Die Marseille-Morde - Der Tote von Port Pin - Anna-Maria Aurel - E-Book
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Die Marseille-Morde - Der Tote von Port Pin E-Book

Anna-Maria Aurel

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Beschreibung

Dunkle Schatten über der Provence

In der malerischen Küstenlandschaft bei Marseille wird an einem strahlenden Sommertag die Leiche eines jungen Mannes in einer Bucht gefunden. Schnell ist klar, dass es sich um den Journalisten Gregory Gazan handelt. Und die Freundin des Toten ist spurlos verschwunden ...

Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille ermittelt und stößt schon bald auf Spuren, die auf ein Beziehungsdrama hindeuten. Zudem hatte Gazan an gleich mehreren investigativen Artikeln gearbeitet und viel brisantes Material zusammengetragen. Brisant genug, dass jemand dafür einen Mord begeht?

Die Polizistin und ihre Kolleginnen suchen fieberhaft nach Hinweisen, die sie zum Täter, vor allem aber zu Gazans verschwundener Freundin führen. Doch je tiefer sie graben, desto ungeheuerlicher erscheint das, was den Journalisten das Leben gekostet hat - und auch für die Ermittlerinnen wird nach diesem Fall nichts mehr sein wie zuvor ...

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Mordgelüste

Die Leiche im Meer

Die PJ Marseille

Der Praktikant

Die schlimme Nachricht

Vermisst

Die Presse

Lagebesprechung

Das Verhör

La Cité

Ein konkreter Verdacht

Florian

Zur Vernehmung abgeholt

Der Anwalt

Kleinarbeit

Bio Plus

Verschiedene Spuren

Facebook

Élise – Vier Wochen vor Grégorys Tod

Eine Zeugin

Romain und Élise – Vier Wochen vor Grégorys Tod

Rettet die Calanques!

Terror in der Cité

Bauxo

Die Krise

Die Depression

Abend

Das Liebespaar – Dreieinhalb Wochen vor Grégorys Tod

Aussagen

Weitere Fragen

Die Meinungsverschiedenheit – Zwölf Tage vor Grégorys Tod

Ein Abend unter Freunden

Ein Abend, der schlimm endet – Neun Tage vor Grégorys Tod

Grégorys Familie

Die Konfrontation

Die entscheidende Information

Der Gendarme von Saint Tropez

Nicolas

Weisung von oben

Das Tattoo

Die Messerattacke

Gespräch

Der rätselhafte Retter

Élises Aufgabe

Vorbereitung

Éliane

Die Abwässer

Die Abhöraktion

Die Spionin

Ein Fehler

Klatsch und Tratsch

Die Aktion

Die Schlägertypen

Die Täter

Ende der Ermittlung

Erwachen

Am Ende des Sommers

Abschied

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

In der malerischen Küstenlandschaft bei Marseille wird an einem strahlenden Sommertag die Leiche eines jungen Mannes in einer Bucht gefunden. Schnell ist klar, dass es sich um den Journalisten Gregory Gazan handelt. Und die Freundin des Toten ist spurlos verschwunden ... Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille ermittelt und stößt schon bald auf Spuren, die auf ein Beziehungsdrama hindeuten. Zudem hatte Gazan an gleich mehreren investigativen Artikeln gearbeitet und viel brisantes Material zusammengetragen. Brisant genug, dass jemand dafür einen Mord begeht? Die Polizistin und ihre Kolleginnen suchen fieberhaft nach Hinweisen, die sie zum Täter, vor allem aber zu Gazans verschwundener Freundin führen. Doch je tiefer sie graben, desto ungeheuerlicher erscheint das, was den Journalisten das Leben gekostet hat – und auch für die Ermittlerinnen wird nach diesem Fall nichts mehr sein wie zuvor ...

Anna-Maria Aurel

Die Marseille-Morde

Der Tote von Port Pin

Mordgelüste

Julie sah in den Spiegel. Es gab nichts an ihr auszusetzen. Und trotzdem wollte Grégory sie nicht mehr sehen. Er wollte nicht mit ihr sprechen, beachtete sie nicht mehr, verhielt sich so, als hätte es Julie niemals gegeben. Wegen dieser Hippie-Braut. Sie war eine Schönheit. Sie war alternativ. Nicht reich, nicht schick, sondern bescheiden, in verschiedenen wohltätigen Vereinen und Umweltorganisationen tätig, écolo bis in die Knochen. In Julies Freundeskreis galt das alles als uncool, doch Grégory fuhr darauf ab. Von einem Tag auf den anderen war er ausgezogen, nachdem er Éliane kennengelernt hatte. Ihre fünfjährige Beziehung hatte er ganz einfach beiseitegeschoben, vergessen, verraten.

Grégory wollte nicht mehr mit ihr sprechen. Sie hatte es probiert. Hatte ihn im Büro aufgesucht, in Bars abgepasst, in denen er verkehrte, hatte ihn zur Rede stellen, ihn an ihre gemeinsame Zeit erinnern wollen. Ihre beste Freundin Camille hatte sie davon abzuhalten versucht.

»Er ist ein Schwein, und es wäre auch in Quebec so gekommen. Sei froh, dass du keine Kinder mit ihm hast! Und wenigstens in Frankreich bist, wo wir dich unterstützen können! Renn ihm nicht hinterher!«

Doch sie war ihm weiter hinterhergerannt. Sie war zutiefst verletzt, schwankte ständig zwischen unbändiger Wut auf Grégory und seine neue Liebe und abgrundtiefer Trauer über die verlorene Beziehung. Tag und Nacht sann sie nur über Grégory und Éliane nach, die Gedanken an seinen Betrug raubten ihr den Schlaf und nahmen ihr jegliche Lebensfreude.

Vor zwei Tagen, als sie ein wenig zu viel getrunken hatte, hatte sie sogar geschluchzt: »Ich bringe ihn um. Ich will, dass er von der Erdoberfläche verschwindet!«

Ihre Freunde hatten sie entsetzt angesehen, und Camille hatte gemeint: »Nein, das willst du nicht, Julie! Du willst ihm zeigen, dass du auch ohne ihn sehr glücklich werden kannst. Und dass er für dich Luft ist.«

Doch sie war von dieser unglaublichen Wut zerfressen, der Wut auf Grégory, der sie nur benutzt hatte. Der ihr Leben zerstört hatte. Die Erinnerungen mit ihm waren vergiftet, die letzten Jahre, als sie nur für ihn gelebt hatte, schienen ihr nun sinnlos.

Julie wusste, dass sie ihn liebte, wie sie noch nie jemanden geliebt hatte. Und zugleich hasste sie ihn, weil er ihre Gefühle nicht mehr erwiderte, sie einfach entsorgt hatte.

Sie hasste auch Éliane, diese Ökotussi, die ihr den Freund gestohlen hatte. Ihre Wut wurde mit jedem Tag noch größer ...

Sie nahm in der Küche ein großes scharfes Messer und fuhr mit dem Zeigefinger über dessen Spitze. Sie stellte sich vor, dass sie Grégory und Éliane die Klinge in den Leib rammte. Sofort erschrak sie über ihre Gedanken. Trotzdem legte sie das Messer nicht zurück in die Schublade, sondern steckte es in ihre Handtasche. Sie beschloss, die beiden an diesem Abend zu beobachten, um zu erfahren, was sie taten.

Sie schnappte sich ihre Handtasche, verließ die Wohnung und stieg in ihr Auto, das ganz in der Nähe stand. Sie wusste schon seit einer Weile, wo Éliane wohnte: in einem Wohnblock im Stadtteil Mazargues. Dort stellte sie das Auto vor dem Parkplatz ab, der zu dem Mietshaus gehörte und nahezu leer war. Élianes Twingo war nicht da. Doch wenn sie und Grégory heimkamen, dann würde sie die beiden sehen.

Sie hatte eine Flasche Whiskey mit, aus der sie immer wieder einen kräftigen Schluck nahm, um sich zu beruhigen und sich Mut anzutrinken. Bald spürte sie, dass ihre Gedanken durch den Alkohol leicht zu verschwimmen begannen. Auch ihre Gefühle wurden dumpfer und damit erträglicher.

Julie wusste nicht, wie sie es genau angehen würde, hatte keinen Plan. Sie wollte die beiden ein letztes Mal zur Rede stellen. Sie malte sich aus, wie Grégory und Éliane Händchen hielten, einander küssten, eng umschlungen im Bett lagen. Diese schmerzhaften Bilder, die ihr bisher jedes Mal die Tränen in die Augen getrieben hatten, riefen nun eine eiskalte Wut in ihr hervor. In diesen Minuten, vor Élianes Haus, fasste sie einen Entschluss.

Die beiden sollten sterben.

Die Leiche im Meer

Die Gruppe brach mit Gelächter und guter Laune in Cassis auf. Die Kinder kauerten vorne am Bug und blickten fasziniert ins Wasser, die Erwachsenen standen hinten bei Fred, der das Boot steuerte.

»Auf ins Abenteuer!«, rief Fred und setzte seine Kapitänsmütze auf, auf der Venezia geschrieben stand.

»Ganz schick«, bemerkte sein Freund Martin spöttisch. »Und so professionell!«

»Souvenir aus Venedig, made in China«, erwiderte Fred. »Aber so kriege ich wenigstens keinen Sonnenbrand auf dem Schädel.«

Die Kinder kicherten. »Weil er fast eine Glatze hat«, raunte Lucas seiner kleinen Schwester Suzanne zu.

