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Die größten Verbesserungen der Welt verdanken wir Unbekannten – Zeit, sie kennenzulernen! Wer errang die großen positiven gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt? Nicht die Fürsten, Präsidenten und Philosophen. Es waren einfache Leute. Sie legten »von unten« den Grundstein für die Abschaffung der Sklaverei, das Ende des Feudalsystems und der Unterdrückung der Frauen. Loel Zwecker erzählt die Geschichte von den ersten Aktivisten bis heute und gibt den Namenlosen eine Stimme. Überraschend aktuell und inspirierend mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart. Ein Hoch auf die Macht der Machtlosen! Die großen positiven gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt verdanken wir Aktivistinnen und Aktivisten, die von der Geschichtsschreibung vergessen wurden. Zu Unrecht. Benjamin Lay setzte erstmals auf Empathie als politisches Mittel, um den Mitgliedern seiner Glaubensgemeinschaft die Unhaltbarkeit der Sklaverei vor Augen zu führen. Mother Jones organisierte einen »Kreuzzug« gegen Kinderarbeit und forderte John Rockefeller heraus. Wat Tyler verlangte bereits im Mittelalter die Aufhebung der Standesunterschiede in England und die Umverteilung großer Reichtümer. Catharina Linck, Knopfmacherin aus Halle, liebte Frauen, brach mit Geschlechterrollen und trat für mehr Diversität bei der sexuellen Orientierung ein. Loel Zwecker holt ihre und weitere bewegende Geschichten aus der Vergessenheit. Er erzählt von ihren oft raffinierten Aktionen und Methoden, mit denen sie nachhaltige Verbesserungen bewirkten. Ein kluger wie spannender Blick in die Vergangenheit als Empowerment für die Zukunft.
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Seitenzahl: 496
Loel Zwecker
Die Macht der Machtlosen
Eine Geschichte von unten
Tropen
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Tropen
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ISBN 978-3-608-50193-3
E-Book ISBN 978-3-608-12324-1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
Was tun ohne Macht? oder Die Hausfrau, die den Diktator stürzte
Ein Humanismus für alle
I. Die Macht des Verzichts
1.
Politische Ich-Botschaften, pazifistisches Kidnapping
Zeitenwende 1657
Die Lay-Formel
2.
Abolitionistische Unternehmen
Ein schwarzer Kolumbus
3.
Die Fünf-Jahrhundert-Handelsbilanz
Gegen den Kolonialismus
4.
Normalbürger, die für andere den eigenen Ruin riskieren
Die abolitionistische Renaissance
II. Die Kraft des Zusammenhalts
5.
Die gefährlichste Großmutter Amerikas
Ein politisch progressiver Kreuzzug
Aktivismus versus
PR
– ein Kulturkampf
Eine Präsidentschaftskandidatur hinter Gitterstäben
6.
Freundliche Gesellschaften und einflussreiche Hausfrauenkomitees
Labor für frische Ansätze – Arbeiterstipendien und Mietstreiks
»Niemand, niemand ist unnütz«
Ein Staatsstreik
Agua
7.
»I wanna live like common people« – das Potenzial des Pop
Die Systemfrage
III. Empowerment durch Verwandlung
8.
»Denn die Frau ist von Natur gutmütig«
Alltagsabläufe stören, neue Bilder schaffen
Überraschende Verwandte: die Bräute Christi
Der Staat der Frauen
9.
Frauen in Männerkleidung
Der Ausgang aus der fremdverschuldeten Unmündigkeit
Eine neue, vielfältige Identität
Der feministische Pragmatismus
Sechzehn Prozent besser?
IV. Eine umfassend wirksame Umverteilung
10.
Die erste Erklärung der Menschenrechte – von unten
Die Prinzipien Pyramide und Erbe
11.
Der Robinhoodismus – ein Humanismus für alle
Die narrative Theorie
12.
Die Renaissance der Unterprivilegierten
Die perfekte Verblendung
13.
Die Urform der Moderebellion
Der etwas andere Erfolgstyp
V. Die Realpolitik der Spinner
14.
Wachstum nach unten
15.
Stipendien, um Arme ins Parlament zu bringen
16.
Möglichkeitsfenster der Geschichte
17.
Gegen den Trägheitssatz der intellektuellen Eleganz
Sumak kawsay und die Hüterin des Wassers
VI. Die einfachen Leute und die Institutionen
18.
Der ärmste Präsident der Welt
Das Jahrhundert des einfachen Mannes
19.
Egalitäre Eliten
Das Aristokratie-Paradox
The House of Lots – Demokratie und Zufall
20.
Maßvolle Revolutionäre
Jugendrevolte – die dritte
Merkwürdig pragmatisch
Schluss
Gegen die Ökonomisierung, auch der Wahrnehmung
Dank
Literatur
Anmerkungen
Einleitung: Was tun ohne Macht? oder Die Hausfrau, die den Diktator stürzte
1. Politische Ich-Botschaften, pazifistisches Kidnapping
2. Abolitionistische Unternehmen
3. Die Fünf-Jahrhundert-Handelsbilanz
4. Normalbürger, die für andere den eigenen Ruin riskieren
5. Die gefährlichste Großmutter Amerikas
6. Freundliche Gesellschaften und einflussreiche Hausfrauenkomitees
7. »I wanna live like common people« – das Potenzial des Pop
8. »Denn die Frau ist von Natur gutmütig«
9. Frauen in Männerkleidung
10. Die erste Erklärung der Menschenrechte – von unten
11. Der Robinhoodismus – ein Humanismus für alle
12. Die Renaissance der Unterprivilegierten
13. Die Urform der Moderebellion
14. Wachstum nach unten
15. Stipendien, um Arme ins Parlament zu bringen
16. Möglichkeitsfenster der Geschichte
17. Gegen den Trägheitssatz der intellektuellen Eleganz
18. Der ärmste Präsident der Welt
19. Egalitäre Eliten
20. Maßvolle Revolutionäre
Schluss: Gegen die Ökonomisierung, auch der Wahrnehmung
Für Suzette
Wie würde eine Geschichtsschreibung vom Standpunkt der Schlechtweggekommenen die historischen Überlieferungen ändern?
Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1921)
I wanna live like common peopleI wanna do whatever common people do
Pulp, »Common People« (1995)
Einleitung
An einem Sonntag im September 1738 betritt ein kleinwüchsiger Mann den Veranstaltungssaal seiner Kirchengemeinde in Pennsylvania. Er trägt einen auffällig dicken grauen Mantel, unter dem er offenbar etwas versteckt hält. Nach einer Weile streift er ihn plötzlich ab, und die Anwesenden erschrecken. Der Mann steht da mit gezücktem Schwert. Für die Gemeindemitglieder, streng pazifistische Quäker, eine heftige Provokation. »So soll denn«, ruft er, »Gott das Blut jener vergießen, die ihre Mitgeschöpfe versklaven!« Daraufhin schlägt er mit der Waffe auf eine Bibel ein. Das Entsetzen ist groß, zumal als aus der Heiligen Schrift Blut spritzt und die Umstehenden besudelt.[1]
Vor seinem Auftritt hat Benjamin Lay seine Bibel mit einer mit Kermesbeerensaft gefüllten Blase präpariert. Doch nicht nur mit dieser Tat hinterlässt der aus England immigrierte gelernte Handschuhmacher, der in Amerika als Obstbauer und Ziegenhirte lebt, nachhaltig Eindruck. Immer wieder sorgt er mit Pamphleten und Aktionen für Aufsehen, über Jahre hinweg. Einmal hockt er sich mitten im Winter barfüßig und in kurzen Hosen vor das Gemeindehaus der Quäker auf den eisigen Boden. Als seine Glaubensbrüder und -schwestern eintreffen, bitten sie Lay, besorgt um seine Gesundheit, sich doch etwas anzuziehen. »Ihr schützt Mitleid mit mir vor«, entgegnet er. »Aber ihr empfindet nichts für die Sklaven, die im Winter halb bekleidet auf euren Feldern schuften.«
So hat Benjamin Lay, den heute kaum jemand kennt, Geschichte geschrieben. Er darf als erster Aktivist der Anti-Sklaverei-Bewegung gelten. Vielleicht war er sogar der erste Aktivist im heutigen Sinn überhaupt. Mit seinen Mitteln stemmte er sich gegen die – zumindest mit Blick auf die Opferzahlen sowie die geographische und zeitliche Ausdehnung – größte Alltagsbarbarei der Menschheitsgeschichte. Er und ein paar andere Abolitionisten begannen im Kleinen. Nachdem sie über Jahre und Jahrzehnte Netzwerke geknüpft hatten, ließen sich schließlich Politiker für ihre Sache gewinnen. 1780 sollte Pennsylvania, Lays Heimatstaat, als wohl erster der Welt die Sklaverei abschaffen.[2] 1834, ein Jahrhundert nach Lays Aktionen, folgte als erster großer Sklavereistaat Großbritannien.
Wie dieser epochale Erfolg genauer zustande kam und was sich daraus für die Gegenwart ziehen lässt, darauf werde ich in Teil I dieses Buches eingehen. Aktivisten wie Lay sind heute weitgehend unbekannt. Und es ist höchste Zeit, sie als zentrale historische Akteure anzuerkennen. Sie bewiesen Mut und Einfallsreichtum, waren im Denken ihrer Zeit voraus. Um ihre Botschaft zu verbreiten, entwickelten sie ein vielseitiges Arsenal an Methoden, von emotional anrührenden Inszenierungen bis hin zu gewieften Kommunikations- und Marketingstrategien. Ihre Errungenschaften umfassen überraschend viele Felder. Neben ihrem unersetzlichen Beitrag zur Abschaffung der Sklaverei gelang es ihnen, Empathie als wichtigen Bestandteil politischen und wirtschaftlichen Handelns zu etablieren. Sie definierten Luxus neu. Und sie konnten letztlich Menschen für ihr Anliegen gewinnen, von denen man es nicht gedacht hätte: Grundbesitzer, Politiker und sogar Sklavenhalter. In heutigen Worten konnten die Abolitionisten Leute aus ihrer »Blase« holen, um so die historisch breitesten Netzwerke und Koalitionen für ein progressives Projekt zu schmieden, über Kontinente, Ideologien, Schichten und Milieus hinweg.
