suche nach der verschollenen Autorin Agatha Christie beteiligte und ihr Elternhaus als Versammlungsort für all diejenigen zur Verfügung stellte, die in den umliegenden Hügeln und in jenem Tal fahndeten, das im Volksmund Devil’s Punchbowl hieß.
»Alle Freiwilligen, die sich der Polizei bei ihrer Suche anschließen wollen, sind eingeladen, sich am kommenden Samstag, dem 11. Dezember, um 9 Uhr auf Eden Hall zu versammeln … Für das leibliche Wohl ist gesorgt«, verkündete die Zeitung am Ende ihrer Titelgeschichte unter der Überschrift: Das Geheimnis um Mrs. Christie.
Am Samstagmorgen um neun Uhr waren bereits mehr als hundertfünfzig Menschen auf Eden Hall zusammengekommen, und weitere strömten herbei. Sie standen mit dem Crown-Derby- und Wedgwood-Porzellan von Mabel Forbes in der trüben Dezemberkälte, während Daisy gemeinsam mit der Köchin Mrs. Jessop aus dem großen Kessel Tee nachschenkte.
Seit sieben Tagen, seit man Mrs. Christies Wagen, einen Morris Cowley, verlassen und mit abgelaufenem Führerschein darin an einem nahe gelegenen See gefunden hatte, war die ganze Nation in Aufruhr, und so wie die Flugzeuge, die über der Gegend herumknatterten, schwirrten auch die Spekulationen durch die eisige Luft: War Mrs. Christie entführt worden? Hatte man sie ermordet? War ihr Ehemann daran beteiligt gewesen?
Als der Constable des Ortes mit einem Sprachrohr die alten Stufen erklomm, kehrte Ruhe ein, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Der Wachtmeister sprach mit ruhiger Stimme; die Lage sei ernst, sagte er. Er deutete zur Karte, die am Tor des Wagenschuppens hing, bat alle, auf die mit rotem Band gekennzeichneten Gebiete zu achten und sich in Vierer- oder Fünfergruppen aufzuteilen. Niemand solle, so mahnte er, alleine durch das Tal Devil’s Punchbowllaufen.
Daisy hörte, wie man Constable Trotton durch den Nebel grässliche Fragen zurief; nach anfänglichem Gemurmel brachen in den Grüppchen immer lautere Diskussionen aus. Vor zwei Tagen war unten an der Kreuzung ein Mann beobachtet worden, der sich verdächtig verhalten hatte. Ja, ein paar Leute hätten ihn gesehen. Nein, er stamme nicht aus dieser Gegend. Ein Fremder. Aber war er auch ein Mörder? Lauerte er im nebelverhangenen Heideland darauf, erneut zuzuschlagen? Einige Minuten lang hatte Constable Trotton Mühe, sich in der versammelten Menge Gehör zu verschaffen, dann erinnerte er sich an sein Sprachrohr und erinnerte mit strenger Stimme daran, dass bislang noch kein Verbrechen begangen worden sei.
Es war schon fast zehn Uhr, als Stephen Jessop über den kiesbedeckten Hof auf Daisy zukam. Die letzte Gruppe war bereits – mit Rucksäcken, Feldstechern und Spazierstöcken ausgerüstet und von Trotton und zwei seiner Kollegen begleitet – durch das breite Tor in den Wald verschwunden.
»Danke, dass du gewartet hast … Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin«, sagte Stephen. Er rieb sich die Hände und hauchte hinein.
»Wir sollen in Vierer- oder Fünfergruppen losziehen, Stephen, nicht zu zweit.«
»Ah, aber das gilt wohl eher für Leute, die sich in der Gegend nicht auskennen, nicht für uns.«
»Nein, das gilt aus Gründen der Sicherheit, hat Trotton gesagt.«
Stephen lächelte. »Bei mir bist du völlig sicher.«
Daisy schüttelte den Kopf und lief los. »Warum kommst du so spät?«, fragte sie.
»Ich habe verschlafen.«
»Ich fasse es nicht, dass du verschläfst, wenn so etwas passiert. Ich habe kaum geschlafen und bin seit halb sechs wach.«
»Tja … du bist eben ein wenig fanatisch.«
»Fanatisch? Ich mache mir Sorgen – wie alle hier. Außer dir, wie es scheint.«
»Ich habe mehrmals gesagt, was ich von der Sache halte. Sie will doch bloß öffentliches Aufsehen erregen. Anders kann es gar nicht sein.«
»Ich glaube kaum, dass die Regierung so viel Aufhebens darum machen würde, wenn es hier nur um öffentliches Aufsehen ginge, Stephen. Ich habe gelesen, dass auch Sir Arthur Conan Doyle äußerst besorgt ist. Er hat einem Medium einen Handschuh von Mrs. Christie gegeben, mit dessen Hilfe es versuchen soll, sie zu finden«, fügte sie hinzu und drehte sich zu ihm um, während sie durch das Eichengatter trat, das zum Wald führte. Ein kleines Flugzeug, das mit mittlerweile vertrautem Knattern über ihren Köpfen kreiste, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie hielt inne und sah nach oben. »Alles sehr merkwürdig«, sagte sie, ließ den Kopf wieder sinken, und ihre Blicke trafen sich. »Was ist los? Weshalb grinst du?«
»Nur so«, sagte er, und sie liefen weiter durch den Nadelwald.
