Die Marseille-Morde - Das tote Mädchen - Anna-Maria Aurel - E-Book
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Die Marseille-Morde - Das tote Mädchen E-Book

Anna-Maria Aurel

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Beschreibung

Eine Tragödie erschüttert die kleine Gemeinde Carry-le-Rouet an der malerischen Küste nahe Marseille: Die 15jährige Schülerin Emeline Bernier ist tot - Selbstmord. Offenbar wurde sie in der Schule gemobbt - und kurz vor ihrem Tod scheint die Situation völlig eskaliert zu sein. Polizei-Inspektorin Nadia Aubertin und Staatsanwalt Pierre Frigeri ermitteln gegen den Willen ihrer Vorgesetzten, deren halbwüchsige Kinder in die Ereignisse verwickelt sind. Doch schon bald gibt es weitere Tote. Und auch Nadia, Pierre und ihre Freunde sollen zum Schweigen gebracht werden ...

Ihr erster Fall führt die toughe Kommissarin und den ehrgeizigen Staatsanwalt tief ins finstere Herz der schillernden Provence-Metropole.

Dieser Titel ist bereits unter dem Titel "Lockdown in Marseille" erschienen und liegt nun in einer stark überarbeiteten Neufassung vor.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Emeline

Madame le Lieutenant

Die beste Freundin

Der Staatsanwalt

Der Lehrer

Das Begräbnis

Die Journalistin

Die Polizistin aus dem Norden

Montagmorgen

Am Alten Hafen

Christines Schultag

Der Anruf

Die Erlösung

Die Drohung

Pressearbeit

Am Abend

Der letzte Tag in der Sonne

Cassis

Die Anschuldigung

Die Banlieue

Lockdown

Polizeiarbeit

Die Familie Manson

Der Stein

Nadias Kreuzweg

L’Estaque

Emelines Zeichnungen

Das Smartphone

Der Film

Die Côte Bleue

Der Anschlag

Ausgangssperre in den Cités

Der Brand

Ostersonntag

Der Besuch

Amélie

Infiziert

Gefahr

Pierre

Fragen

Goldsteins Mission

Die Krankheit besiegen

Lucie

Fionas neues Leben

Die Leiche von Callelongue

Die Hinrichtung

Der Einbrecher

Ende des Lockdowns

Konfrontation

Castini

Die neue Normalität

Gerichtsverhandlung

Verhaftung

Die Clique

Monsieur le Procureur

Trauerarbeit

Über die Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Eine Tragödie erschüttert die kleine Gemeinde Carry-le-Rouet an der malerischen Küste nahe Marseille: Die 15jährige Schülerin Emeline Bernier ist tot – Selbstmord. Offenbar wurde sie in der Schule gemobbt – und kurz vor ihrem Tod scheint die Situation völlig eskaliert zu sein. Polizei-Inspektorin Nadia Aubertin und Staatsanwalt Pierre Frigeri ermitteln gegen den Willen ihrer Vorgesetzten, deren halbwüchsige Kinder in die Ereignisse verwickelt sind. Doch schon bald gibt es weitere Tote. Und auch Nadia, Pierre und ihre Freunde sollen zum Schweigen gebracht werden ...

Anna-Maria Aurel

Die Marseille-Morde

Das tote Mädchen

Emeline

Lucie fuhr an diesem sonnigen Nachmittag Anfang März im Auto die Côte Bleue entlang, die Küste westlich von Marseille zwischen Carry-le-Rouet und Sausset-les-Pins. Das Meer leuchtete strahlend blau, und die Kiefern an der Straße wiegten sich im Wind. Einige Boote waren unterwegs, ihre Segel flatterten wie weiße Fahnen auf dem Wasser. Lucie hatte soeben ihre neunjährigen Zwillinge beim Fußballtraining in Sausset-les-Pins abgesetzt, wo ihr Mann sie zwei Stunden später abholen würde.

Das Gespräch mit Marc, dem Trainer ihrer Söhne, hatte Lucie beunruhigt. Marc hatte gemeint, es bestehe das Risiko, dass die Spiele der kommenden Wochen wegen Corona abgesagt werden müssten. Lucie, die zwar wusste, was in Norditalien geschah, hatte sich über die Krankheit bisher trotzdem nicht groß Gedanken gemacht. In Frankreich war das Virus nicht sehr verbreitet, und sie hatten relativ gute Krankenhäuser, einen Lockdown konnte sie sich nicht vorstellen.

Doch der Trainer wusste anscheinend mehr als sie. Er hatte prophezeit, binnen weniger Tage würde Frankreich wie China und Teile Italiens in einen Lockdown gehen, die gesamte Bevölkerung würde unter Hausarrest stehen und die Schulen würden schließen. Man ging davon aus, dass es in Frankreich mehrere Tausend Tote geben würde. Das war tatsächlich gar nicht so abwegig, wenn man sich die Situation in Italien ansah! Marcs Kommentare hatten Lucie in Angst versetzt. Dieses flaue Gefühl, das sie schon seit Tagen begleitete, hatte sich nun zu ganz konkreter Sorge verdichtet.

Es war für sie alle gerade keine angenehme Zeit. Ihr Mann hatte Probleme im Büro. Er arbeitete in der Firma Airbus Helicopters und war dort für den Verkauf nach Asien zuständig. Doch wegen Corona und des chinesischen Lockdowns hatte er in den vergangenen Monaten keinen einzigen Hubschrauber an den Mann gebracht. Auch Boni hatte er daher keine erhalten. Aber noch schlimmer war, dass Nicolas sogar befürchtete, seinen Job zu verlieren. Einige Schwarzmaler wie Lucies Nachbarin Madame Valmer behaupteten, es würde die größte globale Krise seit dem Zweiten Weltkrieg vor der Tür stehen. Nicolas spottete zwar immer über Madame Valmer und meinte, sie sei chronisch depressiv, doch diesmal war er genauso beunruhigt wie sie, auch wenn er das vor Lucie zu verbergen suchte.

Zum Glück arbeitete Lucie als Bürokraft im Rathaus von Martigues und würde ihre Arbeitsstelle auf jeden Fall behalten. Trotzdem empfand sie schon seit Tagen eine diffuse Angst. Plötzlich war da die Sorge um Nicolas’ Job, und nun seit dem Gespräch mit Marc jene um ihrer aller Gesundheit, vor allem die ihrer Eltern, die nicht mehr die Jüngsten waren und in Nordfrankreich lebten. Und dann kam noch die Sorge um Emeline hinzu. Lucie fand, dass ihre Tochter seit einigen Wochen sehr verschlossen war. Das fünfzehnjährige Mädchen wirkte unglücklich und verängstigt. Sie und ihr Mann schafften es nicht, zu ihr durchzudringen und herauszufinden, was los war. Doch sie ahnten, dass es mit der Schule zu tun hatte. Die Noten konnten es nicht sein, Emeline war immer eine gute Schülerin gewesen. Doch irgendetwas war geschehen ...

Lucie hatte ein gutes Gefühl gehabt, als Emeline und ihre Freundin Christine in dieses Lycée in Marseille aufgenommen worden waren, das als eines der besten Oberstufengymnasien der Region galt. Es handelte sich um eine katholische Privatschule, wie es in Frankreich sehr viele gab. Kirchliche Organisationen oder Orden führten diese Schulen, doch der Lehrplan war derselbe wie an staatlichen Einrichtungen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass diese Privatschulen sich ihre Schüler aussuchten und Schulgeld verlangten. Trotzdem galten sie weder als Eliteschulen noch als Etablissements für Reiche. Emeline und Christine waren stolz gewesen, in dieses Gymnasium gehen zu können, anstatt wie ihre ehemaligen Mitschüler das öffentliche Lycée du Secteur in Martigues zu besuchen.

Doch sehr bald war Lucie durch Bemerkungen der beiden aufgefallen, dass sowohl Christine als auch Emeline sich in ihrer Klasse nicht wohlfühlten. Und seit den Weihnachtsferien war Emeline still und in sich gekehrt. Lucie hatte mit Christines Mutter darüber gesprochen, die sich genau dieselben Gedanken machte wie sie: Auch Christine schien zu leiden, erzählte aber zu Hause nichts. Die Klassenlehrerin hatte beim Elternsprechtag Lucie gegenüber erwähnt, dass Emelines Klasse sehr schwierig sei, eine Gruppe von Mädchen tyrannisiere die Mitschüler und auch einige Lehrer. Wahrscheinlich waren Emeline und Christine Opfer dieser Gruppe geworden. Fälle von Mobbing an Schulen gab es ja zur Genüge, doch Lucie wollte die Situation frühzeitig klären. Sie beschloss, noch am Abend eine E-Mail ans Sekretariat zu schreiben und um ein Treffen mit der Direktorin zu bitten.

Sie fuhr am Jachthafen von Carry-le-Rouet vorbei in ihr Stadtviertel, das ein wenig außerhalb des Zentrums auf einem Hügel lag. Überall blühten bereits Apfelbäume, Forsythien und Goldregen.

Lucie war froh, nicht direkt in Marseille zu wohnen und auch nicht in Martigues, mitten im Industriegebiet, sondern an der Côte Bleue, am Rand des schmucken Hafenstädtchens Carry-le-Rouet, in einer alten Villa, die sie umgebaut und modernisiert hatten und von deren Balkon aus sie in der Ferne das Meer sehen konnten. Der Garten war voller schöner alter Bäume, und vor zehn Jahren, als sie das Haus renoviert hatten, hatten sie sich ein Schwimmbad ausheben lassen. Für Lucie waren ihr Haus und ihr Garten eine Oase der Erholung.