Béatrice hatte ihren Sohn gehört und hob in gespielter Strenge den Zeigefinger. In der Tat war Freds Haar sehr schütter geworden. Sie alle wurden nicht jünger! Die Kinder mochten Onkel Fred, den besten Freund ihrer Eltern, und dessen Frau Simone sehr. Früher hatten sie auch gerne mit den Söhnen der beiden gespielt, diese waren aber nun erwachsen und verbrachten den Tag ohne die Eltern. Lucas, Béatrice' zehnjähriger Sohn, und Suzanne, ihre achtjährige Tochter, waren die einzigen Kinder an Bord. Außer ihnen befanden sich drei Ehepaare auf dem Boot.

Sie hatten vor, von Cassis durch den Nationalpark Calanques bis nach Marseille zu fahren und auf der Insel Ratonneau in Port du Frioul an Land zu gehen. Fred hatte gemeint, das sei kein Problem, das Boot komme sehr schnell voran und bis Port du Frioul seien sie bei ruhiger See nur etwas mehr als eine Stunde unterwegs. Sie würden auch noch Zeit haben, in die schönsten Calanques hineinzufahren und dort in Ruhe zu baden.

Vorsichtig manövrierte Fred das Schiff am Leuchtturm vorbei hinaus aufs offene Meer. Béatrice war zufrieden. Endlich hatten sie es geschafft, diesen schon so lange geplanten Ausflug zu organisieren! Nun konnte nichts mehr schiefgehen. Das Meer war ruhig, das Wetter strahlend schön, es versprach ein sehr heißer Tag zu werden.

Béatrice sah zurück auf das Städtchen, dessen verschiedenfarbige helle Fassaden den Jachthafen rahmten. Das Schloss von Cassis, heute ein luxuriöses Gästehaus, stand auf einem Felsen über dem Hafen. An den Hängen rund um den Ort erstreckten sich die Weinberge.

An der Ostseite von Cassis ragte das Cap Canaille auf, ein fast vierhundert Meter hoher, steiler Meeresfelsen mit rötlichem Gestein. An der Westseite, zu der Fred das Boot steuerte, lagen die herrlichen weißen Felsplatten der Halbinsel, die den Anfang des Calanques-Küstenstriches darstellte. Das Wasser war tiefblau und sauber.

Béatrice liebte diese Gegend. Die Küste westlich von Marseille war ebenfalls sehr schön, aber dort schloss sich in unmittelbarer Nähe das riesige Industriegebiet von Fos sur Mer an. Das Wasser war dort gewiss nicht so makellos sauber wie bei Cassis.

Béatrice wohnte mit ihrer Familie ein wenig nördlich von Avignon, im Hinterland. Dort war es in diesen Augusttagen sehr heiß, deshalb tat es gut, einen Tag am Strand zu verbringen. Obwohl sie einen schönen Garten mit Pool besaßen, fuhr Béatrice im Sommer sehr gerne ans Meer.

»Schau mal, der schöne Strand!«, rief Lucas, als sie an den weißen Felsplatten entlangfuhren. »Da will ich hin!«

Fred entgegnete: »Das sind FKK-Strände. Wenn es dir nichts ausmacht, gehen wir später hin. Aber nackt.«

Lucas sah ihn an und prustete los. »Wirklich? Die baden hier alle nackt?«

»Ja, schau doch!« Fred zeigte auf einen Mann, der bäuchlings auf einer der leeren weißen Steinplatten lag und seinen muskulösen braun gebrannten Körper vorführte. Lucas war sprachlos. Er konnte sich mit seinen zehn Jahren einfach nicht vorstellen, wie man nackt an den Strand gehen konnte. Seine kleine Schwester Suzanne kicherte vor sich hin.

»Na ja, einen knackigen Hintern hat er ja«, raunte Tina ihren beiden Freundinnen zu. Béatrice und Simone lachten.

»Wir fahren hinter der Halbinsel in die erste Calanque, Port Miou«, erklärte Fred, »die Bucht, die am weitesten ins Landesinnere reicht.«

»Warum heißen diese Felsbuchten eigentlich Calanques?«, fragte Tina.

»Cala heißt auf Provenzalisch der steile Hang«, erwiderte Fred, »und da es sich um Steilwände handelt, die senkrecht ins Meer abfallen, hat man der Gegend diesen Namen gegeben.«

»Ach so, wieder ein bisschen schlauer geworden«, meinte Tinas Mann Martin. »Und das dank Fred. Ich denke, wir könnten nun einen ersten Pastis vertragen.«

»Nein, Martin!«, protestierte Tina. »Es ist erst halb zehn! Ich habe Kaffee für euch.«

»Kaffee!«, schnaubte ihr Mann verächtlich.

Fred lenkte das Boot in die Bucht, während Tina jedem einen kleinen Pappbecher reichte und den Kaffee ausschenkte. Den Kindern gab Béatrice kleine Packungen mit Orangensaft.

»Es ist wichtig, viel zu trinken!«, schärfte sie ihnen ein. »Es wird heute sehr heiß.«

»Sag ich doch«, meinte Martin. »Ein guter Schluck Rosé oder Pastis hält uns frisch.«

Zwischen weißen Kalkfelsen, auf denen teilweise Aleppo-Kiefern wuchsen, fuhren sie tiefer in die herrliche Bucht hinein. Zu ihrer Rechten fielen die Wände der Halbinsel nun steil ab, zu ihrer Linken waren die Felsen nicht ganz so hoch. Ein Wanderweg, auf dem schon einige Leute unterwegs waren, führte oben die Bucht entlang, und immer wieder waren die Ruinen von seltsamen Gebäuden zu sehen. Das Wasser leuchtete auch hier tiefblau.

»Ganz am Ende der Calanque war früher ein Steinbruch, deshalb stehen hier noch Reste von dessen Anlage. Der Kalkstein von Cassis ist von besonders guter Qualität«, erklärte Freds Frau Simone.

»Was ihr nicht alles wisst«, meinte Béatrice' Mann Olivier kopfschüttelnd.

»Wir sind oft hier«, erwiderte Simone, »wandern oder mieten uns ein Boot.«

Am Ende der Calanque befand sich ein Jachthafen. Die Boote ankerten auf beiden Seiten der Bucht. Es handelte sich um eine wundervolle und äußerst malerische Calanque, aber sie besaß keinen Strand.

»Und wann gehen wir schwimmen?«, ließ sich Béatrice' Tochter Suzanne vernehmen.

»Bald«, erklärte Béatrice schnell, »wenn es dann wirklich heiß wird.«

»Keine Sorge, ich bringe euch in schöne Calanques, wo ihr aus dem Boot springen und an Land schwimmen könnt. Ihr habt doch Schuhe mit?«, fragte Fred.

Die Kinder nickten.

»Gut!«, meinte er. »Denn es gibt hier Seeigel, und die tun weh, wenn man draufsteigt.«

»Kann man davon sterben?«, wollte Suzanne wissen.

»Aber nein!«, entgegnete ihr Vater. »Es gibt Meere, in denen giftige Seeigel leben. Aber bei uns hier sind sie harmlos. Und noch besser: Sie schmecken sehr lecker. Der Seeigel ist eine kulinarische Spezialität.«

»Igitt!« Lucas verzog das Gesicht. Er mochte keine Fische und Meeresfrüchte.

Fred wendete das Boot und beschleunigte wieder. »So, die erste Calanque haben wir gesehen. Jetzt geht es nach Port Pin und En Vau, die zwei schönsten Buchten. Wer will, kann dort schon mal ins Wasser springen. Es ist ja bereits warm genug!«

Die Kinder frohlockten. Sie fuhren aus der Calanque hinaus aufs offene Meer, das nun ein wenig bewegter war. »Wir sind jetzt am Cap Cacau«, erklärte Fred, »hier sind meistens Wellen.«

Er steuerte das Boot einige Meter von den Felsen in die Richtung der nächsten Bucht, die sich westlich vom Kap ins Landesinnere zog. Bald war das Meer wieder ruhig und spiegelglatt.

Béatrice sah steile Felswände, auf denen Aleppo-Kiefern standen. Direkt im Gestein wurzelten die Bäume, sie schienen keine Erde zu brauchen. In der Bucht war das Meer abwechselnd dunkelblau und türkisblau, ganz hinten lag ein Strand mit hellem Sand, auf dem gerade die ersten Badegäste eintrafen.

»Schaut mal die schönen Farben, die das Wasser hat!«, sagte Béatrice zu ihren Kindern.

»Das Dunkle sind Wasserpflanzen, das Helle Sandbänke«, erklärte Fred.

»Da sind viele kleine Fische!«, rief Lucas.

»Wie tief ist das Wasser hier?«, wollte Olivier wissen.

Fred zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Vier Meter? Fünf? Wir dürfen mit dem Boot bis zu den Bojen da vorne, dort ankern wir, und dann ihr müsst reinspringen und schwimmen. Das Wasser wird da schnell sehr seicht. Und der Strand ist noch leer. Aber in einer Stunde wird er ziemlich voll sein und zu Mittag überfüllt. Und hier werden überall Boote ankern. Wir sind früh dran und können die Ruhe noch genießen!«

In diesem Moment erblickte Béatrice an der Felswand neben dem Boot eine seltsame Form, die im Meer trieb. Um den Gegenstand herum tummelten sich zahlreiche kleine Fische. Béatrice zuckte zusammen. Sie hob einen zitternden Arm und zeigte zur Felswand.

»Was ...?«, sagte nun auch Fred. »Was treibt da? Muss was Essbares sein, denn die Fische schwimmen alle dorthin.«

Er fuhr näher ran. Béatrice erstarrte. Sie sah helle Haut, Kleidung, Haare und Blut.

Tina schrie auf. »Mon Dieu! Eine Leiche ... Blut!«

»Was?«, fragte Martin entsetzt und beugte sich vor. Die Kinder, die konzentriert ins Wasser geschaut hatten, hoben erstaunt den Kopf.