Stephen war drei Jahre älter als Daisy. Er lebte seit 1909 auf Eden Hall, seit dem Sommer, in dem die Jessops ihn adoptiert hatten. Eine Cousine von Mrs. Jessop hatte den damals vierjährigen Waisenjungen mit dem Zug aus London hergebracht. Daisy erinnerte sich nicht mehr an diesen folgenreichen Tag, aber sie hatte gehört, wie schüchtern Stephen und wie überglücklich Mrs. Jessop gewesen war, ihren neuen Sohn kennenzulernen.
Offiziell in Eden Hall eingestellt wurde Stephen, nachdem er mit vierzehn die Schule beendet hatte – ursprünglich als einfacher Dienstbote. Vor nicht allzu langer Zeit, nach dem Skandal im vergangenen Jahr, als Howard Forbes’ Chauffeur eine junge Küchengehilfin in andere Umstände versetzt hatte und Howard beide ihre Koffer packen ließ, hatte er dann Stephen gebeten, als Fahrer einzuspringen. Stephen hatte noch nie zuvor einen Wagen gelenkt, aber Howard hatte ihm versichert, dass es sehr einfach sei und er ein oder zwei Stunden in der Auffahrt üben könne. Und so waren Stephen und der Rolls immer wieder scheppernd und knirschend, ruckelnd und stotternd hinauf- und hinunter- und wieder hinaufgefahren, während Daisy und ihre Schwestern zugesehen hatten. Die Mädchen hatten erwartet – beinahe erhofft –, einer Wiederholung von Tante Dosias Vorführung Anfang des Jahres beiwohnen zu können, als diese beschlossen hatte, eine Spritztour mit Howards altem Austin Twenty zu unternehmen und dabei den Wagen – mit gehörigem Tempo – die Auffahrt hinunter durch den japanischen Garten gejagt und in den Seerosenteich gesetzt hatte. Aber ein derartiges Drama blieb aus, und Stephen wurde nun Jessop genannt und wohnte über dem Wagenschuppen in der Kutscherwohnung.
Er war, wie Daisy häufig denken musste, derjenige, der einem großen Bruder am nächsten kam, denn er war immer so gewesen, wie sie sich einen Bruder vorstellte: Er hatte sie beschützt, ihr Dinge beigebracht, war gescheit, und manchmal neckte er sie auch.
Als sie auf halbem Wege ins Tal am Hang neben der alten Holzbrücke standen, zog Daisy das Fernglas ihres Vaters aus der Lederhülle. Der Nebel lichtete sich, die tief stehende Wintersonne brach durch die diesigen Schleier und sorgte für Farbtupfer in der ansonsten kargen, trostlosen Heidelandschaft. Weit unten konnte sie Grüppchen von Menschen erkennen, die aus den Schatten der mit Bäumen gesäumten Wege hinaustraten und wieder darin verschwanden.
»Es sieht so aus, als würden sich alle in dieselbe Richtung aufmachen … nach Thursley«, sagte sie. »Trotton hat aber ausdrücklich gesagt, wir sollen uns verteilen und nicht den anderen folgen«, setzte sie hinzu, packte das Fernglas weg und wandte sich zu Stephen um, der sich eine Zigarette drehte. »Ich weiß nicht, wie du in einer solchen Lage dazu fähig bist.« Sie sprang die Böschung hinab. »Begreifst du es nicht? Die Sache ist von internationalem Interesse.«
Stephen schwieg. Er legte den Kopf schräg und hob das Streichholz an die Zigarette.
»Du bist unerträglich«, sagte sie, während sie ihm zusah. »Wenn die arme Mrs. Christie gefunden wird, dann hat sie es jedenfalls nicht dir zu verdanken.«
Das Haar unter seiner Mütze wirkte fettig und ungekämmt. Offenbar hatte er keine Zeit gehabt, sich zu waschen oder gar zu rasieren, dachte sie. Er hatte das dunkelgrüne Tuch, das sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, vorne an seinem blassen Hals geknotet und in den Pullover gesteckt. Der Jackenkragen war hochgeklappt. Ihn fröstelte, und er stampfte mit den Füßen, während er an seiner Zigarette zog. »Na, dann komm«, sagte er und lief voraus. »Und wer trödelt jetzt?«, rief er zurück und rannte unter den Kiefern entlang.
Als Daisy ihn eingeholt hatte, befanden sie sich schon mitten im Tal, wo der Fluss breiter war und in einem Schwall über die Felsen und Steine toste, die seit Jahrtausenden von den Hügeln heruntergespült wurden. Stephen ließ sich auf einem Baumstumpf nieder und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr.
»Sehr lustig«, sagte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und lief langsam auf ihn zu. »Möglicherweise ist hier ein Mord geschehen, und du tust so, als … als wäre alles nichts als ein Spiel.«
»Ich glaube einfach nicht, dass wir Mrs. Christie hier finden werden – oder auch nur Hinweise auf ihr Verschwinden, das ist alles. Ihr Wagen wurde in Newlands Corner zurückgelassen. Das ist etliche Meilen von hier entfernt.«
»Warum wolltest du dann mitkommen? Du hast als Erster vorgeschlagen, dass wir hier nach ihr suchen.«
Er stand auf und nahm die Mütze ab. Sein Haar strotzte in der Tat vor Dreck. Er sah erbärmlich aus.