Insgesamt steht der Abolitionismus beispielhaft für eine historische Tatsache, die gern übersehen oder nicht in ihrer ganzen Tragweite beleuchtet wird: Die meisten, ja fast alle positiven gesellschaftlichen Entwicklungen von übergreifender Bedeutung wurden nicht von Leuten mit Amtsgewalt oder Wirtschaftskraft wie Fürsten, Präsidenten, Militärs, Magnaten oder CEOs angeschoben; und es waren auch nicht Revolutionsführer oder »große Denker« – sondern scheinbar Machtlose, »die da unten«, einfache Leute.
Das ist besonders von Bedeutung mit Blick auf aktuelle Probleme wie die soziale Ungleichheit, den Vormarsch von Autokraten und Populisten, die Klimakatastrophe – und den zivilgesellschaftlichen Kampf dagegen. Die Bandbreite der historischen Beispiele reicht von Bauernrebellen des Mittelalters, die erstmals in der Geschichte mehr ökonomische Gleichheit und kulturelle Gleichberechtigung forderten, über den Abolitionismus bis zur Frauen- und Arbeiterbewegung. Diese Entwicklungen will ich auch deshalb genauer beleuchten, weil sich aus jeder von ihnen Ideen und Maßnahmen für Probleme der Gegenwart ergeben.
Die Beispiele betreffen eine Vielzahl an ökonomischen, politischen und kulturellen Feldern. Ich stelle Abolitionisten wie Benjamin Lay und Olaudah Equiano vor, die Gewerkschaftlerin Mary Harris Jones oder den religiösen Sozialisten Gerrard Winstanley. Um zu verstehen, wie Veränderung möglich wird, ist es unabdingbar, diese Menschen und ihre Geschichten besser kennenzulernen, ihren Errungenschaften einen angemessenen Platz in der Geschichte zu verschaffen.
Bessere Arbeitsbedingungen, genossenschaftliches Wirtschaften für ein nachhaltiges Wachstum, egalitäre Gemeinden oder die Schaffung von Stipendien, die mehr arme Menschen in Parlamente bringen – der Blick auf die Geschichte zeigt so viel Utopisches, schlau Konzipiertes und bereits einmal Praktiziertes, das sich ausbauen oder neu umsetzen ließe, in den unterschiedlichsten Bereichen. Wobei sich eine Gemeinsamkeit festhalten lässt: Oftmals war es ein Verzicht, ein Aufgeben und Loslassen von überschüssigen Ressourcen, von Privilegien und Macht, das am Ende einen Gewinn für alle brachte.
Wann begann sich die Macht der vermeintlich Machtlosen erstmals zu entfalten? Die Anfänge dessen, was ich im Folgenden schildere, liegen erstaunlicherweise weder in der Antike, der »Wiege unserer Zivilisation«, noch in der Aufklärung, sondern im Mittelalter. Das ist ein wichtiger Punkt, auch weil dadurch nebenbei klar wird, dass wir im Rückblick schriftliche Statements, etwa von berühmten Philosophen der Antike oder der Aufklärung, in ihrer Bedeutung gern überschätzen. Dabei legten sogenannte Bauernrebellen, allgemeiner gesprochen Unterprivilegierte, einfache Leute, im 14. Jahrhundert die Fundamente für eine modernere Auffassung von Recht und Gerechtigkeit. Sie, und nicht Sokrates, Aristoteles oder Thomas von Aquin, wehrten sich als Erste gegen die Einteilung der Menschheit in Adelige und Knechte, in Arm und Reich, in »kultiviert« und »unkultiviert«. Das geschah an mehreren Orten, unter anderem 1323 in Flandern und 1381 in England. »Als Adam grub und Eva spann, wer war da der Edelmann?«, lautete ihr Slogan. »Vom Anfang an wurden alle Menschen von Natur aus gleich geschaffen.« Darin steckt nichts weniger als die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte vier Jahrhunderte vor jener der Französischen Revolution von 1789, die im Übrigen an der materiellen Ungleichheit wenig bis nichts änderte.[3] Und mehr als sechs Jahrhunderte bevor Ökonominnen und Anthropologen unserer Zeit in Studien empirisch belegen können, dass mehr soziale Gleichheit für die körperliche und seelische Gesundheit aller Menschen, auch der Privilegierten, Vorteile bringt.[4]
Vielleicht muss ich an dieser Stelle einem möglichen Missverständnis vorbeugen. Wenn ich von einfachen Leuten spreche, meine ich damit nicht so etwas wie »einfach gestrickt«, sondern die zwei Duden-Bedeutungen: erstens »nicht mit besonderen Privilegien ausgestattet«, zweitens »bescheiden, wenig Aufhebens um sich machend«. Das gilt etwa für die britischen Diggers, eine christlich-anarchistische Gruppe, die Mitte des 17. Jahrhunderts brachliegendes Land von Großgrundbesitzern besetzte und in basisdemokratischen Gemeinschaften bebaute. Sie erfanden nichts weniger als einen unternehmerischen, auf Privatinitiative aufbauenden Sozialismus und den gewaltfreien Aktivismus.
Stärker sichtbar werden die Erfolge ab dem 18. Jahrhundert. Das trifft besonders für das zu, was ich die »Big Three« der einfachen Leute nenne: den bereits erwähnten Abolitionismus sowie die Frauen- und die Gewerkschaftsbewegung. Letztere brachte der Mehrheit der Menschen ein besseres Leben. Zudem konnten Randständige erstmals offiziell die politische und kulturelle Bühne betreten. Gewerkschaften und ihre Vorläufer, die Friendly Societies, entwickelten sich zu Laboratorien für innovative, kreative Formen der Politik und des Aktivismus, etwa mit Mietstreiks oder Konsumboykotten, die heute wieder aktuell erscheinen. Auch an abgelegenen Orten wurden neue Strategien entwickelt. Wie im Fall von Domitila Chungara, die als Frau eines Minenarbeiters im bolivianischen Andenhochland schlimmste Armut und Unterdrückung erlitt. Mit ihrem »Hausfrauenkomitee« initiierte sie 1978 Hungerstreiks und trug maßgeblich zum Sturz des Diktators bei. Auf ihre Art tat sie auch einiges für den Feminismus. Die Frauenbewegung insgesamt darf als Sonderfall in Sachen einfache Leute gelten. Denn in ihr fanden sich auch Adelige, die »nicht mit besonderen Privilegien ausgestattet« waren, zumindest im Verhältnis zu ihren Männern. Auch deshalb betone ich hier den fundamentalen, letztlich nicht nur für den weiblichen Teil der Bevölkerung relevanten Aspekt, sich und seinen Lebensstil komplett neu zu erfinden – gegen extreme Widerstände, gegen alltägliche, oft sexualisierte Gewalt und über Jahrtausende eingeschliffene Mentalitäten und Gewohnheiten. Dies ist ein Wandel von Grund auf, bis ins Privatleben hinein, und das ohne ideologisch oder doktrinär zu sein. So sind die Feministinnen darin Vorbilder, radikale Transformationen auch für Menschen attraktiv zu gestalten, die sich damit generell schwerer tun. Das ist und bleibt inspirierend, bei der Suche nach zeitgemäßen Beziehungsformen genauso wie in der Politik und bei überlebenswichtigen Fragen wie jener der Nachhaltigkeit.
Einfache Leute ragten nicht nur im Kampf für soziale Gerechtigkeit heraus, sondern auch bei kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Innovationen. Das beginnt im Mittelalter mit dem, was ich die »Renaissance der Unterprivilegierten« nenne, mit Parodien, Balladen und der ersten wirklich sozialkritischen Kunst in Gestalt einer Moderebellion. Dabei stellten Mitglieder bestimmter Schichten, indem sie nicht standesgemäße Kleidung trugen, auf kreative und lustige Weise gesellschaftliche Hierarchien infrage. Damit einher ging etwas, das ich unter den Begriff »Robinhoodismus« fasse. Ihn verkörperten neben Bauernrebellen und realen Banditen auch Legenden wie der grüne Outlaw, damals ein role model für viele im Alltag. Seine Geschichte fand über Balladen und Chroniken, die damaligen Massenmedien, größere Verbreitung als alle anderen literarischen Werke des 14. Jahrhunderts, bis hin zur heute berühmten Göttlichen Komödie Dantes.
Robin Hood gründet eine egalitäre Waldgemeinschaft und luchst auf listige, charmante Weise faulen Klosterbrüdern und korrupten Vertretern der Obrigkeit Geld ab, um es umzuverteilen. Als populärer Actionheld steht er auf archetypische wie alltagsnahe Weise für die Idee »den Reichen nehmen, den Armen geben«. Er ist sozusagen ein vorbildlicher Verbrecher, dessen Umverteilung den Sozialstaat und Sozialunternehmen vorwegnimmt. Was am Ende auch den Wohlhabenden zugutekommt, denn wenn sie die Möglichkeiten erhalten, etwas zu geben – und sei es zunächst unfreiwillig –, fühlen sie sich besser und müssen vor allem weniger Unruhen fürchten. Philosophisch betrachtet, wägt der vorbildliche Verbrecher zwischen positivem Recht und Naturrecht ab, ein bis heute relevantes Thema, etwa bei Debatten um zivilen Ungehorsam oder Aktivistinnen und Aktivisten wie jene der sogenannten Letzten Generation. Der Robinhoodismus ist ein Humanismus für alle, nicht nur, wie bei Erasmus bis Luther der Fall, für diejenigen mit Status- und Bildungsprivilegien. Gerade weil der gute Outlaw so vielfältig ist und Widersprüche enthält, könnte er aus heutiger Sicht als Grundlage für eine neue politisch progressive »Erzählung« dienen.