»Wo?« rief Lucas aufgeregt. »Ein echter toter Mensch! Wow, cool!«

Béatrice wollte ihrem Sohn sagen, dass das absolut nicht cool, sondern erschreckend war und dass ihr Ausflug wahrscheinlich hier mit der Kripo und der Spurensicherung enden würde, aber sie brachte kein Wort hervor. Sie wankte nur zu ihrer Tochter, setzte sich zu ihr an den Bug und zog die Kleine an sich. Ihrem Mann und ihren Freunden schien es genauso zu ergehen wie ihr. Sie starrten reglos auf diesen Körper, der einige Meter von ihnen mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb.

Béatrice konnte braune Haare erkennen. Ihr schien, dass es sich um einen Mann handelte. Er hatte eine kurze dunkelblaue Hose an und ein weißes T-Shirt, das an einigen Stellen rot verfärbt war. Er war barfuß. Einige Sekunden lang sagte keiner etwas, die Szene wirkte wie eingefroren. Dann nahm Olivier sein Telefon, wählte eine Nummer, klemmte es sich ans Ohr und sagte mit zitternder Stimme:

»Wir sind in der Calanque Port Pin. Nicht weit vom kleinen Sandstrand liegt am Fuß der östlichen Wand eine Leiche im Wasser.«

Die PJ Marseille

Nadia Aubertin und Fiona Brante saßen in Nadias kleinem Büro und sahen die Aufnahmen von Überwachungskameras durch. Sie suchten offiziell noch immer nach den Mördern von Commissaire Goldstein, der zweieinhalb Monate zuvor nicht weit vom Commissariat in seinem Auto erschossen worden war. Es war eine Hinrichtung nach Art der Banlieue gewesen. Ein Kopfschuss durch die Autoscheibe früh am Morgen vor einer Ampel. Doch der Commissaire hatte selbst zwei Vorstadtgangster eliminiert, die ihm, seinem korrupten Vorgesetzten und dem ebenso korrupten Oberstaatsanwalt im Weg gewesen waren, und so sein eigenes Schicksal mehr oder weniger selbst besiegelt. Die Drogenbosse verziehen so etwas nicht. Trotz allem musste bezüglich dieses Mordes weiter ermittelt werden, und die Crim, die Abteilung für Schwerverbrechen, hatte die Ermittlung eine Woche zuvor von den Stups, der Drogenbrigade, übernommen. Es war völlig klar, dass niemand freiwillig reden würde, deshalb war jetzt Detailarbeit angesagt und wurden alle möglichen Überwachungsvideos durchforstet.

»Wir erwischen sie nicht«, seufzte Fiona. »Francks Team war schon zwei Monate dran und hat es nicht geschafft, wie sollen wir da auf einmal den Durchbruch erzielen?«

Nadia musste ihrer Freundin und Kollegin recht geben. »Zweifelsohne. Selbst wenn die Kameras irgendwas gefilmt haben – wir haben es mit professionellen Killern zu tun. Sie trugen sicher Masken und haben ein gestohlenes Auto verwendet, das sie danach verbrannt oder verschrottet haben.« Nadia seufzte. »Aber du weißt ja, dass die ganze Ermittlung politisch motiviert ist. Ein Commissaire wurde hingerichtet, und obwohl viele sagen, dass er es verdient hat, weil er selbst Menschen umgebracht hat, können wir trotzdem nicht hinnehmen, dass die Täter ungeschoren davonkommen.«

Nadias korrupter Ex-Chef, der nun für immer aus dem Polizeidienst entlassen war, hatte dem Staatsanwalt von Aix-en-Provence und der Polizeiinspektion bei seinem Verhör zu Goldsteins Tod nichts Nützliches mitgeteilt, genauso wenig wie der ehemalige Staatsanwalt und der Leiter der PJ Marseille, die ihr korruptes und kriminelles Verhalten ebenfalls nicht zugeben wollten und auf stur schalteten.

»Ich hätte gerne wieder einen richtigen Fall mit einem unschuldigen Opfer«, seufzte Fiona. »Wenn möglich, außerhalb der Vorstädte.«

»Das kommt sicher bald, und dann gibt es plötzlich Stress«, beschwichtigte Nadia sie. »Sei froh, dass im Moment alles so dahinplätschert und dass du abends nach der Arbeit an den Strand gehen kannst.«

Fiona lebte seit einigen Wochen mit Pierre Frigeri, dem Procureur, zusammen, den sie bei ihrer gemeinsamen Ermittlung gegen ihre und seine Vorgesetzten kennengelernt hatte. Die beiden waren sehr verliebt und verbrachten ihre Freizeit hauptsächlich am von ihrer Wohnung nur fünf Minuten entfernten Strand, beim Sport oder in irgendwelchen romantischen Restaurants am Meer. Doch Pierre war im Juni zum Procureur de la République, zum Oberstaatsanwalt Marseilles, befördert worden, und seine Freizeit war nun knapp bemessen. Fiona verbrachte auch viel Zeit mit Nadia und deren Lebensgefährtin Laura sowie mit Florian, einem weiteren Freund und Kollegen aus Nadias Team, und dessen Lebensgefährten Jérémie. Bis vor Kurzem hatte sie auch zwei gute Freundinnen in Marseille gehabt, die aus den Südalpen stammten. Rosie und Sandy waren Fionas ehemalige Nachbarinnen in dem Wohnheim gewesen, in dem sie drei Monate lang gelebt hatte. Beide waren Krankenschwestern, die während der Coronapandemie nach Marseille gekommen waren, um dort im IHU, der Universitätsklinik, zu helfen. Vor einer Weile waren sie jedoch wieder in die Südalpen zurückgekehrt.

Fiona langweilte sich in Marseille keineswegs. Nadia selbst fand es seit Ende Juni ziemlich ruhig, sie war daran gewöhnt, mehr Arbeit zu haben, und wartete insgeheim wieder auf eine richtige Ermittlung.

Mathieu Dubois erschien an der Tür. Ihr ehemaliger Kollege und Freund ließ sich zum Commissaire weiterbilden, besuchte die Polizeischule in Lyon und hatte es geschafft, sein sechswöchiges Praktikum in seinem ehemaligen Commissariat in Marseille absolvieren zu können, wo er seit Mitte Juli Nadias einstweiligem Vorgesetzten Luc Garnier zur Seite stand. Luc war ein Capitaine, ein Ermittler mit vielen Dienstjahren, und hatte nach der Verhaftung Commissaire Blachets die Aufgabe erhalten, vorübergehend die Crim zu leiten.

Das Vorübergehend hätte nur wenige Wochen dauern sollen, doch nun hatte man beschlossen, dass die neue Commissaire erst im Herbst ihren Dienst antreten sollte. Und Mathieu stand Luc als Praktikant bei. Nun, Nadia sollte es recht sein, so kam sie in den Genuss, wie früher mit Mathieu zusammenzuarbeiten. Nur hatten sie beide jetzt einen höheren Dienstgrad dazubekommen, Mathieu leitete eine gesamte Abteilung und Nadia ein Ermittlungsteam. Im Augenblick war Luc nach Korsika in Urlaub gefahren und Mathieu allein für die Crim zuständig.

Nadias Meinung nach war das kein Problem für ihn, er hatte die nötigen Kompetenzen, um die Situation zu meistern. Er war nun vierunddreißig, hatte fast zehn Jahre Erfahrung als Ermittlungsleiter, doch seine besondere Begabung zeigte sich beim Befragen von Zeugen und beim Managen von Mitarbeitern. Außerdem besaß er ein sympathisches Äußeres. Er war schlank, muskulös und durchtrainiert wie die meisten Polizisten der PJ, sein Gesicht wirkte jedoch nicht wie so häufig bei sportlichen Menschen hart, sondern weich und offen. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass Mathieu meistens lächelte.

Er legte eine Akte auf Nadias Schreibtisch. Fiona wollte hinausgehen, um Nadia ungestört mit ihrem Vorgesetzten sprechen zu lassen und an ihrem eigenen Schreibtisch im Open Space mit den Kameras weiterzumachen, doch Mathieu forderte sie auf zu bleiben.

»Wir haben den Besitzer einer Tabaktrafik, der im Dorf Le Pradet vor Hyères umgebracht wurde«, begann er. »Der Mord wurde als Selbstmord kaschiert. Ich hätte gerne, dass ihr die Sache übernehmt.«

»Okay!« Nadia sah Fiona flüchtig an. Deren Wunsch nach einem unschuldigen Opfer außerhalb der Banlieues schien sich zu erfüllen. Mathieu öffnete die Akte und erklärte Nadia und Fiona die Fotos vom Tatort.