»Warst du gestern im Coach and Horses?«, fragte sie und trat mit ihrem Stiefel gegen die weiche Erde.
Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Ja, das stimmt. Und es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin und … schnippisch war.«
Sie nickte.
»Vergibst du mir?«
Sie drehte sich zu ihm um, schloss kurz die Augen und zuckte mit den Schultern. »Tu ich das nicht immer?«
»Ja, das tust du«, sagte er zerknirscht und voller Ernst. Er erwiderte ihren Blick. »Immer.«
»Theosophen ist es wichtig, etwas zurückzugeben und zu verzeihen«, sagte sie und lief weiter.
Stephen lächelte. »Erkläre mir noch einmal, warum.«
»Es geht um die Wechselwirkungen zwischen Universum und Menschheit … um die Verbundenheit zwischen der äußeren Welt und dem innerlichen Erleben«, sagte sie, blieb stehen, um ein winziges Rindenstück aufzuheben, und betrachtete es von Nahem. »Um Weisheit zu erlangen, müssen wir die Natur in ihren kleinsten Einzelheiten untersuchen … So wie dieses Stück Rinde hier«, sagte sie und streckte ihre Hand aus.
Er nahm es, warf einen kurzen Blick darauf und sah sie wieder an. »Und welche Weisheit lässt sich daraus erlangen?«
»Das musst du selbst herausfinden.«
Er steckte den Fund in seine Jackentasche, und sie liefen weiter unter den Kiefern entlang und durch die wunderschöne wilde Landschaft, folgten den Pfaden, welche die Schmuggler mit ihren Packpferden einst genommen hatten, Sandwege durch hohe Ginstersträuche und Stechpalmen, Wacholder und Dornenbüsche. Daisy erzählte ausführlich, was sie in den vergangenen Tagen über den Fall in der Zeitung gelesen hatte, hielt gelegentlich inne, um Schlussfolgerungen zu ziehen oder eine Frage aufzuwerfen oder einfach nur um über die Heide zu blicken und zu sagen: »Hm, ich frage mich …«
Es war bereits kurz nach Mittag, als sie sich auf die Mauer setzten, die unter einem verkrüppelten Baum neben dem verlassenen Cottage stand, drei Meilen von Eden Hall entfernt. Aus ihrer Angeltasche aus Segeltuch, die sie schräg über der Schulter getragen hatte, holte Daisy zwei hart gekochte Eier und eine Flasche von Mrs. Jessops selbst gebrautem Ingwerbier.
»Es ist so merkwürdig«, sagte sie, wie so oft an diesem Tag. »Keinerlei Anzeichen für einen Streit … keine Lösegeldforderung … keine Leiche … keine Zeugen«, fuhr sie fort. »Und dennoch komme ich nicht umhin zu glauben, dass die Antwort direkt vor unserer Nase liegt.«
Stephen schwieg.
Abgesehen von einem Kinderschuh – den Daisy aus irgendeinem Grund aufgehoben und eingesteckt hatte – und gelegentlichen Überresten von Lagerfeuern und weggeworfenen Flaschen hatten sie nichts gefunden. Sie hatten einige andere Freiwillige getroffen, die den Kopf schüttelten und bereits nach Eden Hall zurückliefen, und sie hatten ein kleines Lager von Landfahrern durchquert, wo ein Junge mit verschmiertem Gesicht die Finger in die Ohren gesteckt und ihnen die Zunge herausgestreckt hatte.
»Vielleicht geht es ihr nicht gut, genau wie Noonie«, sagte Stephen, indem er für Daisys Großmutter, die Mutter von Mabel Forbes, denselben Kosenamen wie die Familie verwendete. »Vielleicht leidet sie an Gedächtnisschwund.«
Daisy drehte sich zu ihm um. »Aber Mrs. Christie ist doch noch gar nicht alt. Sie ist jünger als meine Mutter.«
»War nur so ein Gedanke … und ich will um deinetwillen hoffen, dass sich alles ganz anders verhält, als ich denke. Sonst hat sie uns alle zum Narren gehalten.«
Daisy schüttelte den Kopf und reichte ihm die braune Flasche. »Es geht nicht nur darum, öffentliches Aufsehen zu erregen, Stephen«, sagte sie, »das kann ich dir versichern. Es ist weitaus mehr.«
Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, pellten die hart gekochten Eier und schnippten winzige Schalenreste auf die sandige Erde unter sich.
»Du denkst doch nicht immer noch ans Auswandern, oder?«, fragte Daisy.
Es war ein Gedanke, den Stephen erst kürzlich geäußert hatte. Er hatte ihr erzählt, er habe Annoncen gesehen, in denen Hilfe bei der Überfahrt nach Neuseeland und bei der Finanzierung für den Aufbau einer Farm angeboten wurde.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Was hältst du denn davon?«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich den Gedanken abscheulich finde«, sagte sie schnell. »Denke nur, wie traurig deine Mutter wäre.«
»Und du?«
»Ja, ich auch … Ich fände es furchtbar, wenn du nicht mehr hier wärst.«
»Denn …?«
»Denn«, sagte sie und grinste ihn an, »wer würde mir dann auf die Nerven fallen?«
»Ich bin sicher, da würde sich schon jemand finden.«
Hoch über ihnen zankten sich zwei Vögel. Sie flogen bald hierhin, bald dorthin, drehten ihre Kreise und kreischten laut im ansonsten stillen Tal.