Natürlich sollte man Machtlose nicht als »edle Wilde« romantisieren.[5] Ihr Engagement hatte meist auch damit zu tun, dass sie oder ihr Umfeld besonders unter den herrschenden Verhältnissen litten, was für die Mächtigen weniger zutraf. Mit welchen übergreifenden Qualitäten bestachen die einfachen Engagierten? Sie waren empathisch. Sie verstiegen sich nicht in Theorien und sahen konventionelle Bildung mit Skepsis, da diese oft alte Hierarchien und korrumpierte Institutionen stützte. Sie galten als Spinner, als naiv – und lagen im Rückblick fast immer richtig. Die Menschen, um die es in diesem Buch geht, zielten nicht auf persönlichen Ruhm, Profit oder »sozialen Aufstieg«, sondern wollten etwas Grundlegendes verändern. Sie wurden als Kriminelle verfolgt oder als Außenseiter verlacht – und zeigten kaum Angst. Sie überwanden ihre eigene Furcht und jene anderer, auch mit Humor. Sie sind Vorbilder.
Mein Ansatz basiert auf der Tradition der »Geschichte von unten«, deren bekanntester Vertreter der Historiker Howard Zinn ist. Sie ist eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass Geschichte meist von Siegern geschrieben wird.[6] Die »Geschichte von unten« konzentriert sich auf die Schicksale und Kämpfe von Unterprivilegierten. Ich versuche allerdings stärker, die Strategien und Methoden der einfachen Leute herauszuarbeiten und für die Gegenwart nutzbar zu machen. Zugleich will ich tiefer liegende ökonomische und kulturelle Muster aufzeigen, auf dass wir bewusster mit ihnen umgehen oder sie verändern können. Dazu zählt, was ich das »Prinzip Pyramide« und das »Prinzip Erbe« nenne. Seit Gründung der sogenannten Hochkulturen, also ungefähr seit dem alten Ägypten, kommen sie darin zum Tragen, dass Positionen innerhalb spitz geformter Hierarchien vererbt werden. Spätestens ab da, teils schon seitdem die Menschheit vor rund 12 000 Jahren nach und nach sesshaft wurde, spielt die Vererbung eine zentrale Rolle in Politik, Wirtschaft, Kultur und Alltagsleben. Erbe meint hier also nicht nur Materielles, sondern auch Bildung und Habitus.
Dieses Buch lässt sich als »Weltgeschichte von unten« lesen oder als Handbuch historischer Transformationen. Eine Einschränkung muss ich allerdings machen: Die meisten ausführlichen Beispiele stammen aus der sogenannten westlichen Welt, aus Europa, den USA, Lateinamerika und der Karibik; ich musste Schwerpunkte wählen.[7] Immer wieder verweise ich aber auch auf Afrika und Asien. Und bei allen Vorbehalten gegenüber Verallgemeinerungen darf man sagen, dass die Macht der Machtlosen aus diversen Quellen schöpft und kulturübergreifend relevant ist.
Das Engagement der einfachen Leute zu beleuchten, ist hilfreich, zumal heute unter anderem Transformationsforscher diskutieren, wo man am besten ansetzt, um breitenwirksam Veränderungen einzuleiten.[8] Das scheint wichtig in Zeiten, in denen die sogenannte Veränderungsermüdung und Verlustängste bzw. Verlustaversion immer relevanter werden. Letzteres ist die psychologische Tendenz, dass Menschen (auch vermeintliche) Verluste in ihrer Bedeutung höher einschätzen als Gewinne und sich deshalb gegen manche Neuerungen sperren, die zunächst mit materiellen Abgaben in speziellen Bereichen einhergehen. Das ist menschlich verständlich, aber mit Blick auf die Klimakrise und die soziale Ungleichheit problematisch, in gewisser Weise sogar tragisch. Ein simples Beispiel für die Kluft zwischen Wissen und Aktion – ein herausragendes Merkmal unserer Zeit – ist, dass innovative Ansätze dafür, die Ungleichheit zu reduzieren, im ökonomischen Mainstream angekommen sind, aber nicht realisiert werden. Etwa das »Erbe für alle« (Thomas Piketty), auf das ich noch genauer eingehen werde.[9] Es hapert an der Umsetzung. Auch deshalb schildere ich historisch große Sprünge und Entwicklungsschübe, die zu ihrer Zeit unmöglich schienen und dennoch gelangen. Dabei möchte ich möglichst nah an die handelnden Personen herankommen und die Schritte ihres Engagements nachvollziehbar machen.
Grob umfasst das Buch drei Ebenen: Erstens umreiße ich wenig bekannte, auch heute relevante, hilfreiche Ideen, Strategien und Ansätze des Engagements; zweitens erkläre ich Visionen und vorbildliche Haltungen; drittens ergibt sich eine andere Perspektive auf Entwicklungen, Muster und Akteure der Geschichte. Sie zu kennen, ermöglicht es uns, Dinge, die historisch in Stein gemeißelt oder gar naturgegeben scheinen, zu hinterfragen, in ihrer Bedingtheit zu sehen und zu verändern. Denn oft ist es die Form der Überlieferung, die »von oben« erzählte Geschichte mit ihren immer wieder ähnlichen Hierarchien und Kategorien, die uns hemmt. Doch sobald wir uns anhand eingängiger Beispiele bewusst machen, dass sich auch diese nur jemand ausgedacht hat, können wir freier denken und handeln.
Das Buch ist praktisch ausgerichtet, es geht vor allem um Aktionen und aufrüttelnde Texte. Wo allerdings Theorien prägend waren oder sind, berücksichtige ich diese und ordne sie historisch ein.[10] Dasselbe gilt für aktuell diskutierte Ansätze wie Degrowth, die Postwachstumsökonomie, die Care-Revolution oder Buen Vivir. Was die Systemfrage Sozialismus versus Kapitalismus anbelangt, zeigt sich gerade mit Bezug auf einfache Leute, wie theoretisch der Streit oft ist.[11] In der Praxis bewähren sich Ansätze wie jener der Genossenschaften und neue Mischungen aus diversen Elementen und Traditionen. Auch für progressive Gesellschaftsmodelle und Wirtschaftssysteme kamen die Impulse erstaunlich oft von einfachen Leuten. Das gilt etwa für die bereits erwähnten Diggers, den Anarchosyndikalismus und Kooperativen, die unter anderem früh mit aktivistischen Boykotten und Fair Trade arbeiteten. Auch Letzteres wurde just im Umfeld von Benjamin Lay erfunden, dem eingangs vorgestellten Abolitionisten.
Die Anti-Sklaverei-Bewegung macht Empathie und das freiwillige Abgeben von Privilegien zum Faktor in Politik und Wirtschaft. Und sie schmiedet die bis heute breiteste globale Koalition für ein progressives Ziel
1.
Stellen wir uns vor, die Regierungschefin oder der Regierungschef eines mächtigen Landes, etwa der USA, würde im Rahmen einer groß angekündigten Pressekonferenz vor die Kameras treten und sich mit folgenden Worten an die Weltöffentlichkeit wenden:
»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, hier in Amerika und auf der ganzen Welt, ich sage es ganz direkt. Ich kann nicht mehr. Es hat keinen Sinn. Wir produzieren und produzieren, aber es macht uns nicht glücklicher. Im Gegenteil. Wir Wohlhabenden verwöhnen unsere Kinder mit teuren Produkten, Events und Reisen, die sie nicht einmal begeistern und die die Umwelt zerstören. Wir stressen oder ermüden sie mit Fast-Food-Bildung, die ihnen im Konkurrenzkampf um Jobs helfen soll, damit sie sich Dinge leisten können, die sie nicht wirklich wollen. Zugleich werden so viele Arme ausgebeutet, im globalen Süden und auch in reichen Ländern. Das ist unmoralisch, und es ergibt nicht einmal ökonomisch Sinn.«
»Wenn wir«, fährt das Staatsoberhaupt nach einer kurzen Pause fort, »statt uns gelegentlich zu empören, abgeben würden, was wir nicht für ein gutes Leben brauchen, wäre auf einen Schlag ein Großteil der Probleme für so viele ärmere Menschen gelöst. Deshalb möchte ich Sie heute bitten: Schaffen Sie unnötige Autos ab; geben Sie Wohnraum frei, den Sie nicht wirklich brauchen, andere aber umso dringender; lassen Sie überflüssige Urlaubsreisen bleiben und spenden Sie das gesparte Geld. Unterstützen Sie mich dabei, Konzerne und Spitzenverdiener deutlich progressiver zu besteuern. Würden wir aufhören, wirtschaftlich Schwächere auszubeuten, wären wir auch weniger von einem latent schlechten Gewissen und der kognitiven Dissonanz geplagt, die zu unseren ständigen Begleitern geworden sind. Es würde allen besser gehen, und wir hätten mehr Zeit für die Dinge, die uns wirklich Freude bereiten, für Treffen mit Freunden und für unsere Familien.«
Wie wäre die Reaktion auf eine solche einfache Rede? Manche fänden sie wohl »moralisierend« oder belehrend. Einige würden ihre Freiheit bedroht sehen oder das, wofür sie – oder ihre Eltern – gearbeitet haben. Andere würden das Ganze schlicht naiv nennen, auch weil so etwas doch nur funktioniert, wenn alle mitmachen, selbst die Menschen am anderen Ende der Welt. Wie lässt sich die Ansprache politisch einordnen? Keine Partei fordert, alle, die können, sollten so viel wie möglich abgeben; auch die Klimabewegung tut dies nicht, weder Occupy Wall Street noch die Gelbwesten.[1]
Vernünftigerweise, ethisch oder ökonomisch betrachtet, lässt sich nichts gegen die zitierten Forderungen einwenden. Dennoch scheint ihre Umsetzung unmöglich. An dem Punkt können wir uns fragen, ob es in der Geschichte schon einmal einen ähnlichen Fall gab, in dem ein großer Teil der Bevölkerung auf Privilegien, auf etwas scheinbar Selbstverständliches verzichtete, um anderen zu helfen. Wann ereignete sich zuletzt etwas Derartiges? Wann hatte eine Person oder eine große Bewegung Erfolg, die die Situation vor allem der sozial Schwächsten drastisch verbessern wollte? Wann ging das mit dem Aufruf einher, dass die Mehrheit der Privilegierten – nicht nur die Reichsten – zum Wohle aller auf Dinge verzichten sollte? Wann zogen so viele freiwillig mit, dass eine kritische Masse entstand?
