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Eine grausame Mordserie hält Südfrankreich in Atem.
Nadia Aubertin, Lieutenant de Police, ist verzweifelt: Gleich mehrere Kinder mit nordafrikanischer Herkunft sind in Marseilles Vorstädten spurlos verschwunden. Und trotz aller Suche und harter Arbeit können Nadia und ihr Team wochenlang keinen Hinweis auf den Verbleib der Kinder finden.
Doch dann geschieht ein entsetzlicher Mord: Der mit dem Fall betraute Staatsanwalt wird am helllichten Tag beim Joggen am Meer erschossen. Kurz darauf verschwindet in Marseille ein weiterer Junge - und Nadia verfolgt endlich eine erste Spur. Aber mit der grausigen Entdeckung in einem Anwesen am Fuß des Sainte-Victoire-Massivs hat sie nicht gerechnet ...
Düster, hochspannend, abgründig: Der dritte Fall für die toughe Ermittlerin Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!
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Seitenzahl: 402
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Tragödie beim Joggen
Die verschwundenen Kinder
Eine prominente Leiche
La Commissaire
Die schlimme Neuigkeit
Die Fischsuppe
Endlich heimkommen
Rachids Besuch
Am Abend
Fiona
Die Journalistin
Les Flamants
Ermittlungsarbeit
Begräbnis
Frais Vallon
Ein Hinweis
Durchkreuzte Pläne
Lisa
Details
Freitagabend
Der Schulwart
Ergebnislose Suche
Gespräch am Morgen
Fahndung
Der Brunnen
Das Anwesen
Caroles Gefühle
Die Kinderleichen
Böse Überraschung
Der Politiker
Die Eltern
Pressekonferenz
Verlassen
Ein DNA-Profil
Das Umfeld der Verkäufer
Der Straftäter Marc Merlier
Ratlos
Neue Spuren
La Commandante
Luc Garniers Fall
Der Anruf
Die Wahrheit
Die schlimme Erkenntnis
Ein zufriedenstellender Abend
Organisation
Das Haus im Wald
Großfahndung
Der Stromausfall
Der Abend vor Weihnachten
Kenny
Am Morgen
Erwachen
Im Kommissariat
Heiligabend
Nächtlicher Alarm
Gérald Franquier
Am Weihnachtstag
Andacht
Jahreswechsel
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Eine grausame Mordserie hält die Polizei in Atem.
Marseille in der Vorweihnachtszeit: Nadia Aubertin hat keine Zeit für Besinnlichkeit. Denn in zwei ärmlichen Vorstädten sind Kinder nordafrikanischer Herkunft auf dieselbe Art spurlos verschwunden. Die Polizei-Inspektorin ist mit ihrem Team für die Suche verantwortlich. Nach zwei Wochen harter Arbeit hat sie noch immer keine Spur. Dann wird zum Entsetzen aller der junge Staatsanwalt, der den Fall betreut, am helllichten Tag beim Joggen am Meer erschossen. Kurz darauf verschwindet in Marseille ein weiterer Junge. Endlich findet Nadia eine erste Spur, und wenig später wird in einem Anwesen am Fuß des Sainte-Victoire-Massives, vierzig Kilometer von der Großstadt entfernt, eine grausige Entdeckung gemacht ...
Düster, hochspannend, abgründig: Der dritte Fall für die toughe Ermittlerin Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille.
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Anna-Maria Aurel
Die Marseille-Morde
Im Schatten des Sainte-Victoire
Es war der Samstag zwei Wochen vor Weihnachten. Das Meer zeigte sich grau in grau, und es schien, als würde die Wasserfläche direkt in den Himmel übergehen, der ebenfalls gräulich-blass wirkte und sehr tief hing. Ein leichter Nebel bedeckte die Küste, alles sah fade und farblos aus. Es war zwar nicht kalt, aber in der Luft war eine unangenehme Feuchtigkeit zu spüren.
Jérôme lief die Corniche, die Küstenstraße, entlang. Dabei fiel ihm auf, dass das Joggen ihm an diesem Morgen viel mehr Probleme bereitete als sonst. Er wusste, dass das psychisch bedingt war. Er nahm nicht wie an anderen Tagen die malerische Kulisse der Küstenstraße, die Weite des Meeres und den Blick auf die weißen Felsen der Frioul-Inseln und das Château d'If wahr. Er keuchte und verspürte ein vages Seitenstechen. Jérôme war nicht in Form, weil es ihm an Motivation fehlte. Dieser Tage ging ihm zu vieles auf die Nerven, und er machte sich ernsthaft Sorgen um seine Zukunft.
Jérôme seufzte und zwang sich, seine zentnerschweren Beine zu bewegen. Das Leben war ganz einfach unerträglich geworden, die Welt schien am Verfallen zu sein. Auch noch andere Joggerinnen und Jogger waren an diesem Samstagmorgen an der Corniche unterwegs, sie hatten mit dem Laufen anscheinend keine Schwierigkeiten. Sie wirkten nicht gerade glücklich, aber zumindest gelassen und relativ heiter. Sie hatten wahrscheinlich nicht solche finanziellen Probleme wie Jérôme, dessen Druckerei infolge der Coronapandemie hatte Einbußen hinnehmen müssen. Er war zwar nicht gezwungen gewesen zu schließen, hatte deshalb aber auch keine staatlichen Beihilfen erhalten. Er hatte seine Angestellten nicht mehr im Griff, sie saßen alle im Home-Office und machten, was sie wollten. Jérôme ahnte nur ungefähr, wie viel Geld seine Firma jeden Tag verlor, er wusste lediglich, dass er sich selbst gerade kein Gehalt zahlen konnte. Die finanzielle Situation der Familie war beängstigend.
Ein junger Mann lief ihm ziemlich schnell entgegen, lächelte Jérôme flüchtig zu und rannte voller Energie an ihm vorbei. Der Jogger kam ihm bekannt vor, doch er sah in der Druckerei so viele Leute, dass er oftmals nicht sagen konnte, wann und wo er jemandem schon einmal begegnet war.
Plötzlich ertönte hinter ihm ein Schuss. Jérôme erschrak zu Tode, stolperte und ließ sich zu Boden fallen. Noch ein Schuss. Jérôme verbarg seinen Kopf in den Armen. Bald würde es zu Ende sein. Sein Leben. Es war zwar in letzter Zeit beschissen genug gewesen, aber in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er trotz allem noch nicht sterben wollte. Er wartete auf den Tod, aber es geschah nichts. Jérôme spürte nirgendwo am Körper Schmerzen. Langsam hob er den Kopf und blickte um sich. Schräg hinter ihm sah er eine maskierte und dunkel gekleidete Gestalt auf der anderen Straßenseite in ein graues Auto springen und davonrasen.
Zitternd setzte Jérôme sich auf. Er begriff nicht, was geschehen war. Als er sich jedoch umdrehte, erkannte er, wer das Opfer der beiden Schüsse war. Der junge Mann, der ihm vorher entgegengekommen war, lag am Boden und rührte sich nicht. Jérôme starrte auf den leblosen Körper. Da war plötzlich jemand neben ihm.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte eine männliche Stimme. »Sind Sie verletzt?«
Jérôme schüttelte den Kopf. »Nein ... ich nicht. Aber ... er!« Zitternd zeigte er auf den offenbar getroffenen Jogger.
