Die lustlosen Touristen - Katixa Agirre - E-Book

Die lustlosen Touristen E-Book

Katixa Agirre

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Beschreibung

Die Baskin Ulia ist gescheiterte Mezzosopranistin, nun Doktorandin in Musikwissenschaften, der Spanier Gustavo ein erfolgreicher Jurist und Genussmensch. Kennengelernt haben sie sich in der Metro, am Tag der Terroranschläge in Madrid. Sie verlieben sich, heiraten bald, kein Blatt scheint zwischen sie zu passen. Doch auf einer Reise durchs Baskenland zeigt sich, dass jeder der beiden etwas zu gestehen hat. Eine Reiseerzählung mit vielen überraschenden Wendungen, die in beschwingt-sarkastischem Ton Verletzungen und Leerstellen umkreist, Themen wie Terror, Herkunft, Zugehörigkeit, Engagement, die Bedingungen eines Scheiterns oder Gelingens der Liebe behandelt und dabei nie ihre Leichtfüßigkeit verliert. Dank der leichten, stellenweise von feministischem Sarkasmus unterlegten, Sprache zieht uns die Lektüre wie eine schwingende Road Novel in den Bann.

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KATIXA AGIRRE

DIE LUSTLOSEN TOURISTEN

ROMAN

Aus dem Spanischenvon Silke Kleemann

Dieser Roman ist Lea gewidmet.

Du bist auf halber Strecke gekommen und hast alles besser gemacht.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Endnoten

Danksagung

01 Die Straße. Das Auto auf der Straße. Eine gerade Linie. Die gerade Linie lädt zum Reden ein, zum Stillsein, zum Durchdrehen. Die gerade, endlose Linie. Die gerade, dann plötzlich kurvige Linie. Direkt Richtung Norden. Eine Straße und ihr entlang die Gräben. Eine Straße und ihre Signale, gespensterhaft auftauchende Tramper, durchgezogene Linien, unterbrochene Linien, Tankstellen, Insekten, die – platsch! – gegen die Windschutzscheibe prallen und sterben. Blut, Schweiß und Tränen: weiter, immer weiter.

Raststätte. Restaurant El Figón. Travel Club. Club La Bohème. Maut. Wegegeld.

Go on, go on.

Straße und Reise, Metapher aus Asphalt, Weg zur Selbsterkenntnis. Buße, Exil, vierzig Jahre Wanderung durch die Wüste. Ithaka. Ein Motiv mit satter Tradition in der Literaturgeschichte. Was dachtest du denn? So etwas macht frau gründlich. Unter Durchsicht aller vorangegangener Literatur. Der status quaestionis, weißt du doch.

»Don Quijote von der Mancha«, als die Wege noch nicht mit Asphalt bedeckt waren. McCarthys »Die Straße« in einer postapokalyptischen Ära, wo asphaltierte Straßen nicht mehr von Nutzen sind. Oder sonst wann, in einer Zeit irgendwo dazwischen: »On the road«, ein (meiner bescheidenen Meinung nach überschätzter) Klassiker. Oder »Früchte des Zorns«, ein weiterer Klassiker. Nicht zu vergessen die kleine »Lolita«. Was soll ich zu Lolita sagen? Lo-li-ta.

Die Nordamerikaner stechen heraus, wie sollte es auch anders sein – nicht ohne Grund haben sie ja die Überlandstraßen erfunden.

Doch auch hier, auf den spärlichen Seiten der baskischen Literatur, wenn man nur genau hinschaut. Die Geschichte hat auch Basken hervorgebracht, die ein Faible für Straßen hatten. Zündkerzen. Benzingeruch. Nicht alle sind über die Weltmeere gesegelt, um Indianer abzuschlachten, das Evangelium nach Japan zu tragen, die fernen Philippinen zu erobern. Manche widmeten sich lieber den Straßen. Jean Etchepare, von Beruf Arzt, schrieb 1931 sein Buch »En automóvil«. Automobil, was für ein schönes Wort, warum nur ist es nicht mehr in Gebrauch! Wie viele der Wörter, die ich im Folgenden verwende, werden wohl ungebräuchlich geworden sein, bis du dann alles in den Händen hältst? Wie viele leere Bedeutungshülsen wirst du ertragen können?

Aber es ist zu früh, um dich mit meinen lexikalischen Sorgen zu belasten. Gehen wir es langsam an, lass uns den ersten Gang einlegen, ein schweres Gefährt muss in Bewegung gesetzt werden.

Von wem ist die Idee? Von dir. Lass uns sagen, die Idee ist von dir. Sie muss von dir sein, na klar. Aus heiterem Himmel sagst du zu mir:

— Und warum nicht, Ulia?

Und ich antworte dir:

— Und wozu das jetzt, Gustavo?

Du bist Gustavo, wenn du mir verwirrende Vorschläge machst. Gus, wenn ich dich darum bitte, mir unbedingt dunkle Schokolade aus dem Supermarkt mitzubringen. Gustavito, wenn ich mich über dich lustig machen will. Gusiluz, wenn du Fieber hast und dich wie ein Vögelchen zusammenkauerst. Der G-Punkt. Gustavo der Frosch. Gustav Mahler. Gustave Eiffel. Gustave Flaubert. Gustavo Adolfo Bécquer. Mein Sklave, mein Meister, mein Gebieter. Mein Reiseführer und mein Fahrer. Das vor allem.