Faszinierend ist der Abolitionismus schon allein deshalb, weil zumindest nicht die Mehrheit der Aktivistinnen und Aktivisten auf Probleme abhob, unter denen sie, oder ihr Milieu, selbst litten. Auch was die Vorgehensweise betrifft, schafften sie Außerordentliches. Sie bildeten, wie bereits in der Einleitung erwähnt, die bislang breiteste Koalition der Weltgeschichte für ein progressives Ziel, schichten-, länder- und ideologieübergreifend. Den Abolitionisten verdanken sich gleich mehrere historische Premieren. Grundsätzlich betonten sie, wie wichtig Empathie in der Politik und Wirtschaft ist, was damals spektakulär war und es teils noch heute ist. Darüber hinaus waren sie die Ersten, die ganz konkret den Luxus der einen und das Leid der anderen in ein Verhältnis zueinander setzten, ja, Luxus neu definierten. Und all dies taten sie, ohne irgendjemanden ausgrenzen, verdammen oder bestrafen zu wollen.
All das ist beeindruckend und noch immer sehr relevant. Und die Abolitionisten boten sogar etwas, das in der eingangs zitierten fiktiven Ansprache, so spektakulär sie wäre, fehlt. Sie setzten sich ein klar umrissenes positives Ziel. Sie wollten die Sklaverei, die damals als normaler Teil des Lebens galt, loswerden. Punkt. Darauf arbeiteten sie hin, dafür waren sie bereit, auch auf persönliche Privilegien zu verzichten. Und daraus ergaben sich positive Effekte auf anderen Feldern – für alle. Wie die Abolitionisten das vollbrachten und was wir daraus für heutige Ziele und Transformationen lernen können, darum geht es in diesem Kapitel.
Bei der Sklaverei handelt es sich vermeintlich um ein archaisches Verbrechen, und um ein überwundenes. Das täuscht. Sie prägt uns bis heute, und zwar umfassend. Das gilt für Arbeitsbedingungen, den Umgang mit Ressourcen und miteinander. Es geht um Grundwerte. Die Vielfalt und Relevanz des Abolitionismus als Wiege des modernen Aktivismus hängen damit zusammen, dass die Sklaverei nicht nur ein historischer Zombie ist, sondern auch ein Chamäleon. Im Altertum durchzog sie sämtliche Hochkulturen, zunächst in Gestalt der Schuldsklaverei und der Zwangsarbeit Kriegsgefangener, also noch ohne den Katalysator des Rassismus im heutigen Sinn. Sie war ein zentraler Wirtschaftsfaktor im antiken Griechenland und Rom, aber auch im Nahen Osten, in China und bei den Maya. Zum globalen Business wurde die Sklaverei in der Neuzeit, paradoxerweise während des Humanismus, der Reformation, dann der Aufklärung. Im 20. Jahrhundert boomte sie mit den Zwangsarbeitersystemen der Nazis, ihrer japanischen Verbündeten und den Sowjet-Gulags. Noch heute grassiert die Sklaverei in US-amerikanischen und chinesischen Gefängnissen und in »Umerziehungslagern« für Uiguren.[2] Weiterhin gibt es auch die inoffizielle Sklaverei mit indischen Kinderarbeiterinnen, afrikanischen Kindersoldaten, Zwangsarbeitern in Brasilien; mit über Facebook und WhatsApp vermittelten philippinischen und indonesischen Hausmädchen, deren Arbeitgeber ihnen im Nahen Osten oder in Hongkong die Pässe abnehmen, sie einsperren und misshandeln. Dazu kommt die Zwangsprostitution, mitten in Wohlstandsgesellschaften wie der deutschen. Insgesamt umfasst die inoffizielle Sklaverei Schätzungen zufolge weltweit aktuell fünfzig Millionen Menschen. Abgesehen von solch offensichtlichen Formen finden sich verdeckte Varianten der legalen Ausbeutung, eine sekundäre Sklaverei sozusagen. Sie reichen von Minenarbeitern in Lateinamerika und Afrika bis zu einigen Arbeitsverhältnissen im Billiglohnsektor der westlichen Welt.
So alt die größte der hochkulturellen Alltagsbarbareien ist, so lange ließ der Kampf dagegen auf sich warten: fünf Jahrtausende. Vom 3. Jahrtausend v. u. Z. bis ins 17. Jahrhundert passierte praktisch nichts. Und das, obwohl es unmittelbar um das Schicksal von zig Millionen Menschen ging. Die Schätzungen gehen auseinander, aber zwischen rund zehn und fünfzehn Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner wurden nach Amerika verschleppt und mehr als zehn Millionen in den arabischen Raum.[3] Das System der Sklaverei ist verantwortlich für bis zu 200 Millionen Tote, wenn wir indirekte Auswirkungen berücksichtigen, also die Zerrüttung von Regionen in Afrika, aus denen die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter entführt wurden, Kriege und Überfälle, bedingt durch den Handel.[4] Umgekehrt wirkten im Lauf der Jahrhunderte, die der Kampf gegen die Sklaverei dauerte, zunächst nur eine Handvoll Machtloser mit, dann Hunderte, irgendwann Tausende. Selbst in fundierten Darstellungen werden die Anfänge des Abolitionismus aber oft nur gestreift.[5] Das ist schade, denn an ihnen lässt sich beispielhaft zeigen, wie kleine Initiativen zu großen Strömungen werden.
Den Beginn des Abolitionismus genau zu datieren, ist nicht einfach. Aber wenn man ein bisschen sucht, findet sich eine Art Geburtsurkunde.[6] Ausgerechnet im Jahr 1657 publiziert in England ein gewisser George Fox die Schrift »To Friends Beyond the Sea That Have Black and Indian Slaves« (An Freunde jenseits des Atlantiks, die schwarze oder indianische Sklaven haben). Warum ich »ausgerechnet« schreibe, erkläre ich gleich, denn das Jahr 1657 – obzwar nicht als historischer Meilenstein bekannt – hat es in sich. Der Schuhmacher George Fox hatte bereits die Quäker gegründet, die protestantische Society of Friends, die in diesem Kapitel eine wichtige Rolle spielen wird. Kein Wunder also, dass sein Text in der Tradition biblischer Apostelbriefe steht. Als Laienprediger wandte sich Fox an seine Gemeinde in Amerika und bat sie, über ihre Sünde nachzudenken, Menschen wie Vieh zu halten. Höflich ersuchte er sie, die Sklavinnen und Sklaven »nach einer gewissen Anzahl von Jahren freizulassen«.[7] Fox plädierte nicht für eine sofortige, sondern eine schrittweise Abschaffung der Sklaverei und für eine bessere Behandlung der Zwangsarbeiter. Das klingt für uns merkwürdig zurückhaltend, zumal vor dem Hintergrund, dass Fox ansonsten vor extremen Aktionen nicht zurückschreckte. So lief er schon mal nackt herum, wie es manche Quäker taten, um Jesu Demut nachzuvollziehen; und wegen Kritik an der Kirche hatte er bereits im Gefängnis gesessen.[8]
Aber bei der Sklaverei musste Fox strategisch vorgehen, schrieb er doch gegen jahrtausendealte Gewohnheiten an. Gegen etwas, das normal war. Und hier kommt die Besonderheit des Jahres 1657 ins Spiel. Denn just in jenem Jahr wurde nicht nur Fox’ Pamphlet publiziert, sondern auch das erste »Chocolate House« in London eröffnet. Das Lokal in bester Lage in der Queen’s Head Alley neben der St Paul’s Cathedral bot heiße Schokolade an, mit Kakao und Zucker, angebaut in den Kolonien unter tropischer Sonne. Es war ein Trendsetter, es folgte ein Boom solcher Läden. Auch insgesamt kamen Waren, die Sklaven produziert hatten, in Mode. Sie waren so beliebt, wie es Schokolade, Kaffee und anderes aus Billiglohnländern mit Kinderarbeit noch heute sind.
Auch weil Produkte der Sklaverei so gefragt waren, durfte Fox nicht mit der Tür ins Haus fallen. In seinem Text erinnert er zunächst daran, dass wir alle nicht wie Sklaven behandelt werden wollen. Doch dann fügt er etwas Überraschendes hinzu. So wie wir nicht stehlen oder hehlen dürfen, erklärt Fox, sollen wir keine Sklaven kaufen, die in ihrem Land geraubt wurden. Es reichte offenbar nicht, das aus heutiger Sicht Naheliegende zu tun und direkt das Leid der Zwangsarbeiter herauszustellen. Um die Sklaverei verurteilen zu können, brauchte Fox einen Bezug zum Diebstahl. Warum? Der Raub eignete sich, weil er ganz offiziell als Sünde galt: »Du sollst nicht stehlen«, heißt es im siebten Gebot des Alten Testaments. Nur drei Gebote weiter, im zehnten, steht allerdings, man soll nicht Frau, Haus, Feld oder Sklaven anderer haben wollen. Der Sklaverei an sich erteilt die Bibel also ihren Segen. Daher wohl Fox’ Strategie, lieber den Diebstahl ins Feld zu führen und gleichsam ein Update der Zehn Gebote vorzunehmen. Das zeigt, wie geschickt Abolitionisten ihre Botschaften zuschneiden mussten, um den Mainstream zu erreichen. Und Letzteres waren in Nordamerika nun mal Puritaner, denen die Bestrafungsphantasien, aber eben auch die Gebote des Alten Testaments am Herzen lagen.