Der Mann, ein Läufer in Jérômes Alter, stürzte zu dem Opfer.
»Monsieur, Monsieur, hören Sie mich? Monsieur!«, wiederholte er immer wieder.
Ein junges Paar kam herangerannt.
»Was ist hier los?«, fragte eine andere Stimme.
»Warten Sie! Lassen Sie mich sehen! Ich bin Medizinstudentin und kenne mich mit Erster Hilfe aus.« Eine weibliche, gestresst klingende Stimme.
Jérôme schaffte es, sich langsam zu erheben und zu den drei Personen zu schleppen, die nun um den bewegungslos am Boden liegenden jungen Mann knieten.
Die Medizinstudentin versuchte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Jérôme merkte, dass in ihre Augen Tränen traten, als der Erfolg ausblieb. Ihr Begleiter legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Lass es! Es ist zu spät. Er war schon tot, als wir eintrafen.« Er zeigte auf die Schläfe des Mannes, an der ein Einschussloch zu sehen war.
»Eine Kugel in den Kopf«, sagte der Mann, der sich um Jérôme gekümmert hatte. »Waren Sie dabei?«, wandte er sich an ihn.
Jérômes Stimme klang wie eingerostet, als er antwortete: »Ja ... ich war in unmittelbarer Nähe. Aber es geschah hinter meinem Rücken. Ich habe zwei Schüsse gehört und mich auf den Boden geworfen. Ich war mir sicher, dass ich erschossen werden würde. Und einige Sekunden danach sah ich einen dunkel gekleideten Mann mit schwarzer Maske davonlaufen und da drüben in einem grauen Auto in überhöhtem Tempo wegfahren. Aber ich habe keine Ahnung, was das für ein Auto war.«
Die junge Medizinstudentin schluchzte auf, ihr Begleiter sah Jérôme bang an. Nun kamen weitere Jogger und Spaziergänger auf die Gruppe zu. Alle schienen ratlos und verängstigt. Dass in Marseille immer wieder Hinrichtungen stattfanden, war eine erwiesene Tatsache, aber doch nicht auf der Corniche, an der malerischen Straße, die am Meer entlang die wohlsituierten Stadtviertel durchquerte. Wenn, dann geschahen solche Morde in den Vorstädten oder schlimmstenfalls im Stadtzentrum. Und meistens ging es um Drogen.
Eine Frau wählte den Notruf. Jérôme erzählte der Menge, die um ihn stand und immer größer wurde, noch einmal, was er wahrgenommen hatte. Bald tauchten vier Polizisten auf.
»Haben Sie angerufen?«, fragte der Älteste.
Die junge Frau nickte. »Es ist aber zu spät.«
Sie zeigte auf die Schläfe des jungen Mannes, aus der Blut sickerte. »Ich bin Medizinstudentin und habe versucht, ihn wiederzubeleben. Aber da war nichts mehr zu machen.«
Der Polizist ging in die Hocke.
»Zwei Schüsse«, stellte er fest. »Einer in den Rücken, einer in den Kopf. Sieht nach einer Hinrichtung nach Art der Drogenringe aus. Allerdings trifft es meistens Nordafrikaner. Der hier ist sicher nicht aus Nordafrika!«
Der Tote hatte zwar dichte dunkle Haare, aber seine Haut war hell und seine Gesichtszüge europäisch. Jérôme schätzte ihn auf Anfang dreißig.
Der Polizist begann die Taschen der Sportjacke des Mannes zu durchsuchen, um zu sehen, ob er einen Ausweis bei sich hatte, der Auskunft zu seiner Identität geben konnte. Doch er fand nur einen Schlüssel und ein Päckchen Papiertaschentücher.
»Bon«, meinte er. »Mesdames et Messieurs, ich bitte Sie, nun den Tatort zu verlassen. Wir rufen die Kollegen der Spurensicherung, sie müssen ungestört arbeiten können.«
Dann wandte er sich an seine Kollegen: »Wahrscheinlich wird die Police Judiciaire den Fall übernehmen. Vor allem, wenn es sich um eine Drogensache handelt.«
Jérôme war froh, gehen zu können. Er wollte diesen jungen Mann, der da tot vor ihm lag, nicht mehr anschauen müssen. Er hatte den Eindruck, das Opfer sah ihm ähnlich. Fast kam es ihm vor, als wäre dieser Mann eine fünfzehn Jahre jüngere Version von ihm. Er wandte sich zum Gehen. Doch der Polizist hielt ihn auf.
»Wir brauchen Sie noch! Sie sind ein wichtiger Zeuge.«
Nadia arbeitete an diesem Morgen im Kommissariat. Es war zwar Samstag, aber sie hatte keine Wahl. Es handelte sich um einen Notfall. Ein Kind war in einem bescheidenen Stadtviertel der Quartiers Nord verschwunden, und einige Jugendliche glaubten, seine Entführung beobachtet zu haben. Der neunjährige Junge war nicht weit von seinem Wohnblock in ein unbekanntes rotes Auto gestiegen und dann nicht mehr gesehen worden. Zwei Tage war er schon abgängig. Seine Eltern, Algerier, hatten es der Polizei erst mehrere Stunden später gemeldet. In diesen Quartiers misstraute man der Polizei.
Nadia war für die Ermittlung zuständig. Sie, ihr eigenes und zwei Teams der Drogenbrigade, die sich in diesem Viertel besonders gut auskannten, suchten rund um die Uhr nach dem Jungen.
Sie hatten keine weiteren Hinweise, nur die Aussage der Halbwüchsigen. Demnach sah es nicht so aus, als hätte jemand das Kind zum Einsteigen gezwungen. Es war freiwillig mitgefahren. Das Auto war rot gewesen, das bestätigten alle, doch die Jugendlichen waren sich bezüglich der Marke und des Wagentyps uneinig. Einer schwor, dass es sich um einen Opel Corsa gehandelt habe, zwei andere waren sich sicher, einen Peugeot 206 erkannt zu haben, wieder ein anderer meinte, es sei ein kleineres Modell wie ein Nissan Sunny gewesen, und einer war überzeugt davon, ein größeres Auto wie einen Renault Espace gesehen zu haben. Daher galt nur die Farbe des Wagens als erwiesen.
In der Cité hatte es Probleme gegeben, wie immer, wenn sie dort jemanden befragen mussten. Die Dealer wollten nicht akzeptieren, dass die Polizei nun ständig auftauchte, und versuchten die Ermittler zu vertreiben. Doch das Kind stammte von hier, und so mussten die Einwohner wohl oder übel mit der PJ kooperieren. Die Stups, die Drogenbrigade, würden sich das Drogennetzwerk vorknöpfen. Das vermisste Kind hatte absolute Priorität, und die Beamten der Crim, der Abteilung für Schwerverbrechen, mussten ungehindert ihrer Arbeit nachgehen können.