Nehmen wir mal an, du willst das neue Auto ausprobieren. Es einfahren, wie du sagst. Nehmen wir an, du willst also das neue Auto einfahren. Nehmen wir an, du brauchst einen ruhigen Urlaub, guten Wein, einfach nur dasitzen und aufs Meer schauen. Kleine Genüsse, langsame Genüsse. Nebenstraßen. Aber wir fahren immer nur über Nebenstraßen, einverstanden? Du hast ein hartes Jahr hinter dir. Hast praktisch den Koffer von deiner letzten Reise noch nicht ausgepackt: eine Woche in der Dominikanischen Republik, wo du bei einem Masterstudiengang für Internationale Prozessführung unterrichtet hast. Dein Leben ist nicht einfach. Das muss ich verstehen. In Ordnung. Nehmen wir an, du möchtest – und jetzt aber richtig! – mein Land kennenlernen, meine Wiege, den Ursprung von all dem. Es wird aber auch Zeit, nicht wahr? Du hast die hektischen Besuche für nur ein Wochenende satt, die Hochzeiten und die Begräbnisse. Du möchtest mein Land, meine Landschaft, meine Heimat in dich aufsaugen. Meinen Ruin, um es mal klar zu sagen. Aber das weißt du noch nicht. Du wirst es schon noch rausfinden. Zu gegebener Zeit. Das macht die Reise ja letzten Endes aus, Selbsterkenntnis mit allem Drum und Dran.

Gustavo, ich habe mit dir die kretische Messara-Ebene bereist, aber noch nie die Hochebene von Álava. Ich bin mit dir in die Mojave-Wüste gefahren, in einem Mietwagen, dessen Klimaanlage plötzlich den Geist aufgegeben hat, aber in die Bárdenas Reales, die Halbwüste in Navarra, haben wir uns noch nie vorgewagt. Wir haben mit der Fähre die Meerenge von Gibraltar überquert und auf der Schifffahrt durch den Bosporus Brassen verspeist, aber die berühmten Flysch-Felsformationen von Zumaia haben wir nie vom Boot aus erkundet. Wir haben Eintritt gezahlt, um schlecht kostümierte Darsteller im Hexenmuseum von Salem zu sehen, doch den Hexen von Zugarramurdi und ihrem Hexensabbat haben wir bis jetzt keine Beachtung geschenkt.

Es wird langsam Zeit, nicht wahr?

Nehmen wir also an, ich sage Ja und füge mich deinen Wünschen, liebevoll. Denn hin und wieder bin ich so zu dir. Nehmen wir an, ich antworte dir mit wohldosierter Begeisterung:

Na, das ist gar keine so schlechte Idee. Ich rufe mal meine Mutter an und erzähle ihr davon.

Wirklich, so etwas hab ich mir nicht erwartet, aber …

Und auf einmal, kaum wahrnehmbar für mich, ist der Plan bereits skizziert und zu groß geworden, es ist zu spät für einen Rückzieher. Es ist mir entglitten. Und wir brechen auf Richtung Patria, dorthin geht’s. Und da sind wir nun. In dem neuen Auto. Wir fahren es ein. Auf der Straße. Durchgezogene Linien und unterbrochene Linien. Und so weiter.

Anfangs reden wir nicht viel, es ist noch früh und wir sind noch etwas verschlafen. Dann machst du Musik an. Eine eigens für diesen Anlass zusammengestellte Liste. Sanfte elektronische Musik: Tracey Thorns zweites Solo-Album, erklärst du mir, als würden mich solche Dinge interessieren. Nach einer Weile verlangst du, dass ich unbedingt mit dir reden, dich unterhalten soll. Du schläfst fast ein. Ich tue, was ich kann. Erzähle dir von meiner Mutter. Sage dir, dass wir im Grunde, mit kühlem Kopf betrachtet, ohne sie besser dran sein werden, auch wenn wir alle größte Enttäuschung vorgespielt haben, als sich herausstellte, dass unser Besuch genau in die Zeit ihres Urlaubs in Granada fallen würde.

Du siehst glücklich aus im Auto, beim Fahren. In letzter Zeit hast du etwas Erstaunliches entdeckt: die Liebe zu Gegenständen.

Auch wenn es mir leidtut, dir sagen zu müssen, dass du bei der Wahl deines Liebesobjekts nicht sonderlich originell gewesen bist.

Fünf Jahre zu früh durchlebst du die typische Midlife-Crisis der Vierzigjährigen, und doch kommt diese ganze Leidenschaft für ein Automobil bei dir fünfzehn Jahre zu spät. Außerdem versuchst du, sie zu verbergen, diese unzeitgemäße Anhänglichkeit ist dir sicherlich peinlich. Aber ich bemerke sie. An der Art, wie du die Hände auf das Lenkrad legst. Stolz und selbstbewusst, ja. Doch da ist noch etwas anderes, eine robuste Zärtlichkeit, etwas, das ich »Liebe« nennen würde. Besagtes Wort macht mir keine Angst.

Gegenstände, bestimmte Gegenstände wecken Gefühle in uns, und wir reagieren – wie absurd! – mit einem wahren Gefühlsrausch. So sind wir eben.