Passend dazu herrschten bei Quäkern große Unterschiede darin, wie sie den Abolitionismus angingen: manche pragmatisch, andere radikal. Letzteres gilt für den bereits in der Einleitung erwähnten ersten Anti-Sklaverei-Aktivisten, und damit den wohl ersten politischen Aktivisten im heutigen Verständnis überhaupt: Benjamin Lay. Der Handschuhmacher war von England über Barbados nach Pennsylvania immigriert, wo er als Hirte lebte, Obst und Flachs anbaute. Er fiel wegen seiner Kleinwüchsigkeit auf, zudem kleidete er sich betont einfach und wohnte in einer Höhle. 1737 brachte er das Pamphlet »All Slave Keepers that Keep the Innocent in Bondage, Apostates« heraus (Alle Sklavenhalter, die die Unschuldigen in Gefangenschaft halten, Apostaten). Für Lay waren Sklavenhalterinnen und Sklavenhalter also vom Glauben Abgefallene. »Ich wüsste«, schmetterte er, »keinen schlimmeren Stolperstein, den der Teufel den ehrlich Suchenden in den Weg legen könnte, als dass unsere Seelsorger und Ältesten Sklaven halten; die Heilige Schrift besudelnd und pervertierend, predigen sie eher zur Hölle, als dass sie jemals in die Nähe des Himmels gelangen werden mit ihrer geheuchelten Demut.«[9] Ein gänzlich anderer Ton als bei Fox. Und bei seinen Aktionen deckte Lay eine große Bandbreite ab. In der Einleitung habe ich geschildert, wie Lay bei einem Quäker-Treffen mit dem Schwert eine mit rotem Saft präparierte Bibel traktierte, um zu zeigen, welches Verbrechen Sklavenhalter gegen den Glauben begingen. Und wie er sich barfuß in die Kälte setzte, um auf das Leid der Sklaven, die keine Winterkleidung bekamen, aufmerksam zu machen. Als ihm diese Mahnungen und Aktionen nicht mehr stark genug erschienen, entschied er sich für noch drastischere Mittel. Eines Tages sorgten sich Bekannte von Lay, weil ihre sechsjährige Tochter nicht nach Hause gekommen war. Irgendwann klopften sie auf der Suche nach ihrem Mädchen auch bei Lay an. »Euer Kind«, antwortete er, »ist in Sicherheit, in meinem Heim. Aber jetzt könnt ihr hoffentlich begreifen, welches Leid ihr den Eltern zufügt, die ihr als Sklaven haltet. Denn sie wurden aus Habgier von ihrem Kind getrennt.« Verzweifelt über die Gleichgültigkeit der Leute, war Lay nicht einmal vor Kidnapping zurückgeschreckt. Er wurde angeklagt, kam am Ende aber mit einer Rüge davon.
Lay versuchte, das Leid anderer erfahrbar, ja, spürbar zu machen, und zwar auch das jener, die nicht zu seinem direkten Umfeld gehörten. Er wollte die Wahrnehmung und Überzeugungen der Menschen mithilfe eines Schock-Elements verändern. Heute wissen wir dank der Empathieforschung, welcher Tendenz er dabei Rechnung trug. Denn wir sind von schlimmen Schicksalen anderer am ehesten und nachhaltigsten gerührt, wenn wir oder uns nahestehende Personen Ähnliches durchlitten haben. Inzwischen fragt die Forschung, wo Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Mitleid herkommen, wo sie warum wie ausgeprägt sind. Neurologische, soziale und psychische Faktoren werden analysiert, von Spiegelneuronen bis zu frühkindlichen Erlebnissen. Empathie, so das Fazit, gehört zur evolutionären Grundausstattung des Menschen, doch unter Verwandten, sozialen Gruppen und Ethnien ist sie deutlich stärker ausgeprägt als gegenüber Fremden; bis zu einem gewissen Grad lässt sie sich allerdings erlernen und üben.
Doch bis diese Erkenntnis in den Mainstream vordrang, galt es eine lange Strecke zurückzulegen. Damals waren Lays schockierende Aktionen, um sein Umfeld empathisch zu stimmen, ein spektakulärer Ansatz. Erst im 20. Jahrhundert fand Empathie als Konzept und Begriff weitere Verbreitung, Wörter wie »Einfühlung« und »Einfühlungsvermögen« waren zu Lays Zeiten nicht geläufig, selbst »Mitleid« war weniger gebräuchlich.[10] Nur vorsichtig diskutierten fortschrittliche Theoretiker diese Konzepte. Als einer der ersten bekannteren tat es 1759 der Philosoph und Ökonom Adam Smith. Inzwischen ist er berühmt als Mitbegründer der klassischen Schule der Ökonomie, ja, der Wissenschaft als solcher. In seinem Buch Theorie der ethischen Gefühle ging er, unter dem Begriff »Sympathie«, auch auf Empathie und ihre gesellschaftliche Bedeutung ein.[11] Er setzte an dem an, woran die Sozialpsychologie und die Neurologie heute arbeiten. Dazu gehört es, zwischen Empathie und Mitgefühl zu unterscheiden, bei denen verschiedene Gehirnareale aktiviert und unterschiedliche und unterschiedlich starke Reaktionen begünstigt werden.[12] Beim Mitgefühl bleibt gemäß vorherrschender Definitionen mehr Distanz zur leidenden Person gewahrt, was konkrete, praktische Hilfe erleichtern kann. Natürlich lassen sich die Grenzen im Alltag nicht so exakt ziehen, das eine kann in das andere hineinspielen oder übergehen.
Jedenfalls waren es die Abolitionisten, die Empathie und Mitgefühl auf praktische Weise in die Politik einbrachten. Und damit etwas, worauf sich immer mehr Leute berufen konnten und wollten. Denn was aus heutiger Sicht erstaunt: Davor spielten Empathie oder Mitgefühl politisch so gut wie keine Rolle. Das Leid der Glücklosen galt schlicht als normal und gottgewollt. Noch erstaunlicher scheint allerdings, dass uns dieses Muster, auch wenn wir erkenntnismäßig weiter sind, bis heute prägt.
Kein Wunder also, dass unter diesen Umständen manche auf extreme Strategien setzten. Wie bereits angedeutet, nahm Benjamin Lay eine Erkenntnis, die inzwischen wissenschaftlich fundiert ist, vorweg: Ein Gesinnungswandel wird bei den meisten durch drastische Erlebnisse bewirkt. Wir lernen oft weniger durch Argumente als durch Erfahrung. Weiter gefasst, lassen wir uns von Leuten aufrütteln, die wir als kompetent ansehen und für die wir bereits etwas empfinden. Das funktioniert allemal besser, als mit den Aussagen von Fremden in (sozialen) Medien oder Büchern konfrontiert zu werden. Unwichtig sind Letztere deswegen natürlich noch lange nicht. Über sie informieren sich engagierte Leute, bilden sich ihre Meinung und verbreiten sie in ihrem Umfeld. Wissenschaftlich heißt das: Zweistufenfluss der Kommunikation.[13] Wenn uns etwa ein Buch überzeugt, vermitteln wir den Inhalt unter Freundinnen und Bekannten weiter, die emotional offen und empfänglich für unsere Botschaften sind.
Auch dafür bietet Benjamin Lay ein zugespitztes Beispiel. Denn redigiert und gedruckt hat seine Texte ausgerechnet sein Namensvetter Benjamin Franklin. Ja, der Franklin, der später als Erfinder und als einer der Gründungsväter der USA Geschichte schreiben sollte. Wie so viele Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hielt er selbst Sklaven und verdiente sogar an Verkaufsanzeigen, die er produzierte. Dennoch lagen die beiden Benjamine auf einer Wellenlänge. Franklin war zwar nicht ganz so extrem wie Lay, aber offen für Neues. Schon mit sechzehn spielte er Streiche, etwa als er unter dem Pseudonym Silence Dogood – angeblich eine Witwe in ihren besten Jahren – Artikel publizierte, in denen er sich über sexistische Vorurteile mokierte.[14] Diesen Franklin konnte Lay für seine Sache gewinnen und so einen der nachmalig mächtigsten Staatsmänner seiner Zeit. Ein eindrucksvolles Zeugnis der Freundschaft ist ein Porträt, das Franklins Frau Deborah, die wusste, wie sehr ihr Mann den Abolitionisten verehrte, in Auftrag gab und das den zierlichen Lay mit Gehrock und Hut vor seiner Höhle zeigt.[15]
Ein ermutigendes Beispiel für das Engagement im Kleinen. Wir können nie wissen, welche Person, die wir überzeugen, später Macht bekommt und womöglich die Welt verändert. Vielleicht wird sie Präsidentin oder Präsident oder kennt jemanden, die oder der jemanden kennt oder das Amt erhält und so weiter. Die Lay-Formel zur potenzierten Wirkung. Inzwischen zeigt die sogenannte Netzwerkforschung, dass die Lay-Formel greift und wie schnell vermeintlich kleine Impulse, eine nebenbei gemachte Bemerkung etwa, über mehrere Menschen weitergetragen werden und sich sozusagen fortpflanzen und verstärken können.[16]
Apropos Impulse: Woher bezog Lay seine Inspiration? Aus der Bibel, von Jesus natürlich, der als (vermeintlich) Machtloser für Arme und Aussätzige einstand. Aber Lays Lektüre war breit gefächert, sie reichte von Abhandlungen zum Vegetarismus, dem er anhing, bis zu Philosophen der griechischen Antike, Diogenes etwa, dem Kyniker, der das einfache Leben und den Verstoß gegen gesellschaftliche Normen propagierte.[17] Bekannt ist die Anekdote, wonach er keinen Geringeren als Alexander den Großen gebeten habe, ihm aus der Sonne zu gehen – ein starkes Bild für die Philosophie des symbolischen Aufbegehrens gegen Mächtige.[18] Allerdings ging das, anders als bei Lay, nicht mit einem politischen Projekt einher. Und am meisten beeinflusst haben Lay letztlich die Erfahrungen, die er machte, während er zwölf Jahre lang als Matrose zur See fuhr. In dieser Zeit erzählten ihm seine Kameraden aus aller Welt auch Geschichten über ihre Arbeit auf Sklavenschiffen und über die Misshandlungen der Schwarzen.[19] Insofern war Lays Selbstbezeichnung als »einfacher Seemann und Analphabet« keine reine Bescheidenheit und auch nur halb metaphorisch gemeint.[20]
Wenn wir uns die Offenheit Lays sowie seine Aktionen und seine Eigenständigkeit vor Augen führen, hat das etwas Ermutigendes, ja Befreiendes. Das gilt auch für einen anderen Zeit- und Glaubensgenossen, der ähnlich zentral für die Anti-Sklaverei-Bewegung war, aber in vielem noch näher an unserem heutigen Befinden: John Woolman. Wenn Lay für die radikale Linie steht, verkörpert Woolman die pragmatische. In gewisser Weise lässt sich mit Blick auf die beiden durchspielen, worin sich zwei Grundhaltungen unterscheiden, die zu kennen bei jedem Engagement hilfreich ist: die Gesinnungsethik und die Verantwortungsethik. Woolman zählt eher zum Lager Letzterer. Dabei verband er seinen Aktivismus mit philosophischen Fragen zum glücklichen Leben, mit denen er zugleich radikaler und moderner erscheint als einige berühmte Denker seiner Zeit.