Die verzweifelten Eltern hatten den Ermittlern nichts Nützliches mitteilen können. Keine auffälligen Bekannten, keine Probleme mit den Dealern oder anderen Einwohnern, und die Jugendlichen behaupteten, dass das fragliche Auto jemandem gehört hatte, der von außerhalb gekommen war. Es war am Rand der riesigen Wohnanlage geschehen. Zwischen der Cité Les Flamants und der Hauptstraße war der Junge in das Auto gestiegen. Der Neunjährige war am Spätnachmittag die paar Hundert Meter von dem Wohnblock, in dem er lebte, zum Fußballtraining gegangen, wie er es seit einem Jahr regelmäßig machte.
Das wirklich Beunruhigende war, dass in einer anderen Cité, ungefähr fünf Kilometer von Les Flamants entfernt, zwei Wochen zuvor schon einmal das Gleiche passiert war. Auch dort war ein Kind verschwunden, ebenfalls ein neunjähriger Junge nordafrikanischer Abstammung aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Seine Eltern hatten ein geringes Einkommen, lebten in einer Sozialwohnung in einer Cité, einem Komplex aus hohen Betontürmen. Auch dieser Junge war in einem roten Auto mitgefahren. War das nur ein Zufall? Steckte ein Drogennetzwerk dahinter? Menschenhandel? Oder war ein Pädophiler am Werk, der vorzugsweise in armen Stadtvierteln zuschlug?
Nadia, ihr Team und die Drogenbrigade hatten zum Verschwinden von Said, dem ersten Jungen, schon zahlreiche Personen befragt. Nadia hatte auch mehrere Verdächtige ins Kommissariat geholt. Es hatte sich dabei zumeist um Pädophile gehandelt, die in Marseille lebten und im Strafregister erfasst waren.
Zwei von ihnen waren erst vor Kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden und standen deshalb unter besonders genauer Beobachtung. Die Staatsanwaltschaft ermittelte erneut gegen sie, und David Maurin, der Substitut du Procureur, hatte Nadia beschworen, die beiden auf keinen Fall aus den Augen zu lassen. Sie und ihre Leute hatten die zwei beschattet, ihre Telefone abgehört und schlussendlich auch befragt. Aber das hatte nirgendwohin geführt. Beide hatten sich vorbildlich verhalten.
Dummerweise hatte die Presse allerdings davon Wind bekommen und sich auf die Sache gestürzt. Einer der beiden, Marc Merlier, der zwei Monate zuvor erst aus der Haft entlassen worden war und am Stadtrand im malerischen L'Estaque in Ruhe hatte leben wollen, war von empörten Nachbarn krankenhausreif geschlagen worden, weil die Medien ihn als Pädophilen geoutet hatten. Das tat Nadia leid, doch es war nicht sie gewesen, die der Presse seinen Namen gegeben hatte. Auch keiner ihrer Kollegen. Sie hatten sich sehr diskret um die beiden Sexualstraftäter gekümmert.
Nadia seufzte und rieb sich die Schläfen. Was sie gerade erlebten, war wahrhaftig nicht das Paradies. Es waren nur zwölf Tage bis Weihnachten, und sie hatten zwei verschwundene Kinder in zwei sehr schwierigen Stadtvierteln, die unter der Kontrolle von Drogenhändlern standen. Was für sie, aber auch für die Kollegen von den Stups hieß, dass der Weihnachtsurlaub sehr kurz ausfallen würde, wenn sie den Fall nicht vorher lösen konnten.
Im Prinzip war das nicht so schlimm, da Nadia ohnehin beschlossen hatte, dieses Jahr ihre Eltern in der Normandie nicht zu besuchen. Sie und Laura wussten noch nicht einmal, ob sie mit deren Eltern feiern würden, die nur eine Stunde von Marseille wohnten. Nadia wäre auch damit zufrieden, allein mit Laura das Fest ganz ruhig zu begehen und sich auch mit ihren besten Freunden Pierre, Fiona, Jérémie und Florian zu treffen.
Nadias Mitarbeiter und Freund Florian litt an einem bösartigen Gehirntumor. Er hatte einige Wochen zuvor die erste Runde Chemotherapie und Bestrahlungen beendet und war dabei, sich davon zu erholen. Im Januar würde es weitergehen. Allerdings sollte er an sich keine Leute treffen, weil sein Immunsystem äußerst geschwächt war. Wenn sie ihn einladen wollten, mussten sie sich alle kurz vorher auf Corona testen lassen, um ihn nicht zu gefährden. Nadia seufzte erneut.
Es war eine triste und trübe Zeit. Ihre Freunde und sie hatten zwar beschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen, aber das war nicht so einfach. Vor allem, wenn in den Vorstädten Kinder verschwanden, ausgerechnet in der Zone, wo das Ermitteln am schwierigsten war, und man nicht wusste, ob man es mit einer Drogensache, einem familiären Problem oder einem Pädophilen zu tun hatte.
Nadia stand auf und ging in den Open Space ihres Teams, wo ihre beiden Kolleginnen Fiona Brante und Carole Crépin arbeiteten. Die drei Frauen würden bis Mittag bleiben und dann nach Hause gehen. Auf Carole warteten ihr Mann und ihre beiden Kinder, auf Fiona ihr Lebensgefährte Pierre, der an diesem Morgen ebenfalls in seinem Büro saß und am Nachmittag heimkommen würde. Und Nadia würde zu Hause von Laura empfangen werden. Ihre Lebensgefährtin hatte vor, eine Bouillabaisse, eine typische Marseiller Fischsuppe, zu kochen. Gewiss verbrachte sie den Vormittag auf dem Fischmarkt am Alten Hafen. Dort wurde direkt am Pier der frisch gefangene Fisch verkauft, und die richtige Wahl der Zutaten war eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Bouillabaisse. Das Gericht war eine Riesenarbeit, aber Laura liebte das Kochen.
Nadia schob die Gedanken an das Essen beiseite und wandte sich an ihre Kolleginnen.
»Haben die Überwachungskameras irgendwas ergeben?«, fragte sie.
Carole schüttelte den Kopf. »Bislang nicht.«
Fiona schnaubte. »Was sollen sie auch ergeben? Sie sind zu weit von der Cité entfernt. Und beim ersten Verschwinden ist es das Gleiche. Rote Autos fahren vorbei, wir nehmen alle ihre Kennzeichen auf, aber wir haben keine Ahnung, ob diese Fahrzeuge überhaupt aus der Cité Les Flamants kommen oder nicht.«
Sie nahm einen Kaugummi und stopfte ihn sich in den Mund.
»Hilft das?«, fragte Nadia.
»Was?«, erwiderte Fiona.
»Die Kaugummis! Helfen sie gegen die Übelkeit?«
Fiona zuckte mit den Schultern. »Ein wenig. Ab Mittag geht es mir dann immer viel besser.«
»Das war bei mir auch so«, sagte Carole, »und ab dem dritten Monat ist es ohnehin vorbei! Wirst sehen!«
Fiona lächelte. Seit sie wusste, dass sie schwanger war, schwebte sie auf einer rosaroten Wolke.