»Der Mann wurde gestern früh von einem Kunden in seinem Laden gefunden. Mit einem Kopfschuss. Die Pistole lag neben ihm. Aber gewisse Dinge waren nicht stimmig. Wie es scheint, ist er durch Fremdeinwirkung gestorben. Fremde DNA-Spuren auf der Pistole und auf seinem Körper, die Mörder sind wohl relativ dilettantisch vorgegangen. Außerdem hätte er sich nie umgebracht, seine Frau ist schwanger, und er war seinem Umfeld nach sehr glücklich.«

»Tragisch. Aber ein interessanter Fall«, meinte Nadia. »Ohne Vorstädte und Drogen.«

»Na ja«, zweifelte Mathieu, »wahrscheinlich ist eine Art mafiöse Organisation darin verwickelt. Auch nicht angenehmer als die Banlieues!«

»Ja, aber zumindest dürfen wir auf dem Land ermitteln«, grinste Nadia. »Und was geschieht mit der Goldstein-Sache?«

Mathieu schnaubte. »Wahrscheinlich nichts. Wir werden sie vorläufig ruhen lassen. Wir haben keine Spuren und durch die Urlaubszeit viel zu wenig Personal. Ihr seid heute nur zu zweit! Philippe ist nicht da, bei ihm sind nur drei im Büro, Michel hat auch nur zwei Personen, und Lucs Team ist mit der Drogenbrigade unterwegs.«

»Morgen kommen Florian und Carole wieder«, versicherte Nadia Mathieu. »Florian hat diese Untersuchung im Krankenhaus, Carole hatte Zahnschmerzen und wird vielleicht schon am Nachmittag wieder hier sein.«

Mathieu sah Nadia besorgt an. »Ich hoffe, bei Florian ist es nichts Ernstes.«

Nadia spürte ebenfalls einen Stich der Sorge. Ihr Freund und Kollege Florian fühlte sich seit einigen Wochen nicht wohl. Er hatte häufig Schwindelanfälle, Kopfschmerzen, und ihm war oft schlecht. Aufgrund von Corona hatte er einige Wochen warten müssen, aber nun, kurz nach seinem Urlaub, hatte er einen Termin für eine Computertomografie bekommen. Die beiden anderen Agents de Police Judiciaire Stéphane und Kenny waren in Urlaub und würden erst in zwei Wochen später zurückkehren. Auch ein neuer Agent namens Jacques, der an die fünfzehn Jahre älter als Nadia war und aus Paris kam, würde Ende August zum Team stoßen. Somit würde sie ab September nach Luc das größte Team der Crim leiten.

Mathieus Mobiltelefon läutete. Er hob ab und sah Nadia mit großen runden Augen an.

»Ach?«, hörte sie ihn fragen. »In Port Pin? Und wie sollen wir da hinkommen?«

Die Person am anderen Ende schien etwas zu erklären.

»Am Mucem? In Ordnung!«

Er legte hektisch auf und sah Fiona und Nadia an. »Das war Pierre. Wir haben eine neue Ermittlung. Die Leiche eines jungen Mannes wurde vor einer Stunde in der Calanque Port Pin im Meer entdeckt. Ihr kommt beide mit. Wir gehen sofort zum Mucem, wo ein Boot der Gendarmerie Maritime uns abholt und nach Port Pin bringt!«

»Oh!« Nadia sah Mathieu erstaunt an. »Und der Besitzer der Tabaktrafik in Le Pradet?«

Mathieu überlegte einen Moment lang. »Den bekommt Michel. Pierre will euch diese Ermittlung in Port Pin übertragen. Er weiß, wie sehr ihr die Calanques liebt.«

Fiona konnte ihre Freude über den Ausflug in den Nationalpark nur schwer verbergen. Außerdem war Pierre dort. Nadia freute sich einerseits über die unverhoffte Bootsfahrt in die Calanques, andererseits kannte sie die Zustände dort im Sommer. Sie würden bei großer Hitze unterwegs sein, und die Arbeit in der Bucht mit den vielen Badegästen und den unzähligen Booten würde sicher nicht einfach werden. Allerdings hatten die Gendarmes von Cassis gewiss alles abgesperrt und hielten die Badegäste auf Abstand.

Es war nun elf Uhr und bereits brütend heiß, als Nadia, Fiona und Mathieu die große Esplanade vor der riesigen romanisch-byzantinischen Kathedrale von Marseille überquerten, um sich zum J4 zu begeben, wo das Polizeiboot sie am Anleger erwartete.

Der J4 war sieben Jahre zuvor direkt am Meer geschaffen worden. Als Marseille europäische Kulturhauptstadt gewesen war, hatte man dort zwei spektakuläre Gebäude erbaut, das Mucem, das neue Völkerkundemuseum mit seiner ziselierten Umhüllung aus schwarzem Spezialbeton, und die Villa Méditerranée, die sich durch ihre besondere Statik auszeichnete. Hinter dem Mucem stand in der Richtung des Alten Hafens das alte Fort Saint Jean, eine Festung aus dem siebzehnten Jahrhundert, die man durch Betonstege mit dem Dach des Museums und dem Altstadtviertel Panier, das zwischen dem Hafen und der Kathedrale lag, verbunden hatte.

Vor dem Mucem herrschte geschäftiges Treiben, viele Touristen waren trotz der Hitze unterwegs, davor parkten etliche Reisebusse. Trotz Corona war Hochsaison. Es befanden sich in diesem Sommer weniger ausländische Besucher in Marseille, aber die Franzosen aus dem Norden reisten im Juli und im August sehr gerne nach Südfrankreich.

Die drei Polizisten überquerten die Esplanade des Mucem mit schnellem Schritt und begaben sich hinter das Museum, wo sie Blick aufs Meer hatten. Es war in der Tat ein strahlender Sommertag. Die Frioul-Inseln leuchteten ihnen weiß entgegen, und unzählige Schiffe verließen die Bucht des Alten Hafens, um auf das offene Meer hinauszufahren.

Nadia war froh, ihre Sonnenbrille aufzuhaben, denn das Licht schien ihr sehr aggressiv. Beim Boot angekommen, sahen sie, dass vier Männer drinsaßen und sich unterhielten. Zwei junge Gendarmes, ein junger Mann in Zivil und ein alter Mann mit einer Schildkappe, auf der Côtes de Provence geschrieben stand, begrüßten die drei Polizisten. Das Gesicht des Alten kam Nadia bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen.

Er sah Mathieu und Fiona erfreut an.

»Ach, Monsieur le Capitaine, nett, wieder einmal mit Ihnen arbeiten zu dürfen. Und mit zwei hübschen Damen. Mit der jungen Dame hier habe ich schon das letzte Mal zu tun gehabt, als eine Leiche aus dem Meer gefischt wurde, im Mai war das. War damals frischer als heute, nicht, Mademoiselle?«

Fiona verzog den Mund. Wie Nadia mochte sie es nicht, mit dem altmodischen und inzwischen verpönten Mademoiselle – Fräulein – angesprochen zu werden.

»Bonjour, Docteur Fernandez, bonjour, Messieurs«, erwiderte Mathieu, »Sie sind wahrscheinlich nicht auf dem Laufenden, aber ich bin kein Capitaine mehr. Ich bin gerade in der Weiterbildung zum Commissaire und absolviere hier mein Praktikum. Und die beiden Damen hier sind Lieutenant Aubertin und Agent Brante.«

»Oh, gratuliere! Und Sie haben das große Glück, mit zwei so hübschen Damen unterwegs zu sein. Bisher war ja die PJ sehr männlich, aber nun ist sogar die Chefin eine Frau! «

Der Alte bedachte Fiona mit einem bewundernden Blick. Fiona war mit ihrer guten Figur, ihrem ebenmäßigen, von braunen Locken umrahmten Gesicht und ihren großen graugrünen Augen eine der hübschesten jungen Frauen, die Nadia kannte. Sie wurde ständig von irgendwelchen Kollegen angebaggert. Doch nun wussten alle, dass sie mit dem Procureur liiert war, und sie wurde im Commissariat in Ruhe gelassen.

Nadia erinnerte sich wieder an den alten Herrn: Louis Fernandez, einer der erfahrensten Rechtsmediziner der Region, war nun beinahe siebzig, lehnte es jedoch ab, in Pension zu gehen.

Mathieu grinste. »Schön, wieder einmal mit Ihnen zu arbeiten, Louis. Sie haben mir gefehlt. Wie geht es Ihnen?«

»Entschuldigung, können wir fahren?«, unterbrach einer der jungen Gendarmes das Gespräch.

Mathieu nickte. »Bitte, fahren Sie!«

Das Boot legte ab und nahm dann Fahrt auf. Nadia hörte ein paar Gesprächsfetzen. Der alte Rechtsmediziner erklärte Mathieu, dass es ihm gut ging, dass ihm diese Corona-Situation jedoch Probleme bereitete.

»Meine Tochter und meine geschiedene Frau wollen, dass ich nicht mehr arbeite, weil ich mit meinem Alter zur Risikogruppe gehöre. Sie beide sind Schwarzmalerinnen und prophezeien im kommenden Jahr eine schlimme zweite und dritte Welle der Pandemie mit weiteren Lockdowns und wieder tausenden Toten. Ich selbst sterbe lieber an Corona als an Langeweile. Ich habe zwar ein Boot, viele pensionierte Freunde und meine Ex-Frau, die ich regelmäßig treffe, aber meine Leidenschaft sind die Leichen! Ohne Leichen ist mein Leben nicht lebenswert!«

Nadia sah Fiona an und unterdrückte das Lachen. Vielleicht würde sie selbst in dreißig Jahren, wenn sie in Pension gehen musste, auch so reden.

Das Boot flitzte über das Wasser, und Nadia genoss den Fahrtwind, der ihnen etwas Abkühlung verschaffte, und den schönen Blick auf die Stadt. Auf dem höchsten Punkt erhob sich die Basilika Notre Dame de la Garde, eine prächtige neobyzantinische Marienkirche, die im neunzehnten Jahrhundert auf einer ehemaligen Befestigungsanlage errichtet worden war. Die vergoldete Muttergottes mit Kind, die auf dem Turm der Basilika thronte, glänzte im Sonnenlicht.

Die Stadt wirkte vom Meer aus sehr dicht bebaut. Auf der anderen Seite waren die Frioul-Inseln zu sehen. Auf Ratonneau befand sich der kleine Hafen Port du Frioul, auf dem ein vor allem im Sommer bewohntes Feriendorf stand. Ratonneau und die Nachbarinsel Pomègues boten schöne kleine Buchten, in denen die Wanderer gerne badeten oder wo Bootsbesitzer ankerten, um dort den Tag zu verbringen.

