Ein Schritt zurück in die Zukunft - Loel Zwecker - E-Book

Ein Schritt zurück in die Zukunft E-Book

Loel Zwecker

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Beschreibung

Eine originelle Zeitreise durch die Weltgeschichte

Loel Zwecker begibt sich auf die Suche nach historischen Antworten auf aktuelle Fragen. Dabei werden vor allem fünf große Themenkomplexe in den Blick genommen, die das Leben der Menschen in der griechischen Antike genauso bestimmt haben wie das unsrige: Ehe und Partnerschaft, Arbeit, Bildung und Erziehung, Sport und – ach ja, die leidigen Steuern.

Nehmen wir an, wir hätten eine Zeitmaschine, die es uns ermöglichte, mit Menschen vorangegangener Jahrhunderte ins Gespräch zu kommen. Vermutlich würden sowohl die hart schuftende mittelalterliche Bäuerin als auch die Fürstentochter, die aus dynastischen Gründen vermählt werden soll, relativ verständnislos reagieren, wenn wir ihnen davon erzählten, dass Ehepartner im 21. Jahrhundert sich gegenseitig nicht nur die große Liebe sein müssen, sondern auch Seelenverwandte und stets feurige Liebhaber. Der römische Edelmann wiederum hätte wohl nur einen mitleidigen Blick für uns, wenn wir ihm von unseren vollgepackten Arbeitstagen und Terminkalendern berichteten. Loel Zwecker schaut zurück, um die Gegenwart besser zu verstehen. Dabei geht es nicht darum, die Vergangenheit zu verklären, sondern sich bewusst zu machen, woher Ideen kommen, die uns bis heute prägen, und wie sich Vorstellungen, die wir als selbstverständlich betrachten, im Lauf der Zeit gewandelt haben.

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Loel Zwecker

Ein Schritt zurück in die Zukunft

WAS WIR AUS DER GESCHICHTE LERNEN KÖNNEN

Pantheon

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH.

Erste Auflage

August 2013

Copyright © 2013 by PantheonVerlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München

Titelgestaltung und Illustration: Sylvia Neuner, München

Lektorat: Dr. Heike Specht, Zürich

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Bildredaktion: Dietlinde Orendi, München

Reproduktionen: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-08743-2

www.pantheon-verlag.de

Für Helen Schütz und Hellmuth Zwecker

Und für Quynh Dao Tran

Der Ritter im Schnellzug

Von der Geschichtsphilosophie zur Lebenshilfe: wie man aus der Geschichte lernen kann

Im Sommer 2012 kam ich auf einer Zugfahrt von Italien nach Deutschland mit einem jungen Paar ins Gespräch, das in einer Mittelalter-Gruppe aktiv ist. Die beiden berichteten von Restaurants in Siena, in denen man ihnen in mittelalterlicher Atmosphäre altertümliche Speisen serviert habe. Da die Kulisse mit dem hohen Rathausturm auf der Piazza del Campo so gut passte, hatten sie ihren Stadtbummel sogar in ihren historischen Outfits gemacht, sie im Kleid mit Schleppe, er im Wams. An ihrem Hobby reizt die beiden, dass sie in eine andere Welt abtauchen können. Auf Mittelaltermärkten und in Zeltlagern üben sie sich in traditionellem Handwerk, in Kochkunst und Schwertkämpfen. Sie fühlen sich aufgehoben in einer starken und zugleich überschaubaren Gemeinschaft. In ihr hat jeder – ob Junker, Knappe oder Knecht – seinen festen Platz.

Auf meine Frage, was der junge Mann für sich aus dem Mittelalter in seinen Alltag mitnehme, antwortete er: »Ritterlichkeit.« In dem Unternehmen, in dem er arbeitet, werde von ihm mitunter erwartet, kleinere Zulieferfirmen im Preis zu drücken. Das versuche er zu vermeiden. Nun waren wir uns darüber einig, dass man, um sich im Alltag fair zu verhalten, nicht unbedingt auf das Ritterideal zurückgreifen muss. Dies umso mehr, als Ritter im echten Leben bekanntlich oft alles andere als ritterlich waren. Auch war das mit der Gemeinschaft in der mittelalterlichen Standesgesellschaft, in der Ritter über Leibeigene verfügten, so eine Sache. Das macht zunächst aber nichts: Unabhängig davon, wie die historische Wahrheit aussieht, mag das starke Bild des Ritters nützlich sein. An ihm kann man sich in schwierigen Alltagssituationen orientieren, um eine Haltung zu bewahren, die man als richtig erkannt hat. Will man weiter denken, kann man sich anhand des Beispiels Ritter vergegenwärtigen, wie zweischneidig scheinbar harmlose Ideale oft sind – und wie unterschiedlich Vorstellungen über eine gute Gemeinschaft.