Sie schien sogar die Übelkeit zu genießen. Fiona hatte viele Jahre lang geglaubt, dass sie keine Kinder bekommen könnte. Doch nun war sie nach nur vier Monaten Zusammenleben mit Pierre ganz unverhofft schwanger geworden. Das junge Paar hatte alles, was es wollte. Sie waren vor Kurzem in ein schönes Häuschen in Roucas Blanc, dem besten Viertel von Marseille, gezogen. Pierre hatte als Procureur de la République, als Oberstaatsanwalt, eine sehr gute Stelle, und sie waren glücklich miteinander. Die Zukunft schien ihnen zuzulächeln. Nadia freute sich für die zwei.
Carole und Fiona begannen, sich ausführlich über Schwangerschaftsprobleme zu unterhalten, und Nadia verzog sich wieder in ihr Büro. Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie die beiden reden hörte, fühlte sie sich in ihrer Überzeugung bestätigt: Sie wollte nicht schwanger werden. Ihre Lebensgefährtin Laura wollte ein Kind, konnte aber keines bekommen. Nun hatten sie jedoch die ersten Schritte für eine Adoption eingeleitet, und bei ihrem letzten Gespräch mit einer Psychologin vom Jugendamt hatte man ihnen mitgeteilt, dass sie gute Chancen hatten, schon im nächsten Jahr ein Kind zu erhalten. Nadia wollte auch einen Hund. Bald würden Laura und sie umziehen, an den südlichen Stadtrand, Boulevard du Redon, nicht weit von dem Viertel, wo sie momentan in einer Mietwohnung lebten, aber zugleich in der Nähe des Calanques-Nationalparks. Nach der Abwicklung des Ankaufs würden sie das Häuschen mit den drei Zimmern renovieren und im Frühjahr dann einziehen. Sie würden einen ziemlich großen Garten haben, ideal für ein Kind und einen Hund.
An diesem Morgen hatte Nadia wirklich Probleme, sich zu konzentrieren! Ihr war klar, dass die Zeit drängte, aber sie war einfach nicht drin in der Ermittlung. Sie hatte das Gefühl, in der Luft zu hängen, weil sie nicht die geringste Spur hatten, nicht wussten, in welche Richtung ihre Nachforschungen gehen sollten. Während sich nach dem Verschwinden des zweiten Jungen in ganz Marseille langsam Panik breitmachte.
Nadias Kollege, Capitaine Rachid Fandouli von der Drogenbrigade, erschien an ihrer Tür. Sie sah auf. Sie hatte nicht gewusst, dass er an diesem Samstag auch im Kommissariat war. Doch er arbeitete an demselben Fall wie sie und kümmerte sich um die Dealer.
»Was Neues?«, fragte Nadia ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Bezüglich der Kinder nichts. Die Dealer wissen sicher was, aber sie wollen nicht damit herausrücken. Wir müssen sie in der kommenden Woche handfest bearbeiten!«
Wenn Rachid versprach, in der Vorstadt jemanden zu bearbeiten, dann kannte er keine Gnade. Diesmal betraf ihn die Sache auf besonders unangenehme Weise, denn Rachid war in der Cité Les Flamants aufgewachsen. Nun lebte er jedoch mit seinen Eltern, seiner Schwester und deren Familie in einem großen Haus in Roucas Blanc. Er selbst wohnte in der kleinen Mansarde mit Blick auf das Wahrzeichen von Marseille, die goldene Marienstatue auf dem Turm der Basilika Notre-Dame de la Garde.
»Allerdings habe ich erfahren, dass Michel Favier gerade zur Corniche gefahren ist. Dort wurde anscheinend ein Typ abgeknallt. Nur zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt. Ein Jogger«, erklärte Rachid.
»Ein Jogger?« Nadia verdrehte die Augen. Auch sie war früher regelmäßig die Corniche entlanggejoggt. Nun aber lief sie lieber außerhalb der Stadt, im Calanques-Nationalpark, der in der Nähe ihrer Wohnung lag.
»Wer ... Weiß man schon etwas Genaueres?«
»Keine Papiere, keine Identität. Hinrichtung. Sieht nach Drogenmilieu aus. Allerdings der Typ nicht. Ist so einer wie wir. Ein Sportler. Meine Kunden joggen nicht.«
»Ach so? Dealer joggen nicht?«
»Nicht wirklich. Ich habe auf jeden Fall noch nie einen getroffen, der joggt«, meinte Rachid. »Die haben zu tolle Autos, als dass sie noch Lust zum Laufen hätten«, fügte er grimmig hinzu.
»Vielleicht solltest du auch hinfahren«, meinte Nadia. »Falls es einer deiner Kunden ist. Oder einer, mit dem deine Kunden zu tun haben.«
»Du hast recht«, pflichtete Rachid ihr bei. »Je schneller wir das Opfer identifizieren, desto besser.«
Er wandte sich um, wobei er murmelte: »Wirklich eine komische Hinrichtung. Nur zehn Minuten von meinem Haus entfernt.«
Nadia konnte verstehen, dass Rachid das zusetzte. Seine Familie hatte alles getan, um der Cité zu entkommen. Doch auch in Roucas Blanc gab es zuweilen Probleme. Sie lebten eben doch in der Großstadt. Rachids Eltern führten ein sehr gut gehendes Lebensmittelgeschäft in der Nähe ihres Hauses. Die Leute liebten diese aufgeschlossenen und ehrgeizigen Marokkaner, deren Laden sogar am Samstagabend geöffnet war und gute Weine anbot. Doch irgendjemandem hatte es nicht gefallen, dass diese Nordafrikaner die schicken Viertel der Stadt mit Wein versorgten. Nur eineinhalb Monate zuvor war das Geschäft eines Nachts verwüstet worden, alle Weinflaschen waren zerschellt und die Wände mit den Worten Allahu Akbar besudelt gewesen. Rachid ahnte, wer dahintersteckte, hatte jedoch keine Beweise. Es waren Leute, die die Eltern von früher kannten und ihnen ihren Erfolg neideten. Vor allem waren es aber fromme Muslime, für die Alkohol und Schweinefleisch verpönt waren. Ihre Söhne standen an der Schwelle zum radikalen Islam oder steckten vielleicht sogar schon mittendrin.
Rachids Eltern waren nicht gläubig. Sein Vater spielte sogar mit dem Gedanken, sich taufen zu lassen. Er ging oft auf den Felsen von Notre-Dame de la Garde, um in der Basilika zu beten. Rachid selbst war überzeugter Atheist, seine beiden Schwestern genauso. Eine von ihnen wohnte mit ihrer Familie im Erdgeschoss des Familienhauses und half im Geschäft mit, sie hatte ein kleines Kind und war wieder schwanger; die andere lebte in New York, wo sie in einer saudi-arabischen Bank arbeitete.