Bald setzte sie den Blinker, bog in ihre Straße ein und hielt vor ihrem Grundstück an. Mit ihrer Fernbedienung öffnete sie das Gartentor und stellte das Auto vor dem Haus ab. Sie ging zur Haustür und drückte die Klinke herunter, doch die Tür war abgesperrt. Hätte Emeline nicht bereits von der Schule zurück sein müssen? Lucie kramte nach ihrem Schlüssel und sagte sich, dass der Bus wohl wieder einmal Verspätung oder Emeline ihn verpasst hatte. Nun, sie würde schon anrufen, wenn sie den Zug genommen hatte und vom Bahnhof abgeholt werden wollte, der ziemlich weit vom Haus entfernt war.

Lucie ging in die Küche und sah in den Kühlschrank. Sie beschloss, abends Pizza zu machen. Vorher wollte sie jedoch Emeline anrufen, um zu erfahren, wo ihre Tochter war. Sie wählte die Nummer, aber das Mädchen meldete sich nicht. Allerdings hörte sie im Obergeschoss Emelines Telefon läuten.

Verblüfft legte sie auf.

Es läutete nicht mehr.

Sie wählte erneut Emelines Nummer und stieg die Treppe hinauf.

Und da hörte sie das Telefon ganz deutlich aus Emelines Zimmer. Ihre Tochter war daheim! Warum hatte sie sich eingesperrt?

Lucie rief nach ihr und klopfte an die Zimmertür. Keine Antwort. Lucie öffnete die Tür. Stirnrunzelnd sah sie auf Emelines Telefon und auf die Schultasche, die am Boden stand. Auf dem Schreibtisch neben dem Telefon lagen der Zeichenblock und ein Stück Kohle. Emeline, die so gern zeichnete und ein besonderes Talent dafür bewies, hatte wohl sofort etwas skizziert, als sie von der Schule heimgekommen war.

Lucie öffnete den Block und sah sich die Zeichnung an. Voller Missfallen runzelte sie die Stirn, denn sie sah einen Baum mit ausladenden Ästen, in dem ein totes Mädchen an einem Seil hing, das um ihren Hals geschlungen war. Ein Mädchen mit wuscheligen Haaren wie Emeline. Das Bild war sehr gelungen, doch es jagte Lucie einen Schauer über den Rücken.

Im Haus herrschte Totenstille. War Emeline im Badezimmer oder im Keller? Aber Lucie konnte ihre Tochter nirgends finden. Nun, vielleicht saß sie ja im Garten und zeichnete dort. Von ihrem eigenen Schlafzimmer trat Lucie auf den Balkon, der ihr einen Blick über das gesamte Grundstück gewährte. Die blühende Magnolie streckte ihre kräftigen Zweige bis zu ihr herüber. Lucie erfreute sich an der zartrosa-roten Farbe der wundervollen Blüten und sog den Duft ein.

Doch als sie ans Geländer trat und ihren Kopf ein wenig nach rechts drehte, zuckte sie zusammen und begann zu schreien.

Vor ihr, nur wenige Meter entfernt, baumelte Emeline an einem Seil, das am dicksten Ast der Magnolie befestigt war. Emelines Gesicht war bläulich, die Augen geschlossen. Ihr Körper hing schlaff wie eine Stoffpuppe zwei Meter über dem Rasen. Es war deutlich zu sehen, dass ihr Genick gebrochen war. Emeline war tot, jede Hilfe kam zu spät. Lucie schien keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Beine gaben nach, sie sank wimmernd zu Boden.

Madame le Lieutenant

Nach einem gemütlichen Mittagessen mit ihrer Lebensgefährtin Laura auf einer sonnigen Terrasse direkt am Alten Hafen durchquerte Nadia das Altstadtviertel Le Panier, das sich zwischen dem Hafen und der Kathedrale auf einem Hügel erhob und das Herz der Stadt Marseille darstellte. Sie ging schnellen Schrittes die steilen Stufen zwischen alten, teilweise etwas schmuddeligen Fassaden hinauf. Rechts und links von ihr waren die Mauern bunt dekoriert. Le Panier war ein Stadtteil, in dem Street Art von begabten Künstlern die Hauswände verschönerte. Bald war sie am höchsten Punkt des Quartiers angelangt, nun führte eine Gasse abwärts zum malerischen Platz auf der anderen Seite des Viertels, der sich vor der Vielle Charité, dem ehemaligen Armenhaus, erstreckte, das nun ein prächtiger Museumskomplex war. Dort tummelten sich einige Touristen in der Frühlingssonne. Nur wenige Hundert Meter weiter befand sich Nadias Arbeitsplatz, das Hôtel de Police.

Die junge Frau war seit zwei Monaten als Lieutenant de Police tätig, hatte ihr eigenes Team und ermittelte selbstständig unter der Leitung ihres Vorgesetzten Commissaire Blachet. Im Moment war sie der einzige weibliche Lieutenant bei der Kripo und die Jüngste dieses Dienstgrads im ganzen Präsidium. Nach ihrer achtzehnmonatigen Weiterbildung in Paris hatte sie die Stelle ihres ehemaligen Vorgesetzten Mathieu bekommen, der Marseille verlassen hatte, um sich zum Commissaire fortbilden zu lassen.

Nun befehligte sie die Kollegen, mit denen sie früher im Team zusammengearbeitet hatte. Es handelte sich um ein reines Männerteam, die meisten waren noch dazu aus dem Süden, also Machos. Die Kollegin, die als Letzte in die Abteilung gekommen war – noch dazu eine Frau –, sollte sie nun herumkommandieren? Nein danke, hatten drei von ihnen gemeint und das Team oder gleich die Abteilung gewechselt. Doch Florian, Kenny und Stéphane waren bei Nadia geblieben. Sie kannten und mochten sie.

Nadia sollte in der folgenden Woche aus dem Norden einen vierten Mitarbeiter bekommen – diesmal eine Frau. Sie war sehr glücklich darüber. Die meisten Frauen bei der Polizei waren Bürokräfte und nicht Ermittler, aber die Zeiten änderten sich. Auf der unteren Dienststufe der Ermittler war nun bereits die Hälfte der neuen Angestellten weiblichen Geschlechts.

Als Nadia beim Commissariat ankam, läutete ihr Mobiltelefon. Sie sah, dass Pierre Frigeri, der Staatsanwalt, anrief.

»Hallo, Pierre«, sagte Nadia, als sie den Anruf annahm. »Wenn du in der Gegend bist, dann komm vorbei. Wir können in der Nähe irgendwo draußen einen Kaffee trinken.«

»Nein, Nadia. Ich habe ziemlichen Stress, kann jetzt nicht weg. Ich muss später mit dir reden. In Ruhe. Es ist wichtig.«

»In Ordnung. Willst du bei mir im Büro vorbeischauen, oder soll ich dich im Justizpalast besuchen?«

»Weder noch. Ich würde dich gern außerhalb unserer Büros treffen.«

»In Ordnung.« Nadias Neugier war geweckt. »Treffen wir uns doch um sechs in einer der Bars im Einkaufszentrum Les Terrasses du Port! Dann kannst du mir sagen, was du auf dem Herzen hast, während ich die Sonne und den Blick aufs Meer genieße. Auf der Terrasse der Bar im zweiten Stock, ganz rechts, ich weiß den Namen nicht mehr.«

»Gut. Machen wir es so! Bis dann!«

Nadia verabschiedete sich und legte auf.

Sie fand Pierre reichlich geheimnisvoll. Bislang hatte er sie noch nie dienstlich woanders treffen wollen.

Pierre Frigeri, der Substitut du Procureur, ein junger Staatsanwalt, der dem Procureur de la République unterstand, war ein guter Freund von Nadia und Laura. Nadia arbeitete viel mit ihm zusammen, traf ihn aber auch in ihrer Freizeit häufig. Vor allem sportelte sie gern mit Pierre.

Nachdem sie dem Kollegen zugewinkt hatte, der in seiner Glasbox den Eingang bewachte, hastete sie ins Commissariat. Ein Teil des Hôtel de Police war ein altehrwürdiger Bau aus dem siebzehnten Jahrhundert, der ursprünglich als Bischofspalast gedient hatte. Im zwanzigsten Jahrhundert, nachdem die Kirche enteignet und das Hauptkommissariat dort untergebracht worden war, hatte man einen modernen Teil angebaut. Inzwischen war die gesamte Anlage jedoch veraltet und baufällig. Es war geplant, das Präsidium, das außerdem zu klein wurde, in den kommenden Jahren woandershin zu verlegen.

Nadia stieg die Treppe zu ihrer Abteilung im ersten Stock hoch. Dort kam ihr Commissaire Blachet, der Leiter der Kriminalabteilung, auch Crim genannt, in dem schäbigen und düsteren Gang entgegen, der vom Treppenhaus zu ihrem eigenen winzigen Büro und dem Open Space ihres Teams führte.

»Hallo, Nadia«, sagte er. »Ich muss dich sprechen. Kannst du bitte in einer halben Stunde in mein Büro kommen?«

»Klar«, erwiderte Nadia. Vermutlich bekam sie einen neuen Fall zugeteilt. Im Moment ermittelte sie mit ihrem Team zu einer rumänischen Bande, die Raubüberfälle beging, aber auch Reisebusse und Autos aufbrach. Im Herbst war ein junger Mann bei einem Raubüberfall getötet worden, hinter dem mutmaßlich ebenjene Bande steckte, deshalb hatte die Kriminalabteilung, die sich hauptsächlich um Mord und Körperverletzung kümmerte, den Fall bekommen. Blachet wollte, dass die Sache bis zum Beginn der Tourismussaison geklärt war. Die Mörder dieses Mannes mussten gefasst und der Bande sollte das Handwerk gelegt werden. Doch er wusste, wie sie alle, dass es sich um ein riesiges Netzwerk handelte, das wahrscheinlich vom Ausland aus gesteuert wurde. Sie fassten vielleicht zehn Personen, doch dann würden sofort neue nachkommen und im Sommer weiter Leute ausrauben und Fahrzeuge aufbrechen. Das Einzige, was wirklich half, war eine verstärkte Polizeipräsenz auf den Busparkplätzen und in der Stadt. Doch das lag nicht in der Kompetenz der Kripo, dafür war die Police Municipale zuständig, die städtische Polizei. Und wie viele Beamte für die Überwachung der Stadt eingesetzt wurden, war ein politisches Thema.