Die Begegnung mit dem Ritter im Schnellzug ist eine der Situationen, die mir beim Schreiben des vorliegenden Buches als Anregung dienten, in dem es darum geht, was man aus der Geschichte lernen kann. Das Lernen kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise ablaufen. Ziel ist natürlich nicht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, nach dem Motto: Früher war alles besser. Das Lernen aus der Geschichte hat nichts mit falscher Nostalgie und Romantisierung zu tun, scheinbar einfachen Lösungen, klaren Ordnungen und holzschnittartigen Weltbildern. Vielmehr kann ein Blick auf die Geschichte zeigen, wo Ideen, Konzepte, Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme und Institutionen, die unser Verhalten, Denken und Fühlen heute prägen, herkommen, wie sie sich entwickelt und etabliert haben. Sie sind nicht an den Bäumen gewachsen, sie wurden erdacht, gemacht und durchgesetzt. Dahinter standen oft materielle oder ideologische Interessen. Das gilt für die Kernfamilie ebenso wie für die Kirche, für Universitäten und die Finanzindustrie. Wenn man sich das vergegenwärtigt, kann man Institutionen reformieren und öffnen, Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen leichter wieder verändern. Vielleicht kann man in bestimmten Bereichen in der Vergangenheit auf alternative Verhaltensweisen stoßen und Teile davon in die Gegenwart einbauen.

Ein einfaches Beispiel betrifft den Bereich der Arbeit. Führt man sich vor Augen, welch andere Rolle dem Arbeiten in früheren Zeiten zukam, kann man womöglich berufliche Probleme und die Bedeutung, die die Karriere im eigenen Leben hat, neu definieren. So mag man sich daran erinnern, dass Beruf und Karriere erst ab dem 16. Jahrhundert und dann während der Industrialisierung als Mittel des sozialen Aufstiegs und der Selbstverwirklichung in den Vordergrund rückten. Demgegenüber galt im Mittelalter – wie in der Antike – die Muße stärker als Ideal und Privileg. Es gab zeitweise bis zu 100 Feiertage im Jahr; die Festkultur war ein wichtiger Bestandteil des Alltags. Bei Arbeit dachte man an Sklaverei und Leibeigenschaft, an etwas Unangenehmes, auch weil sie laut Altem Testament die Strafe für Adams und Evas Fehlverhalten war. Das Seelenheil anzustreben war zumindest offiziell wichtiger als die Karriere. Mit Blick auf derartige Zusammenhänge kann man ein entspannteres Verhältnis zu Ehrgeiz und Erfolg entwickeln – oder sich neue Systeme der Arbeitsorganisation und Honorierung überlegen.

Im Folgenden beleuchte ich in fünf längeren Kapiteln fünf Themenbereiche, die für fast jeden irgendwann im Leben wichtig werden. Das sind: Ehe und Partnerschaft, Arbeit, Steuern, Bildung und Erziehung sowie der Sport. Der Sport gehört schon deshalb dazu, weil er aktuell eine historisch einzigartige gesellschaftliche Bedeutung hat. Dabei dient er als Spielfeld, Projektionsfläche und Ersatz für vieles, das früher durch andere Bereiche abgedeckt wurde – durch die Religion, Kunst und Propaganda, Militarismus und die körperliche Plackerei im Alltag. Man kann die Kapitel ganz unabhängig voneinander lesen; verbunden sind sie dennoch insofern, als sie alle an die Bereiche der Philosophie, Religion, Politik, Kunst und Ökonomie rühren und an Fragen des Alltags. Sie betreffen Diskussionen darüber, wie wir uns in der Gegenwart orientieren können und wie wir unsere Zukunft gestalten wollen.