Rachid hatte der Vorfall sehr nachdenklich gestimmt. Er zog in Betracht, Marseille zu verlassen, und hatte sich für die Aufnahmeprüfung zur Kommissarsausbildung angemeldet, die nach Weihnachten stattfinden würde. Wenn er sie schaffte, war die Sache ohnehin entschieden, weil er diese Weiterbildung in Lyon absolvieren musste und danach wahrscheinlich nach Paris versetzt werden würde.
Dass nun jemand in der Nähe seines Hauses direkt am Meer erschossen worden war, beunruhigte Rachid sicher zusätzlich. Vielleicht war es jemand, den er kannte? Einer seiner Nachbarn?
Nadia nahm das Telefon, um Pierre Frigeri, den Oberstaatsanwalt, anzurufen, doch er ging nicht dran, weder auf seinem Handy noch am Festnetz.
Immer mehr Polizisten trafen ein und machten sich daran, die Küstenstraße zu sperren und den Verkehr umzuleiten. Nun war auch die Rettung gekommen. Die Ersthelfer hatten den Tod des Mannes bestätigt und ihn mit einer Plane zugedeckt, bald würden die Spurensicherung und die Kriminalpolizei da sein.
Jérôme wollte nur eines: weg von diesem Ort. Nie wieder würde er an der Corniche joggen gehen. Ja, er wollte sogar Marseille überhaupt verlassen. Der Vorfall an diesem Morgen bewies ihm einmal mehr, dass die Stadt komplett verkommen und höchst gefährlich war. Nun kam das Verbrechen auch in die guten Stadtviertel, es war wie ein Geschwür, das sich überallhin ausbreitete. Nicht nur Marseille, sondern ganz Frankreich war davon betroffen, aber in der Großstadt am Mittelmeer war die Situation eben am dramatischsten.
»Kennt einer den Typen?«, fragte ein Polizist.
Ein Kollege schüttelte den Kopf, ein anderer zuckte mit den Schultern.
»Er hat was ... Er hat irgendwas Bekanntes für mich. Ich habe ihn schon einmal gesehen.«
»Kunde?«, fragte der andere.
»Vielleicht. Aber er sieht ganz manierlich aus. Blass.«
Die beiden lachten grimmig. Jérôme verstand ihre Andeutung. Meistens waren die Opfer solcher Hinrichtungen Nordafrikaner, Schwarze oder Gitanos.
Zwei Männer der Spurensicherung in weißen Schutzanzügen näherten sich mit einem riesigen Koffer. Sie nickten den Polizisten zu und begaben sich hinter die Absperrung. Dann schlugen sie die Plane zurück, um den Toten zu begutachten.
»Puuuuutain!«, fluchte einer der beiden.
»Das ist ja ...« Der andere griff sich an den Kopf.
Der Polizist neben Jérôme stieß seinen Kollegen an.
»Sie kennen ihn, siehst du!«
Der eine Kriminaltechniker kam auf die Polizisten zu.
»Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass es David Maurin, der Substitut du Procureur, ist?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Was?« Der Polizist neben Jérôme fuhr auf.
»Genau!« Der andere schlug sich an die Stirn. »Der neue Staatsanwalt. Der erst seit zwei Monaten hier in Marseille ist. Ich habe ihn schon mehrmals an Tatorten und sogar in den regionalen Nachrichten gesehen. Deshalb kam er mir so bekannt vor. Merde!«
Jérôme war wie erstarrt. Jemand hatte einen Staatsanwalt ermordet. So viel er mitbekommen hatte, war es nicht der Procureur, der Oberstaatsanwalt selbst, sondern dessen Substitut, einer der öffentlichen Ankläger.
»Na ja, Feinde hat die Staatsanwaltschaft genug«, meinte der Polizist neben ihm zu seinem Kollegen. »Denk an den Fall mit der Verschmutzung der Calanques im Sommer! Der hier hätte bei dem Prozess der Anklagevertreter sein sollen!«
»Nein, das waren die Drogentypen! Das war ganz sicher die Drogenszene!«, entgegnete der andere Polizist. »Ein Schuss in den Kopf, einer in den Rücken. Gezielt und präzise. Die machen das dauernd dort oben.«
»Ja, aber nicht hier.«
»Ist im Stadtzentrum auch schon vorgekommen!«
»Ja, aber hier! Schickes Viertel, die Corniche.«
»Es war bestimmt jemand, der es auf ihn abgesehen hat. Jemand, der ihn schon eine Weile verfolgt. Der auf den geeigneten Moment gewartet hat. Ganz sicher! Mon Dieu, das wird ein Riesending, wenn die Presse das erfährt!«
Jérôme sah zwei junge Männer in Jeans und Lederjacken auf sie zukommen. Sie waren offenbar Ermittler. Polizisten in Zivil. Er hörte sie mit den Technikern der Spurensicherung sprechen und bemerkte ihren betroffenen Gesichtsausdruck. Die Kripo arbeitete direkt mit der Staatsanwaltschaft zusammen, so viel war Jérôme bekannt. Kurz darauf traten die beiden zu ihm und den Polizisten.
Sie nickten den uniformierten Kollegen zu und wandten sich an Jérôme: »Sie sind also der Zeuge?«
Er räusperte sich. »Ich ... war dabei ... habe es gehört, aber nicht gesehen. Als die Schüsse gefallen sind, habe ich mich auf den Boden geworfen. Dann habe ich einen maskierten Typen wegrennen und in ein graues Auto springen sehen, das da vorne stand. Und das Opfer lag reglos am Boden.«
Ein weiterer Polizist gesellte sich zu der Gruppe. Er war auch in Zivil und schien der Sportlichste von allen zu sein. Unter seinem Sweatshirt konnte Jérôme die Muskeln wahrnehmen. Ein Nordafrikaner. Mit seinen dichten schwarzen Haaren und dem fein geschnittenen Gesicht sah er jedenfalls beinahe wie ein Fotomodell aus.
»Was ist los?«, fragte er seine beiden Kollegen. »Habt ihr ...? Ist es einer meiner Kunden?« Er nickte Jérôme zu. »Bonjour. Rachid Fandouli, Capitaine de Police bei der Drogenbrigade.«
»Es ist kein Dealer«, erklärte sein Kollege. »Es ist unser Vorgesetzter.«
»Was? Welcher Vorgesetzte?« Entsetzt sah der Capitaine seine Kollegen an.
Der ältere der beiden anderen deutete mit dem Kopf zu den Technikern.
»Schau ihn dir doch an!«
Der junge Mann stürzte auf die Leiche zu. Jérôme sah, dass er beim Anblick des Toten erstarrte und die Hand vor den Mund schlug.
Als er wieder zu ihm und den Polizisten zurückkehrte, bemerkte Jérôme Tränen in den Augen des jungen Mannes.
»Mon Dieu«, stammelte der Polizist. »Er ist so alt wie ich. Er wohnt seit einigen Wochen mit seiner Verlobten neben mir. Er ist ... ein Freund.«
Seine Kollegen sahen ihn schweigend an. Alle wirkten bedrückt. Dann änderte der nordafrikanische Polizist plötzlich seine Haltung. Er ballte die Fäuste und stampfte mit dem Fuß auf den Boden.