Nadia ging ins Büro, wo ihre Kollegen schon vor den Aufnahmen der Überwachungskameras saßen, die sie sich an diesem Nachmittag vornehmen mussten. Ein Vorteil war, dass die Mörder des jungen Mannes höchstwahrscheinlich jene waren, die auch die Reisebusse auf den Parkplätzen aufgebrochen hatten und dabei gefilmt worden waren. Bald würden sie mehrere Gesichter identifizieren können.

»Mensch, das sind ja Stunden und Stunden an Aufnahmen«, stöhnte Kenny. »Das schaffen wir nie!«

»Nächste Woche kommt Verstärkung«, erklärte Nadia. »Eine neue Polizistin.«

»Ach, eine Frau!«, meinte Stéphane. »Ich hoffe, sie ist hübsch und nicht zu alt.«

Nadia hielt das Foto einer übergewichtigen Vierzigjährigen hoch, das sie im Internet gefunden und ausgedruckt hatte. Sie wollte ihren beiden Kollegen einen Streich spielen.

»So sieht sie aus!«

Stéphane und Kenny schauten sie mit langen Gesichtern an.

»Das ist wirklich gemein! Wir haben ohnehin kaum Frauen hier, und jetzt kommt da so ein Trampel!«, seufzte Stéphane.

Nadia vermied es, zu Florian hinzusehen, der sich das Lachen verbiss, da er eingeweiht war. Beinahe hätte sie losgeprustet.

Sie wandte sich ab und bemerkte nur: »Ich kann nichts dafür. Das entscheide nicht ich. Beschwert euch beim Commissaire!«

Als sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie zu ihren drei Mitarbeitern: »Ich zähle auf euch, Fiona einen guten Empfang zu bereiten und sie richtig einzuarbeiten. Wir brauchen sie. Es ist wichtig, bei Zeugenvernehmungen auch eine Frau dabeizuhaben. Wahrscheinlich wirst du, Stéphane, hauptsächlich mit ihr im Zweierteam arbeiten.«

Kenny sah Stéphane feixend an, der unwillig den Mund verzog.

»Und, Jungs«, fügte Nadia hinzu, »gewöhnt euch an, nicht nur auf das Äußere einer Frau zu achten. Wie eine Kollegin aussieht, ist bei der Arbeit nicht wichtig.«

»Ja, aber, Nadia«, meinte Stéphane einschmeichelnd. »Das ist nicht so einfach. Du bist so perfekt, hübsch, anmutig und intelligent, eine Augenweide. Du hast uns einfach verwöhnt!«

Florian verdrehte die Augen.

Nadia musste jetzt doch lachen. »Du bist ein wahrer Charmebolzen, Stéphane! Aber, verwöhnt oder nicht, für mich zählt in erster Linie, ob Fiona mutig, kooperativ und kommunikativ ist und ob sie was voranbringt.«

Die beiden jungen Männer zuckten mit den Schultern. Florian grinste vor sich hin. Die echte Fiona würde für die beiden Casanovas eine angenehme Überraschung sein!

Nadia beantwortete ein paar Mails und begab sich dann ins Büro des Commissaire.

»Alles in Ordnung, Nadia?«, fragte er. »Kommst du mit den Kollegen zurecht?«

Nadia nickte. Sie hatte mit Blachet abgemacht, dass sie in den ersten Monaten ein kleineres Team leiten und nach sechs Monaten weitere Mitarbeiter erhalten würde. So wurde es zumeist gehandhabt, wenn ein Lieutenant ganz neu war. Nun würde Nadia bis zum Herbst für ein vierköpfiges Team verantwortlich sein.

»Ich wollte dich ganz kurz über deine neue Mitarbeiterin informieren«, begann der Kommissar.

Nadia horchte auf.

»Fiona Brante ist eine sehr gewissenhafte und fleißige Polizistin«, begann Blachet. »Sie ist seit sieben Jahren bei der Kripo in Lille und hat hervorragende Referenzen. Ihre Vorgesetzte lobt sie in den höchsten Tönen und bedauert es sehr, sie hergeben zu müssen.«

Der Commissaire brach ab und sah Nadia schweigend an. Er erwartete wohl, dass sie eine Frage stellte. Nadia machte ihm die Freude.

»Und warum verlässt Fiona Brante die PJ Lille?«

»Tja, das ist eine andere Geschichte. Fionas Arbeit ist einwandfrei. Allerdings nicht ihr Privatleben. Es gab eine Anzeige gegen sie. Sie hat außerhalb der Arbeitszeit ihre Dienstwaffe verwendet und geschossen.«

»Ach!« Nadia erschrak. »Hat sie jemanden verletzt?«

»Nein. Sonst wäre sie nicht mehr bei der Polizei. Sie hat nur einen Schuss abgefeuert. Anscheinend handelte es sich um Notwehr. Aber mehr steht nicht in ihrer Akte.« Blachet räusperte sich, und Nadia sah ihn entsetzt an.

»Ihre Vorgesetzten in Lille haben die Sache nicht weiterverfolgt, weil es eindeutig Notwehr war. Da es sich um die Dienstwaffe handelte, bekam sie allerdings eine Verwarnung. Es ist ihre einzige Verwarnung.«

Nadia zuckte mit den Schultern. Sie konnte verstehen, dass eine Polizistin, die angegriffen wurde, sich mit ihrer Waffe verteidigte, auch wenn sie nicht im Dienst war. Sie selbst würde nicht zögern, zu ihrer Pistole zu greifen, wenn jemand sie auf dem Weg nach Hause oder daheim bedrohte.

»Nun, Nadia, es ist wichtig, dass du Bescheid weißt und anfangs ein Auge auf sie hast. Solltest du sehen, dass sie schnell ausflippt oder übermäßig ängstlich ist, würde ich dich bitten, mir das zu melden. Dann kann sie auch mit Céline sprechen.«

Céline war die Psychologin, die sich im Commissariat nicht nur um Opfer, sondern auch um Polizisten kümmerte, wann immer es nötig war. Nadia nahm sich vor, Fiona zu ermuntern, Céline aufzusuchen. Vorerst würde sie das Thema aber sehr vorsichtig angehen. Sie musste zuallererst das Vertrauen der neuen Kollegin gewinnen. Dann würde sie sicher bald erfahren, was Fiona Brante vor ihrer Versetzung nach Marseille widerfahren war.

Die beste Freundin

Christine lag zusammengekauert auf ihrem Bett und weinte bitterlich. Sie fühlte sich unendlich schuldig. Sie wusste ganz genau, dass sie am Selbstmord ihrer besten Freundin eine Mitschuld trug. Sie hatte Emeline im Stich gelassen, genau in dem Moment, als ihre Freundin sie am nötigsten gebraucht hätte. Sie hatte Angst gehabt und war abgehauen. Sie hatte Emeline ihren Peinigern überlassen, anstatt Hilfe zu holen. Christines Verzweiflung hatte sich in den vergangenen Monaten zunehmend gesteigert, als sie gemerkt hatte, dass keiner bereit gewesen war, ihnen zu helfen. Die Lehrer hatten sie belächelt, Emelines Problem kleingeredet, Christine beschwichtigt. Sie hatten nicht gewusst, wie weit die anderen es treiben würden. Und Emeline war daran zerbrochen.

Christine wollte nicht mehr in die Schule gehen. Nie mehr. Es war unmöglich für sie, weiterhin mit diesen teuflischen Mädchen in einer Klasse zu sitzen. Außerdem war es gefährlich, weil die anderen wussten, dass sie über alles im Bilde war, und vielleicht ahnten, dass ihre Eltern sich an die Polizei gewandt hatten. Doch ihre Eltern kannten nicht die ganze Wahrheit.

Als Maman vor zwei Tagen in ihr Zimmer gestürzt war, hatte Christine auf dem Bett gelegen und ihre Lieblingsmusik gehört. Sie war erschrocken hochgefahren.

Die Mutter hatte unter Tränen hervorgestoßen: »Christine, Chérie, es ist etwas Fürchterliches passiert. Emeline hat sich in ihrem Garten an der großen Magnolie erhängt. Lucie hat sie vor einer Stunde gefunden.« Die Stimme der Mutter war im Schluchzen untergegangen.

Christine hatte ihre Mutter wie zur Salzsäule erstarrt angesehen. Durch ihren Kopf waren tausend Gedanken gerast. Das war zu erwarten ... Aber warum hat sie nicht einen anderen Ausweg gewählt ... Es ist deine Schuld, du hast sie im Stich gelassen ... Sie haben ihr jegliche Würde geraubt ... Sie haben ihr die Lust am Leben genommen ... Warum hat uns denn nie jemand geholfen?

»Christine ... Schatz!« Die Mutter hatte ihre Hand berührt, und Christine hatte aufgeschluchzt. Da hatte Maman sie in die Arme genommen. Lange hatten sie geweint, dann hatte die Mutter Christine von sich geschoben, ihr in die Augen gesehen und gesagt: »Jetzt musst du reden, Christine. Es geht nicht mehr anders.«

Christine hatte genickt. Sie hatte geredet. Die Polizei war gekommen, und Christine hatte erzählt. Jedoch nur einen Teil. Das Schlimmste hatte sie nicht berichten können. Denn wenn sie es tat, steckte sie selbst genauso in der Patsche. Weil sie nicht gehandelt hatte, wie sie es hätte tun müssen.