In Zeiten der medialen Beschleunigung und der Informationsflut gerät oft innerhalb von kürzester Zeit in Vergessenheit, worum es in der öffentlichen Debatte eigentlich ging. Welche Tragweite und welche Bedeutung haben bestimmte heiß diskutierte Probleme, Fehltritte und Erfolge prominenter Persönlichkeiten wirklich? Hier kann ein Schritt zurück hilfreich sein, um das Gesamtbild klarer zu sehen. Als historisch kann man nicht nur Ereignisse aus vergangenen Jahrhunderten oder Jahrzehnten bezeichnen, sondern auch solche, die nur ein paar Monate, Wochen oder Tage zurückliegen, zugespitzt gesagt Minuten und Momente.1 Umgekehrt kann man Themen, über die man in den Medien seit Wochen und Monaten die immer gleichen Debatten und Thesen hört, aus einer neuen Perspektive wahrnehmen, wenn man sie in einem größeren historischen Zusammenhang einordnet. Erinnert man sich daran, dass noch Mitte des 20. Jahrhunderts in freien Marktwirtschaften wie den USA Spitzensteuersätze von über 90 Prozent galten, können aktuelle Diskussionen über Prozentpunkte bei Pendlerpauschalen, Transaktions- oder Vermögensteuern kleinlich wirken.

Gerade in Deutschland läuft das Lernen aus der Geschichte verständlicherweise oft auf die Mahnung hinaus, dass sich historische Verbrechen nicht wiederholen dürfen oder dass man auf bestimmte Manipulationen nicht wieder hereinfallen darf. Im Folgenden will ich aber auch positive historische Erfahrungen hervorheben, die Räume öffnen und vielleicht sogar befreiend wirken können – sei es auf der politischen oder privaten Ebene. Das trifft auch auf das Kapitel über die Ehe und Partnerschaft zu. Man mag sich fragen, ob Beziehungen wieder stärker auf Vernunft und Pragmatismus beruhen sollen und nicht so sehr auf dem Ideal der romantischen Liebe. Letzteres wurde – in der westlichen Welt – erst vor rund 200 Jahren zum Standard gemacht. Seither hat es viel Positives gebracht, aber auch dazu beigetragen, dass man Beziehungen mit großen Erwartungen befrachtet. So sollen zärtliche Fürsorge, Seelenverwandtschaft und Leidenschaft – in der Kombination – dauerhaft über Jahre oder Jahrzehnte hinweg erhalten bleiben. Enttäuschungen sind dabei programmiert. In mancher Hinsicht hält die Geschichte alternative Modelle und inspirierende Paare bereit, von Caesar und Kleopatra über Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir bis zu Harold und Maude.

Bei Themen wie der Liebe, aber auch der Karriere und der allgemeinen Suche nach Sinn ist die Philosophie in den letzten Jahrzehnten mit einigem Erfolg als Lebenshilfe reaktiviert worden. Daran lässt sich für den Bereich der Geschichte anknüpfen.2 Immerhin bietet die Geschichte Beispiele dafür, wie Ideen und Konzepte philosophischer, politischer, ökonomischer und religiöser Art zur Anwendung gekommen sind und wie sie sich bewährt haben oder eben nicht. Zwar muss man sich davor hüten, im Nachhinein vermeintliche Kausalitäten und Analogien zu konstruieren oder gar Patentrezepte abzuleiten. Doch kann man sich über einen Blick zurück und mit Hilfe von Vergleichen orientieren und alternative Szenarien vor Augen führen. Dabei mag man – optimalerweise – so etwas wie eine erweiterte Lebenserfahrung machen, auch ohne die letzten 5000 Jahre persönlich miterlebt zu haben.

VON DER GESCHICHTE ALS LEHRMEISTERIN DES LEBENS ZUR MODERNEN LERNFORSCHUNG

Vor ein paar Jahren fragte ich meinen Vater, der 1947 geboren ist, wie sehr er sich als junger Mann in den sechziger und siebziger Jahren an der Geschichte orientiert habe. Er meinte, dass man zwar gerade wegen der deutschen Vergangenheit ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein gehabt habe. Allerdings habe man, weil man genau zu wissen meinte, was man alles anders machen wollte als die Eltern, vielleicht stärker nach vorne geblickt als heute.