»Das Schwein, das ihn getötet hat, erwische ich. Das schwöre ich euch!«
Seine großen Augen funkelten zornig und kohlrabenschwarz, sein wohlgeformter Mund war ein schmaler Strich, als er sich Jérôme zuwandte, um ihn zu befragen.
»Nadia!«
Nadia, die sich gerade mit Carole die Aufnahme eines potenziell verdächtigen Autos auf dem Bildschirm ansah, zuckte zusammen.
Ihre Chefin, Commissaire Martine Prévert, stand in der Tür des Open Space. Nadia hatte nicht gewusst, dass sie an diesem Samstag im Büro war.
Martine sah nicht gut aus. Sie war blass, ihre Unterlippe zitterte und sie wirkte völlig schockiert. Es war etwas Schlimmes passiert. Etwas noch Schlimmeres als ein verschwundenes Kind.
»Kommst du bitte schnell mit mir in mein Büro, Nadia?«, bat sie mit zitternder Stimme. Sie vermied es, Carole und Fiona anzusehen.
Nadia nickte und registrierte aus den Augenwinkeln, dass ihre Kolleginnen sich einen halb neugierigen, halb besorgten Blick zuwarfen. Nadia folgte ihrer Chefin durch den schäbigen Gang in deren Büro. Martine Prévert sprach auf dem Weg kein Wort. Erst als sie in ihrem Büro ankamen, wandte sie sich Nadia zu, und diese sah mit Besorgnis Tränen in den Augen ihrer Vorgesetzten schimmern.
»Nadia, wir haben eine Katastrophe. Der Mann, der an der Corniche hingerichtet wurde ... Es ist David Maurin, der neue Substitut du Procureur!«
»Was?«
Um Nadia begann sich alles zu drehen. Das ist nicht möglich!, sagte sie sich. Das kann nicht sein. Es ist ein Albtraum.
Nadia kannte David Maurin gut, obwohl er erst seit zwei Monaten in Marseille war. Sie ermittelte im Fall der verschwundenen Kinder unter seiner Führung. David und seine Lebensgefährtin Aurore hatten zudem in den vergangenen Wochen mehrere Abende mit Nadia und ihren Freunden verbracht.
Nadias Stimme zitterte, als sie ihrer Vorgesetzten erklärte: »Ich ermittle nicht nur für David, sondern treffe ihn auch in meiner Freizeit. Er gehört zu unserem Freundeskreis. Fiona ist mit seiner Lebensgefährtin Aurore gut befreundet.«
Fiona und Aurore trafen sich häufig. Sie wohnten im selben Stadtviertel, nur wenige Minuten voneinander entfernt. Aurores sehnlichster Wunsch war es, ein Kind zu bekommen, damit lag sie mit Fiona auf derselben Wellenlänge.
Die Commissaire sah Nadia schweigend an.
»Es handelt sich hier um ein sehr schlimmes Verbrechen. Und wir haben natürlich keine Ahnung, worum es genau geht. Staatsanwälte haben jede Menge Feinde. Woanders wird er nicht einfach abgeknallt. Aber hier ...«
Martine war erst drei Monate zuvor von Strasbourg in den Süden gekommen und schien keine besonders gute Meinung von Marseille zu haben.
Nadia zuckte entmutigt mit den Schultern. »Es muss nicht um etwas für Marseille Typisches gehen. Also um Drogen oder Korruption.«
Doch noch während sie diese Worte aussprach, dachte sie an die beiden großen Fälle, die sie in den letzten Monaten bearbeitet hatte. Den Fall Bernier und den Fall Bauxo. Sie bekam einen schalen Geschmack im Mund, wenn sie sich an die beiden Ermittlungen erinnerte, die sehr schwierig gewesen waren. Der Prozess wegen der Firma Bauxo würde im Januar stattfinden, und David hätte der öffentliche Ankläger sein sollen. Der Prozess Bernier hatte erst vor einigen Wochen geendet. Pierre und sie selbst hatten als Zeugen gegen ihre ehemaligen Vorgesetzten ausgesagt. Die beiden hatten eine zwanzigjährige Gefängnisstrafe bekommen. Pierre hatte im vergangenen Jahr sehr mächtige Männer hinter Gitter gebracht. Diese Typen saßen in Haft, konnten aber sehr leicht von dort aus weiterhin die Fäden ziehen. Sich an Pierre rächen wollen. Aber den Falschen erwischt haben. Pierre und David sahen sich ein wenig ähnlich. Sie wohnten im selben Viertel. Und wenn der Anschlag Pierre gegolten hatte? Warum sollte jemand David, der erst seit Kurzem in Marseille lebte, töten wollen?
»Wer ... wer wird die Ermittlung übernehmen?«, fragte Nadia mit rauer Stimme.
»Wir wissen es noch nicht. Wir wahrscheinlich, aber wir werden mit den Stups zusammenarbeiten. Im Moment sind Rachid und Michel vor Ort. Du hast schon die verschwundenen Kinder. Ich denke, dass Luc der geeignete Mann dafür ist.«
Capitaine Luc Garnier war der älteste und erfahrenste Ermittlungsleiter in der Abteilung für Kapitalverbrechen. Es war eigentlich normal, dass er den Fall übernehmen würde. Anfangs hatte die Commissaire ihm die verschwundenen Kinder übergeben wollen. Da er aber mit einer im Hafen von Port Frioul versenkten männlichen Leiche schon mehr als beschäftigt gewesen war, hatte sie diese Ermittlung Nadia, der Jüngsten ihrer vier Ermittlungsleiter, anvertraut, mit dem Versprechen, dass in den kommenden Tagen wahrscheinlich ein weiterer Kollege ihr mit seinem Team helfen würde.
Nun hatten die Mitarbeiter von Commissaire Prévert wirklich Arbeit bis über beide Ohren.
»Ich weiß wirklich nicht, ob das mit den roten Autos was bringt«, sagte Carole.
»Ich auch nicht, aber wir müssen es trotzdem tun. Die Kennzeichen aller roten Autos, die die Kamera gefilmt hat, aufschreiben und überprüfen. Es könnte sein, dass wir durch Zufall Glück haben und auf den Entführer stoßen«, erwiderte Fiona.
»Glaubst du, dass der Junge noch lebt?«, fragte Carole.
Fiona zuckte zusammen. Seit sie schwanger war, war ihr der Gedanke, dass Kindern Leid zugefügt wurde, noch unerträglicher. Und ausgerechnet am Tag, an dem sie erfahren hatte, dass sie ein Kind bekommen würde, hatten sie nach Said, dem ersten verschwundenen Jungen, zu suchen begonnen.
Carole schien Fionas Gedanken zu lesen.