Soweit ich weiß, ist mit dem Rauchen aufzuhören, psychologisch betrachtet, ein recht ähnlicher Prozess wie die Trauer um einen Freund. Tabak ist wie ein Fels. Er flößt uns Vertrauen ein. Er ist immer da, wartet darauf, dass wir ihn brauchen. Selbst wenn wir gerade nicht rauchen, allein schon, die Hand in die Tasche zu stecken und die scharfen Kanten der Schachtel in der Handfläche zu spüren, reicht normalerweise aus, um die Momente von Ruhe und Freiheit, die das Rauchen uns verschafft, wieder lebendig zu machen, sie vorzukosten. Der Tabak hört unseren Hilferuf immer, er ist die Unterbrechung inmitten des peitschenden Sturms, der letzte Gast, der ganz selbstverständlich zu einem Abendessen unter Freunden dazustößt, der Dunst, der in einer sternenübersäten Sommernacht für die gebührende Transzendenz sorgt. Er macht die guten Momente noch besser und die schlechten noch schlechter. Für ihn ist es ein Leichtes, den Knoten im Magen zu lösen, die unterdrückten Tränen fließen zu lassen. Und, falls nötig, kann er auch unser öffentliches Image passend ergänzen. Ist das nicht alles, was wir von einem guten Freund verlangen?

Das Nikotin zählt nicht als Ausrede. Die körperliche Abhängigkeit vergeht nach den ersten vierundzwanzig Stunden. Der emotionale Prozess aber, das endgültige adiós von einem Freund, wird manchmal ein Leben lang nicht verwunden.

Was alles lässt sich da erst über ein Auto sagen! Perfektes Totem des Kapitalismus, das innerhalb nur eines Jahrhunderts Unmengen an symbolischem Kapital angehäuft hat, ganz zu schweigen von der maßgeblichen Rolle, die es für die Identität und das Selbstwertgefühl der Männer zunächst in der Ersten Welt gespielt hat und noch immer spielt; und nun in zunehmendem Maße auch in den Ländern, die als Schwellenländer bezeichnet werden. Die perfekte und ultimative Maschine. Der größte und teuerste Gegenstand, den der Durchschnittsbürger sich je zulegen wird. Der heilige Raum, in dem die langen Stunden im Stau verstreichen. Ein Zufluchtsort auf Rädern. Die anthropomorphe Form, welche die Schnauzen der Autos im Laufe der Zeit angenommen haben, befeuert die emotionale Beziehung zwischen dem Fahrer und seiner Maschine. Lächelnde, konzentriert und feierlich dreinblickende Autos. Für die englischsprachigen Fahrer sind ihre Autos Mädchen. »Good girl!«, rufen sie ihnen begeistert zu, wenn der Motor nach einer frostigen Nacht unter freiem Himmel mit einem potenten und willigen Schnauben anspringt. Der Grund für diese Geschlechtszuschreibung ist mir nicht bekannt.

Ja, Gustavo, du liebst deinen neuen BMW 1er wie verrückt. Farbe Bluewater. Urban line. Du liebst ihn nicht nur, du bist hoffnungslos fallen in love. Das nimmt wirklich lächerliche Ausmaße an. Ich habe dich ertappt, wie du im Internet einen Mikrofaser-Handschuh bestellt hast, für die sanfte Massage seiner sinnlichen Kurven. Einen Mikrofaser-Handschuh, bei aller Liebe!

Kurzum: Du liebst ihn, und es gibt kein Zurück. Du würdest Rotz und Wasser heulen, wenn du ihn in einen Abgrund stürzen sähst, oder er bei nächtlichen Straßenkrawallen abgefackelt werden würde; und die Erinnerung an ihn würde dich immer wieder, in ganz unerwarteten Momenten, heimsuchen. Du bist spät an diesem Punkt angelangt, spät und mit der Inbrunst des Konvertiten. Aber warum erst jetzt? Warum nicht, frage ich mich, als du achtzehn wurdest, oder als du mit deiner Abschlussarbeit fertig warst, oder als du zu arbeiten begonnen oder die feste Stelle bekommen hast? Warum nicht damals, als du in den USA lebtest, einem Land, das einzig mit dem Vorwand, das Automobil zu benutzen, weit voneinander entfernt liegende Städte gründete? Warum nicht zu Weihnachten, oder aus Anlass eines Geburtstags? Warum jetzt, zu Beginn eines ganz normalen Sommers ohne irgendein Kreuzchen im Kalender? Und warum dieses Auto, ein brandneuer BMW? Wie bist du überhaupt zu diesem Auto gekommen? Ich will dich erinnern. Angefangen hat es damit, dass du die Anzeigenblätter nach Stichwörtern durchforstet hast. Etwas aus zweiter Hand, das brauchtest du. Du hast irgendein Gefährt gesucht, das dich von A nach B bringen kann. Einen Clio. Einen Ford Ka. Wirklich alles wäre gut genug für deine Bedürfnisse. Doch dann hast du mehr in Richtung Neuwagen tendiert, geleitet von dem Gedanken, dass es sich langfristig auszahlen würde, und hast in deinem Freundeskreis Rat gesucht. Einen Mégane, hieß es, ein Auto, das mit ein paar Extras sehr zweckmäßig sein kann. Oder einen Seat León, auch wenn der genau genommen zu aggressiv für dich ist, Gustavo, das ist nicht dein Stil. Einen Volvo? Nein, dafür bist du noch zu jung. Einen VW Polo, ideal für alle, die nichts weiter als einen verlässlichen Wagen suchen. Das interessiert mich, erzähl mir mehr. So fing es an mit deiner Obsession für deutsche Autos. Du hast sie alle in Betracht gezogen, von Bayern bis Baden-Württemberg. Du sahst dich in einem Opel und phantasiertest von einem Porsche.