Insgesamt scheint es so, als ob zurzeit wieder verstärkt Rat in der Geschichte gesucht wird. Ein Ausdruck dieser Tendenz ist wohl auch, dass ältere Männer wie Helmut Schmidt in Interviews und Talkshows immer wieder zu unterschiedlichsten Themen befragt werden. Auch wenn sie gar nichts Ungewöhnliches oder Herausragendes sagen, schreibt man ihnen Altersweisheit zu, den Abstand zur Tages- und Interessenpolitik. Grundsätzlich ist es natürlich erfreulich, wenn wieder mehr aus der Erfahrung der Alten geschöpft wird. Doch kann man die Hinwendung zu medialen Orakeln auch als die ängstliche Suche nach vermeintlich integeren Autoritäten kritisieren. Womöglich hängt die Suche nach Orientierung mit Hilfe der Geschichte ihrerseits mit einer historischen Situation zusammen. So vermuten Historiker, dass sich Menschen gerade in Zeiten der Verunsicherung verstärkt mit der Geschichte beschäftigen und sie dazu nützen wollen, Identität zu stiften und Halt zu finden.3

Insgesamt werden mit Blick auf die Geschichte aktuell auch praktische Fragen beleuchtet: etwa jene, wie man Probleme mit Staatsschulden bzw. dem Staatsbankrott einordnen soll, wie man Diktaturen mit friedlichem Widerstand überwinden kann oder wie der Konfliktherd Naher Osten besser zu verstehen ist.4 Gerade akademisch tätige Historiker sind bei der Frage, ob und wenn ja inwieweit man aus der Geschichte lernen kann, allerdings hin und her gerissen. Einerseits bejahen viele die Möglichkeit, etwas zu lernen; andererseits wird auf die Fallstricke hingewiesen, die Komplexität von Faktoren, die Gefahr, Ereignisse im Rückblick umzudeuten, Dinge in die Vergangenheit hineinzuprojizieren und die Rolle, die der Zufall bei historischen Entwicklungen offenkundigerweise spielt, zu unterschätzen.5 So machen sich wenige Historiker die Finger schmutzig, indem sie das Thema Lernen aus der Geschichte konkret angehen. Das tun häufig Forscher anderer Fachrichtungen, Geografen, Biologen, Ökonomen, Philosophen, Literaten, Journalisten. Auch deshalb zitiere ich in den folgenden Kapiteln Autoren aus unterschiedlichen Fachbereichen. Was andere Kulturen als jene der westlichen Welt betrifft, streife ich sie gelegentlich, um den Blick etwas zu weiten. Doch beschränke ich mich insgesamt auf die westliche Welt, da sie schon überbordend viel Stoff bietet und nun einmal – ob einem das gefällt oder nicht – auch über ihre geografischen Grenzen hinaus besonders prägend gewesen ist.

Insgesamt beschäftigt das Thema Lernen aus der Geschichte mindestens seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. zahlreiche Denker. Mal ist das Lernen stärker geschichtsphilosophisch, mal praktisch ausgerichtet. Die Bandbreite reicht von antiken Autoren wie Herodot und Cicero über Voltaire, Kant, Hegel, Marx, Nietzsche, Peter Kropotkin und Karl Popper bis zu Politikern, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Popmusikern unserer Zeit. Im Epilog gehe ich noch auf die Frage ein, wer in den letzten 5000 Jahren für welches Publikum Geschichte geschrieben und »gemacht« und unser Geschichtsbild mitunter verzerrt hat, jedenfalls Einfluss darauf hatte, wie man aus der Geschichte lernen kann. An dieser Stelle belasse ich es bei ein paar Hinweisen, die für das Verständnis der folgenden Kapitel hilfreich sind.

Über die Jahrtausende hat sich der Schwerpunkt beim Lernen aus der Geschichte immer wieder verlagert: In der Antike sollten, vereinfacht gesagt, der Einzelfall bzw. berühmte, tapfere und tugendhafte oder aber verächtliche Männer als Vorbild oder Abschreckung dienen. In diesem Sinn liefert der Senator und Schriftsteller Cicero im alten Rom das bekannteste Schlagwort zum Thema: In seinem Text Vom Redner spricht er von der historia magstria vitae, der Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens«.6 Umgesetzt hat Cicero den Slogan in seinem Buch Vom rechten Handeln, das er in Form eines Briefes voller Ratschläge an seinen Sohn Marcus verfasste. Cicero führt historische Persönlichkeiten, Feldherren und Politiker als Beispiele für ein mehr oder weniger förderliches Verhalten an, und zwar in politischen wie privaten Angelegenheiten. Das ist an manchen Stellen so, als würde man heute John F. Kennedy, Wladimir Putin oder Helmut Kohl zu Beziehungsfragen zitieren.