Sie hatte erzählt, dass die Clique Emeline seit Anfang des Schuljahres gemobbt hatte. Sie, Christine, war bei diesen schicken, reichen Mädchen aus guten Familien ebenfalls nicht besonders beliebt, doch ihr Opfer war Emeline gewesen. Wahrscheinlich, weil Emeline übermäßig intelligent und von den Lehrern häufig für ihre Aufsätze und Arbeiten gelobt worden war. Und weil sie so gut hatte malen und zeichnen können, dass es Neid erregt hatte. Aber auch, weil sie anders angezogen gewesen war als alle anderen und ein wenig anders ausgesehen hatte. Sie, Christine, hätte mit wenig Mühe in die vorgegebene Schablone passen können. Jeans, Nikes, ein Marken-T-Shirt, lange, glatte Haare, Wimperntusche und Lippenstift – und sie wäre eine der Ihren geworden.

Doch Emeline war ganz anders gewesen. Schon allein ihre Frisur, wundervolle lange, ungebändigte Locken, fiel aus dem Rahmen. Und ihr sehr blasses Gesicht, ihre etwas zu große Nase und ihr winziger Mund. Emeline war etwas Besonderes gewesen. Und deshalb war sie zum Opfer der Clique geworden. Die Mädchen hatten sie ständig aufgezogen, ihr häufig ein Bein gestellt, ihr auf den Kopf geschlagen, nach dem Turnunterricht ihre Kleider versteckt, ihre Schultasche ausgeleert, ihr Dinge entwendet ... Immer neue Schikanen hatten sich diese bösartigen Furien für ihr Opfer ausgedacht.

Christine und Emeline hatten die Klassenlehrerin um Hilfe gebeten, doch diese hatte nicht reagiert. Dabei hatte sie ganz genau gesehen, was da tagtäglich geschah. Und auch die Direktorin, die Christine einmal allein aufgesucht hatte, hatte die Sache schöngeredet. Sie hatte zwar mal mit den betreffenden Mädchen gesprochen, aber keineswegs die Eltern verständigt, wie das sonst in solchen Fällen gehandhabt wurde.

Sehr bald hatte Christine herausgefunden, warum das so war: Bei der Clique handelte es sich um Mädchen aus sehr einflussreichen Familien. Ihre Eltern waren Anwälte, hohe Polizeibeamte, Manager und Politiker. Diese Mädchen glaubten schon im Alter von fünfzehn, über dem Gesetz zu stehen. Und sie waren relativ vorsichtig gewesen. Sie hatten Emeline immer so zugesetzt, dass ihnen ganz offiziell nichts nachgewiesen werden konnte. Auf Instagram und Tiktok hatten sie sie zwar angeschwärzt, aber so, dass niemand außer den Insidern wusste, worum es ging.

Doch was am Nachmittag vor Emelines Tod geschehen war, war kriminell und strafbar gewesen. Und der Sohn des Procureurs, des Oberstaatsanwalts, sowie die Tochter des Chefs der Kripo waren darin verwickelt. Wie konnte unter diesen Umständen eine Ermittlung stattfinden? Christine wusste, dass die Sache vertuscht werden würde. Und sie selbst konnte nicht aussagen. Gegen Mittag hatte sie eine WhatsApp von Naomi erhalten.

Es ist dir wohl klar, dass du schweigen solltest. Sonst passiert dir etwas Schlimmes.

Naomi war sich sicher, dass Christine etwas gegen sie in der Hand hatte, und drohte ihr. Doch Naomi konnte unbesorgt sein. Denn wer würde Christine schon anhören? Der Procureur und der Polizeichef ... wenn diese die Sache vertuschen wollten, dann würden sie das auch schaffen. Christine betete, dass irgendetwas geschehen möge, das sie davon erlösen würde, in die Schule zurückzukehren. Was das sein sollte, wusste sie nicht. Nur eines war gewiss: Sie konnte nicht mehr dorthin zurück.

Denn sie würde das nächste Opfer der Clique sein.

Der Staatsanwalt

Das Einkaufszentrum Les Terrasses du Port war zu Fuß nur wenige Minuten vom Commissariat entfernt. Nadia trat in den sonnigen Frühlingsabend hinaus, überquerte die Esplanade, auf der La Major stand, die riesige neoromanisch-byzantinische Kathedrale, und wandte sich Richtung Meer.

Nadia ging die Fährterminals entlang, wo eine schier endlose Autokolonne darauf wartete, auf ein Schiff nach Algerien fahren zu können, und den gesamten Verkehr blockierte. Man sah, dass es sich um Algerier handelte, die ins Bled, ihr Heimatdorf, zurückkehrten. Die Autos waren vollgepackt mit Hausrat, und sogar auf den Dächern hatten sie sehr behelfsmäßig Gepäck festgezurrt.

Kurz darauf betrat sie das große, helle und brandneue Einkaufszentrum, das am Meer lag und in dem, wohl aufgrund des schönen Wetters, nicht besonders viel los war. Sie nahm die Rolltreppe ins zweite Stockwerk zur besagten Bar auf der Südseite, durchquerte die Lounge, um zur Terrasse zu gelangen, und setzte sich an einen Tisch direkt an der Brüstung. Vor ihr erstreckte sich das Meer. Eine Fähre legte gerade ab, einige Segelschiffe tummelten sich weiter hinten, und die Frioul-Inseln leuchteten weiß in der Abendsonne.

Der Kellner kam und fragte Nadia, was sie trinken wolle. Sie beschloss, sich einen Kir mit Lavendellikör zu gönnen. Sie mochte den Lavendelgeschmack, den Laura ganz fürchterlich fand. Nadia aß gern Lavendeleis, lutschte Lavendelbonbons, buk sich Cookies mit Lavendelblüten und liebte diesen aufdringlich süßen Likör.

»Happy Hour«, meinte der Kellner. »Wenn Sie wollen, bekommen Sie für einen zusätzlichen Euro einen Kir Royal.«

»Ja danke, gern!«, sagte Nadia. Der Kir Royal, bei dem der Lavendellikör nicht mit Weißwein, sondern mit Champagner aufgegossen wurde, war ihr natürlich noch lieber als der einfache Kir.

Nadia las auf ihrem Smartphone die neuesten Nachrichten. Was sie erfuhr, gefiel ihr nicht. Es wurde hauptsächlich über das Corona-Virus berichtet. Nicht nur in Italien, auch im Osten Frankreichs gab es seit dem Vortag ziemlich viele Fälle. Anscheinend hatte bei Mulhouse ein Treffen einer evangelischen Kirchengemeinschaft stattgefunden, bei dem sich Dutzende Personen angesteckt hatten. Nadia war nicht klar, wie gefährlich dieses Virus tatsächlich war. War es wirklich so schlimm, oder wurde die Sache von der Presse nur aufgebauscht? Manche Leute behaupteten, es sei eine einfache Grippe, andere wieder warnten, bei jedem, ob jung oder alt, könne die Krankheit tödlich verlaufen. Die WHO hatte bereits die Pandemie ausgerufen, und es wurde befürchtet, dass auch die europäischen Länder nicht genügend Intensivbetten und Krankenhauspersonal haben würden. Die medizinische Versorgung konnte überall auf der Welt zusammenbrechen. Nadia fröstelte trotz der warmen Abendsonne. Doch sie hatte keine Zeit, sich länger mit Corona zu befassen, denn Pierre fegte über die Terrasse auf sie zu.

Wie immer war ihr Freund voller Energie und ziemlich hastig unterwegs.

»Salut, Nadia«, keuchte er, als er zu ihrem Tisch kam. »Désolé, Entschuldigung, ich habe dich warten lassen. Bin im letzten Moment von meiner Sekretärin aufgehalten worden. Alles muss ich ihr zehnmal erklären. Oft mache ich die Dinge selbst, das geht schneller! Aber wie du weißt, suchen wir uns bei Gericht die Mitarbeiter nicht aus!«

Pierre küsste Nadia auf beide Wangen. Dann ließ er sich ihr gegenüber auf den Sessel plumpsen. Sein Blick schweifte über das Meer zu den Frioul-Inseln.

»Schön, dieser Abend. Schade, dass wir nicht zum Spaß hier sind!«

»Nun, wir können ja das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden«, meinte Nadia. In dem Moment kam der Kellner mit dem Kir Royal.

»Ach ja, ich sehe, dass du das bereits machst«, erwiderte Pierre grinsend.

»Bonjour, Monsieur. Wollen Sie auch einen Kir Royal mit Lavendel?«, fragte der Kellner.

Pierre wehrte ab. »Nein, nichts so Exotisches. Ein ganz einfacher Pastis tut’s auch.«

»Einen Pastis? Wir haben Happy Hour. Für einen Euro mehr bekommen Sie zwei Pastis.«

»Merci«, sagte Pierre, »das ist wirklich nett, aber ein Pastis genügt vollkommen. Ihre Happy Hour macht ja die Menschen zu Alkoholikern.«

»Monsieur, mit zwei Pastis ist man noch lange kein Alkoholiker«, entgegnete der junge Mann mit seinem breiten südfranzösischen Akzent und murmelte im Weggehen kopfschüttelnd: »Ah, diese Pariser!«

»Hat er mich eben einen Pariser genannt?«, fragte Pierre ungläubig.

»Ja, hat er. Musst dir einen südlichen Akzent zulegen!«

»Du hast ihn ja auch nicht und wirst nie beleidigt!«

»Aber mir sieht man nicht an, dass ich aus Paris bin. Ich laufe auch nicht mit Hemd und Krawatte herum! Und wie du weißt, komme ich ursprünglich aus der Normandie.«

»Hab keine Wahl«, knurrte Pierre und lockerte seine Krawatte. »Ich würde auch lieber eine Lederjacke und Jeans tragen. Aber bei Gericht kommt das nicht so gut.«

»Wie geht’s dir?«, fragte Nadia.