»Ich halte es für einen grässlichen Einfall«, sagte Daisy erneut, »dein Zuhause zu verlassen, um auf die andere Seite der Erdkugel zu ziehen.«
Stephen drehte sich zu ihr um. »Aber es ist nicht mein Zuhause. Es ist dein Zuhause und das meiner Eltern vermutlich. Ich passe hier nicht wirklich hin.«
»Ich dachte, du wärst glücklich. Ich dachte, du würdest dich hier wohlfühlen.«
Er nickte. »Das schon, aber … ach, es ist schwer zu erklären, und wahrscheinlich könntest du es gar nicht verstehen.«
»Probieren wir es aus«, sagte sie, griff zu ihm hinüber und nahm ihm die Flasche aus der Hand.
Er seufzte und holte sein Tabakpäckchen und das Zigarettenpapier aus der Tasche. »Es ist ziemlich kompliziert«, sagte er, »aber ich vermute, mir würde es anders ergehen, wenn ich meine wirklichen Eltern kennen würde.«
»Ich verstehe«, sagte Daisy, als würde sich ihr nun alles vollkommen erschließen.
»Es ist nicht so, dass ich unglücklich wäre«, sagte er und sah kurz zu ihr auf.
»Was ist es dann?«, fragte sie und beobachtete seine Finger dabei, wie sie den Tabak aufrollten.
Er zuckte die Achseln. »Einfach die Unwissenheit vermutlich.«
»Ich habe dir schon einmal geraten, deine Mutter zu fragen.«
Stephen schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Sie hat nie mit mir darüber gesprochen, und ich will sie nicht verunsichern. Ich will auch nicht, dass sie denkt, mir würde etwas fehlen oder sie wäre mir keine gute Mutter gewesen – denn das war sie, und ich liebe sie von Herzen«, fügte er hinzu, während er sich die Zigarette anzündete. »Ich liebe sie beide.«
»Dann kannst du sie nicht einfach verlassen. Es würde deiner Mutter das Herz brechen, wenn du auf einen anderen Kontinent auswandern würdest. Sie würde dich nie wiedersehen. Du würdest sie nie wiedersehen.«
»Vielleicht … vielleicht«, sagte er nickend, den Blick gesenkt, und dachte nach. »Aber ich kann auch nicht hierbleiben – nicht, wenn ich etwas aus meinem Leben machen will«, fügte er hinzu und sah zu Daisy auf.
Als sie sich schließlich wieder in Richtung Eden Hall aufmachten, hatte Daisy Mrs. Christies Verschwinden vergessen. Das einzige Verschwinden, an das sie denken konnte, war Stephens. Einmal ausgesprochen, lauerte es nun in der klammen, von Kiefernduft erfüllten Luft zwischen ihnen. Aber sie konnte sich die Welt – ihre Welt – ohne ihn einfach nicht vorstellen.
In Daisys Augen gehörte Stephen Jessop mehr an diesen Ort als sie selbst oder ihre Schwestern, sogar als ihre Eltern. Er kannte hier jeden Pfad, jedes Gehölz und jede Senke. Gemeinsam hatten sie die Wälder, Felder und Täler in der Gegend erkundet. Gemeinsam hatten sie jeder Pflanze und jedem Baum einen Namen gegeben. Er hatte ihr beigebracht, welche Pilze giftig waren und welche nicht, hatte ihr das fahrende Volk erklärt, und von ihm hatte sie die Legenden jenes Tals gehört, des Devil’s Punchbowl. Er hatte sein Leben beim Baumklettern riskiert, war über alle Äste gestiegen, nur um ein Nest oder Eier zu holen und ihr zu zeigen; er hatte sie mitgenommen, damit sie junge Füchse oder einen Dachsbau in der Abenddämmerung beobachten konnten; er hatte ihr eine Schleuder gebaut und beigebracht, damit umzugehen, und ihr zum zehnten Geburtstag drei Murmeln, ein Glas Kaulquappen und eine Nachtfalterraupe geschenkt.
Zudem kannte Stephen hier buchstäblich jeden, selbst diejenigen, die nur auf der Durchreise waren, wie den Landstreicher, der dauernd mit einem Stock auf der Schulter über die Kreuzung gelaufen war und hin und wieder etwas gen Himmel geschrien hatte. Ein Kriegsopfer, hatte Stephen ihr erklärt.
»Er glaubt, sein Name sei Fletch, aber an viel mehr kann er sich nicht erinnern.«
»Du meinst, er weiß nicht, wo er wohnt?«, hatte Daisy gefragt.
»Wo er gewohnt hat«, hatte Stephen sie korrigiert. »Nein, er weiß nicht mehr, woher er stammt oder wo er vor dem Krieg gelebt hat. Er glaubt, der Ort fängt mit B an. Natürlich denkt er, er wäre noch immer in der Armee, deshalb marschiert er so auf und ab. Er hält Wache.«
»Aber vielleicht hat er irgendwo eine Familie … die ihn sucht.«
»Oder vielmehr glaubt, er sei tot.«
Daisy hatte vorgeschlagen, Captain Clark könne ihm helfen, aber Stephen hatte es bezweifelt, denn Captain Clark sei ebenfalls »angeschlagen«.