Zu guter Letzt setzte sich der kompakte Münchner durch: für Leute, die an die Marke glauben, aber jede Protzerei scheuen. Es ist ein BMW, ja, aber er ist klein, schlicht, effizient und unauffällig. Weißt du, dass deine Freunde Wetten auf dieses Thema abgeschlossen haben? Ich habe zehn Euro darauf gesetzt, dass du dir letztlich einen Audi A3 kaufen würdest. Der Wagen hat mir insgeheim besser gefallen. Die Audis kamen erst spät nach Spanien, 1993, sie brachten ihrer direkten Konkurrenz, den BMWs, jedoch eine schwere Schlappe bei. Es waren ebenfalls Premium-Autos, daran bestand kein Zweifel, ausgestattet mit bayrischer Technologie, aber sie hatten dieses junge, lässige Flair, eindeutig casual: das perfekte Auto für die überaus gut ausgebildeten jungen Leute, die bereit sind, sich alles ironisch zunutze zu machen, was der Kapitalismus ihnen zu bieten hat. Ohne eine Spur von Pomp oder Korruption. BMW brauchte ein Weilchen für eine Reaktion, schließlich schlugen sie zurück, indem sie die Welt der Werbung ein für alle Mal revolutionierten. Fährst du gern? Auf den einschlägigen Anzeigen war nie auch nur ansatzweise ein Auto zu sehen. Eine Landstraße, eine Hand, die aus dem Fenster hängt, Reminiszenzen an eine Kindheit auf Rädern, die Lichter der Stadt, die bei zunehmender Dämmerung nach und nach angehen. Der Erfolg kam sofort und war durchschlagend. Ganze Heerscharen entdeckten plötzlich, dass sie liebend gern Auto fahren und dass man ein Auto lieben kann. Das war nicht nur möglich, es war sogar erstrebenswert.

Auch du fährst gern, Gustavito, nicht wahr? Habe ich deshalb die zehn Euro verloren? Natürlich fährst du gern. Erinnerst du dich, dass du gleich nach dem Losfahren gesagt hast, ich dürfe dich am Steuer ablösen, falls wir einmal zwischendrin auf einen Kaffee anhalten? Naja, inzwischen haben wir schon angehalten und einen erbärmlichen Kaffee und einen trockenen Donut in einem staubigen Dorf in der Provinz Burgos zu uns genommen. Und wieder zurück im Wagen habe ich nichts gesagt, aber du hast dich auch gehütet, mir das Steuer anzubieten. Deshalb, weil du mein Fahrer bist, wegen deinem konzentrierten Blick auf die Straße und deiner Entschlossenheit, hast du das Schild als Erster gesehen.

Wir sind also schon da. Álava, oh, Álava. Mein Herz macht einen kleinen Sprung und ich fange an zu singen. ¿Acaso eres tú la séptima hija? En el norte, bosques imponentes; en el sur, campos desnudos.1

Aus Respekt gegenüber meiner Gesangsdarbietung schaltest du die Musik aus. Ich weiß, dass dir meine Stimme gefällt. Meine ruinierte Stimme. Meine halb vergessenen Melodien. En un lugar semioculto de la campiña alavesa, hay un humilde molino de bella rusticidad2 … Auch das gehört zu unserem kleinen ethnographischen Ausflug. Dafür bist du doch mitgekommen, oder nicht? Dann musst du es auch aushalten. Ja, ich weiß, ich singe gut, aber schauen wir mal, ob du noch vier weitere Strophen von Donnay aushältst. Dieser baskische Komponist war in seiner Jugend Anarchist und hat später miserable Liedtexte verbrochen.

Tatsächlich, du schaffst das. Und wie. Deine Laune scheint sogar noch besser zu werden. Bald können wir ausruhen. Ich werde mich entspannen, und wenn ich erst einmal entspannt bin, halte ich auch den Mund. Doch für den Augenblick schließt du dich dem Konzert an, du lernst schnell. Als wir endlich die erste Zufahrt nach Vitoria nehmen, singen wir gerade gemeinsam eine schöne Habanera. Wir sind da. Wir sind fast da. Ganz nah am Ziel. Hast du etwas gespürt? Habe ich etwas gespürt? Nehmen wir mal an, das haben wir. Nehmen wir mal an, wir haben es beide gemerkt.

Blancas como palomas, se ven las casas allá en la aldea3 …

02 Es war zu Beginn jenes schrecklichen Jahrs 1939, als Benjamin Britten und Peter Pears in Amerika landeten und an der äußersten Spitze von Long Island ein Häuschen bezogen, das ihnen Elisabeth Mayer, Verlegerin, Übersetzerin und vor allem ihre Mäzenin, überlassen hatte. Es war ein Cottage im englischen Stil und stand auf dem Gelände eines von Elizabeths Ehemann geleiteten psychiatrischen Krankenhauses. Ihre neue Behausung war schnuckelig und lag für sich allein, wie gemacht für die Bedürfnisse von Künstlern, Intellektuellen, Bonvivants und meist armen Schluckern, die mit Mühe und Not aus Europa hatten fliehen können. Im schrecklichen Jahr 1939 war das Haus schon weithin als Zufluchtsort bekannt.