Die bekannteste Insel war jedoch die kleinste, If, auf dem die berühmte Festung aus dem sechzehnten Jahrhundert stand, die durch den Roman Der Graf von Monte Cristo von Alexandre Dumas zum bekanntesten Gefängnis von Frankreich geworden war und heute als Museum genützt wurde.

Neben Nadia lächelte Fiona glücklich. Die Kollegin war erst vor vier Monaten von Lille nach Marseille gekommen, sie liebte das Meer und die südfranzösische Küste. Mathieu und der Rechtsmediziner unterhielten sich schreiend, der junge Mann, der neben Fernandez saß und anscheinend sein Assistent war, erschien seltsam blass und sah nicht glücklich aus. Vielleicht war ihm von der schnellen Fahrt mit dem Motorboot übel. Die beiden jungen Gendarmes standen am Steuer und sahen konzentriert aufs Wasser.

Die städtische Landschaft zog vorüber. Die Prado-Strände, die Pointe Rouge, Montredon, wo Nadia wohnte. Bald waren sie am südlichsten Punkt der Stadt angelangt, dort, wo der Nationalpark begann. Nach dem Hafen Les Goudes ging es zwischen dem Cap Croisette und der Insel Maire am winzigen Hafen Callelongue vorbei.

Fiona deutete auf die kleine Bucht. »Deshalb kenne ich Fernandez. Weil Luc und ich damals hierhergerufen wurden, als der tote Drogenboss im Meer entdeckt wurde. Und Luc hat Fernandez kommen lassen!«

»Du scheinst ihm zu gefallen«, grinste Nadia, »er ist zwar alt, hat aber für schöne Frauen immer noch ein Auge.«

Nun fuhren sie die Felsküste des Nationalparks entlang.

Mathieu ließ sich von dem sehr gesprächigen Mediziner schreiend vollquatschen. Dessen Assistent war mittlerweile fast grün im Gesicht. Es waren viele Boote unterwegs, doch das Polizeiboot flitzte mit Blaulicht dahin, und die meisten machten ihm sofort Platz. Nadia sah die Calanque von Sormiou, dann die hübschen Calanques Morgiou und Sugiton. In Kürze würden sie in Port Pin ankommen.

Tatsächlich hatte die Gendarmerie Maritime die Bucht bereits abgesperrt. Wie immer, wenn in Südfrankreich eine Freizeitattraktion vorübergehend geschlossen wurde, gab es genügend Leute, die maulten und schimpften. Doch die Boote konnten in die benachbarte Calanque En Vau fahren, die gleich neben Port Pin lag und mit ihren Steilwänden die spektakulärste Felsbucht von allen war.

Auf dem Wanderweg, der von Port Miou nach Port Pin führte, war es sicher noch schlimmer, denn den Leuten wurde an diesem Tag der kleine Strand von Port Pin verwehrt, und die Wanderung zur nächsten Badegelegenheit war beschwerlich.

Nadia sah von Weitem, dass mehrere Gendarmes die Wanderer daran hinderten, an den Strand zu gehen, wo die Leiche lag, und die Spurensicherung alles absuchte. Dabei glaubte Nadia nicht, dass der Tote vom Ufer aus ins Wasser geworfen worden war, sondern viel eher, dass jemand ihn mit dem Boot auf hoher See entsorgt und dass die Strömung ihn an die Küste getrieben hatte.

Das Polizeiboot legte neben einem Felsen an, die Gendarmes bedeuteten den Polizisten und den Rechtsmedizinern, an Land zu springen und über die Felsen zum Strand zu klettern. Die jungen Polizistinnen und der medizinische Assistent hatten keine Probleme, doch Fernandez musste von Mathieu und einem Gendarme aus dem Boot gehievt werden, wobei alle drei beinahe ins Wasser gefallen wären.

»Ach, das ist nichts für mich«, ächzte der alte Mann. »Ein wenig zu sportlich, das Ganze. Aber das hat absolut nichts mit meinem Alter zu tun. Seid froh, dass ich da bin, und nicht Gravier oder Mellot!«

Gravier war ein noch ziemlich junger, aber stark übergewichtiger Rechtsmediziner, Mellot eine fünfzigjährige Frau, die immer in Stöckelschuhen und Kostüm arbeitete und völlig unsportlich war.

Der Assistent des Rechtsmediziners sprang über die Steine hinter eine Kiefer und übergab sich. Nadia und Fiona grinsten einander zu, Fernandez meinte entschuldigend: »Der Jüngling kommt aus den Alpen. Chamonix am Mont Blanc. Dort gibt es keine Boote und kein Meer.«

Nadia stieg allen voran über die Steine auf den Strand zu, auf dem sich nur die Techniker und einige Polizisten befanden. Der Tote lag am Boden, und die Gendarmes traten zur Seite, als die Kriminalpolizisten und der Rechtsmediziner ankamen. Nadia musste schlucken.

Es handelte sich um einen jungen Mann um die dreißig. Sein gutaussehendes Gesicht war bläulich-weiß, die blauen Augen blickten ausdruckslos ins Leere. Die kurzen dunkelbraunen Haare wirkten feucht. Sein weißes T-Shirt war vollkommen rot, es war offensichtlich, dass er erstochen worden war. Jemand hatte ihm mehrere Messerstiche zugefügt und ihn dann ins Meer geworfen.

Der Praktikant

Mathieu wurde schlecht, wie jedes Mal, wenn er eine Leiche sah. Trotz seiner langjährigen Karriere als Lieutenant und dann Capitaine de Police konnte er den Anblick von Toten noch immer nicht ertragen; eine Tatsache, die er vor seinen Kolleginnen und Kollegen, die ihm ziemlich abgebrüht erschienen, zu verbergen suchte.

Und diesmal war da noch dazu jede Menge Blut. Das T-Shirt des Opfers war durchtränkt damit, und man konnte sehen, dass der Täter dreimal zugestochen hatte. Mathieu musste sich abwenden, sonst hätte er sich wie der junge Arzt einige Minuten zuvor vor all seinen Kollegen übergeben. Was bei seinem Status als Commissaire im Praktikum fatal gewesen wäre. Zum Glück kam gerade sein Freund, der Staatsanwalt Frigeri, mit seinem Telefon hinter den Bäumen hervor, und Mathieu stürzte sich sofort auf ihn.

»Hallo, Pierre!«

»Hallo, Mathieu! Mon Dieu, was für ein Auflauf! Die Gendarmes hatten Mühe, die Leute von hier wegzukriegen. Kein Wunder, bei dieser Hitze will natürlich keiner zurück zur Halbinsel von Cassis oder weiter bis nach En Vau wandern. Aber es geht leider nicht anders.«

»Weiß man schon, wer der Mann ist?«

»Tja, allerdings. Er hatte einen Presseausweis in seiner Hosentasche. Grégory Gazan. Ein Journalist der Marseillaise. Erst seit vier Monaten hier, stammt aus Quebec.«

»Merde! Glaubst du, dass es etwas mit seiner Arbeit zu tun hat?«

Pierre zuckte mit den Schultern. »Könnte sein. Allerdings arbeitet er für die lokale Zeitung, nicht für Charlie Hebdo oder Le Canard Enchainé. Ich wüsste nicht, wessen Stolz die Marseillaise verletzt haben könnte. Nadia soll die Ermittlung übernehmen, was meinst du?«

»Klar. Luc ist nicht da, und Nadia ist diejenige, die am besten mit dem Medienansturm fertigwird, den dieser Fall auslöst.«

Pierre verzog das Gesicht. »Wirklich schwierig, ein Mord ausgerechnet hier mitten in den Calanques im Hochsommer.«

Mathieu musste seinem Freund recht geben. Es war im Sommer nicht einfach, im Nationalpark zu ermitteln. Gemeinsam traten sie zu den anderen. Pierre begrüßte Nadia und Fiona mit einem Kopfnicken und einem verhaltenen Lächeln, dann winkte er dem Rechtsmediziner und dessen Assistenten zu.

»Ach, bonjour, Monsieur le Procureur«, sagte Fernandez, »Sie waren ja schon vor uns da.«

»Allerdings. Die Gendarmerie von Cassis hat mich angerufen, als ich gerade in Aix-en-Provence war. Ich bin sofort hergefahren und habe mein Auto am Hafen von Cassis stehengelassen, wo die Gendarmes mich abgeholt haben. Sie sind wohl von Marseille gekommen?«

»Ja. Im Schnellboot. Mit den jungen Leuten. Nicht so einfach für einen alten Mann. Aber nette Gesellschaft. Hübsche Frauen.« Der alte Mann lächelte Fiona zu, die ihn ignorierte. Pierre verzog spöttisch den Mund.

»Na, schauen wir mal, was dem jungen Mann fehlt!«

Schon kniete der Arzt im Sand und beugte sich über den Toten. Louis Fernandez hatte einen deftigen, makabren Humor, der Tod machte ihm keine Angst. Wenn keine Angehörigen der Toten, seiner Kunden, wie er sie nannte, anwesend waren, dann riss er makabre Witze, die Mathieu anfangs ziemlich schockiert hatten. Doch Louis Fernandez war unbestritten der beste Rechtsmediziner der Gegend, seine Diagnose war unfehlbar, und er gab den Polizisten auch die klarsten Erläuterungen.

Der Mediziner wechselte ein paar Worte mit dem Verantwortlichen der Spurensicherung, den Mathieu von früher kannte, und schnitt dann das T-Shirt des toten jungen Mannes auf. Nadia und Fiona sahen interessiert zu, Mathieu selbst musste sich wieder abwenden.