In den letzten 250 Jahren hat sich die Haltung zum Lernen aus der Geschichte verändert. Nachdem Denker wie Kant, Hegel und Marx gewagte große bzw. geschichtsphilosophische Lehren aus der Historie gezogen haben, ist man mit dem Lernen aus der Geschichte vorsichtig geworden. Denn die Denker meinten, große Trends oder gar Heilslehren aus der historischen Erfahrung ableiten zu können wie die Herrschaft der Vernunft, des absoluten Geistes oder die klassenlose Gesellschaft. Heute ist man sich darin einig, dass Gedankengebäude wie jene von Kant, Hegel und Marx hinfällig oder stark zu relativieren sind. Insgesamt wagen wissenschaftlich arbeitende Autoren heute nur in vorsichtigen Formulierungen, Prognosen oder übergreifende Tendenzen aus der Geschichte herzuleiten.

Ich hecke im Folgenden natürlich keine Zivilisationstheorien aus, stelle zwischendurch aber bewusst einfache, teils naive Fragen zu größeren Zusammenhängen. Das kann die Frage sein, warum sich die Einkommensungerechtigkeit und undemokratische Strukturen in der Arbeitswelt von den ägyptischen Pyramiden bis in heutige Unternehmenshierarchien gehalten haben und wie sich dies ändern ließe. Oder jene, warum es so schwierig ist, offenkundig sinnvolle Steuern, die dem Gemeinwohl nützen und individuell keinem schaden, durchzusetzen.

Zum Glück lässt sich die oft arg theoretische Diskussion darüber, ob und wenn ja inwieweit man aus der Geschichte lernen kann, heute mit dem Hinweis darauf erden, dass sich das Bild vom Lernen insgesamt gewandelt hat. Aktuell betont die Lernforschung bzw. Neurologie – auf die ich im Kapitel über die Bildung und Erziehung eingehe –, wie vielschichtig das Lernen abläuft. Das kontrastiert mit der älteren Vorstellung, wonach eine einmalige Erfahrung, Anleitung oder gar Predigt genügten. Man lernt aber nur selten punktuell und einfach eine Sache, etwa dass man, wenn man sich die Finger am Herd verbrannt hat, in Zukunft nicht mehr auf die Platte fasst. Meistens ist es ein komplexer Prozess der Erfahrung und vorsichtigen Ableitung von Prinzipien; dabei kommt dem Lernenden eine wichtigere Rolle zu als dem »Lehrer«. Schrittweise und in einem persönlichen Tempo erfolgen die Anpassung und Verknüpfung von Elementen, von bereits Gewusstem und Neuem, Konkretem und Abstraktem, Einzelfällen und Gesetzmäßigkeiten, Analysiertem und Gefühltem.

Will man sich das Gelernte merken können, sollte es mit (positiven) Emotionen verbunden sein. An viele Filme erinnert man sich nach Jahrzehnten, an besondere Schulstunden nur selten. Dem versuche ich Rechnung zu tragen, indem ich Allgemeingültiges, aber auch persönliche Erfahrungen verschiedener Menschen schildere. Im Folgenden verbinde ich die moderne Tradition, übergreifende historische Entwicklungen zu analysieren, mit dem älteren Ansatz, punktuell und anekdotisch von Menschen zu lernen, die in ihrer Zeit auf herausragende Weise agierten.

DO IT YOURSELF:VOM LERNEFFEKT ZUR ANWENDUNG

Zum modernen Lernen gehört die Frage, wie sich das Gelernte umsetzen lässt. Für die meisten Menschen besteht die Anwendung des aus der Geschichte Gelernten schon in der Entscheidung, welche Partei man wählt oder welche Bürgerinitiative man unterstützt, und in der Art und Weise, wie man die Dinge insgesamt betrachtet. Der Übergang von der inneren Haltung zur äußeren Anwendung im Alltag ist oft fließend. So kann man einer Mittelalter-Gruppe beitreten, weil man meint, dort andere Seiten der eigenen Persönlichkeit kennenzulernen. Oder man hofft konkret, einfacher als anderswo die Dame seines Herzens finden zu können.7 Als Anreiz wird je nach Ausrichtung gesehen, dass das ritterliche Dating, das hier reaktiviert wird, einem vorgegebenen Ritual folgte, weshalb man nicht viel falsch machen kann. Oder man meint, bei historischen Rollenspielen davon profitieren zu können, dass es im Volk zu früheren Zeiten scheinbar ohne große Umschweife zur Sache ging.