Captain Clark hatte im selben Heim gewohnt wie die alte Mrs. Reed, die frühere Köchin von Eden Hall, und sich ebenfalls im Militärschritt bewegt: Er lief in geraden Linien, hob die Füße ein wenig zu weit an, hielt die Arme schnurgerade am Körper. Daisy hatte schon viele Kriegsveteranen gesehen, vor allem in der Stadt, wo sie auf Parkbänken schliefen und auf dem Asphalt oder in Rollstühlen vor den U-Bahn-Stationen saßen und Streichhölzer verkauften oder um Almosen bettelten. Und selbst diejenigen, die noch alle Gliedmaßen besaßen – und auch sonst keinerlei offensichtliche körperliche Blessuren aufwiesen –, waren schnell an diesem Gang zu erkennen … oder einem Zucken … oder an ihrem gequälten Blick.
Im vorigen Winter, als Lebensmittel aus der Speisekammer verschwunden waren – und Nancy, die Haushälterin, Mabel darüber in Kenntnis gesetzt und Daisy es wiederum von Mabel erfahren und gleich gewusst hatte, dass Stephen mit ihrem Einverständnis etwas für Fletch genommen hatte –, hatte Captain Clark sich erschossen. Er hatte wie gewöhnlich zu Mittag gegessen, war dann zu seinem Verdauungsspaziergang auf den Hügel gestiegen und hatte sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Mrs. Jessop hatte gesagt, das sei traurig, aber immerhin habe er keine Familie, und er habe es nicht in Hörweite von Mrs. Reed getan (eine Bemerkung, die Daisy für töricht hielt, weil jeder wusste, dass Mrs. Reed so gut wie taub war). Es hatte in der Zeitung gestanden, und man hatte eine gerichtliche Untersuchung durchgeführt, bei der herausgekommen war, was alle ohnehin wussten: dass es sich um Selbstmord »wegen Unzurechnungsfähigkeit« handelte. Kurz danach war Fletch verschwunden.
Lange bevor Fletch aufgetaucht war, schon im Krieg, hatte Stephen mit Daisy und einigen anderen Dorfkindern den Unterricht im Schulhaus besucht. Und bei jeder Geburtstagsfeier und bei jeder Einladung zum Tee war er dabei gewesen: bei Besuchen der rotwangigen, kariert gekleideten Cousins aus Schottland und der schweigsamen Kinder, die kürzlich in die Gegend gezogen waren und die Daisys Mutter ins Herz geschlossen hatte. »Neue Freunde!«, rief Mabel dann und klatschte in die Hände. Das waren die schlimmsten Verabredungen: verkrampfte Stunden mit verschütteten Getränken und roten Gesichtern und neugierigen, feindseligen Blicken.
Und dann gab es noch die Londoner Kinder, die Erbsen spuckten und mit Brot warfen.
Nicht alle seien Waisen, hatte Stephen ihr erklärt; manche hätten durchaus Eltern, die aber seien zu arm, um für ihre Kinder sorgen zu können. Zu Kriegszeiten und auch noch einige Jahre danach waren sie jeden Sommer gekommen, hatten oben im Kinderzimmer geschlafen, das man zu einem Schlafsaal umfunktioniert hatte, jedes Jahr eine andere Gruppe. Diese Kinder waren alles andere als schweigsam. Sie kletterten durchs Fenster, statt die Türen zu benutzen, und rutschten das Geländer hinab, statt die Treppe hinunterzusteigen. Sie prügelten sich und fluchten und kletterten auf Mauern, Bäume, Abflussrohre und das Dach des Gewächshauses, bis zwei von ihnen hindurchkrachten. Sie hatten Läuse, und von den Nasenlöchern bis zum Mund flossen grünliche Rinnsale, die sie mit den Ärmeln wegwischten. Fast alle von ihnen rauchten, und sie zündelten und erschreckten Leute und hatten ständig Hunger. »Hab ’nen Mordskohldampf«, sagten sie, jeden Tag und zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Jedermanns Nerven lagen blank, bis sie nach Hause fuhren. Aber Stephen war der Mittelsmann, er konnte sowohl sie als auch Daisy und ihre Schwestern verstehen.
Selbst heute noch musste Daisy oft an Janet Greenwell denken mit ihrem kahl rasierten Kopf und den jämmerlich dürren Beinen, die blasser und schmaler waren, als Daisy je gesehen hatte. Und sie erinnerte sich an einen verkrüppelten Jungen, Neville, der eine Schiene am Bein trug und so dicke Brillengläser, dass seine Augen winzig wirkten. »Verkrüppeltes Schlitzauge« hatten die anderen ihm hinterhergerufen, wenn er über den Ziegelweg des eingezäunten Gartens gehumpelt war.
Nur ein einziges Mal hatte Daisy den Mut aufgebracht, ihnen etwas entgegenzusetzen. Nur ein einziges Mal hatte sie zurückgebrüllt, sie seien brutale Tyrannen, und war Neville hinterhergelaufen. Sie hatte ihn zusammengekauert neben dem Kaninchenstall gefunden, sein steifes Bein von sich gestreckt wie ein Kriegsveteran – bloß ohne Tapferkeitsmedaillen.