Nach Abklingen der ersten Euphorie, die jeden überkommt, der seinen Fuß ins Land der Freiheit setzt, sahen sich Britten und Pears aus Geldmangel gezwungen, die erstbeste Arbeit anzunehmen, die ihnen angeboten wurde. Und während der Tenor die unwahrscheinlichsten Auftritte abnickte (darunter eine Tournee durch eine Vielzahl von High Schools in New England), willigte der Komponist ein, das Suffolk Friends of Music Orchestra zu dirigieren, ein Amateurorchester mit Sitz in der Kleinstadt Southold. Nicht ohne eine gewisse Voreingenommenheit trat der Musiker, der aus der Grafschaft Suffolk im alten England stammte, diese wenig attraktive Stelle in Suffolk County im neuen England an.

Aber es handelte sich um zeitlich begrenzte Tätigkeiten. Irgendwie mussten sie das neue Leben ja in Angriff nehmen. Auf die kleinen Aufträge würden größere folgen. Es war nur eine Frage der Zeit. Immerhin waren sie in den Vereinigten Staaten, wo die Anregungen neuer Komponisten nicht verachtet oder ignoriert wurden, wie es in Großbritannien sehr wohl geschah. Zumindest hatte man Britten das so versichert, bevor er an Bord gegangen war, bald schon werde er es mit eigenen Augen sehen, es bräuchte nur etwas Geduld.

Der berühmte Ladenbesitzer David Rothman (berühmt selbstverständlich nur in seinem Städtchen) hatte Britten für die Stelle empfohlen, kurz nachdem sie sich auf einer musikalischen Soirée in Elizabeth Mayers Irrenanstalt kennengelernt hatten. Der junge Komponist akzeptierte ohne langes Hin und Her die zehn Dollar, die ihm pro Probe geboten wurden.

Rothman, Inhaber eines gutsortierten Gemischtwarenladens, war obendrein ein begeisterter Hobbymusiker, der sich seit zartester Jugend ungemein bemühte, einer alten Geige annehmbare Klänge zu entlocken. Im Sommer 1939, als der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler bereits öffentlich unverhohlenes Interesse am benachbarten Polen zeigte, war der berühmteste emigré von Long Island so freundlich, in Rothmans Laden vorbeizuschauen, wo er mit unbeholfenem Auftreten für großes Aufsehen sorgte. Albert Einstein hatte es mit seinem amüsanten Erscheinungsbild bereits bis in jenen abgelegenen Winkel des Bundesstaats New York zur Berühmtheit gebracht. Rothman war augenblicklich klar, dass er den Nobelpreisträger nicht für sich würde einnehmen können, indem er seine spärlichen Physikkenntnisse aus der Schule hervorkramte. Und so beschloss er, das andere Thema aufs Tapet zu bringen, das den Wissenschaftler mit dem wirren Haar begeisterte, und tischte gleich kräftig und unerschrocken auf:

— Lieber Herr, mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie ein großartiger Violinist sind. Wie der Zufall es will, spiele auch ich Geige, in bescheidenem Maße, so oft es mir möglich ist, sprach er den preisgekrönten Wissenschaftler an, während er ihm das dritte Paar Sandalen zum Anprobieren reichte.

Rothman machte keinen Hehl aus seinem für einen Autodidakten typischen Stolz, und so schlug Albert Einstein ihm unverzüglich ein musikalisches Stelldichein vor. Seit er für den Sommer nach Nassau Point gekommen war, hatte er noch keinen passenden musikalischen partenaire finden können. Albert Einstein langweilte sich, das ließ sich nicht leugnen. Und so brauchte er es sich nicht zweimal zu überlegen, bevor er die Gelegenheit ergriff, die sich ihm in Gestalt eines Ladenbesitzers bot. Er probierte die linke Sandale an, und sie verabredeten ein Treffen.

Rothman war beglückt, doch plötzlich auch besorgt ob seiner begrenzten künstlerischen Fähigkeiten – nun war die Bescheidenheit des Autodidakten an der Reihe –, bis ihm die Idee kam, die beiden Engländer, Benjamin Britten und Peter Pears, zu der musikalischen Verabredung dazu zu bitten. Die zwei waren die beste Wahl, denn sie würden nicht nur das musikalische Niveau des Treffens heben, sondern dienten überdies als Aushängeschild für interessante Freundschaften. Gesagt, getan. Die beiden jungen Männer sagten umgehend zu, und ihre Gastgeberin Elizabeth Mayer wurde ebenfalls eingeladen.

Die Szene kann man sich unschwer vorstellen. Mayer und Britten setzten sich ans Klavier, Pears ließ seiner Tenorstimme freien Lauf, und Einstein spielte unbeschwert und selig auf der Geige.

Benjamin und Peter waren damals zwei junge, zwei sehr junge Männer. Einer sah aus wie ein Amerikaner (Pears war blond, groß gewachsen, mit einem Repertoire recht kindlicher Gesten und Grimassen); der andere hätte als jüdischer Bibliothekar durchgehen können (Britten hatte kleine Augen, eine große Nase und war ein eher schweigsamer Typ). Beide waren ernst, rechtschaffen, im wahrsten Sinne very british. Und es war offensichtlich, dass sie es gewohnt waren, ihre Beziehung geheim zu halten4.