Woolman lebte ähnlich bescheiden wie Lay in Pennsylvania als Obstbauer, Schneider und Kaufmann. Sein Schlüsselerlebnis in Sachen Sklaverei fällt in das Jahr 1742. Damals musste er als indentured servant schuften, als Vertragsknecht.[21] Er hatte sich wie so viele (weiße) Menschen verschuldet und musste den Kredit in sklavenähnlicher Abhängigkeit bei einem Gläubiger abarbeiten. Einmal wurde Woolman beauftragt, eine Rechnung für den Verkauf einer Sklavin zu erstellen. Der Quäker nahm seinen Mut zusammen und erklärte seinem Arbeitgeber, das Ganze sei nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar. Der Chef ignorierte ihn jedoch. In der Folge grübelte Woolman, wie er das Los von Sklaven verbessern könnte. Als er später selbst einen Laden eröffnete, bot er neben Werkzeug, Angeln und Porzellan eine besondere Dienstleistung an: den Service, Kunden beim Aufsetzen ihrer Testamente zu helfen. Dabei konnte er immer wieder Leute davon überzeugen, (wenigstens) mit ihrem letzten Willen ihren Sklaven die Freiheit zu schenken.
Zumindest dem Prinzip nach findet diese Praxis 250 Jahre später breitere Anwendung, wenn NGOs wie Oxfam und SOS-Kinderdorf Vermögende bitten, ihr Geld an wirklich Bedürftige zu vermachen. Ein Erfolg, aber auch ein Beispiel dafür, wie langsam sich fortschrittliche Ansätze breitenwirksam niederschlagen und wie viel schneller sie institutionalisiert werden sollten. Etwa mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Erbes durch das Staatserbe, wie es der Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch Kapital und Ideologie (2020) umreißt. Er schlägt vor, dass jede Bürgerin und jeder Bürger im Alter von 25 Jahren zum Beispiel 120 000 Euro erhalten sollten – finanziert über progressive Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern.[22] Damit ließen sich wohl auch einige der vielen Erbschaftsstreitigkeiten unter Geschwistern, die alle stressen und mitunter Familien zerreißen, auf produktive, gemeinwohlförderliche Weise verhindern.
Passend zu seinem pragmatischen Ansatz formulierte Woolman 1753 in seinem Essay »Some Considerations on the Keeping of Negros« (Überlegungen zur Haltung von Negern), den er durch Crowdfunding finanziert hatte: Viele Sklavenhalter seien »zweifelsohne wohlgesinnte Menschen«; dennoch mache ihn das »Schicksal, das die armen Afrikaner in diesem aufgeklärten christlichen Land erleiden müssen«, traurig.[23] Just diese vorsichtige Formulierung war ein epochal drastisches Statement. Denn Woolman gelang, woran wir uns noch heute die Zähne ausbeißen. Mit dem Hinweis, dass ihn die Sklaverei traurig mache, sandte er eine »Ich-Botschaft« aus, und zwar zweihundert Jahre vor der Geburt des Konzepts in den 1960er-Jahren. Er kommunizierte offen und emotional, ohne direkten Vorwurf oder Befehl. Mit der Ich-Botschaft lässt sich, wie wir heute wissen, eher vermeiden, was in der Psychologie Reaktanz genannt wird: eine Trotz- oder Abwehrreaktion bei Vorwürfen, Verboten und Verhaltensregeln, vor allem solchen, die betont moralisch begründet werden bzw. von oben herab erfolgen.
Woolmans politische Ich-Botschaft war eine Revolution im Bereich der Kommunikation. Etwas Ähnliches sollte auf größerer Bühne erst zwei Jahrhunderte später wieder geschehen: 1963 mit Martin Luther Kings »I Have a Dream«-Rede, die er auf den Mainstream zuschnitt. So wie King – der auch viel schärfer formulieren konnte – die Mehrheit mit vorsichtigen Formulierungen »abholen« wollte, gilt dies auch für Woolman.[24] Er versuchte, sich in Sklavenhalterinnen und -halter einzufühlen und sie sogar bei ihrem Selbstbild zu packen, dem der Stärke und Leistungsfähigkeit. Wie tat er das? Von Sklavinnen und Sklaven umsorgt zu werden, so Woolman, mache Eigner und ihre Kinder zu faulen Schnöseln.[25] Damit wollte er andere Quäker, vor allem aber Puritaner erreichen und nachdenklich stimmen, die sich einiges auf ihren Fleiß einbildeten.
2.
Immer wieder bringt John Woolman die Sklaverei mit einer allgemeineren Haltung in Verbindung. Oft auf erstaunliche Weise. So heißt es einmal in seinem Text, wir sollten die »natürliche Zuneigung« für unsere Kinder »einer genaueren Untersuchung unterziehen«. Was ist damit gemeint? Was gibt es gegen die Zuneigung zu unseren Liebsten einzuwenden? Natürlich nichts. Aber Woolman, Vater einer Tochter, sah dabei die Gefahr, sich auf den eigenen Nachwuchs zu fixieren und das Schicksal von Sklavenkindern oder, weiter gefasst, von weniger gut Gestellten zu ignorieren. Diese Worte aus dem Amerika des 18. Jahrhunderts klingen wie für das 21. Jahrhundert verfasst, in dem Eltern in reichen Ländern ihre Privilegien, sei es in Form von Erbe oder Bildungschancen, in sehr geballter Form an ihre eigenen Kinder weitergeben – ein Katalysator für Ungleichheit. Woolman dagegen wollte die Zuneigung im Sinn christlicher Nächstenliebe ausweiten. Wofür, fragte er, hat uns Gott, der alle liebt, die Gnade geschenkt, in einem reichen Land zu leben? Wie gesagt, er schrieb das im 18. Jahrhundert. Dabei hat Woolman offenkundig Jesu provokative Worte darüber aktualisiert, dass man Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern »gering achten« soll, um offen für größere Solidargemeinschaften zu sein (Lk 14, 26).
Woolmans Ansatz ist einerseits sanfter als jener von Lay, der mit seinen Aktionen größeres Aufsehen erregte. Andererseits greift er weiter aus. Insgesamt umriss er eine Art Philosophie des Abolitionismus, die über das Thema Sklaverei hinaus in andere Bereiche des Lebens reichte. Es war eine Philosophie des Abschaffens, Abgebens und Loslassens, von materiellen Privilegien, aber auch von Gewohnheiten und einem gewissen Anspruchsdenken, die sich daraus ergeben, einen bestimmten Status zu haben oder an einem bestimmten Ort zur Welt gekommen zu sein. Ganz konkret zielte Woolman auch auf das Verhältnis von Luxus und Verzicht ab, dessen Bedeutung für die Politik und ein erfülltes Dasein. Er reduzierte Luxusgüter in seinem Laden und richtete einen preiswerten Buchverleih ein.[1] Damit bezog er sich zunächst auf den alten christlichen Kampf gegen Gier und Materialismus, wobei er ziemlich weit zurückblickte: Adam und Eva, schrieb er, hätten im Paradies »kein Haus, keine Werkzeuge, keine Kleidung, keine Gefäße« gehabt. Er ging aber noch einen Schritt weiter, fragte, wie sich Luxus auf uns und unser Umfeld auswirkt, und hob auf die Verantwortung ab, die wir als Besitzer teuren Eigentums anderen gegenüber haben. Besäße er, so Woolman, zu viele Dinge, die sich arme Leute nicht leisten könnten, würde er diese »in Versuchung bringen zu stehlen«. Begingen sie sodann die Sünde, ihn zu bestehlen, wäre es auch seine. In diesem Sinn bedeutete die Abschaffung des Luxus, wozu auch Sklavinnen und Sklaven und deren Produkte zählten, eine Erleichterung für den Abolitionisten, einen Gewinn an Lebensqualität. Sie war eine eigene Art Luxus, ja dessen Neudefinition: der Luxus des Unbeschwerten, des Loslassens, auch des Sich-selbst-Befreiens.