»Drei Stiche. Einer in den Magen, einer in die Lunge und einer in den Unterbauch. Der Junge ist wahrscheinlich innerhalb weniger Sekunden innerlich verblutet. Der Täter war wohl ziemlich wütend auf ihn«, murmelte Fernandez.

Er begutachtete Finger und Zehen. »Meiner Meinung nach ist es heute Nacht geschehen«, sagte er. »Er lag erst einige Stunden im Wasser. Aber die Laboranalysen werden uns Genaueres mitteilen.«

Er gab seinem Assistenten einige Erklärungen, bei denen Mathieu wieder übel wurde, und sprach sich mit den Männern und Frauen der Spurensicherung ab, während Pierre Mathieu, Nadia und Fiona den bisherigen Stand der Ermittlung mitteilte. Die Leute, die die Leiche entdeckt hatten, saßen weiter vorne auf den Felsen hinter einem großen Stein und machten ein Picknick. Ihr Boot war außer denen der Polizei das einzige, das an diesem Morgen in der Bucht ankern durfte. Mathieu schickte Nadia und Fiona zur Befragung zu ihnen. Da klopfte Pierre ihm auf die Schulter.

»Du hast wie immer Glück, Mathieu. Darfst jetzt ganz allein schalten und walten. Und gleich zwei neue Mordfälle für deine Abteilung!«

Mathieu nickte düster. »Wie es scheint, ist das Leben hier in der Gegend für dreißigjährige Männer gefährlich. Es ist tragisch, wenn so junge Leute sterben. Und der mit der Tabaktrafik hatte obendrein eine schwangere Frau. Ich werde Michel darauf ansetzen. Und Nadia wie gesagt diesen Fall hier übergeben.«

»Damit bin ich einverstanden«, meinte Pierre. »Den Fall mit der Tabaktrafik wird bei uns Caroline, meine neue Substitut, bearbeiten.«

Mathieu nickte.

Nadia und Fiona blieben mit der Spurensicherung und den Gendarmes vor Ort, während Mathieu und Pierre bald in Begleitung des Rechtsmediziners und dessen Assistenten mit einem Boot nach Cassis aufbrachen. Es war das erste Mal, seit Mathieu Louis Fernandez kannte, dass dieser ihm alt und müde vorkam. Doch das wunderte Mathieu nicht, es war brütend heiß, auch er selbst litt unter der Hitze. Bisher hatte er Fernandez stets nur in der klimatisierten Leichenhalle angetroffen.

»Wir machen uns gleich an die Leiche«, meinte Fernandez, »und schicken euch dann den Bericht. Aber viel Neues wird es wohl nicht geben.«

»Die Ermittlungsleiterin ist Madame Aubertin. Die junge Frau mit den kurzen dunklen Haaren«, erklärte Mathieu. »Sie ist sehr kompetent und hat ein gutes Team. Und wenn ich in drei Wochen wieder zurück an die Polizeischule gehe, dann kommt eine neue Kommissarin.«

»Bin auf dem Laufenden«, kicherte Fernandez. »Die Frauen haben nun auch bei der PJ Marseille die Macht ergriffen. Ja, die Gesellschaft hat sich sehr verändert! Meine Arbeit ist das Einzige, was gleichbleibt. Technisch gesehen. Die Leichenverwesung, die chemischen Prozesse im Körper, die Wunden, das ändert sich nicht. Nur haben wir seit einigen Jahren erschreckend viele junge Opfer. Meistens Männer.«

Mathieu nickte. In Marseille forderten vor allem die Banlieues mit ihren Bandenkriegen einen hohen Tribut.

Pierre ließ Fernandez samt seinem Assistenten nach der halbstündigen Fahrt am Mucem aussteigen, wo deren Auto stand. Dann fuhr er mit Mathieu zum Commissariat. Dort warteten bereits Journalisten und stürzten sich sofort auf ihren Wagen, sobald sie Pierre erkannten. Er ließ sein Fenster einen Spaltbreit herunter.

»Wir werden heute Abend eine Pressekonferenz geben«, erklärte er. Die Journalisten murrten. Doch Pierre schloss das Fenster und lenkte den Wagen auf den Parkplatz des Commissariats. Hinter ihnen schloss sich die Schranke.

Mathieu war klar, dass die Tatsache, dass es sich um einen Journalisten handelte, viel Aufsehen erregen würde. Nadia und ihr durch die Urlaubszeit verkleinertes Team hatten nun alle Hände voll zu tun. Mathieu würde ihnen helfen, wo er konnte, aber es war nicht mehr seine Aufgabe, vor Ort zu ermitteln. Er musste sich ebenfalls um Michel und Philippe, die beiden anderen Teamleiter, kümmern und die Zusammenarbeit mit den Stups organisieren, die eine Woche zuvor angefangen hatten, gemeinsam mit Luc gegen ein riesiges Kokain-Netzwerk vorzugehen.

Mathieus Vorgesetzte, die Commissaire Divisionnaire Pontier, wartete bereits auf Pierre und Mathieu. Sie war eine kleine Frau um die fünfzig, mit halblangen, dichten blonden Haaren und einem verschmitzten, spitzen Gesicht. Sie war ein richtiges Energiebündel und wirkte äußerst kompetent. Mathieu mochte sie weitaus lieber als den früheren Leiter der PJ, den Commissaire Divisionnaire Manson, den er kaum einmal zu Gesicht bekommen hatte. Diese Frau war viel zugänglicher.

»Monsieur Dubois«, sagte Madame Pontier zu ihm, »ich weiß, dass Sie noch Praktikant sind. Aber Sie kennen das Commissariat und die Stadt in- und auswendig. Deshalb stehen Sie nun offiziell während des Urlaubs von Capitaine Garnier der Abteilung für Schwerverbrechen vor. Natürlich mit meiner Hilfe und Beratung, aber ich lasse Sie Ihre Entscheidungen selbstständig treffen. Die beiden neuen Mordfälle werden Ihnen zugeteilt. Und ich möchte Sie auch bitten, mit den Stups die Ermittlung zum Kokainhandel weiterhin zu koordinieren.«

Die schlimme Nachricht

Julies Kopf dröhnte, und sie war noch immer sehr müde nach der vergangenen Nacht. Sie saß im Zug nach Nizza, wo sie einen Geschäftstermin hatte. Trotz der Müdigkeit versuchte sie auf ihrem Laptop zu arbeiten. Es hatte alles keinen Sinn. Nichts in ihrem Leben hatte mehr einen Sinn. Julie fühlte sich wie in einem Albtraum. Dieser Traumjob, für den sie nach Frankreich gekommen war, war in einen Albtraum umgeschlagen. Die gesamte Wirtschaft steckte in einer Krise, die internationalen Lieferketten funktionierten nicht, wie sie sollten, und Julie fühlte sich ihren neuen Aufgaben nicht gewachsen.

Der Überseehandel lief durch die Pandemie und die daraus resultierenden Probleme nur noch in engen Grenzen. Julies Verkaufszahlen waren sehr schlecht und die gesamte Situation nicht motivierend. Es hatte sich nichts so entwickelt, wie Julie es sich gewünscht hätte, und ihr Privatleben war noch schlimmer verlaufen als ihre Karriere.

Nun war sie allein, ohne Grégory. Es war vorbei, sie gestand es sich endlich ein. Die letzte Nacht hatte ihr geholfen, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie würde jetzt in die Zukunft blicken können. Aber in welche Zukunft? Sie hatte keinen Lebensgefährten mehr, würde wahrscheinlich ihren Job verlieren, und ihre Freunde hielten sie für eine Verrückte. Was kein Wunder war, bei den Szenen, die sie in aller Öffentlichkeit gemacht hatte. Sicher wollte keiner mehr mit ihr einen Abend verbringen.

Außerdem war sie drauf und dran, zur Alkoholikerin zu werden. Seit einem Monat trank sie nun jeden Abend und erwischte, sobald sie ihre Wohnung verließ, jedes Mal zu viel. So wie am Vorabend. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was geschehen war, ob überhaupt etwas geschehen war. Sie hatte einen richtigen Blackout gehabt. Als sie am frühen Morgen in ihrem Auto wieder zu sich gekommen war, hatte ihr Messer gefehlt. Da war sie in Panik verfallen. Was hatte sie gemacht? Hatte sie mit dem Messer etwas angestellt? Außerdem hatte ihr Auto an einem ihr gänzlich unbekannten Ort gestanden. Zwar in Marseille, in der Nähe von Élianes Wohnblock, aber in einer Straße, die sie nicht kannte.

Julie war kurz davor, vor ihrem Bildschirm einzunicken, als ihr Telefon läutete. Es war Camille. Schnell stand Julie auf und verließ den Wagon, um offen reden zu können.

»Julie, was hast du gemacht?«, rief Camille hysterisch ins Telefon. »Was ist gestern Abend passiert?«

»Ni... nichts, warum?«, stotterte Julie. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung, das spürte sie.

»Aber Grégory. Julie, hast du ihm wieder nachgestellt? Was hast du ihm angetan?« Camilles Stimme überschlug sich beinahe.

»Ni... nichts. Ich habe ihn nicht einmal gesehen. Warum, Camille?«

»Weißt du es nicht? Es ist schon überall in den sozialen Medien. Grégorys Leiche.«

»Grégorys Leiche?« Julie erstarrte. Was sollte das bloß? War Camille verrückt geworden? Oder hatte sie durch das Rattern des Zuges ihre Freundin falsch verstanden?