Nicht jeder will auf diese Weise aktiv werden. Dennoch gibt es Möglichkeiten, halbwegs praktisch etwas aus der Geschichte mitzunehmen. Wenn man einen Mittelaltermarkt besucht, sich für traditionelles Handwerk, für Schwertkämpfer, Gaukler und Wandermusikanten begeistert, fühlt man sich vielleicht in eine andere Welt entführt. Sie mag einem in manchen Belangen fröhlicher und zugleich geruhsamer als unsere erscheinen, näher an der Natur und am menschlichen Rhythmus. Vielleicht hilft das dabei, sich im Alltag ein wenig zu besinnen. Selbst in einem Museum, in dem ältere Kunstwerke zu sehen sind, kann man sich von fast vergessenen Haltungen und Verhaltensweisen anregen lassen, sie »einüben« – oder kleine Oasen der Zuflucht und Erholung inmitten der verwirrenden Gegenwart schaffen. Nicht umsonst boomen auch historische Romane und Kostümfilme, sei es in Form von Fantasy.

Eine neuartige Bedeutung haben Video- und Computerspiele mit historischem Hintergrund. Viele Gamer lassen sich auf Szenarios und eine Verknüpfung von Fantasie und Realität im Umgang mit historischen Fragen ein. Computerspiele ermöglichen über die Rolle, die man spielt, ein aktives bzw. mimetisches Lernen – und geben Feedback über die Folgen, die das eigene Verhalten hat.8 Hier ist unter anderen das Spiel Civilization, kreiert vonHistoriker und Informatiker Sid Meier, zu nennen, das sich seit 1991 millionenfach verkauft hat. Als Spieler kann man Gesellschaften in verschiedenen Epochen gründen, die Erfahrung machen, wie sich die Geografie, Erfindungen, die Einführung der Demokratie, Erhöhung der Steuern oder Kriege auswirken. In online-Spielen wie Die Stämme, Cultures Online, Assassins Creed, Kapi Regnum, Kings Tale oder Robin Hood baut man, indem man in die Rolle eines Menschen aus anderen Zeiten schlüpft, Dörfer auf, kämpft gegen eindringende Wikinger, streitet um die Königskrone oder simuliert einen mittelalterlichen Wirtschaftskreislauf.9 Natürlich besteht die Gefahr, dass man ein notwendig krass vereinfachtes Spiel mit der Realität verwechselt. Dennoch können Spiele eine Auseinandersetzung mit anderen Zeiten fördern.

Ein prägnantes Beispiel dafür, dass es auch im echten Leben die Möglichkeit gibt, historische Lehren anzuwenden, sind die Amish People. Die protestantische Religionsgemeinschaft, die aus der Tradition der Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts hervorgegangen ist, wanderte im 18. Jahrhundert in die USA aus und lebt dort und in Kanada wie vor Jahrhunderten. Die Amish ziehen ältere Lebens- und Denkweisen jüngeren vor und setzen das für sich im Alltag um. Die schnell wachsende Gemeinschaft mit rund 180000 Mitgliedern pflegt einen in vielem vorindustriellen Lebensstil der Einfachheit, Bescheidenheit und Demut im Wortsinn der Bibel. Immerhin scheinen Gewalt, Drogen, Selbstmord, Einsamkeit, zerrüttete Familien, Konsumterror und Karrierekämpfe bei den Amish selten zu sein.10 Allerdings sind einige ihrer Vorstellungen – etwa zur Rolle der Frau und der individuellen Freiheit – natürlich problematisch.

Zwar lässt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Doch können die Amish als Extrembeispiel dafür dienen, dass jemand selbst zu entscheiden versucht, wie schnell sich das Rad drehen soll, welche Entwicklungen, welchen »Fortschritt« man mitmachen will, welchen nicht. Das betrifft zum einen Konkretes wie den Gebrauch von Autos, Telefonen, Elektrizität, Verhütungsmitteln, neuen Medien und Moden, auf die die Amish People – mit kleinen Unterschieden je nach Gemeinde – verzichten. Zum anderen hat die individuelle Entfaltung bei den Amish, die allesamt schwarze Hosen und Hemden bzw. dunkle Kleider, Schürzen und Zöpfe tragen, im Vergleich zum Gemeinsinn einen kleineren Stellenwert. Sie erheben die Bildung des Herzens über das analytische Denken – und über die Kreativität im aktuellen Verständnis.