»Nicht so toll zurzeit«, meinte er. »Die Stimmung bei uns im Justizpalast kann als unheilverkündend bezeichnet werden. Es bahnt sich was an, was ganz und gar Unangenehmes. Es brodelt, es wird gemunkelt und intrigiert. Die Kommunalwahlen und die Corona-Geschichte tragen natürlich viel dazu bei. Wir leben in einer sehr politisierten Zeit.«

»Ich befürchte, du hast einen sehr politisierten Job«, warf Nadia ein.

»Das befürchte ich auch. Und ich bin gestresst. Ich musste dich unbedingt treffen, weil ich ein Problem habe. Ich wollte mich mit dir beraten. Die Situation ist sehr heikel.«

Der Kellner kam mit dem Pastis und stellte ihn mit einem gönnerhaften Grinsen vor Pierre hin. Er brachte auch Oliven und Erdnüsse.

»Santé!«

Die beiden stießen miteinander an und nahmen einen Schluck.

»Wow, der schmeckt wirklich super. Willst du probieren? Mit Lavendel?« Nadia hielt Pierre ihr Glas hin.

»Nein!« Pierre schüttelte sich. »Ich esse oder trinke keinen Lavendel. Komisches Getränk. Passt so gar nicht zu dir.«

»Natürlich, du denkst, Lesben trinken Whiskey, Wodka oder Pastis. Der Champagner und der Likör sind nur was für echte Frauen«, spottete Nadia.

»Aber nein, Chérie. Jeder nach seinem Geschmack, würde ich mal sagen.« Er wurde ernst. »Ich werde Probleme mit meinem Vorgesetzten bekommen. Und mit deinem. Und ich weiß, dass ich dir vielleicht Schwierigkeiten mache, wenn ich dir jetzt von der Sache erzähle. Aber ich muss deine Meinung hören.«

»Okay, schieß los!« Nun war Nadia wirklich neugierig.

Pierre holte einen kleinen Zeitungsausschnitt aus seiner Aktentasche und legte ihn vor Nadia hin. Es war ein kurzer Artikel der Marseillaise aus der Rubrik Lokales.

In Carry-le-Rouet hatte eine Schülerin des Lycée Saint Christophe, das sich im Marseiller Stadtteil L’Estaque befand, zwei Tage zuvor Selbstmord begangen. Die Mutter hatte das Mädchen im Garten an einem Baum hängend gefunden. Anscheinend sei die Fünfzehnjährige schon seit Monaten depressiv gewesen.

»Traurig«, meinte Nadia. »Ein junges Mädchen, das Selbstmord begeht. Aber was ist daran so besonders?«

Pierre schwieg einen Augenblick. »Freunde der Eltern, die einen meiner Freunde kennen, haben mich über die Sache informiert und mich gebeten, sie mir anzusehen. Emelines Eltern und ihre beste Freundin behaupten, sie sei von Mitschülerinnen gemobbt worden und habe sich wohl deshalb umgebracht. Die Eltern haben Anzeige erstattet. Doch«, er senkte die Stimme, »gestern wurde ihnen mitgeteilt, dass es in der Schule keine weitere Untersuchung geben wird. Die Sache wird vertuscht. Deswegen hat die Familie sich über mehrere Ecken an mich gewandt.«

»Nun, das ist die richtige Vorgehensweise. Du bist Staatsanwalt. Du kannst ermitteln.«

Pierre seufzte tief. »Theoretisch, ja. Aber praktisch, nein. Denn unter den beteiligten Schülern befindet sich der achtzehnjährige Sohn meines Chefs, des Procureurs Adriani. Und die Tochter deines höchsten Vorgesetzten, des Commissaire Divisionnaire Manson.«

Nadia verschlug es die Sprache. Ihre Hand begann zu zittern, und sie stellte das Glas ab.

»Oh nein!«, flüsterte sie. »Mon Dieu! Und sie nutzen ihre Positionen, um die Sache unter den Teppich zu kehren.«

Pierre nickte. »Wir wissen nicht, wie weit die Jugendlichen es getrieben haben, aber ich würde gern mit verschiedenen Personen sprechen. Ganz diskret. Und wenn da wirklich etwas Schlimmes geschah, muss ich eine Ermittlung einleiten.«

»Aber wie? Dein Vorgesetzter wird das nicht billigen.«

Pierre zuckte mit den Schultern. »Mein Vorgesetzter ist nicht Gott. Ich habe in Paris Beziehungen und kann das melden. Allerdings muss ich etwas Konkretes in der Hand haben. Doch anscheinend wird jegliche Art von Ermittlung in der Schule sofort unterbunden. Deshalb weiß ich nicht, was ich machen soll. Wenn ich ein vernünftiger Mensch wäre, würde ich einfach den Kopf in den Sand stecken, die Mafia-ähnlichen Praktiken unserer Chefs ignorieren und die Sache auf sich beruhen lassen. Aber das kann ich nicht. Ich bin Staatsanwalt geworden, weil ich Gerechtigkeit will. Und ich habe das Gefühl, dass in dieser Schule etwas Schlimmes geschehen ist. Sonst würden sie nicht so blocken. Was meinst du?«

Nadia war ratlos. Mit so einer Situation war sie noch nie konfrontiert worden! Es war absolutes Pech, dass sowohl der Sohn des Procureurs als auch die Tochter des Commissaire Divisionnaire in die Sache verwickelt waren.

Nadia wusste, warum Pierre sie kontaktiert hatte. Er wollte, dass sie ermittelte. Doch sie konnte nicht einfach einen Fall bearbeiten, der ihr nicht offiziell zugeteilt worden war! Blachet war ihr Chef, und dieser unterstand der Direktion der PJ. Gewiss hatten Nadias Vorgesetzte bereits alles blockiert.

Nadia überlegte.

»Wir können vielleicht eine Weile ermitteln, bevor unsere Aktion abgewürgt wird«, meinte sie nachdenklich. »Wir können so ganz naiv und unwissend an die Sache herangehen. Du könntest Blachet über den Fall unterrichten und zugleich mich beauftragen, mich zu erkundigen. Du tust so, als wüsstest du nicht, welche Jugendlichen darin verwickelt sind. Du sprichst auch mit deinem Vorgesetzten darüber. Und inzwischen bin ich schon unterwegs.«

Pierre sah sie an. »Nadia, das kann dir fürchterliche Probleme machen. Das kann dich deine Karriere kosten, oder der Commissaire lässt dich strafversetzen«, meinte er schließlich.

»In den Norden?«

»In den Norden von Paris. Seine-Saint-Denis. Ärmstes Département Frankreichs. Die schlimmsten Banlieues. Nur Vorstadtviertel, keine Strände, keine Felsküsten, keine Felder und Wiesen. Für einen Lieutenant die Hölle.«

»Tja, da stehen wir vor einer Gewissensfrage. Sollen wir aus Bequemlichkeit gutheißen, was da geschieht, oder sollen wir dafür kämpfen, dass die Wahrheit ans Licht kommt?«

»So ist es. Es handelt sich um unsere Vorgesetzten, Nadia. Sie sind mächtiger als wir.«

»Ja, aber wir sind nicht allein. Wir können uns der Medien bedienen. Laura kann recherchieren. Wahrscheinlich haben sie sich die Presse noch nicht gefügig gemacht.«

»Das wissen wir nicht«, meinte Pierre. »Ich möchte herausfinden, was geschehen ist. Das ist wichtig. Vielleicht war das Mädchen wirklich depressiv. Aber es gab in den letzten Jahren viele Fälle von Mobbing an Schulen, die tödlich endeten. Mobbing darf nicht unbestraft bleiben.«

Nadia nickte. »Ich bin bei solchen Schulgeschichten sehr sensibel. Denn ich wurde als Vierzehnjährige auch gemobbt.«

»Du? Warum?«

»Weil ich gern als Junge auftrat. Mich wie ein Junge anzog. Wie jetzt. Ich war schon damals die Lesbe. Und das war vor fünfzehn Jahren auf dem Land nichts Alltägliches, das kann ich dir garantieren! Es war in der Mittelschule die Hölle. Und in der Oberstufe verkleidete ich mich deshalb als Mädchen. So wie heute manchmal, wenn ich abends mit Laura weggehe oder weiß, dass ich nur im Büro arbeite.«

»Ich weiß. Mit deiner Verkleidung hast du mir vor zwei Jahren das Herz gebrochen.«

»Stimmt! Und auch die Kollegen sabberten mir hinterher, als ich zum ersten Mal geschminkt und im Minirock auftrat. Wie gesagt, in der Oberstufe hatte ich keine Probleme mehr.«

»Ich habe es auch erlebt«, sagte Pierre leise. »Mit fünfzehn. Am Beginn der Oberstufe. Ich hatte zu gute Noten und redete gern mit den Lehrern. Die Mitschüler nannten mich den Schleimer mit der langen Nase. Sie quälten mich, schlugen mich, stahlen mir Dinge und machten Karikaturen. Immer mit meiner Nase!« Pierre seufzte. »Jugendliche können sehr grausam sein.«

»Was hast du gemacht?«, fragte Nadia.