Die Darbietung begann mit einer gefühlvollen, wenn auch recht konventionellen Interpretation von Schuberts »Die schöne Müllerin«, doch als das Eis einmal gebrochen war, belebte sich die Nacht mit einer Reihe folkloristischer Lieder, feinsinnig von Britten selbst arrangiert. Albert Einstein würde sich immer an den rührenden Augenaufschlag von Peter Pears erinnern, wenn er die ganz hohen Töne von »The Salley Gardens«5 sang.

Und was tat der gute Rothman währenddessen? Er hatte beschlossen, sich diskret im Hintergrund zu halten, und war glücklich und zufrieden, derart illustre Personen unter seinem Dach zusammengebracht zu haben. Wie er in seinen Memoiren schreibt, war jener Abend sein glücklichster während des ganzen Sommers 1939. Das Konzert ging bis in die frühen Morgenstunden, und nachdem Pears und Britten im Wagen ihrer Gastgeberin verschwunden waren, hatte er noch Gelegenheit, die magische Zusammenkunft gemeinsam mit dem deutschen Physiker ausklingen zu lassen. Einstein holte seine Pfeife hervor, Rothman eine Flasche Bourbon, und laut seinen Memoiren sollten sich die Worte des aus Ulm stammenden Gasts als äußerst zutreffende Voraussage erweisen.

— Ein außerordentlich talentiertes Paar, die Jungs werden es sicher noch weit bringen.

— Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel, erwiderte Rothman, rückte seinen dicken Hintern auf dem Sessel zurecht und nahm einen Schluck, leicht beschämt, weil er vor seinem abstinenten Freund trank.

— Und jetzt, Albert, erzähl mir doch, was du heute Morgen so Wichtiges in den Händen hattest?

— Ach, das …, antwortete Einstein mit einem gequälten Seufzer. — Ich habe an Roosevelt geschrieben, um ihm ein paar Dinge über das Uran zu erklären. Ich weiß nicht, ob ich mich auch verständlich ausgedrückt habe. Zum Wohle aller hoffe ich, dass er mich verstanden hat. Doch lass uns diesen Moment nicht mit solch düsteren Spinnereien verderben. Alea iacta est. Habe ich dir schon erzählt, dass es meine Mutter war, die mir das Geigenspiel beigebracht hat? Und du, David, wie hast du es gelernt?

Die Geschichte belegt, Roosevelt hat besagtem Brief Einsteins großen Glauben geschenkt. Und sein Nachfolger, Harry S. Truman, hat gewisse darin enthaltene Ideen bis zur letzten Konsequenz fortgeführt. An jenem schwülen Sommertag, während eine von Britten, Pears und Einstein ausgelegte Klangspur ertönte, nahm auch eine feine Linie von Nassau Point aus ihren Anfang: eine zielsichere Linie, welche die äußerste Spitze von Long Island mit Washington D. C. verbinden und später bis nach Alamogordo weiterlaufen sollte, um schließlich den Sprung über den pazifischen Ozean zu machen.

Der Legende zufolge war Einstein die Jahre nach den Bombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki – die letzten zehn Jahre seines Lebens – von Reue geplagt.

03 Sie hatte ihn gesehen. Mal hier, mal da. Als sie endlich genug Mut beisammenhatte, fragte sie nach seinem Namen. Möglichst ohne allzu großes Interesse durchscheinen zu lassen. Man nannte ihn ihr. Einen Namen. Dann einen anderen. Sie hat nicht weiter nachforschen wollen. Das klingt nicht einmal wie ein richtiger Name. Eher wie ein Spitzname, ein Deckname. Jetzt steht er da vorne, am Altar. Ohne Bart, mit kurzem Haar – unverkennbar er. Und dann seine Stimme. Vor allem diese Stimme. Seine Stimme. Es ist nicht so sehr, was er sagt, vielmehr wie er es sagt. Dieser selbstsichere Ton. Irgendwie erinnert er sie an den gutaussehenden Geschichtslehrer aus der achten Klasse. Der dann einen Monat nach der Hochzeit ein für alle Mal miesepetrig wurde. Diese Stimme. Sie hallt von den Zementwänden der Kirche wider. Und die Gemeindemitglieder sind ganz Ohr, alle sind sie fügsam, wie gezähmt. Jetzt heißt es Ruhe bewahren und Widerstand leisten. Natürlich, das ist es. Die Gemeindemitglieder nicken, applaudieren, machen sich gegenseitig Mut. Aber die Nervosität ist spürbar. Die Polizei bewacht beide Eingänge der Kirche. Schutzhelme, Waffenmündungen. Eine Rückkopplung, das schrille Kreischen des Mikrofons füllt die Kirche. Die Messe ist gleich zu Ende.

Ihre erste Begegnung mit den Schreckgespenstern, die jetzt den Kircheneingang bewachen, ereignete sich in der Calle Reyes Católicos. Zwei von ihnen sind auf sie zugekommen, haben ihre Lehrerinnenmappe durchsucht. Weshalb sind Sie nicht im Unterricht, Fräulein? Ich bin krank, ich bin auf dem Weg nach Hause, hat sie ihnen erklärt und war sich nicht sicher, ob sie husten sollte oder lieber nicht; immerhin hat sie den Mantel fest über der Brust zusammengezogen. Ihre Beine haben gezittert. Dann ab nach Hause und halten Sie unterwegs ja nirgendwo an. Jaja, ich gehe schon. Aber sie ist nicht nach Hause gegangen. Sie ist in die Kirche gegangen.