Insgesamt dürfte die Art, in der die Amish versuchen, sich selbst sozusagen im Lauf der Geschichte zu platzieren, in der Ausprägung einzigartig sein. In diesem Sinn sind sie paradoxerweise etwas historisch Neuartiges. Jedenfalls lässt sich mit ihnen als Referenz nachvollziehen, wie sich historische Lebens- und Denkweisen im Vergleich zu heutigen verhalten. Deshalb dienen sie im Folgenden gelegentlich als Bezugspunkt, als Mittel zum Benchmarking.

Angeregt vom Blick auf die Amish, kann man überlegen, welche Lieblingsepoche samt Lebensstil man für sich selbst wählen würde: In welcher Zeit hätte man gerne gelebt bzw. aus welcher würde man gerne Elemente, die seither vielleicht verloren gegangen sind, mitnehmen?11 So machte ich eine kleine Umfrage unter Freunden und Bekannten. Dabei antworteten auffällig viele, dass die Gegenwart am besten sei – wegen der Demokratie, des Gesundheitssystems, der technischen Annehmlichkeiten unserer Zeit und der sozialen Gerechtigkeit. Ansonsten wurden oft die Swinging Sixties und die Golden Twenties genannt, in beiden Fällen wegen der Aufbruchsstimmung, Musik und Mode. Einem Freund gefielen die siebziger Jahre, weil ihn der Anblick von Achselhaaren bei Frauen erregt.

Mit ähnlicher Liebe zum Detail, aber einem anderen Schwerpunkt antwortete ein Professor für Kunstwissenschaft. Er nannte als Epoche, die ihn reizt, das Jena der 1790er Jahre. Dort hätten sich, wie er erläuterte, die Romantiker getummelt, von den Schlegel-Brüdern bis Schelling, eine Romantiker-WG neben der anderen, belegt mit höchst inspirierenden Denkern. Auf die Bevölkerungsdichte von Jena umgerechnet hätten dort damals so viele Leute gelebt, die heute im Lexikon stehen, wie sonst wohl niemals an einem solch überschaubaren Ort. Auf meinen Einwand, dass die 1920er Jahre rein intellektuell ähnlich anregend und dabei vielleicht sexier gewesen seien, entgegnete er, damals in Jena hätten die Frauen, inspiriert von der Antike, durchaus aufreizend dünne weiße Kleider getragen.

Aufschlussreich fand ich die Wahl, die meine Freunde trafen, in doppelter Hinsicht. Zum einen kehrten sie Seiten von Epochen hervor, die mir nicht präsent oder wichtig waren. Zum anderen verrieten die Antworten mitunter etwas über die Person, ihre Sichtweisen und Interessen. So wählte ein Ehepaar – unabhängig voneinander befragt – einmal die Prinzregentenzeit in München, einmal die Barockzeit, beide jedoch mit einer ähnlichen Begründung: Damals habe noch »Ordnung« geherrscht – und zugleich hätten kulturelle Innovationen stattgefunden. Ein Tüftlertyp wollte gerne in der Spätrenaissance leben, weil ihm die Uhren und mechanischen Innovationen gefallen und die Möglichkeit, selbst noch solche Geräte erfinden und bauen zu können, ohne über eine High-Tech-Ausrüstung zu verfügen. Zwei Frauen fanden die Steinzeit spannend. Denn damals habe man als Mensch, als homo sapiens sozusagen, noch einer anderen, gleichwohl »menschlichen« Spezies wie dem Neandertaler begegnen können. Man habe eventuell sogar eine Beziehung zu ihr aufbauen können, jedenfalls den eigenen Horizont menschlicher Verhaltensweisen erweitern können.

So beleben punktuelle und subjektive Eindrücke das Geschichtsbild und zeigen auf, was man für sich lernen kann und will. Zugleich bemühe ich mich in den folgenden Kapiteln, einen Überblick zu den Themen Ehe und Partnerschaft, Arbeit, Steuern, Bildung und Erziehung sowie Sport von älteren Stammeskulturen und vor allem von den ersten Hochkulturen bis heute zu liefern. Ich will eine Grundlage dafür bieten, dass man seine eigenen Lehren aus der Geschichte ziehen kann. Natürlich muss man bei solch umfassenden Themen hier und da Schwerpunkte setzen und verkürzen. Doch hoffe ich, dass dabei immerhin grundlegende Tendenzen zu Tage treten, die man ansonsten vielleicht weniger beachtet.

Darüber hinaus schildere ich am Ende der Kapitel und Abschnitte meine eigenen Meinungen und Thesen zum Thema, und mitunter versuche ich, Lösungsansätze für aktuelle Probleme aufzuzeigen.