»Ich musste raus aus der Situation. Ich habe meine Eltern gebeten, mitten im Schuljahr auf eine Eliteschule wechseln zu dürfen. Der Mathematiklehrer hat mitgekriegt, was los war, und hat mir geholfen. Er hat meine Eltern bearbeitet, meine Bewerbung für diese Eliteschule unterstützt, und da ich wirklich sehr gute Noten hatte, hat es geklappt. Dort war ich bei Weitem nicht mehr der Klassenbeste, sondern ziemlich mittelmäßig, aber ich hatte Freunde, die so waren wie ich, und wurde nicht mehr gequält. Und mein bester Freund hatte eine genauso spitze Nase wie ich! Wir zogen uns gegenseitig auf, und die anderen hörten höflich zu. Noch dazu war diese Eliteschule der erste Meilenstein für meine Karriere, ich habe dort gelernt, hart zu arbeiten, danach das Jurastudium mit Auszeichnung beendet und die Aufnahmeprüfung in die Ecole Nationale de la Magistrature geschafft, um Staatsanwalt zu werden. Wenn ich an meinem ersten Lycée geblieben wäre, hätte ich das alles nicht hingekriegt. Schlimmer, vielleicht wäre ich auch depressiv geworden und hätte mich umgebracht.«

Nadia nickte. Sie erinnerte sich an die Woche, in der sie vorgegeben hatte, krank zu sein, ganz einfach, weil ihre Mitschüler so gemein zu ihr gewesen waren. Sie erinnerte sich an die Jungs, die sie begrapscht hatten, um zu erfahren, ob sie nicht vielleicht doch ein Junge war, und an die Mädchen, die lachend zugesehen hatten. Doch Nadia hatte mit ihren Eltern nicht darüber sprechen wollen. Wie Emeline.

»Seltsam«, meinte Pierre. »Die Eltern schicken ihre Kinder in katholische Privatschulen, um die Garantie zu haben, dass sie dort mit anständigen Leuten zusammenkommen, aber diese Garantie gibt es nicht! Die Jugendlichen sind überall Gefahren ausgesetzt, und das Konto der Eltern schützt sie nicht vor Problemen!«

»Du hast recht. Das Milieu der Schulen ist immer schwierig. Vor allem in der Oberstufe. Ich würde um keinen Preis dorthin zurückwollen. Weder als Schüler noch als Lehrer.«

»Ich auch nicht. Aber ich frage mich derzeit, ob es in der Arbeitswelt um so vieles besser ist.« Er seufzte tief.

Nadia zuckte mit den Schultern. »Ich hatte bisher Glück. Ich habe drei nette Kollegen unter mir und bekomme ab Montag eine Frau dazu.«

»Ach ja?«, fragte Pierre interessiert.

Nadia nickte. Sie fragte sich, ob sie Pierre denselben Streich spielen sollte wie Kenny und Stéphane, verzichtete aber darauf.

»Ich bin froh, noch eine Frau zu haben. Du weißt ja, für die Zeugen.«

»Ich bin auch froh«, meinte Pierre. »Euer Commissariat ist doch ein wenig zu männlich. In Paris gab es viel mehr Ermittlerinnen.«

Nadia grinste. »Natürlich, Pierre. Ich finde, wir brauchen weibliche Ermittler. Und ich werde dafür kämpfen. Du wirst sehen, in den kommenden Jahren wird sich das grundlegend ändern. Eines Tages wirst du aufwachen und dir sagen, da sind zu viele Frauen.«

Er grinste. »Zu viele Frauen kann es für mich gar nicht geben. Ich mag euch. Junge, alte, hässliche, schöne, weibliche, lesbische. Und am liebsten mag ich dich. Privat und im Job. Weil ich weiß, dass ich auf dich zählen kann.«

Nadia lächelte ihn an. »Ich werde der Sache nachgehen. Wenn nicht offiziell, dann in meiner Freizeit. Denn keine Fünfzehnjährige bringt sich grundlos um! Ihre Mitschüler haben ihr sicher etwas Fürchterliches angetan. Und ich werde herausfinden, was!«

Der Lehrer

Er war schockiert. Noch nie in seinem Leben war er so entsetzt gewesen. Am liebsten hätte er alles hingeschmissen und gekündigt. Oder um Versetzung nachgesucht. Aber so plötzlich mitten im Schuljahr war das nicht möglich.

Als er beschlossen hatte, Englisch zu unterrichten, hatte er die Option der katholischen Privatschule gewählt. Er hatte sich nicht fähig gefühlt, sich vor eine Klasse Vorstadtrowdys zu stellen, die vielleicht bewaffnet waren und deren Eltern sich keinen Deut für die Ausbildung ihrer Kinder interessierten. Bei den Privatschulen hingegen konnte man sicher sein, dass man junge Leute aus normalen Verhältnissen unterrichtete.

Loïcs Karriere war bisher sehr glücklich verlaufen. Er hatte zu seinen Schülern seit jeher einen guten Kontakt gehabt und Freude am Unterrichten. Die Beziehung zur Direktion und zu den Kollegen war entspannt gewesen. Doch am Anfang dieses Schuljahres hatte sich alles verändert. Er hatte die 2B zu unterrichten begonnen und schnell gemerkt, dass sie äußerst schwierig war. Fünf Mädchen gaben dort den Ton an und waren unerträglich arrogant, auch ihm gegenüber. Sie zogen die anderen mit, und die Schüler lernten kaum. Loïc schaffte es nicht, in dieser Klasse die nötige Disziplin durchzusetzen, und musste zu sehr drastischen Maßnahmen wie Strafaufgaben und Überraschungstests greifen. Es gab aber auch drei sehr gute Schüler. Loïc war aufgefallen, dass die drei von der Clique und einigen anderen Schülern gemobbt und gehänselt wurden und es kaum mehr wagten mitzuarbeiten. Er hatte mit Kollegen darüber gesprochen. François, der Mathematik unterrichtete, hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint: »Mir ist die Atmosphäre in der Klasse egal. Mein Fach ist so trocken, dass für atmosphärische Dinge kein Raum bleibt. Und Mathe macht zum Glück allen Angst, sodass ich keine Probleme habe.«

Loïc wäre froh gewesen, wenn sein Fach ebenfalls trocken wäre. Mit dieser Klasse machte er viel mehr Grammatik und Vokabeltests als mit den anderen, weil die Gruppenarbeiten und Diskussionen immer ausarteten. Meistens wurde irgendein Schüler gepiesackt, und Loïc musste hart durchgreifen. Der jungen Spanischlehrerin ging es genauso, und sie sagte, sie mache mit diesen blöden Puten auch nichts anderes mehr, während sie mit der Parallelklasse kleine Filme drehte und Rollenspiele organisierte. Andere Lehrer hatten Loïc zugestimmt, ihn aber etwas beschämt darauf hingewiesen, dass drei Störenfriede Töchter von sehr bedeutenden Marseiller Bürgern waren, die der Schule großzügig Geld gespendet hatten.

Naomi, die Loïc von allen am meisten hasste und fürchtete, war ein hübsches braunhaariges Mädchen, groß gewachsen und schlank, und sah aus wie siebzehn, obwohl sie erst fünfzehn war. Sie hing zumeist mit älteren Jungs herum. Doch sie war eine schlechte Schülerin und sehr faul. Noch dazu schien sie die guten Schüler zu hassen. Loïc war sich sicher, dass sie es gewesen war, die beschlossen hatte, vor allem Emeline Bernier zu piesacken. Es war alles von ihr ausgegangen. Ihre vier Freundinnen Mathilde, Vanessa, Mégane und Léane hatten mitgemacht, auch einige der Jungs und ältere Schüler aus anderen Klassen.

Loïc hatte versucht, mit Margot, der Klassenlehrerin, die Geschichte und Geografie unterrichtete, darüber zu sprechen, doch diese hatte resigniert gesagt, da sei nichts zu machen, jeder habe sein Kreuz zu tragen und diese Klasse sei das ihre. Die Schulleitung würde ihr nicht helfen, sondern sie vielmehr zurechtweisen, wenn sie die Störer bestrafte. Die Direktorin jedenfalls tat nichts, um Naomi und ihre Clique in ihre Grenzen zu weisen.

Loïc hatte keine Ahnung, ob das mit den Spenden zusammenhing oder mit etwas anderem. Er hatte seine Vorgesetzte Madame Franqui stets geschätzt, doch nun nahm er etwas wahr, was ihn zutiefst verunsicherte. Er spürte, dass Rosalie Franqui der Situation nicht gewachsen war. In ihrer Schule war eine Gruppe, die andere Schüler mobbte und bedrohte, doch sie unternahm nichts. Es kamen immer wieder Bemerkungen und Beschwerden von Eltern, aber die Sache wurde von ihr und der C.P.E. Madame Peters – der Erzieherin, die sich um organisatorische und disziplinäre Probleme kümmerte – heruntergespielt.

Aber nun hatte Emeline sich erhängt, und Loïc war sich sicher, dass dies wegen ihrer Mitschülerinnen geschehen war. Es hatte anscheinend am Nachmittag ihres Todes einen Zwischenfall gegeben. Richard, der Turnlehrer, hatte Emeline im Umkleideraum eingesperrt gefunden, wo sie in einer Ecke gekauert und geschluchzt hatte. Er hatte sie zu Maryline Peters gebracht, und Emeline hatte zitternd erzählt, dass das einige Mädchen getan hatten. Dem Sportlehrer nach hatte sie zutiefst traumatisiert gewirkt, und Loïc fragte sich, was ihr wirklich zugestoßen war.

Zeitgleich hatten auch die Jungs der Abiturklasse Terminale A Turnen gehabt, und Loïc vermutete, dass Naomis ältere Freunde irgendwie in der Sache mit drinsteckten. Die C.P.E. hatte Naomi und ihre Freundinnen zu sich geholt und sie bestraft. Doch die Mädchen hatten alles geleugnet. Als sie gegangen waren, sei Emeline noch in der Umkleide gewesen und habe sich die Mähne gekämmt, ohne viel Erfolg. Allerdings seien die Jungs im Umkleideraum nebenan gewesen. Auch die Befragung dieser Schüler hatte nichts ergeben. Die meisten wussten nicht einmal, wer Emeline war.