»Heute Morgen wurde Grégorys Leiche in der Calanque Port Pin gefunden. Er trieb im Wasser und war voller Blut. Drei Messerstiche.«

»Messerstiche?« Das Blut gefror Julie in den Adern. Grégory war tot. Er war erstochen worden. Nachdem sie ihren Freunden gesagt hatte, sie werde ihn umbringen. Und ihr Messer war weg. Sie wusste nicht, was geschehen war, nachdem sie vor Élianes Haus in ihrem Auto diese Flasche Whiskey geleert hatte. Sie konnte sich nur mehr bruchstückhaft erinnern.

Sah sich mit dem Messer zum Auto gehen. Sah sich lenken, sah einen Baum, ein Auto, eine Mülltonne, den Parkplatz vor Élianes Haus, die Whiskeyflasche ... aber weder Grégory noch Éliane. Sie hatte irgendetwas getan. Aber hatte sie jemanden erstochen? Grégory getötet?

Camilles Stimme zitterte. »Julie, hast du Grégory erstochen und ihn in eurem Boot bis nach Port Pin gebracht?«

Julie schüttelte den Kopf. Doch sie war am Telefon. Camille konnte sie nicht sehen.

»Julie!«, schrie Camille. »Hast du es getan?«

Julie schluchzte auf. »Nein. Wie kannst du nur so etwas von mir denken?«

Camille schwieg einen Augenblick, dann sagte sie leise: »Julie, du hättest dich sehen sollen. Du warst in den letzten Tagen nicht mehr du selbst. Du warst von ihm besessen, und vorgestern ... als du gesagt hast, du wolltest ihn töten ... und jetzt ist er tot.«

Julie weinte. Sie wusste selbst, dass sie komplett den Verstand verloren hatte. Sie war verrückt geworden, das war gewiss. Aber wie verrückt?

»Wo warst du gestern Abend, Julie?«, fragte Camille.

»Ich war ... vor Élianes Haus. Ich bin um acht hin, um dort zu warten. Ich weiß nicht, was ich tun wollte. Und ich habe getrunken. Es ist niemand gekommen. Und dann weiß ich nicht ... Ich bin wohl eingeschlafen.«

Camille rief: »Julie, du warst dort, wo du nicht hättest sein sollen. Und Grégory wurde ermordet. Wer sonst hätte ihn denn umbringen sollen?«

»Keine Ahnung«, schluchzte Julie.

»Hatte er Feinde?«

»Nein. Aber ich habe schon eine Weile nicht mehr mit ihm gesprochen. Vielleicht hat er seitdem die Nase irgendwo reingesteckt, wo er es nicht sollte. Und über etwas recherchiert, was jemandem gegen den Strich ging.«

Julie wusste, dass sie nicht überzeugend klang.

»Aber Julie, wir leben hier in Frankreich, nicht in irgendeiner Diktatur. Schwörst du mir, dass du damit nichts zu tun hast?«

»Ich schwöre, aber ich hatte einen Blackout. Und ich war dort vor ihrem Haus. Und wo ist Éliane?«

»Kein Ahnung. Es war nur von ihm die Rede. Julie, er ist tot! In den Calanques.«

Das riss Julie aus ihrer Betäubung. »Ich kann es nicht gewesen sein. Wenn ich ihn umgebracht und in die Calanques gebracht hätte, könnte ich mich daran erinnern. Außerdem darf ich Vaters Boot nicht allein benutzen und hatte auch den Schlüssel nicht.«

Julie war erleichtert. Sie hatte Grégory sicher nicht erstochen. Denn sie hatte keine Möglichkeit gehabt, ihn bis nach Port Pin zu transportieren. Hätte sie das getan, dann hätte sie sich doch daran erinnert. Oder? Sie hatte nur dort vor seinem Haus einen Blackout gehabt. Zumindest redete sie sich das ein. Hatte zu viel getrunken und war eingeschlafen. Aber das Messer? Und der Ort, an dem sie aufgewacht war? Was hatte sie getan? Und was war Grégory bloß zugestoßen?

Vermisst

Martine war nervös. Éliane war am Morgen nicht zur Arbeit gekommen, und sie konnte sie am Telefon nicht erreichen. Das gesamte Team war verunsichert, und sie, Martine, als die älteste Angestellte hatte sich an diesem Vormittag um das Geschäft gekümmert.

Mittags hatte Martine Élianes Schwester Lily angerufen. Diese hatte ihr angeboten, sie eine halbe Stunde später vor Élianes Wohnblock zu treffen. Lily hatte einen Schlüssel. Als Martine dort eintraf, stand deren Auto auf dem Parkplatz. Lily öffnete das Seitenfenster, und Martine sah, dass sie rote Augen und ein verschwollenes Gesicht hatte.

»Lily, was ist los?«, fragte sie erschrocken.

»Hast du es noch nicht gehört?«, schluchzte Lily. »Grégory ist tot. Sie haben heute Morgen seine Leiche bei Port Pin im Meer gefunden. Ich ... Meine Eltern haben schon der Polizei gemeldet, dass Éliane abgängig ist.«

»Was?« Um Martine begann sich alles zu drehen. »Wa... warum?«

»Er wurde ermordet. Erstochen. Meine Familie ist verzweifelt. Und ... Ich weiß gar nicht, ob wir in die Wohnung hineingehen sollen. Vielleicht will die Polizei sie durchsuchen.«

Martine spürte, wie weich ihre Knie waren. Grégory war ermordet worden! Éliane und er steckten seit einigen Wochen ständig zusammen. Éliane war wahrscheinlich in Gefahr ... oder ebenfalls schon tot!

»Nein!«, stieß Martine hervor. »Wir können nicht warten, bis die Polizei die Wohnung durchsucht. Wir gehen hinein!«

»Okay«, schluchzte Lily.

Sie traten in die Halle des Mietshauses mit seinen acht Wohnungen. Es war alles ruhig an diesem frühen Nachmittag. Das Gebäude wirkte vollkommen verwaist. Sie gingen die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich Élianes Wohnung befand. Lily atmete tief ein und sperrte auf. Martine hielt den Atem an, als die junge Frau die Tür öffnete.

In der Wohnung war alles ordentlich. Nichts deutete darauf hin, dass Éliane etwas Unvorhergesehenes zugestoßen war. Die beiden Besucherinnen konnten sehen, dass Grégory in den letzten Wochen bei Éliane gewohnt hatte. Seine Schuhe standen da, seine T-Shirts lagen in Élianes Zimmer schön gefaltet auf einem Regal und auf dem Bett lag eine Jeans, die sicher ihm gehörte. Martine drehte sich um die eigene Achse.

Lily räusperte sich. »Niemand da. Vielleicht sollten wir besser nichts anfassen.«

Martine nickte. Sie war einverstanden. Sie wussten nun, dass Éliane sich nicht in ihrer Wohnung aufhielt und dass dort alles in Ordnung war. Allerdings schien Martine die Wohnung seltsam leer. Irgendetwas fehlte, aber sie konnte nicht sagen, was es war.

Lily schien dieselben Gedanken zu haben, denn sie meinte: »Ich sehe Élianes Laptop nicht. Sie hatte ihn normalerweise immer auf dem Küchentisch oder auf der Kommode liegen. Er ist nicht da.«

Schnell durchsuchten die beiden Frauen alle Schränke und Schubladen, um zu sehen, ob Éliane den Rechner irgendwo verstaut hatte. Sie fanden ihn nicht, genauso wenig wie Grégorys Gerät.

»Grégory war immer mit seinem Laptop unterwegs«, erklärte Lily. »Er schrieb ständig irgendwas. Er hatte ein kleines MacBook. Aber wenn er am Strand oder bei Freunden war, dann sollte er ihn eigentlich hier in der Wohnung gelassen haben.«

Martine deutete auf den Boden vor den Fernseher. Dort steckte das Ladekabel des Laptops. Dann fragte sie: »Wo parkt Éliane normalerweise? Ist ihr Auto hier?«

Lily schüttelte den Kopf. »Es sollte an sich auf dem Parkplatz vor dem Haus stehen. Sie ist weggefahren. Grégory und sie sind an den Wochenenden meistens am Prado-Strand oder in der Gegend von Les Goudes unterwegs. Ich informiere die Polizei, dass wir hier in der Wohnung warten.«

Sie wählte eine Nummer und sagte dann: »Meine Schwester ist unauffindbar, ihr Freund wurde ermordet. Sie haben meinen Eltern diese Nummer gegeben. Wir sind in ihrer Wohnung. Alles normal, aber wir können ihren und Grégorys Computer nicht finden.« Martine hörte, dass Lilys Stimme zitterte.

Die Person am anderen Ende erklärte irgendetwas, und Lily antwortete: »In Ordnung. Wir warten hier.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, meinte sie: »Polizisten von der PJ werden in der nächsten halben Stunde kommen. Die Beamten, die im Fall von Grégorys Ermordung ermitteln. Wir sollen einstweilen hierbleiben. Aber du kannst auch gehen, wenn du wieder zur Arbeit musst.«

»Nein, Lily, ich bleibe. Janine sperrt um halb drei den Laden auf, Paul und der junge Student sind auch da. Sie kommen auch mal eine Stunde ohne mich zurecht!«

Lily und Martine setzten sich ins Wohnzimmer auf die Couch. Da es in der Wohnung sehr heiß war, schaltete Lily die Klimaanlage ein.

»Kanntest du ihn gut?«, fragte Martine. »Grégory?«

Sie selbst kannte Grégory, weil er oft ins Geschäft gekommen war, um Éliane abzuholen, und hatte einige Worte mit ihm gewechselt. Sie fand ihn sympathisch und mochte seinen kanadischen Akzent.