— Auf der Avenida haben sie angegriffen, sagt einer in der Bank hinter ihr, im Flüsterton. — Und hier, hier werden sie auch nicht untätig zuschauen, du wirst schon sehen.

Kaum hatte sie diesen beängstigenden Gesprächsfetzen mit angehört – fast wirkte es wie ein schlechter Witz! –, war von draußen das erste Wummern zu hören. Bumm-bumm-bumm. Sofort hämmerte es auch an den Türen. Bumm-bumm-bumm. Und wieder hat die Stimme die Kontrolle übernommen, sicher, die Hand fest am Mikrofon: Alle ganz ruhig, hier werden sie nicht reinkommen, das wagen sie nicht.

Es heißt jetzt Widerstand leisten. Im Sitzen auf den Bänken. Oder im Stehen. Jedenfalls Widerstand leisten. Die Kräfte vereinen. Der Stimme zuhören. Die Schreie hören, die von draußen kommen. Warten. Friede sei mit dir, Bruder.

Es ist der dritte Generalstreik seit Schuljahresbeginn. Die Mädchen freuen sich. Mit dreizehn Jahren braucht es nicht viel, um überglücklich zu sein. Sie applaudieren jedes Mal heftig, wenn sie ihnen ankündigt, dass am nächsten Tag keine Schule ist. Sie muss um Ruhe bitten. Bitte, Mädchen, ich bitte euch.

Zum Beispiel einen Monat vor Weihnachten, als Schwester Mercedes ganz niedergeschlagen und verzagt in ihre Klasse kam:

— Der Caudillo ist gestorben, beten Sie mit den Mädchen ein Vaterunser für den Frieden seiner Seele und schicken Sie sie für drei Tage nach Hause.

Der Gefühlsaufruhr jener Tage, das Lachen der Backfische, das dringende Bedürfnis, rauszugehen und tief durchzuatmen. Kommt schon, Mädchen, packt eure Sachen ein und ab nach Hause, aber ganz ruhig, ja? Mari Carmen, was habe ich gerade gesagt? Eine nach der anderen und ohne Radau. Am Montag geht es weiter. Ja, am Montag schreiben wir den Test, vergesst das bloß nicht.

Der Gefühlsaufruhr jener Tage ist heute auch in der Stimme des Mannes. Aufregung und Angst. Er legt das Gefühl hinein, die anderen steuern die Angst bei. Junge Körper, nicht mehr ganz so junge, schwitzend, zitternd, alle warten. Zum ersten Mal sucht sie mit dem Blick nach ihrem Bruder. Er kann nicht weit sein. Aber das ist, als suchte sie die Nadel im Heuhaufen, hier drängen sich tausende Menschen. Er ist erst sechzehn Jahre alt. Versteht fast nichts. Er arbeitet nicht, rasiert sich nicht. Aber sicher ist er gekommen. Ohne sich darum zu scheren, was der Vater ihm gesagt hat. Ihr war das auch egal. Doch sie ist ja auch schon erwachsen. Zwanzig Jahre. Eine richtige Frau. Und plötzlich schlägt ein Stein durch ein kleines Fenster in die Kirche, und als zwei- oder dreitausend Blicke in die Richtung fliegen, segelt eine harmlos aussehende Rauchbombe durch die Öffnung. Die Bombe segelt weiter und fällt zu Boden, direkt vor den Beichtstuhl. Und von dort beginnt sie ihr Gift zu verbreiten. Stille tritt ein, auch am Mikrofon. Es braucht noch zwei weitere Rauchbomben, bis Panik ausbricht. Dann kommen noch mehr, aber keiner verfolgt mehr ihre Flugbahn. Man sieht nichts mehr. Nur noch Rauch überall, und plötzlich sind da auch Schüsse. Bumm-bumm-bumm. Gummigeschosse prallen gegen den Zement. Aber vor allem der Rauch, der Rauch, der Rauch. Die Geschosse sind nicht zu erkennen, treffen aber Jung und Alt gleichermaßen. Schreie. Angst, totgetrampelt zu werden. Alle wollen hier raus, doch es scheint unmöglich, es gibt keine Fluchtmöglichkeit, keinen Ausweg. Angst zu ersticken. Niedergetrampelt und erstickt, doppelte Todesangst. Eine neue Angst, eine konkrete Angst. Der Rauch brennt in der Kehle. Sie hustet. Diesmal wirklich.

— Wir müssen hier raus! Wir müssen hier raus!

Mit tränenden Augen, die Füße bleiern vor Angst, versucht sie auf das Licht zuzulaufen. Sie muss aus dieser Kirche raus, mit dem Frieden des Herrn. Das Licht ist dort, so nah. Zwei- oder dreitausend fromme Seelen drängen dem Licht entgegen. Ein grauer Tag, alle wollen raus in den grauen Tag. Splitterndes Glas. Die Fenster sind zerschlagen, die Leute klettern durch sie hindurch ins Freie. Das ist die Rettung. Alles andere ist Rauch. Glassplitter, Schnitte an den Händen. Auf der anderen Seite der Fenster warten die Maschinengewehre. Die Flüchtenden drücken jetzt nach hinten zurück, niemand möchte jetzt noch raus, sie kommen zurück nach drinnen und überrollen die, die hinter ihnen waren. Und dann hört man: die erste Gewehrsalve, sie dauert ewig, eine Schussorgie. Alle Schreie verstummen, wie im Unterricht, wenn sie mit dem Lineal auf den Tisch klopft. Nur für einen Moment, es ist der Schreck. Dann beginnt das Schreien wieder, das Schubsen, der Druck auf der Brust. Sie möchte nicht mehr raus, sie möchte ganz still bleiben, vom Rauch verborgen. Die Augen schließen. Ein bisschen ersticken, ohnmächtig werden und später aufwachen, wenn alles wieder vorbei ist.