»Ach, die Komische mit der Nase und der Haarmähne«, hatten einige gegrinst.

Loïc hatte wahrgenommen, dass dem Turnlehrer bei seiner Schilderung nicht wohl gewesen war. Wahrscheinlich war etwas passiert, bei dem er die Kontrolle verloren hatte. Und nun schien er sehr verunsichert.

Loïc verspürte ein Ziehen in der Magengegend, als er an diesem Morgen, drei Tage nach Emelines Tod, vor seine Klasse trat.

Er registrierte sofort, dass Christine fehlte. Sie war sicher sehr schockiert und zutiefst deprimiert. Einige Schüler sahen betreten aus, doch die meisten benahmen sich, als wäre nichts geschehen. Loïc beschloss, mit der Klasse über Emelines Tod zu sprechen.

Wie immer wandte er sich auf Englisch an sie.

»Liebe Schüler, ich möchte euch mein Beileid aussprechen. Eine eurer Kameradinnen hat sich das Leben genommen.«

Er schrieb Beileid und sich das Leben nehmen als Vokabeln an die Tafel. Die Schüler sahen ihn schweigend an.

Dann meinte Naomi schnippisch: »Das Beileid muss man wohl Ihnen aussprechen. Sie haben Ihr Schätzchen, Ihre beste Schülerin, verloren.«

Einige Schüler kicherten, andere rissen erstaunt die Augen auf.

Loïc erschrak, beschloss jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Ruhig sah er Naomi an und sagte auf Französisch, damit sie ihn ganz gewiss verstand: »Naomi, es geht nicht um Schulleistungen. Aber was dich betrifft, frage ich mich, ob du nicht einen Stein anstelle eines Herzens in der Brust hast.«

Naomis Freundinnen Mathilde und Léane prusteten los. Die anderen Schüler hielten den Atem an. Naomi runzelte die Stirn. Loïc wandte den Blick von ihr auf die andere Seite der Klasse. Er sprach auf Englisch weiter, langsam und mit einfachen Worten: »Ich weiß nicht, ob euch bewusst ist, dass das, was geschehen ist, schlimm ist. Sehr schlimm. Eure Mitschülerin wollte nicht mehr leben. Sie hat beschlossen zu sterben. Und jetzt möchte ich, dass wir eine Übung machen. Ich gebe euch kleine Zettel, und jeder von euch schreibt auf, warum er oder sie glaubt, dass Emeline sich umgebracht hat. Anonym.«

»He, was soll das?«, begehrte Naomi auf. »Wir sind hier im Englischkurs und nicht in der Psychologiestunde!«

Loïc bemühte sich, sie kalt anzusehen, auch wenn sich sein Herz bei ihrem Anblick zusammenzog. Dieses Mädchen hatte etwas unwahrscheinlich Grausames und Eiskaltes an sich, sie wirkte unmenschlich. Außerdem hasste Loïc ihre arrogante Art. Wieder wandte er sich auf Französisch an sie.

»Ich möchte, dass ihr lernt, zu überlegen und eure Gedanken auf Englisch auszudrücken. Wenn dir diese Übung nicht passt, dann geh einfach raus. Aber ich möchte, dass meine Entscheidungen als Lehrer nicht mehr ständig infrage gestellt werden. Ab jetzt will ich dich nur mehr hören, wenn du etwas konstruktiv zum Unterricht beizutragen hast. Ansonsten bekommst du eine Verwarnung.«

Naomi verzog spöttisch den Mund. Loïc wusste, dass sie Verwarnungen nur so sammelte und ihr diese überhaupt nichts ausmachten, weil sie folgenlos blieben. Sie war Loïcs Meinung nach un enfant roi. Ein Kind, das sich wie ein tyrannischer König aufführt und von seinen Eltern auch als solcher angesehen wird. Und ihr Vater hatte die nötige Autorität und Macht, Naomi zu schützen.

Loïc teilte die Zettel aus, und die Schüler begannen zu schreiben. Nach einigen Minuten sammelte er ihre Kommentare ein.

Auf Englisch sagte er: »Ich lese jetzt vor, was geschrieben wurde, und wer will, kann etwas dazu sagen. In English.«

Der erste Zettel war leer. »In Ordnung«, meinte Loïc. »Wer den Zettel abgegeben hat, hat keine Ahnung, warum.«

Der zweite, dritte und vierte Zettel waren ebenfalls leer. Die Schüler schienen nicht kooperieren zu wollen. Loïc wurde nervös, doch er sagte ruhig: »Das ist der Tod. Er hinterlässt Leere und Sprachlosigkeit.«

Auf dem fünften Zettel stand auf Französisch: Emeline hat sich umgebracht, weil sie von ungefähr zehn Schülern dieser Schule gemobbt wurde. Sie hat es nicht mehr ertragen.

Loïc hielt inne und sah die Schüler nacheinander an. Die meisten wichen seinem Blick aus. Naomi verdrehte die Augen.

»Was sagt ihr dazu?«, fragte Loïc die Schüler.

»Mann«, ließ Naomi sich vernehmen, »als ob jemand sich umbringen würde, nur weil er manchmal aufgezogen wird.«

Ihre Freundinnen sahen Naomi mit großen Augen an, manche Schüler schüttelten den Kopf.

Loïc hatte Lust, es ihnen gleichzutun. »Nun«, begann er, »wenn man tagtäglich verspottet und gemobbt wird, dann kann das sehr belastend sein. Und ich weiß ganz genau, dass einige von euch nicht sanft mit ihren Mitschülern umgehen. Und ich frage mich, warum? Warum ist es lustig, jemanden zu verspotten und zu mobben? Was bringt das? Dass man manche nicht mag, ist klar, überall sind Leute dabei, die einem nicht so zusagen. Aber man muss sich trotzdem gegenseitig respektieren.«

Kein Schüler sagte etwas. Naomi verdrehte wieder die Augen, ihre Freundinnen blickten auf die Tischplatte. Loïc konnte genau sehen, wer schuldig und wer wie Emeline ein Opfer war. Er wusste schon seit Langem, wer von ihnen Täter, Opfer oder Mitläufer war.

»Nun, diejenigen, die Emeline tagtäglich verspottet haben, müssen das mit ihrem Gewissen ausmachen. Man kann Mitmenschen sehr wohl durch Bosheit in den Selbstmord treiben. Deshalb würde ich euch bitten, in Zukunft eure Kameraden besser zu behandeln.«

Loïc nahm den nächsten Zettel. Sie war depressiv, stand da.

»Ja, vielleicht«, meinte er. »Sie war es wahrscheinlich. Aber oft hat eine Depression einen Auslöser. Und der Auslöser könnte gut hier in der Schule liegen.«

Michael, ein großer, gut gebauter Junge, hob die Hand und sagte: »Es stimmt, wir waren nicht besonders nett zu ihr. Sie hatte super Noten, schaffte alles leicht, war ein bisschen komisch, und ich denke, viele waren neidisch. Denn wir sind viel dümmer als sie. Sie war uns haushoch überlegen.«

Michael war ein schlechter Schüler, hatte aber in Englisch ein erstaunlich gutes mündliches Niveau. Wahrscheinlich sah er sich viele Serien im Original an.

Naomi warf dem Jungen einen wütenden Blick zu. »Schleimer«, zischte sie.

Doch einige andere Jungen nickten und meinten: »Er hat recht.«

»Danke, Michael«, sagte Loïc. »Wenigstens gibst du es zu. Und bravo, du drückst dich in Englisch sehr gut aus.«

Der Junge zuckte mit den Achseln und senkte den Kopf. Loïc nahm den nächsten Zettel.

Sie war eine Nutte, die immer die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte.

»Glaubt ihr wirklich, dass jemand sich umbringt, nur um Aufmerksamkeit zu bekommen?«, fragte er, wobei er Naomi und ihre Freundinnen ansah.

»So viel zu anonym«, murmelte Mathilde.

»Sie war ein wenig psychopathisch«, erklärte Léane, »eine Künstlerin. Viele Künstler haben sich umgebracht. Van Gogh, Cézanne ...«

»Cézanne hat sich nicht umgebracht«, widersprach Loïc. »Er starb an einer Lungenentzündung. Schau im Internet nach!«

Daraufhin tippte die Hälfte der Schüler gleich auf ihren Computern herum.

Es folgten noch einige Zettel mit den Worten Emeline war depressiv, einige leere, zwei Kommentare, dass viele nicht sehr freundlich zu ihr gewesen waren, und ein Zettel, auf dem stand: Wegen dem, was am Dienstag geschehen ist.

In zittrigen Blockbuchstaben. Auf Französisch.

Loïc fragte: »Also ist am Dienstag etwas geschehen? Etwas, worüber jeder Bescheid weiß, aber worüber keiner sprechen will?«

Niemand antwortete. Loïc beugte sich vor.

»Leute, wenn irgendwas geschehen ist, das kriminell war, dann wird die Polizei das irgendwann herausfinden, egal, was ihr oder eure Eltern unternehmt. Wenn ihr etwas wisst, ist es besser, jetzt zu reden. Wenn ihr etwas Schlimmes getan habt, ist es an der Zeit zu gestehen. Wenn ihr sehr gemein wart, solltet ihr euch bei Emelines Familie entschuldigen. Denn falls sie wirklich aufgrund von etwas gestorben ist, was ihr getan habt, dann seid ihr Mörder. Und müsst damit leben.«

Totenstille. Keiner sah Loïc an, keiner bewegte sich. Nicht einmal die Clique hatte eine Entgegnung parat. Sogar Naomi blickte auf ihre Fingernägel.