Lily nickte. »Eigentlich schon. Er kam oft mit Éliane zu uns, und meine Eltern mochten ihn sehr. Ich fand ihn auch sympathisch. Allerdings war diese Sache mit seiner Ex wirklich belastend. Zweimal tauchte sie am Abend auf, als wir auf einer Caféterrasse etwas tranken. Sie wollte mit Grégory sprechen, und als er ablehnte, legte sie eine fürchterliche Szene hin, beleidigte ihn und meine Schwester, weinte und schrie. Anscheinend geschah das regelmäßig. Sie spionierte ihnen hinterher, fuhr ihnen nach und wartete fast jeden Tag vor Grégorys Büro, um ihn abzufangen.«

Martine runzelte die Stirn. Éliane hatte ihr davon erzählt, doch sie hätte niemals gedacht, dass es so schlimm war.

»War er glücklich mit ihr, bevor er Éliane kennenlernte?«, fragte sie Lily.

Diese zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wie es scheint schon, aber seit ihrer Ankunft hier in Frankreich haben sie sich auseinandergelebt. Und Ende Mai hat Grégory meine Schwester kennengelernt, und sie haben sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. Sie hatten auch dieselben Interessen, den Umweltschutz, die Natur, das Wandern ...« Lily schluchzte wieder auf. »Ich habe solche Angst, dass sie ebenfalls umgebracht wurde.«

»Ich habe auch Angst«, gab Martine zu, »aber wir sollten versuchen, optimistisch zu bleiben!« Dabei spürte sie selbst nicht den kleinsten Funken Optimismus.

»Glaubst du, dass es seine Ex gewesen sein könnte? Oder dass es mit Grégorys Arbeit zusammenhängt?«, fragte sie Lily.

Diese zuckte ratlos mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Grégory war in den letzten Wochen viel in den Quartiers Nord. Aber er hat immer gesagt, es habe alles gut geklappt. Und sonst hatte er über keine verfänglichen Themen zu berichten.«

»Vielleicht etwas, was wir nicht wissen?«, fragte Martine.

In diesem Moment läutete es an der Haustür. Die Polizei war da. Lily betätigte den Türöffner und sagte durch die Sprechanlage: »Wir sind im ersten Stock.« Sie öffnete die Tür.

Zwei hübsche junge Frauen in Zivil kamen die Treppe heraufgekeucht. Martine sah, dass den beiden sehr warm war, ihre Gesichter waren gerötet.

»Ach, hier ist es angenehm kühl«, seufzte die eine mit den kurzen Haaren. Sie stellte sich vor. »Ich bin Nadia Aubertin, Lieutenant bei der PJ, und das ist meine Kollegin Agent de Police Judiciaire Fiona Brante. Uns wurde die Ermittlung im Fall Grégory Gazan zugeteilt.«

Lily sah Martine verstört an. Martine wusste, was sie dachte. Diese hübschen jungen Frauen waren nur wenige Jahre älter als sie selbst. Lily hätte sich gewiss einen älteren, erfahreneren Ermittler gewünscht. Einen starken Mann. Doch Martine hatte Nadia Aubertin erkannt. Sie war zwei Monate zuvor groß in der Zeitung gewesen, weil sie heimlich gegen ihre korrupten Vorgesetzten ermittelt hatte.

»Ich kenne Sie«, sagte sie deshalb, »Sie haben den ehemaligen Procureur und den Commissaire Divisionnaire zu Fall gebracht, die eine Mobbinggeschichte vertuschen wollten, weil ihre Kinder darin verwickelt waren.«

Die junge Frau lächelte. »Ja, das war unser Team.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Und wir beginnen sofort mit der Suche nach Éliane. Sie sind also Élianes Schwester?«, fragte sie Lily.

Diese nickte und deutete auf Martine. »Und Martine ist Élianes Mitarbeiterin, ihre Stellvertreterin als Leiterin des Bioladens.«

Die Polizistin begann, Lily Fragen zu Grégorys und Élianes Beziehung zu stellen.

»Wo haben die beiden sich kennengelernt?«, wollte sie wissen.

Lily schien einen Augenblick lang zu überlegen. »Anscheinend in Élianes Geschäft, nicht wahr, Martine?«

Martine nickte. »Grégory kam Ende Mai zu uns, er wollte einen Bericht über den Bioladen schreiben. Sie wissen ja, dass es sich bei Bio Plus um eine Kette handelt, die überall in Frankreich Filialen betreibt. Éliane ist Leiterin des Geschäftes im neuen Euromed-Viertel. Und ich bin ihre Assistentin und Stellvertreterin. Bio Plus ist dafür bekannt, nicht nur Bioprodukte zu verkaufen, sondern auch stark auf regionale Herkunft zu setzen. Deshalb braucht die Kette gute Leute als Filialleiter, die sich ihre Lieferanten selbstständig in der Gegend suchen.«

»Und Éliane und Martine sind sehr gut«, ergänzte Lily. »Das Geschäft wird vor allem für seinen frischen Fisch gerühmt.«

Martine seufzte. Der Fisch war zwischen Éliane und ihr in den letzten Wochen ein heikles Thema gewesen. Éliane war Mitglied bei Umweltschutzorganisationen, die gegen die Verschmutzung des Mittelmeeres kämpften. Und sie hatte mit dem Fischverkauf im Bioladen aufhören wollen, weil sie meinte, der Fisch aus dem Nationalpark und von der Côte Bleue sei alles andere als bio. Martine habe gar keine Ahnung, was da alles drin sei, und sie wolle ihn nicht mehr verkaufen, weil das unverantwortlich sei. Doch der Regionalleiter hatte darauf bestanden, dass die beiden weiterhin mit den örtlichen Fischern zusammenarbeiteten, und Éliane selbst hatte trotz allem diese nicht im Stich lassen wollen. Doch seit einer Weile war sie, was den Fisch anging, immer besorgter geworden. Allerdings hatte sie Martine nicht mitteilen wollen, warum. Martine vermutete, dass es wieder einmal um diese Rotschlamm-Geschichte der Aluminiumfabrik Bauxo ging.

Sie fand es nicht angebracht, die Polizistinnen über die Fischsache zu informieren. Deshalb sagte sie lediglich: »Ja, wir haben auch gutes Obst und Fleisch aus der Gegend. Das Geschäft läuft bestens.«

Die Polizistin nickte. »Meine Lebensgefährtin kauft oft bei Ihnen ein.«

Ihre Kollegin, die mit ihrem fein geschnittenen Gesicht, großen graugrünen Augen und einer dunklen gelockten Haarmähne ausgesprochen hübsch war, fragte: »Also haben sich Éliane und Grégory im Laden kennengelernt und sind bald darauf zusammengezogen?«

Lily nickte. »Sehr bald. Zwei Wochen nach ihrer ersten Begegnung. Sie waren sehr verliebt, und Grégory wollte seine Freundin, mit der er eine Wohnung teilte, so schnell wie möglich verlassen. Und Éliane hat ihm angeboten, bei ihr zu wohnen. Meine Eltern bezeichneten das als überstürzt, ich fand es ehrlich gesagt auch etwas rasch, aber Grégory konnte auf die Schnelle keine Wohnung finden und wollte weg von seiner Ex.

»Wann haben Sie Ihre Schwester zuletzt gesehen?«, fragte Madame Aubertin Lily.

Lily überlegte. »Vorgestern, am Samstagabend. Wir trafen uns in einer Bar am Prado-Strand, auf der Terrasse. Wir waren zu zehnt. Éliane und Grégory, mein Freund und ich, zwei Freundinnen von mir und zwei mit Éliane befreundete Paare. Und an dem Abend tauchte plötzlich Grégorys Ex auf. Sie wollte ihn allein am Strand sprechen. Er lehnte ab, meinte, es sei alles gesagt. Daraufhin rastete sie aus, begann uns alle zu beleidigen, nannte Grégory ein Schwein und Éliane eine Nutte, schrie und weinte, bis Freunde von ihr kamen und sie wegzerrten. Danach haben wir sie nicht mehr gesehen. Anscheinend stalkte sie Grégory und Éliane regelrecht. Sie erschien uns allen vollkommen verrückt.«

»Ach ...« Die Polizistin notierte sich etwas. »Erschien sie Ihnen ... gewalttätig?«

»Ja, in gewisser Weise schon. Vor allem schien sie mir außer sich zu sein. Wie jemand, der sich überhaupt nicht mehr im Griff hat. Sie war auch die beiden Male, bei denen ich sie gesehen habe, offensichtlich betrunken.«

Die beiden Polizistinnen sahen einander an. »Wir werden uns so bald wie möglich mit ihr unterhalten«, meinte Madame Aubertin. Dann wandte sie sich an ihre Kollegin. »Ich denke, wir sollten die Spurensicherung kommen lassen, um zu sehen, ob jemand hier war. Ruf Mathieu an, damit er das in die Wege leitet. Ist Ihnen hier etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, fragte sie Martine und Éliane.

Martine nickte. »Wir haben gesehen, dass die beiden Laptops weg sind. Élianes und Grégorys Computer. Wir haben sie gesucht, aber nicht gefunden. Hier ist Grégorys Ladekabel.« Sie zeigte auf das Kabel, das vor dem Fernseher an der Steckdose hing.

»Hm«, meinte die Polizistin, »sieht so aus, als hätte jemand den Computer mitgenommen, als er gerade aufgeladen wurde.«

Ihre Kollegin telefonierte vor der Wohnungstür. Martine hörte, dass sie Techniker anforderte, um die Wohnung zu untersuchen.

»Es kann natürlich sein, dass Éliane und Grégory ihre Computer mitgenommen haben«, warf Martine ein. »Übrigens, Élianes Auto ist auch weg. Normalerweise steht es hier auf dem Parkplatz.«