Doch dann kommt es so, dass sie plötzlich draußen ist, sie weiß nicht, wie das geschehen ist, die Menge hat sie bis hierher gedrängt. Sie ist draußen, und die Schüsse wummern weiter. Sie ist draußen und sieht Männer, fast noch Jungs, einige Frauen. Viele fallen. Sie schreien, ohne dass ein Laut aus ihren Mündern dringt (und wo ist ihr Bruder? Ist das nicht ein Freund von ihm aus Jesús Obrero?). Manche werden ohnmächtig. Ein paar starke Männer versuchen, die Gefallenen aufzuheben, doch die Schüsse pfeifen zu dicht an ihren Ohren vorbei, und sie fliehen mit eingezogenem Kopf. Wo entlang flüchten? Wieder denkt sie daran, sich tot zu stellen, bis alles vorbei ist. Die Schüsse wummern weiter, und das Geschrei schrillt unaufhörlich. Da sind blutdurchtränkte Hemden und Kinder, die in die Knie sacken und nicht wieder aufstehen. Und dann, mitten im Getümmel, eine Hand:

— Mariluz, hierher, los, komm!

Auch er hat nach ihrem Namen gefragt, hier und da. Sie müssen einander nicht vorgestellt werden, offiziell. Das wird nie geschehen. Seine Stimme. Und jetzt auch seine Hand. Ist sie gerettet? Der Mann weiß, wo sie langgehen, wo entlang sie fliehen können. Die Schüsse wummern weiter, und der Platz färbt sich allmählich rot. Sie springen über eine niedrige Mauer und entkommen.

Gehet hin in Frieden.

04 Wir sind also in Vitoria. Hier bin ich vor zwanzig und etlichen Jahren zur Welt gekommen. Hier habe ich fast zwanzig Jahre lang gelebt. Hier bin ich an den frühreifen Oktoberabenden zuerst zum Ballett-, später zum Klavierunterricht gegangen. Hier habe ich das Radfahren gelernt, und wie wichtig es ist, den Hals immer schön zu bedecken, wenn man das Haus verlässt. Hier wurde ich zum Milchkaffee-Fan. Hier habe ich mich allmählich zur Exzentrikerin entwickelt oder einfach begriffen, dass ich nie im Zentrum würde stehen können. Hier habe ich mein erstes Mal erlebt, gegen eine Tür gepresst: Und dieses Detail habe ich hervorgehoben, als ich dir die ganze Geschichte erzählte, dabei hätte ich vielleicht andere Aspekte betonen sollen. Von hier bin ich voller Ungeduld aufgebrochen, bin geflüchtet und unversehens dir begegnet, an einem Märzmorgen, gegen Ende des Winters.

Es ist drei Uhr nachmittags, als wir endlich das Haus meiner Mutter betreten. Einen Parkplatz zu finden war schwierig: Meine Überzeugung, dass das Parken im Sommer in dieser Stadt kein Problem wäre, ist offensichtlich veraltet. Beim Eintreten fällt mir als Erstes die Stelle auf, wo bis vor sechs Jahren das Klavier gestanden hat. Denn die leere Stelle an der Wohnzimmerwand gibt es immer noch. Ein befreiter Raum.

— Ich komme um vor Hunger, sagst du.

— Lass uns irgendwo zum Mittagstisch gehen.

— Es ist schon spät, ich gehe besser runter zum Supermarkt und besorge ein paar Kleinigkeiten. Ruh du dich aus.

Und so lässt du mich im Haus meiner Mutter allein. Hier stelle ich sie mir normalerweise vor, hier, auf diesem Sofa. Oder am Küchentisch, auf der Stuhlkante sitzend. Oder wie sie vom Balkon, falls der Regen und die Temperaturen es zulassen, auf den Río Batán schaut und dabei eine Mandarine schält, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, um mit mir zu sprechen. All diese Orte, an denen ich sie mir vorstelle, habe ich jetzt vor Augen, sie aber fehlt, ihre Stimme, ihr Körper. Ich gehe zu ihrem Schlafzimmer und schaue von der Tür aus hinein, traue mich nicht einzutreten. Über dem Kopfende des Bettes hängt ein Druck von Chagalls »Les mariés dans le ciel de Paris«, der den ganzen Raum beherrscht. Hier und da etwas Hippie-Kram, kaum mehr als Fossilien: An der Wand hängt ein Pashmina, ein paar bunte Kissen im Patchwork-Stil liegen herum, auf der Kommode steht ein Räucherstäbchenhalter aus Holz, ohne Reste von Räucherstäbchen. Ich schließe die Augen und meine, sie zu riechen. Genau wie mir der Geruch von Aldeburgh in den Sinn kommt. Der von der Nordsee kommende Wind mischt sich mit Möwenkacke. In Wirklichkeit ist es nicht leicht, in Wirklichkeit rieche ich gar nichts.

Etwas beschämt schließe ich die Tür und gehe in mein Zimmer.