Loïc steckte den Zettel ein und wandte sich zur Tafel. »Am Montag will ich einen Aufsatz. Dreihundert Wörter. Warum bringen Menschen sich um? Schreibt eure Meinung dazu. Grammatik, Ausdruck und Fehler werden benotet. Gebt euch Mühe!«

Schnell kritzelte er die Hausaufgabe an die Tafel, dann raffte er seine Sachen an sich und verließ beim Gong das Klassenzimmer. Nicht eine Sekunde länger wollte er mit diesen Jugendlichen verbringen.

Bevor er ins Büro der C.P.E. trat, fotografierte er den Zettel mit den zittrigen Blockbuchstaben. Madame Peters saß am Schreibtisch und sah auf.

»Hallo, Loïc«, seufzte sie.

Er erzählte ihr von der Übung und knallte den Zettel auf ihren Schreibtisch.

»Was ist am Dienstag geschehen?«, fragte er streng.

Sie seufzte von Neuem. »Ein blöder Streich. Einige Mädchen haben Emeline in den Umkleideraum gesperrt. Dort hat Richard sie schluchzend und zitternd gefunden.«

Loïc schüttelte den Kopf. »Das ist nicht alles. Da ist was Schlimmeres passiert. Du solltest der Sache nachgehen.«

Sie senkte die Stimme. »Loïc, ich darf nicht. Rosalie hat es mir verboten. Wir müssen die Sache auf sich beruhen lassen. Und auch du solltest nicht im Englischunterricht mit den Schülern über Emeline sprechen. Geschweige denn so eine Übung machen!«

Loïc sah sie an. »Damit bin ich nicht einverstanden. Ich glaube, wir haben es mit kriminellen Jugendlichen zu tun, die ihre Mitschülerin in den Selbstmord getrieben haben. Und ich finde, die Sache sollte untersucht werden.«

»Emelines Eltern finden das auch. Sie waren bei der Polizei, um Anzeige gegen die Schule zu erstatten. Doch wir wissen, dass nichts geschehen wird. Zwei Polizisten waren gestern da und haben kurz Fragen gestellt, dann sind sie wieder gegangen. Anscheinend haben Naomi und Arthur damit zu tun. Es wird keine Ermittlung geben.«

Loïc zeigte mit dem Finger auf sie. »Das ist unverantwortlich. Unverantwortlich und mafiös. Und das weißt du ganz genau. Ich werde sagen, was zu sagen ist.«

Sie zuckte müde mit den Schultern. »Tu, was du willst, Loïc. Wenn du deinen Job verlieren möchtest ...«

»Ich werde deshalb nicht meinen Job verlieren. Ich habe ein Gewissen. Und ich glaube, dass das Verhalten von Naomi und ihren Freundinnen bestraft werden sollte, Polizeidirektor und Oberstaatsanwalt hin oder her!«

Sie sah ihn ruhig an. »Wie gesagt, tu, was du willst. Aber wundere dich nicht, wenn du bei der Polizei auf taube Ohren stößt.«

Das Begräbnis

Es war Samstag. Nadia und Florian fuhren vom Commissariat aus der Stadt hinaus, an der Kathedrale, den ehemaligen Docks und dem Einkaufszentrum Les Terrasses du Port vorbei durch das Euromed-Stadtviertel mit seinen neuen Wolkenkratzern auf die Autobahn. Zwei riesige Kreuzfahrtschiffe ankerten an der Porte 4, dem Kreuzfahrtterminal, das im Westen Richtung L’Estaque lag. Dahinter bewegte sich eine Fähre von der Küste weg. Der Schiffsverkehr kam in Marseille niemals zum Stillstand.

»Kennst du das Lycée Saint Christophe?«, fragte Florian.

»Nein. Es ist keine besonders große Schule. Befindet sich am westlichen Stadtrand, gleich dort unten, und viele Schüler kommen aus Marignane, Martigues oder von der Côte Bleue, weil die Bus- und Zugverbindungen gut sind. Katholische Privatschule.«

»Diese Gymnasien scheinen sehr angenehm zu sein, der Direktor und die Lehrer geben sich Mühe, weil ja auch Schulgeld kassiert wird und die Schüler sich bewerben müssen, aber so ganz einwandfrei sind diese Schulen doch nicht.«

Nadia zuckte mit den Schultern. »Auch Kinder aus Familien der Mittel- oder Oberschicht können Psychopathen sein, nicht nur die aus armen Verhältnissen. Und manchmal entgleisen Situationen auch.«

Nadia hatte Florian, mit dem sie und Pierre auch privat befreundet waren, erzählt, was sie von Pierre erfahren hatte, und ihn gefragt, ob er mit ihr ganz diskret ermitteln wollte. Sie hatte ihn zudem auf die Risiken hingewiesen. Als Lieutenant würde natürlich sie dafür geradestehen, wenn sie eine Rüge von ihrem Vorgesetzten erhielten. Doch auch er konnte strafversetzt werden.

Florian war sofort dabei gewesen und hatte vorgeschlagen, sich an ihrem freien Samstag um die Sache zu kümmern. Pierre hatte erfahren, dass das Begräbnis der Schülerin an dem Tag in Carry-le-Rouet stattfand, und Nadia hatte beschlossen, mit Florian hinzugehen. Pierre hatte sie begleiten wollen, doch sie hatte ihm geraten, sich im Moment noch bedeckt zu halten.

Nadia wollte mit Emelines bester Freundin sprechen und eventuell auch mit einigen Lehrern, da sie ja nicht befugt war, die Leute in der Schule zu befragen.

Pierre hatte ihr Fotos von Emelines Lehrern geschickt, und sie besaß auch ein Klassenfoto, sodass sie wusste, an wen sie sich wenden musste. Ihre Lebensgefährtin Laura würde ebenfalls mit einem Kollegen zum Begräbnis kommen, allerdings völlig unabhängig. Laura war Journalistin bei der Zeitung La Provence und hatte ihren Chef davon überzeugt, über die Sache zu berichten. Dieser war anfangs nicht besonders angetan gewesen, denn im Moment gab es nur zwei Dinge, die die Franzosen interessierten: das Fortschreiten der Corona-Infektion in Europa und die anstehenden Kommunalwahlen, die in acht Tagen überall in Frankreich stattfinden würden. Doch dann lenkte er ein und gab ihr den erfahrenen Kollegen Daniel mit. Dieser sollte einen kurzen Artikel über die Persönlichkeit der verstorbenen Schülerin schreiben.

Laura und ihr Kollege Daniel würden beim Begräbnis diskret Leute befragen. Nadia und Florian würden sie bewusst nicht zur Kenntnis nehmen. Keiner sollte sehen, dass die beiden Paare sich kannten. Danach allerdings würden sie sich in einem Restaurant an der Küste treffen, in dem Nadia und Laura Stammgäste waren, und eine Fischsuppe essen. Florians Lebensgefährte Jérémie und der Staatsanwalt Pierre Frigeri würden ebenfalls dorthin kommen. Nadia freute sich auf die Fischsuppe und ein gutes Glas Weißwein, doch der Gedanke, beim Begräbnis Emelines Lehrer und Kameraden befragen zu müssen, stimmte sie nicht besonders glücklich.

Als Polizist bei einer Beerdigung aufzukreuzen, war immer schwierig. In Fällen von Mord und Selbstmord waren die Leute meistens traumatisiert und nahmen den Beamten ihre Anwesenheit und vor allem ihre Fragen übel. Noch dazu ermittelte Nadia in diesem Fall inoffiziell. Sie war neugierig, wie weit sie kommen würde, bis Commissaire Blachet sie aufhielt. Bisher hatte sie noch nie in einem Fall ermittelt, den ihr Vorgesetzter ihr nicht übertragen hatte.

In Carry-le-Rouet angekommen, fanden sie die Kirche auf Anhieb. Allerdings war alles voll geparkt, zu Emelines Begräbnis waren sehr viele Menschen erschienen.

Florian musste sein Auto weit entfernt von der Kirche abstellen, und sie gingen fast einen Kilometer zu Fuß. Als sie im Eilschritt beim Gotteshaus eintrafen, wurde soeben der Sarg hineingetragen. Nadia schluckte.

Sie dachte an den zarten Körper der Halbwüchsigen, der darin lag. Jugendliche begingen zuweilen Selbstmord, jedoch nicht aus heiterem Himmel. Emeline Bernier hatte entweder schon länger an Depressionen gelitten, oder es war etwas vorgefallen.

Nadia und Florian warteten eine Minute und betraten dann die volle Kirche. Laura und ihren groß gewachsenen Kollegen konnte Nadia nirgends sehen. Und auch sonst entdeckte sie niemanden, den sie von einem der Fotos kannte. Die Kirche war zu voll. Wahrscheinlich war der ganze Ort anwesend. Emeline Berniers Selbstmord war ein lokales Drama.

Der Priester begann zu sprechen. Nadia fand ihn nicht schlecht.

Anstatt wortreich von Gott, Vergebung, Sünde und dem Paradies zu schwafeln, sprach er über ein unverständliches Drama, eine unvorhergesehene Tragödie und ein unbekanntes Unrecht, das sich hinter diesem Selbstmord verbarg.

Nadia war nicht religiös, sie hatte zwar als Kind den Cathéchisme, den privaten außerschulischen Religionsunterricht besucht und auch die Erstkommunion absolviert. Danach hatte sie allerdings kaum mehr die Messe besucht, war nur manchmal zu Weihnachten in die Kirche gegangen. Ihre Mutter, die als Muslimin groß geworden war und ihrer Religion und Familie komplett den Rücken gekehrt hatte, als sie Nadias Vater kennengelernt hatte, hatte darauf bestanden, dass ihre drei Kinder als Katholiken erzogen wurden. Doch Nadia hatte die christliche Religion nie besonders interessiert.