Sie seufzte. »Ja, Fiona, das ist die Kehrseite der Mutterschaft. Nun wirst du bis an dein Lebensende an das Wohlergehen deines Kindes denken. Dich sorgen. Mir macht dieser Fall auch zu schaffen. Mein Sohn ist fast genauso alt wie die zwei vermissten Jungs. Und er geht auch manchmal allein zum Fußballtraining. Diese Ermittlung ist belastend. Wenn Kinder verschwinden, ist es das Schlimmste, was geschehen kann. Vor allem, wenn man sie nicht mehr lebend findet.«
Fiona sah Carole an und nickte langsam. Obwohl ihr eigenes Kind noch ein winziger Fötus war, fing sie bereits an, sich Sorgen zu machen.
»Wahrscheinlich ist wieder etwas passiert. Oder sie haben ein Kindergrab gefunden«, bemerkte Carole bang. »Die Commissaire sah ja wirklich erschüttert aus. Sie weinte fast.«
»Ja, komisch.«
Die beiden Frauen vertieften sich wieder in ihre Arbeit, doch Fiona hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.
»Wo bloß Nadia bleibt?«, fragte Carole nach einigen Minuten. »Madame Prévert und sie haben wohl ein ernstes Problem!«
Fiona war schon seit zehn Jahren bei der PJ. Und sie hatte schon viele Dramen erlebt. Viele schlechte Nachrichten wegstecken müssen. Doch nun hatte sie Angst. Angst um die vermissten Kinder. Um die Kollegen.
Nach ein paar Minuten trat Nadia ins Büro.
Carole sah ihre Vorgesetzte fragend an, in ihrem Gesicht spiegelte sich Fionas eigene Neugierde wider. Der fiel auf, dass Nadia geweint hatte. Ihre Augen waren gerötet, ihr Gesicht wirkte verquollen. So hatte Fiona ihre Freundin und Chefin noch nie erlebt. Nadia war normalerweise stets ein Fels in der Brandung.
»Ich habe eine schlechte Nachricht«, sagte Nadia leise und sah sie traurig an.
Fionas Herz drohte auszusetzen. Pierre! Ihm ist etwas passiert!
Aber was sollte ihm geschehen sein? Er hatte sich seit sieben Uhr morgens in seinem Büro im Justizpalast verbarrikadiert, um mit seiner Arbeit voranzukommen.
»David«, fuhr Nadia mit brüchiger Stimme fort, »ist tot. Er wurde an der Corniche beim Joggen erschossen.«
Fiona blieb kurz das Herz stehen. Sie fürchtete, vor Schreck von ihrem Bürosessel zu fallen.
»Was ...? Warum ...?«, stammelte sie.
Carole blieb wie immer ruhig und gefasst. Sie sah Nadia ernst an. »Glaubst du, dass es mit seiner Tätigkeit als Substitut zu tun hat?«, fragte sie.
»Ziemlich sicher«, erwiderte Nadia. »Er kennt außerhalb seiner Arbeit noch kaum Leute hier. Ganz gewiss hat es mit seinem Beruf zu tun!«
Fiona schluchzte auf. »Arme Aurore. Sie ist ihm hierher gefolgt. Sie wollten hier im Süden eine Familie gründen.«
Zugleich dachte sie an Pierre, und eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen. Einer seiner Mitarbeiter war getötet worden. Es hätte auch ihn als den Oberstaatsanwalt treffen können. Nadia schien Fionas Gedanken zu lesen. Sie legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Wir sind beruflich alle in Gefahr. Es hätte Pierre erwischen können. Aber auch dich, Carole oder mich. Es hat David getroffen. Und wir werden herausfinden, warum.«
»Wer ... wer teilt es Aurore mit?«, fragte Fiona voller Angst und Sorge. Logischerweise war es Pierre, der als Davids Vorgesetzter diese Aufgabe übernehmen sollte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Nadia. »Wahrscheinlich einer der Kollegen, die vor Ort sind. Weißt du, wo Pierre sich gerade aufhält? Ich konnte ihn nicht erreichen.«
Doch da läutete schon Fionas Handy. Sie griff danach, es war Pierre.
»Mon Dieu, Fiona«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. »Du weißt sicher schon Bescheid. David ... es ist so schrecklich.«
Fiona hörte, dass er den Tränen nahe war.
Sie schluchzte: »Es ist nicht deine Schuld.«
»Das kann man nicht wissen, Chérie«, murmelte er. »Vielleicht wollte mir jemand etwas antun, und es hat aber aus Versehen ihn getroffen.«
Daran glaubte Fiona nicht wirklich. Doch es konnte natürlich mit dem Fall vom Sommer zu tun haben.
»Und Aurore?«, fragte Fiona. »Wer sagt es ihr?«
Pierre schluckte. »Rachid macht das. Er ist, wie du weißt, mit den beiden eng befreundet. Aber ich werde dann später zu ihr gehen. Würdest du mitkommen?«
»Natürlich«, antwortete Fiona. Sie war es Aurore schuldig, ihr beizustehen. Sie hätte genauso gut an deren Stelle sein können. In den nächsten Tagen würde sie für Aurore da sein, so gut es ging.
Laura mühte sich damit ab, die Fische zu zerkleinern. Eine Bouillabaisse zu kochen, ging weder schnell noch einfach. Es bedeutete viel Arbeit, vor allem, weil die Gräten gewissenhaft entfernt werden mussten. Laura machte nicht oft Fischsuppe, doch an diesem Tag hatte sie es unbedingt probieren wollen. Wenn die Suppe am Mittag von Nadia für gut befunden wurde, würde sie am Abend ganz spontan die Freunde einladen. Jérémie und Florian. Pierre und Fiona. David und Aurore. Es würde mehr als genug übrig sein.
Zu der Fischsuppe wurden Rouille, eine scharfe Knoblauchmayonnaise, serviert, die man mit Safran und Pfeffer würzte, Croûtons, harte geröstete Brotstückchen, und geriebener Gruyère-Käse. Es lag alles auf dem Küchentisch bereit, Laura hatte nichts vergessen. Schon allein das Einkaufen war ein Abenteuer gewesen, weil sie besondere Gewürze und den besten Fisch benötigte.
Da läutete Lauras Telefon. Ihre Hände waren voller Fisch, sie war nicht imstande, dranzugehen. Der Anrufer würde warten müssen. Es war Samstag, so eilig konnte es doch wohl nicht sein! Wenn sie kochte, kam es vor, dass sie das Telefon ignorierte. Einige Minuten später hatte sie ihre schwierige Arbeit beendet, und ein wahrer Berg von entgrätetem Fisch lag vor ihr in der großen Schüssel. Sie wusch sich die Hände und nahm ihr Telefon.
Auf dem Display sah sie, dass ihr Kollege Daniel angerufen hatte, der wie sie bei der Tageszeitung La Provence arbeitete und einer der erfahrensten Journalisten der Region war. Er war seit Lauras Ankunft in Marseille ein wenig zu ihrem Mentor geworden.
Laura runzelte die Stirn. Wenn Daniel anrief, hieß das wohl, dass er irgendwo war, wo es etwas zu berichten gab. Oder wollte er sie und Nadia wie schon seit einiger Zeit versprochen zum Essen einladen?
Neugierig rief sie ihn zurück.
»Wo bist du?«, fragte sie ihn.