»Sie wollen nicht gemein sein, sie sind nur ungehobelt«, hatte sie gesagt, sich neben ihn ins Gras gesetzt und hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Er hatte geschwiegen, leise geweint, seine Nase am grauen Ärmel abgewischt und durch die dicken Brillengläser auf sein nutzloses Bein gestarrt.
Am Tag, bevor Neville nach Hause gefahren war, hatte Daisy ihm das Buch geschenkt, das sie bei der Blumenausstellung für ihr Gemüsetier gewonnen hatte. (Das Pferd aus Kartoffeln, Erbsen und Möhren mit Streifen aus Gurkenschale als Mähne und Schweif hatte ihr den zweiten Platz und die besondere Auszeichnung der Jury in Form einer Plakette eingebracht.) Sie hatte lange überlegt, welches Buch sie ihm schenken sollte und sich schließlich für A Shropshire Lad entschieden, vor allem weil es dem Titel nach von einem Burschen handelte. Auf die erste Seite schrieb sie: »Lieber Neville, ich hoffe, dass wir uns wiedersehen und dass du eines Tages einmal ohne die anderen zu uns kommst. Deine Daisy M. Forbes.« Als sie Stephen davon erzählte, schüttelte er ihr die Hand und sagte, sie sei die netteste Person, die er kenne.
Jedes Mal, wenn diese Kinder gefahren waren, war auf Eden Hall wieder die gewohnte Stille und Ruhe eingekehrt. Hier herrschten Ordnung und Gleichförmigkeit. Glöckchen kündigten das Frühstück oder den Unterricht oder das Mittagessen an; ob Ankleide- oder Dinner-Glocke, die Tage waren durchdrungen von ihrem Läuten. Monate, Jahreszeiten und Jahre waren verstrichen, das Läuten blieb dasselbe. Für Daisy hatte sich nur wenig verändert. Aber der Gedanke an Eden Hall ohne Stephen, die Vorstellung, er könne nicht mehr hier sein, sie würde ihn nie wiedersehen …
Nein, Stephen durfte nicht weggehen, dachte Daisy, während sie ihn dabei beobachtete, wie er vor ihr herlief und Ginster und Stechpalmen und Brombeeren zur Seite schob, während sie sich durch das Gestrüpp und das kniehohe Heidekraut kämpften. Sie würde mit ihrem Vater reden, beschloss sie; sie würde warten, bis er zu Weihnachten nach Hause kam, den richtigen Zeitpunkt abpassen und dann mit ihm über alles sprechen. Immerhin hatte er sämtliche Formalitäten für Stephens Adoption geklärt, und vielleicht konnte er Stephen sogar Arbeit in der Fabrik verschaffen … In jedem Fall, dessen war sie gewiss, würde ihr Vater wissen, was zu tun war. Das wusste er immer.
2
In einer ruhigen Enklave in den Surrey Hills gelegen, die im Volksmund Little Switzerland hieß, gehörte Eden Hall zu den neueren Herrenhäusern, die vor Blicken geschützt wurden. Hohe Hecken, Bäume und Rhododendronsträucher schirmten das Anwesen im Süden vor dem Straßenverkehr ab, allerdings ließen das Eingangstor und die lange, gebogene Auffahrt erahnen, was sich dahinter verbarg.
Im Herbst und Winter verschwanden Haus und Garten häufig aus der Sicht, wurden verschlungen von wabernden Nebelschwaden und tief liegenden Wolken. Aber zu Beginn des Frühlings, wenn die Schleier sich hoben und die Bäume noch ohne Blätter waren, boten einige der oberen Zimmer von Eden Hall eindrucksvolle Aussichten über drei Countys: Surrey im Norden und Osten, Sussex im Süden und Hampshire im Westen.
Howard Forbes behauptete, an einem klaren Tag könne man hinter dem Bergrücken im Norden, dem sogenannten Hog’s Back, sogar die Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale erkennen. Häufiger war das einzig erkennbare Zeichen der Hauptstadt allerdings der dichte Qualm, den die unzähligen Schlote und Fabriken dort ausstießen. Aber irgendwo am verhangenen Horizont lag eine Straße namens Clanricarde Gardens, und dort stand das Londoner Haus der Familie Forbes: eine Stadtvilla mit Stuckfassade, die Howard mit zweiundzwanzig Jahren geerbt hatte.
Mit Eden Hall verhielt es sich anders. Dieses Anwesen war für Howard ein Zeichen für seine eigenen Errungenschaften, war Krönung und Beweis seiner harten Arbeit: sein Traum, seine Vision, erbaut von den Erträgen seines florierenden Unternehmens Forbes and Sons. Die große Fabrik des seit drei Generationen geführten Werks stand an der Forbeswerft in Ratcliff in Middlesex, wo Bleiweiß, Ölfarben und Lacke hergestellt wurden. Zu den Erzeugnissen gehörten zudem besondere Schutzanstriche für Schiffe gegen Rost und Verwitterung sowie die berühmte patentierte weiße Zinkfarbe, die angeblich weder fleckig wurde noch verblich.