Mit Blick auf die lange Geschichte des Lernens aus der Geschichte mit all ihren Irrungen und Wirrungen ist Vorsicht geboten. So sollte man, selbst wenn man beispielsweise Strukturen in vergangenen Zeiten entdeckt, die an die Gegenwart erinnern, nicht vergessen, dass die Mentalitäten, die Denk- und Sichtweisen dennoch ganz andere waren. Umgekehrt kann es jedoch erfrischend sein, eine Ahnung vom anderen Denken und Wahrnehmen zu bekommen – und mit Hilfe der historischen Vorstellungskraft kurzfristig darin einzutauchen.

In diesem Zusammenhang ließe sich das Volk der Moso nennen. Es lebt seit Jahrhunderten im ländlichen Südwesten Chinas gemäß traditionellen Regeln. Allgemein heißt es bei den Moso: »Die Vergangenheit ist das, was wir kennen und vor Augen haben, während wir die Zukunft nicht sehen können, da sie sich hinter unserem Rücken verbirgt.«12 Sind die Moso buchstäblich rückwärtsgewandt oder einfach nur pragmatisch? Im Kapitel über die Ehe und Partnerschaft gehe ich auf das einzigartige Liebes- und Ehemodell der Moso ein und auf eine entsprechende Mentalität, die sie sich hart erarbeitet haben. Dabei zeigt sich, dass sie aus heutiger Sicht in manchem »progressiv« sind. Allgemein erinnern die Moso uns daran, wie viele grundlegend unterschiedliche Sicht-, Denk- und Herangehensweisen es schon gab und wie sehr das eine Mahnung ist, die eigene nicht absolut zu setzen.

In ihrem Buch The Human Web. A Bird’s-Eye View of World History beschreiben die amerikanischen Historiker William H. McNeill und J.R. McNeill, Vater und Sohn, übergreifende kulturelle, wirtschaftliche und technische Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen. Abschließend betonen sie, es gäbe heute »weniger und auch weniger eigenständige, unabhängige Vorstellungen darüber, wie, sagen wir, das Universum entstanden ist«, als zu anderen Zeiten.13 Wegen der globalen Vernetzung hätten, so die beiden Historiker, paradoxerweise »immer mehr Menschen eine immer weniger vielfältige Auswahl an Ideen übernommen«. Zumindest dieser Tendenz lässt sich, wenn man die Geschichte als »Lehrmeisterin fürs Leben« heranzieht, mit Sicherheit entgegenwirken.

1 Vgl. Wehler 1988, S. 12

2 Drei Beispiele für Aus-der-Geschichte-lernen-Bücher, die Eigenschaften von Ratgebern haben: Zeldin 1997, Zeldin 1999, Krznaric 2011.

3 Arnold 2001, S. 46

4 Vgl. Hansmann 2012, Sharp 2008, Rogan 2009

5 Für eine ältere Kritik vgl. Butterfield 1951 (Orig. 1931), S. 21. Beispielhaft für eine ambivalente Haltung von Historikern unserer Zeit: Wehler 1988, S. 11, 13. Ebenfalls dazu Koselleck: »Lernen aus der Geschichte Preußens?«, in: Ders.: 2010, S. 151–174, S. 152. Allgemein zum Thema Koselleck 1989. Für einen aktuelleren Wunsch, aus der Vergangenheit zu lernen und »die Gegenwart historisch einzuordnen«, vgl. Judt 2011, S. 9f., 12. Eine besonders ablehnende Haltung gegenüber dem Lernen aus der Geschichte bei Burger 2007, besonders ebd., S. 42, 51

6 Cicero 1962, S. 142 (2. Buch, Nr. 36)

7 Easton und Hardy 2009, S. 185

8 Zum Thema Lernen aus der Geschichte und didaktische Qualitäten von Computerspielen vgl. Schwarz 2010, S. 11–16

9 Seiten wie GamesRadar prüfen Spiele auf ihre historische Verlässlichkeit: http://www.gamesradar.com/top-7-historically-inaccurate-historical-games/?page=1

10 Ester 2005, S. 16, 169

11 Zur Frage nach der Lieblingsepoche vgl. auch Voltaire: Das Zeitalter Ludwigs XIV. (1751), in: Stern und Osterhammel 2011, S. 74–78

12 Wiedergegeben von Mathieu 2003, S. 282

13 McNeill und McNeill 2003, S. 275

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