Es ist einmal mehr beeindruckend zu sehen, wie Woolman vor drei Jahrhunderten etwas strukturell Ähnliches anspricht, das Ökonominnen und Glücksforscher inzwischen empirisch feststellen: dass der »Luxus der Reichen den anderen die Freude an dem, was sie haben, vergällt« und den »konsumtiven Konkurrenzdruck anheizt«, was zu Verschuldung und Stress führt und darüber hinaus zur Anfälligkeit für Krisen.[2] Auch vom »Luxusfieber« ist heute die Rede, wenn Superreiche immer mehr Geld für entsprechende Güter ausgeben und die unteren Einkommensschichten dann um keinen Preis den Anschluss verlieren wollen, was natürlich zu Problemen wie Überkonsum und Überschuldung führt. Um auf Verbesserungen hinzuwirken, schrieb Woolman nicht nur, sondern er und Gleichgesinnte verzichteten auch auf Luxus im konventionellen Sinn und auf von Sklaven hergestellte Waren. Sie betrieben zum historisch ersten Mal Fair Trade. Oft ging das auf Kosten eigener Gewinne, da fairer Handel noch kein etabliertes Marktsegment war und die Produkte nicht besonders teuer. Aus heutiger Sicht ist dieser frühe Fair Trade einerseits ermutigend; andererseits könnte es erstaunen, wie weit wir 250 Jahre nach Woolman noch immer von einem wirklich fairen Handel entfernt sind. Extrem unfair gehandelt werden bekanntlich weiterhin Rohstoffe aus dem armen globalen Süden, die meisten seiner Waren und Dienstleistungen. So bleibt der Blick auf die historisch ersten Fairtrader auch heute Mahnung und Motivation zugleich.
Ich denke, es lohnt sich, die erwähnten frühen Abolitionisten auch als Philosophen in ihrer Zeit zu sehen. Mit ihren Betrachtungen zu Handel, Psychologie, sozialer Gerechtigkeit – ohne dass es den Begriff so schon gegeben hätte –, Luxus, Empathie und Gelassenheit waren sie kurioserweise moderner und insgesamt weiter als zeitgenössische Aufklärungsdenker wie Kant oder Voltaire, in einigem sogar als die politisch progressiveren Olympe de Gouges oder Denis Diderot. Abolitionisten betonten stärker die Empathie, und sie reflektierten bereits, wie Menschen politische oder moralphilosophische Botschaften unterschiedlich aufnehmen und wie man auch solche mit ganz anderer Meinung am ehesten erreicht. So gelang es amerikanischen Abolitionisten und Quäkern wie Lay, Woolman und Anthony Benezet, der eine Schule für schwarze Kinder und Jugendliche gründete, Pennsylvania nach und nach zum Epizentrum des Abolitionismus zu machen.[3] In den 1750er-Jahren lehnten rund siebzig Prozent der Glaubensgemeinschaft der Society of Friends die Sklaverei ab; 1780 verbot die Regierung von Pennsylvania schließlich als vermutlich erste weltweit die Sklaverei.
Heute heißt es oft, globale Probleme brauchten globale Lösungen; Deutschland sei beispielsweise »nur« zu zwei Prozent am Klimawandel beteiligt, China und die USA seien schlimmer und so weiter. Das stimmt, und dennoch spielen Vorstöße Einzelner eine wichtige Rolle. Die Geschichte wie auch sozialpsychologische Studien lehren, dass es hilft, wenn Menschen den Eindruck haben, andere seien einfach schon vorangeschritten.[4] Dabei kann Herdenverhalten zum Tragen kommen oder der Wille, nicht schlechter oder rückständiger auszusehen als andere. Aktuell etwa müssten ja eigentlich alle Regierungen längst gemäß der Erkenntnis handeln, dass es beim Klimawandel und anderen globalen Problemen nicht mehr darum gehen kann, die eigenen nationalen Interessen voranzustellen, weil dadurch am Ende alle schlechter fahren, auch jene, die heute noch relativ gut dastehen. Wie man etwa überholte Haltungen ablehnt und andere voranbringt, lehrt der Blick auf die Abolitionisten. Bis heute gehören sie zu den stärksten historischen Vorbildern. Zum Beispiel auch, was Networking betrifft. Von den USA aus stellten Leute wie Benezet und Woolman eine zivilgesellschaftliche Transatlantik-Verbindung nach Großbritannien her. Dort wurde dann nach jahrelangem Tauziehen 1807 zunächst der Sklavenhandel untersagt, bevor das Parlament im Sommer 1833 den Slavery Abolition Act verabschiedete, der im August 1834 in Kraft trat: die Abschaffung der Sklaverei im British Empire.
Dieses Verbot war das erste in einer großen, mächtigen Sklaverei-Nation.[5] Ein Durchbruch, der sich den amerikanischen Pionieren und, wieder einmal, Quäkern verdankte. In diesem Fall war es eine Gruppe in London, die fünfzig Jahre zuvor, 1783, die erste Petition im Parlament eingereicht hatte.[6] Bei dieser zweiten, britischen Welle des Abolitionismus ragten Aktivisten wie Granville Sharpe und Thomas Clarkson, der Politiker William Wilberforce und der Ex-Sklave Olaudah Equiano heraus. Sie sind heute bekannter als die erste Generation in Amerika. Doch absurderweise sind selbst sie nicht einmal ansatzweise so berühmt wie etwa Militärs wie Admiral Nelson oder General Lafayette.
Just 1789, während jenseits des Ärmelkanals in Frankreich die Revolution tobte, erregte in Großbritannien ein Buch mit einem aus heutiger Sicht eher zahmen Titel Aufsehen: Merkwürdige Lebensgeschichte des Sklaven Olaudah Equiano von ihm selbst veröffentlicht im Jahr 1789. Doch mit seinem Werk, auf das ähnliche Biographien folgten wie die von Frederick Douglass in Amerika, sorgte der Autor als Erster dafür, dass eine breitere Öffentlichkeit von den Zuständen, unter denen Sklaven litten, erfuhr. Das Buch wurde zum Bestseller, übersetzt in mehrere Sprachen.[7] Equiano präsentiert darin eine so erschütternde wie spannende Schilderung des Transatlantikhandels. Und zwar aus der Sicht eines Betroffenen. Seine unfreiwillige Reise in die vermeintliche Zivilisation beginnt, als ihn Sklavenhändler im heutigen Nigeria oder Guinea als Kind entführen. Unter furchtbarsten Bedingungen segelt er auf einem Schiff in die USA. Equiano muss mit ansehen, wie Matrosen zehnjährige afrikanische Mädchen vergewaltigen und viele Sklavinnen und Sklaven »versuchen, über Bord zu springen«, um sich im Tod dem Grauen zu entziehen.[8]
Equiano selbst hat Glück. Über die Jahre schafft er es, sich als Friseur und Navigationsassistent durchzuschlagen und ein wenig Geld zu sparen. Nach jahrelangen Fahrten auf den Weltmeeren kann er durch den Handel mit exotischen Produkten Gewinn machen und sich, dank eines für damalige Verhältnisse einigermaßen liberal eingestellten Eigentümers, freikaufen. Zwischen St. Eustaz, Montserrat und Santa Cruz handelt er mit »gläsernen Bechern«, Orangen und Limonen. Aber auch sein Erfolg schützt ihn nicht davor, Unrecht erdulden zu müssen. Mitunter behalten weiße Geschäftspartner Waren ein, ohne zu bezahlen. Als er sich bei den Behörden beschwert, droht ein Offizier, ihn auspeitschen zu lassen. So muss Equiano feststellen, dass in Westindien »in keinem Fall das Zeugnis eines Schwarzen gegen einen Weißen« gilt, unabhängig davon, ob er frei ist oder Sklave.
Immerhin, Equiano ist darin eine Ausnahme, dass er als erster Afrikaner die Chance bekommt, einer breiteren Öffentlichkeit von solchen Verbrechen zu berichten. Sein Buch bedeutet eine Premiere auch in der Geschichtsschreibung – es ist das wahrscheinlich erste Beispiel für »Geschichte von unten«, bei der Ereignisse aus der Perspektive einfacher Leute oder Unterprivilegierter geschildert werden. Eine solche Historie brachten weder Humanisten noch Reformatoren, weder die Renaissance noch die wissenschaftliche Revolution zustande, sondern erstmals wohl der Abolitionismus. Das ist wichtig, da die Jahrhunderte zuvor – und danach – prinzipiell »Sieger« die Überlieferung in der Hand hatten, wodurch sich ein verzerrtes Bild ergab und ergibt. Noch heute braucht es Bücher in dieser Tradition wie Das Guantanamo-Tagebuch von Mohamedou Ould Slahi (2015), einem Mauretanier, der vierzehn Jahre lang unschuldig in dem US-Lager auf Kuba unter unmenschlichen Bedingungen mit körperlicher und seelischer Folter und sexuellen Übergriffen und Demütigungen eingekerkert war. Seine Aufzeichnungen geben darüber Aufschluss und zeigen, wie scheinbar liberale Regierungen wie jene von Barack Obama trotz Lippenbekenntnissen derartige Missstände nicht wirklich beheben. All diese Zeugnisse, an deren Anfang wohl jenes von Olaudah Equiano steht, sind wichtig, weil die »Geschichte von unten« pathologische Muster – sogar innerhalb vermeintlich gerechter Systeme und Institutionen – aufzeigt und oft dazu motiviert, auf mehr soziale Gerechtigkeit und insgesamt auf mehr gesellschaftliche Innovationen hinzuwirken.