Anfang des neuen Jahrhunderts, kurz vor seiner Hochzeit und als Geschenk zu seinem dreißigsten Geburtstag an sich selbst, hatte Howard Ackerland in Surrey gekauft, zu dem auch eine alte Farm gehörte. Später hatte er mit einem aufstrebenden Architekten aus der Region namens Edwin Lutyens auf dem höher gelegenen Gelände gestanden. Mit seiner achtzehnjährigen Braut Mabel an der Hand hatte er den Blick schweifen lassen und Mr. Lutyens seine Vorstellungen dargelegt: ein massives Landhaus mit imposanten Formen, hohen Schornsteinen und gewaltigen Giebeln. Fenster hatte er vorgeschrieben, viele Fenster – runde, viereckige, große und kleine – und Türen, durch die ein Riese hätte gehen können. Er hatte sich ein Anwesen gewünscht, auf das kommende Generationen stolz sein konnten.
Howard bekam, was er wollte: einen prunkvollen Landsitz im traditionell mittelalterlichen Stil. Mit seiner Eingangshalle in doppelter Geschosshöhe, dem ausladenden Treppenaufgang und der Eichenvertäfelung, mit dem Salon mit doppelter Deckenhöhe und Erkerfenstern war dieses Anwesen genauso beeindruckend geworden wie in Howard Forbes’ Vorstellung. Und dennoch strahlte es auch eine gewisse Bescheidenheit aus, dachte Howard, denn Mr. Lutyens hatte nur Holz, Stein und Ziegel hier aus der Gegend verwendet und einige alte Scheunen und Cottages der ursprünglichen Farm erhalten.
Im Gegensatz zur Fassade war Eden Hall innen modern ausgestattet, ganz im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts: mit Elektrizität, Zentralheizung und zwei Badezimmern mit fließend heißem Wasser, Klosetts mit Wasserspülung und Keramikfliesen von William De Morgan. Verantwortlich für die Innengestaltung, für die Tapeten von Morris & Co. im Schlafzimmer, für die Vorhänge, für Samt und Seide und handbedruckte Leinenwaren war Mabel gewesen. Sie hatte jede Wandfarbe, jeden Stoff und jedes Möbelstück mit Bedacht ausgewählt. Nachdem sie dem Anwesen ihren Stempel aufgedrückt hatte und da sie das Leben auf dem Land ohnehin vorzog, hatte Mabel schon bald Eden Hall zur vorrangigen Familienresidenz erklärt.
Mabel war auf dem Land aufgewachsen; hier kannte sie sich aus, hier war sie so glücklich und ungezwungen wie sonst nirgendwo. Howard würde, wie sie sagte – und dachte –, seine Zeit zwischen London und Eden Hall aufteilen, und während er arbeitete, würde sie sich dafür einsetzen, um dieses Zuhause, diese Landidylle zu gestalten: als einen Ort, an den ihr Ehemann vor den Mühen und Plagen der Großstadt fliehen konnte, einen Ort, an dem ihre Kinder mit reichlich Platz und frischer Luft aufwachsen konnten. Im Gegenzug würde sie, so viel gestand sie ihm zu, London besuchen. Vor allem während der Saison – und vor allem, falls sie einmal Töchter bekommen sollten. Sie hatten beide darüber gelacht.
Howard und Mabel hatten die feste Absicht gehabt, eine große Familie zu gründen, und Howard hatte sich Söhne gewünscht – so wie jeder normale Mann, wie er sagte. Und er brauchte sie, um das Geschäft weiterzuführen, das er von seinem Vater übernommen hatte. Aber von den acht Kindern, die Mabel empfangen, und von den vieren, die sie geboren hatte, überlebten nur die drei Mädchen. Howards ersehnter Sohn und Erbe, der im Krieg vorzeitig zur Welt gekommen war und, nach Howards Vater, Theo hieß, hatte sich nur sieben Wochen ans Leben klammern können.
Aber in Teilen war Howards und Mabels Plan aufgegangen. Während Howard die Woche über in der Stadt blieb, lebte Mabel mit ihren Töchtern auf Eden Hall, schuf ein Heim – die Landidylle, die sie sich beide gewünscht hatten – und kümmerte sich um Haus und Garten, um Bedienstete und ihre Wohltätigkeitsaufgaben. Und als Iris, die älteste Tochter, fortging, zog Mabels Mutter ein. Mittlerweile war auch Lily, die Mittlere, frisch verheiratet und lebte nun ebenfalls in London. Nur Daisy wohnte noch zu Hause.
So wie die Inneneinrichtung waren auch die Gärten von Eden Hall Mabels Verdienst. Ein Vierteljahrhundert lang hatte sie nun zu säen und gießen geholfen, hatte zugesehen und gewartet. Und so wie Mabel waren auch Eden Hall und seine Gärten gereift. Die honigfarbenen Ziegel des Hauses waren zu einem silbrigen Grau verblasst, und die einst dürftigen Büsche in den Gärten hatten üppige Formen angenommen. Das Land war voller Rhododendren und robuster Sträucher, die gezähmt wurden von wogenden Blumenrabatten und breiten, ausladenden Rasenflächen, die nach Süden lagen und auf denen eine gekieste Terrasse Wache hielt wie ein Burggraben zwischen Mensch und Natur. Der japanische Garten mit den hängenden Glyzinien, den Azaleen, dem Bambus und Ahorn, dem Seerosenteich, winzigen Steinbrücken und -laternen, war Mabels ganzer Stolz und kam erst jetzt zu seiner vollen Geltung, wie sie feststellte.