Nun darf Equiano mit seiner Erfolgsbiographie zu dem Zeitpunkt, da er sie publiziert, zwar auch als Sieger gelten. Schließlich konnte er sich freikaufen und als Kaufmann etablieren. Dennoch gewährt er Einblicke in ein gänzlich anderes Leben. Und er konnte als ursprünglich Macht- und Rechtloser Einfluss auf eine große politische Entwicklung nehmen. Mit seiner unfreiwilligen Entdeckung Amerikas und Europas wurde er, von Afrika aus, eine Art schwarzer Kolumbus. Einerseits kommt bei Equiano, wie bei Kolumbus, die Begeisterung für den Handel zum Ausdruck. Das Versprechen, dass dank ihm ein besseres Leben möglich ist, wird mit einer quasi-religiösen Begeisterung vorgetragen, wie es heute kaum nachvollziehbar ist. Andererseits rührt der schwarze Kolumbus auch an die schlimmsten Seiten des Kapitalismus. Es hat etwas Makabres: Er, der so leiden musste, weil man ihn als Ware verschiffte, konnte dank der Möglichkeiten, die seine Odyssee ihm als Händler bot, am Ende als Selfmademan ein gutes Leben führen. Theoretisch hätte Equianos Biographie eine unpolitische, ja politisch zweifelhafte Aufsteigergeschichte bleiben können. Vom Tellerwäscher zum Millionär sozusagen, der statistische Ausreißer. Eine Story also, mit der, indem man den glücklichen Ausnahmefall betont, oft von strukturellen Ungerechtigkeiten abgelenkt wurde und wird. Der Zusammenhang lässt im Übrigen an ein treffendes Bonmot zum schwierigen Stand des Sozialismus in Amerika denken, das dem politisch engagierten Literaten John Steinbeck zugeschrieben wird: »In den USA«, soll er gesagt haben, »konnte der Sozialismus deshalb nicht Fuß fassen, weil die Armen sich nicht als ausgebeutete Proletarier sehen, sondern als vorübergehend verhinderte Millionäre.«
Die Ideologie des temporär verhinderten Millionärs lähmt die USA bis heute. Sie steht kultur- und mentalitätsgeschichtlich auch für ein Grundprinzip, das in Hochzeiten der Sklaverei Form annahm. In der frühen Neuzeit wird der Kapitalismus zum scheinbar konkreten Jenseitsversprechen, dem der Selbstverschuldung und -entschuldung. Eine Mechanik, die angeblich irgendwann ins irdische Paradies führt. Es ist dies einer der Faktoren, der den Kapitalismus in jenem Sinn zur Religion macht, wie es der deutsche Philosoph Walter Benjamin 1921 grob skizziert hat.[9] Darüber hinaus lässt sich allerdings zeigen, dass der Kapitalismus sowohl die Religion der Freiheit als auch die der Versklavung ist. Und anders als andere Religionen bringt er nicht einmal einen spirituellen Mehrwert. In dieser Lesart ist der Kapitalismus eine Pseudo-Religion.
So unkritisch Equiano den kapitalistischen Handel betrachtete – was damals üblich war –, so groß bemisst sich sein Beitrag zum Abolitionismus. Als Mitglied der Sons of Africa-Organisation sollte er zum bekanntesten Schwarzen Großbritanniens werden. Auf Lesereisen verteilte er Flugblätter, und er unterstützte Anti-Sklaverei-Kampagnen, darunter einen Konsumboykott im Jahr 1791. Dabei mieden rund 400 000 Bürgerinnen und Bürger Zucker und Produkte mit Zucker von Sklavenplantagen.[10] Selbst Kinder verzichteten auf Süßigkeiten, um Unternehmen zuzusetzen, die ausbeuterisch Profite machten. Die geistigen Urheber waren Quäker wie Benezet und Woolman, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebten. Auf das Potenzial von Konsumboykotten gehe ich in Teil II über die Gewerkschaftsbewegung noch genauer ein.
Equianos Buch trug dazu bei, dass sich Politiker endlich engagierten. Bzw. erst mal einer: William Wilberforce. Für unseren Zusammenhang ist er nicht nur von Bedeutung, weil er beispielhaft den Übergang vom Aktivismus zur etablierten Politik markiert. Er ist auch deshalb zentral, weil er wie kaum ein anderer für die breite Koalition steht, die die Abolitionisten über Schichten, Milieus, Ideologien und Länder hinweg schmiedeten. Als parteiloses Mitglied des Unterhauses wusste Wilberforce mit Whigs wie Konservativen gleichermaßen zu verhandeln. Beim Tee musste er Mitglieder des House of Lords für seine Sache gewinnen, die zuvor mehrmals Eingaben zum Sklaverei-Verbot zum Scheitern gebracht hatten. Da er nicht als radikal gelten wollte, sorgte er sich sogar über die Ehrenbürgerschaft, die er von der Revolutionsregierung in Paris erhalten hatte. Zugleich zog er Glaubwürdigkeit daraus, dass Sklaven im fernen Jamaika über ihn sangen: »Oh me good friend Mr. Wilberforce make me free … / Take force with force! / Take force with force!«[11]
Was das Image und den Einfluss betrifft, galt es, eine Balance zu halten. Selbst politisch moderat, brachte Wilberforce jahrelang Gesetzesentwürfe zur Abschaffung der Sklaverei ein. 1834 trat sie schließlich in Kraft, ein Jahr nach seinem Tod. Er ist in vielem ein Vorbild. Eine integrative Figur wie er war wichtig, denn damals sahen viele die Abschaffung der Sklaverei als Extremismus an, als Bedrohung ihres Besitzstandes, als Beschränkung ihrer Freiheit: der Freiheit, als Erbe, schlauer Investor oder Unternehmer des eigenen Glückes Schmied zu sein, komfortabel oder komplett arbeitsfrei zu leben. Sie sahen sich in ihren Vorteilen bedroht, obwohl Sklavenhalter nach 1834 für den »Verlust« ihres Eigentums vom Staat eine »Entschädigung« von insgesamt 20 Millionen Pfund erhielten, in heutiger Kaufkraft rund 17 Milliarden.[12] Die Sklaven bzw. Ex-Sklaven, die eigentlich Geschädigten, gingen dagegen finanziell leer aus. Das ist ein niederschmetternder Aspekt des Ganzen. Trotzdem war es ein großer Schritt, das Alltagsgrauen abzuschaffen – und die Empathie in verschiedenen Bereichen des Lebens zu stärken.
Als besonders resistent gegen das Vordringen des Einfühlungsvermögens erwies sich allerdings ein Feld, das zentral für die Sklaverei ist: das der Ökonomie, mit dem Homo oeconomicus als Typus, der ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten handelt, nach größtmöglichem rechnerischen Nutzen und Gewinn. Doch im Kontext der Sklaverei tritt ein anderes Merkmal klar zutage: Der Homo oeconomicus entpuppt sich als historischer Spätentwickler. Im Jahr 1972 erklärt Phelps Brown, Vorsitzender der Royal Economic Society, also einer nicht gerade des Extremismus verdächtigen Organisation, in seiner Rede mit dem Titel »Die Unterentwicklung der Wirtschaftswissenschaft«, die Ökonomie sei »kaum in ihr 17. Jahrhundert eingetreten«.[13] Ihr Blick sei verengt, etwa auf mathematische Einzelmodelle, auch weil ihr, anders als der Physik, noch »mehrere Jahrtausende systematischer, wissenschaftlicher, astronomischer Beobachtung« fehlen. Die brauche es, um eine gewisse Reife zu erlangen und sozusagen über den Tellerrand schauen zu können. Nur so lassen sich zum Beispiel die adversen Effekte auf die Umwelt und die Lebensqualität analysieren, die bestimmte Arten zu wirtschaften mit sich bringen.
Die Unterentwicklung der Ökonomie ist ein interessanter Punkt. Vielleicht liegt sie schon an einem Geburtsfehler, der uns auch zu den Anfängen der Sklaverei zurückführt. Schließlich verdanken wir den Begriff Ökonomie den alten Griechen, die ihn aus oikos (Haus, Haushalt) und nemein (einteilen, zuteilen) zusammenfügten. Damals bildeten Sklaven einen selbstverständlichen Teil von Privat- wie Staatshaushalten. Vermutlich fiel und fällt es der Wirtschaft auch deshalb oft so schwer, sich von entsprechenden Mustern zu befreien. Als im 18. Jahrhundert immer mehr die Idee der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte Verbreitung fand, machten Ökonomen theoretische Spagate, um den »freien Handel« mit Sklaven und anderen Waren als positiv für alles Mögliche darzustellen. Es liefen breite Debatten darüber, wie er zu mehr Frieden zwischen den Menschen und Völkern führe und zur Verbesserung der Moral. Dabei argumentierten viele folgendermaßen: Wer fleißig Handel treibt, steht in produktiver Verbindung zu anderen Menschen, verhält sich rational, sachlich, statt sich gefährlichen Leidenschaften hinzugeben, den Auslösern von Kriegen, die den Handel behindern. So beschreibt es der Ökonom Albert Hirschman in seinem Buch Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg (1977).[14]Doux commerce, »sanfter Handel«, lautete in Zeiten der Aufklärung das Schlagwort, heute wäre es eher »Wandel durch Handel«. Ganz unabhängig davon, wie man zu dieser These stand (die nicht aufgeht): Das Schicksal der Sklaven selbst interessierte nicht. Und dass die Wirtschaft als solche ein Hort der Empathie und Sanftmut sein sollte, behauptete oder forderte im 18. Jahrhundert auch kaum jemand.
Die Doux-commerce-Argumentation ist ein frühes Beispiel für die Schizophrenie, die der Idee des freien Handels bis heute zugrunde liegt. Die Freiheit gilt meist nur oder vor allem für den ökonomisch stärkeren Handelspartner. Diesem Denken stellten sich damals Abolitionistinnen und Abolitionisten wie John Woolman mit ihren Ideen und Ansätzen des fairen Handels entgegen. Dazu kam noch etwas anderes. Im Jahr 1763 sprach sich Adam Smith, Autor der erwähnten Theorie der ethischen Gefühle