Die Haupteinfahrt schlug einen großen Bogen durch den malerischen Westgarten, wo die Rhododendren am höchsten waren und noch ein paar alte Bäume standen, bevor sie das nach Süden ausgerichtete Haus mit seinen riesigen Erkern und der breiten Eingangstür erreichte. Dann führte die Zufahrt weiter durch einen Torbogen in den Hof, zu den Cottages, zum Kutscherhaus und zum Wagenschuppen; sie ging schließlich über in die Hinterauffahrt mit dem Lieferantenzugang und führte östlich von Howard Forbes’ Anwesen wieder zur Straße.
Nördlich des Hauses führten Ziegelwege zum Tennisplatz, zur Obstwiese und zu dem mit roten Mauern umgebenen Küchengarten und Gewächshaus. Dahinter fiel das Land zum Wald hin steil ab, und unter den hohen Kiefern verliefen Reitwege im Zickzack ins Tal, das die Leute Devil’s Punchbowl nannten.
Kurz nach Fertigstellung des Hauses hatte der National Trust das Land erworben, das sich mittlerweile zu einer beliebten Gegend zum Spazierengehen und Wandern entwickelt hatte – vor allem in den Sommermonaten. Gelegentlich hatte Howard an der Nordseite hinter den Büschen schon Leute beim Zelten erwischt oder Fremde in kurzen Hosen über seinen gestreiften Rasen schlendern sehen. In unbeirrbarer Höflichkeit hatte er diese Urlauber dann und wann sogar über sein Anwesen geführt und ihnen am Ende ein Glas Sherry angeboten.
Mehr als alle ungebetenen Gäste ärgerten Howard und Mabel die zunehmende Zahl lokaler Bauherren. Als nebenan auf dem Grundstück des kürzlich abgerissenen Herrenhauses der Laurels, an einer Sackgasse, die nun Laurel Close hieß, neue Häuser erbaut wurden, fragten sich beide insgeheim, ob Eden Hall eines Tages ebenfalls niedergerissen werden würde. Würde ihr und Mr. Lutyens’ Traum – ihre akribischen Planungen all der Fenster und Perspektiven und Ausblicke – einst in Schutt und Asche fallen, um dann in Form eines Dutzends dürftig errichteter Häuser wiederaufzuerstehen und zu völlig überzogenen Preisen und unter dem Namen Edenhall Close verkauft zu werden? Das schien der Lauf der Dinge zu sein. Einst abgelegene und friedvolle Orte, ihrer natürlichen Schönheit und ihres Charmes wegen begehrt, veränderten sich.
»Die Welt gibt keine Ruhe, bis sie ihre Motoren nicht bis in den letzten Winkel gebracht hat – es hupt, jede Straße wird verbreitert, und überall werden Stromkabel und Straßenlaternen angeschlossen«, hatte Howard kürzlich zu seiner Frau gesagt. Mabel war klug genug, ihn nicht daran zu erinnern, dass er selbst gern seine Hupe betätigte und sie in diesem Teil der Erde ihren Teil zu den Kabeln und Lampen beigetragen hatten.
Howard war in letzter Zeit häufiger erregt und verärgert. Besorgt. Das lag am Alter, dachte Mabel, er fühlte sich nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Der modernen Zeit. Und obwohl sie manchmal dieselben Gefühle beschlichen, war sie insgeheim entschlossen, nicht zu weit zurückzufallen. Aber das war gar nicht so einfach, dachte sie, es war eine Gratwanderung, ihren Töchtern ein gutes Vorbild zu sein, Weisheit und Erfahrung in Würde weiterzugeben und zugleich den Wunsch – und noch immer das Bedürfnis – zu verspüren, zu leben und neue Erfahrungen zu sammeln.
»Neue Erfahrungen!«, hatte ihre Schwägerin Dosia ihr beim letzten Mal geraten, als sie sich in London getroffen hatten. »Genau die brauchst du, Mabe. Wir brauchen sie alle.«
Mabel hatte eine Idylle erschaffen, eine geordnete Idylle, in der die Ankleideglocke um sechs Uhr dreißig ertönte und die Glocke zum Abendessen um sieben Uhr fünfundzwanzig. Aber Glocken und Ordnung langweilten sie. Eden Hall langweilte sie. Seit einem Vierteljahrhundert hatte sie keine neuen Erfahrungen mehr gemacht, und wonach sie sich sehnte, wonach sie sich insgeheim mehr als nach allem anderen sehnte, war ein Liebhaber.
3
Zehn Tage vor Weihnachten fand man Mrs. Christie – lebendig und wohlauf – in einem hydropathischen Hotel in Harrogate, wo sie – wie Daisy von Iris erfuhr – unter anderem Namen residierte: dem der Geliebten ihres Mannes.
»Welch ein unglaublicher Jux«, sagte Iris am Telefon zu ihrer kleinen Schwester. »Und alles nur, um ihrem erbärmlichen Ehemann eine Lehre zu erteilen.«
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