»Du weißt es nicht? Hast du noch nicht mit Nadia gesprochen?«
»Was?«, fragte Laura erschrocken. Daniels raue gepresste Stimme behagte ihr gar nicht.
»Ich bin an der Corniche. Eine Hinrichtung.«
»Hinrichtung?«, fragte Laura.
»Ein Schuss in den Kopf, ein anderer in den Rücken. Und das Opfer ist euer Bekannter David.«
»David?«, schrie Laura und spürte, dass ihre Knie unter ihr nachgaben. Das kann nicht wahr sein, das ist ein böser Traum, dachte sie.
Daniel erzählte ihr, was er wusste. »Es gibt einen Zeugen«, meinte er abschließend.
Laura ließ sich schwer auf das Sofa plumpsen. Sie war entsetzt. Sie kannte David und seine Freundin Aurore durch Pierre und Fiona. Sie hatte sie von Anfang an sympathisch gefunden. Keiner wäre je auf die Idee gekommen, dass ihr Aufenthalt im Süden so schlimm enden würde.
»Wirklich tragisch!« Auch Daniel schien sehr betrübt. Er hatte David bereits wegen der verschwundenen Kinder interviewt.
Bald verabschiedete sich ihr Kollege.
Laura blieb eine ganze Weile schluchzend auf ihrem Sofa sitzen. Sie konnte sich nicht erklären, warum ein Substitut bei der Staatsanwaltschaft hingerichtet wurde wie ein Vorstadtdealer. Es wurde in Marseille immer schlimmer!
Doch dann stand sie wutentbrannt auf und schlug mit der Hand in die Schüssel mit dem entgräteten Fisch, der nach allen Seiten spritzte. In diesem Moment hatte sie nur einen Gedanken: Sie würde nie wieder Fischsuppe machen. Denn diese würde sie immer an diesen schrecklichen Augenblick erinnern, in dem sie erfahren hatte, dass einer ihrer Freunde an einem der malerischsten Orte der Stadt erschossen worden war.
Nach zwei Stunden an der Corniche durfte Jérôme endlich nach Hause gehen. Der Tote war weggebracht, die Spuren genauestens dokumentiert worden. Die Sanitäter hatten Jérôme eine Iso-Decke geliehen, weil er gefroren hatte, er hatte auch warmen Tee bekommen. An die zehnmal hatte er wiederholen müssen, was geschehen war, zuerst vor den Polizisten und nun bedrängten ihn die Journalisten.
Der nordafrikanische Ermittler, der Jérôme am sympathischsten war, befahl den Journalisten: »Lassen Sie den Zeugen jetzt in Ruhe! Heute Abend gibt es eine Pressekonferenz!«
Er beauftragte einen Streifenwagen, Jérôme nach Hause zu fahren, und meinte: »Wenn Ihnen noch irgendwelche Details einfallen, dann kontaktieren Sie uns bitte.«
Erleichtert stieg Jérôme in den Wagen. Er wohnte zwar nur eine Viertelstunde von der Corniche entfernt, aber er hatte keine Lust mehr, in der Stadt herumzulaufen. Vielleicht würde er nun eine Weile nicht mehr joggen gehen. Die Freude daran war ihm an diesem Morgen gänzlich vergangen. Er hatte vorher noch nie einen Toten gesehen. Und nun war dieser junge Mann direkt vor ihm erschossen worden. Jérôme dachte daran, dass der Schütze auch ihn selbst hätte treffen können, wenn er nicht so präzise gewesen wäre. Jérôme fröstelte. Was hatte der Substitut du Procureur sich zuschulden kommen lassen? Wahrscheinlich gar nichts! Wahrscheinlich hatte er nur das Gesetz verteidigt. Letzteres war aber in Marseille nicht unbedingt beliebt.
Jérôme stammte aus der Gegend, aber schon in den vergangenen Jahren hatte er manchmal erwogen, aus Marseille wegzuziehen. Trotz der Sonne und des Meeres. Er hatte zwei Kinder, die zehn und dreizehn waren, und er wollte, dass sie an einem ruhigeren und sichereren Ort aufwuchsen. Jérôme besaß eine Druckerei, die schon seit Jahren nicht mehr gut lief. Und die Krise hatte ihn an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt. Vielleicht sollte er einfach Konkurs anmelden und sich irgendwo anders eine Arbeit als Angestellter suchen. Er war ein guter Grafiker, kannte sich mit dem Druck aus, konnte eine Druckerei managen oder auch sonst in der Werbebranche arbeiten. Er beschloss, mit Yvonne darüber zu sprechen. Er kannte ihre Schwachstelle. Ihre Familie lebte in Lyon, und sie hätte gern in deren Nähe gewohnt. Allerdings wollten die Kinder auf keinen Fall aus Marseille weg. Sie hatten hier ihre Freunde und mochten ihre Schulen sehr gern. Aber wenn er Konkurs anmelden und sich eine andere Arbeit suchen musste, würden auch seine Sprösslinge einsehen müssen, dass ein Umzug unvermeidbar war.
Jérôme sah auf seinem Telefon, dass Yvonne ihn schon dreimal angerufen hatte. Gewiss wartete sie mit dem Mittagessen auf ihn! Er verzichtete darauf, zurückzurufen, da er in drei Minuten ohnehin vor seinem Wohngebäude aus dem Auto steigen würde. Als er die Stufen zu seiner Wohnung hinaufhastete, stürzte ihm seine Frau entgegen.
»Mon Dieu, Jérôme, was ist geschehen? Wo warst du nur? Hast du dich verletzt?«
Sie sah ihn von oben bis unten an. Er bedeutete ihr, in die Wohnung zu treten.
Als sie in ihrer geräumigen Wohnküche standen, erklärte er: »Ich hatte ein Problem.«
Er begann zu erzählen, und seine Frau hörte ihm sprachlos zu, wobei sie immer stärker zu zittern begann.
Die Kinder waren durch seine Erzählung angelockt aus ihren Zimmern gekommen, und sogar sein pubertierender Sohn, mit dem derzeit schwierig zu reden war, weil er seine Eltern ganz einfach blöd und langweilig fand, kam freiwillig ins Wohnzimmer und starrte seinen Vater beeindruckt an.
»Mon Dieu«, sagte seine Frau schließlich mit dünner Stimme. »Du warst daneben, als der junge Mann umgebracht wurde. Wie schrecklich!« Sie umarmte ihn und drückte ihn einige Sekunden lang an sich.
Mit entschlossenen Schritten ging sie dann in die kleine Speisekammer hinter der Küche und kam mit einer Flasche Châteauneuf-du-Pape zurück.
»Das ist die beste Weinflasche, die wir im Haus haben. Er passt gut zu der Lammkeule und kann dir im Moment helfen, dich zu entspannen!«
So war seine Frau. Immer bereit, eine konstruktive Lösung für Probleme zu finden. Der Châteauneuf-du-Pape ließ Jérômes Herz höherschlagen. Ein gemütliches Mittagessen mit der Familie. Lammkeule mit Kartoffeln nach provenzalischer Art und zwei oder drei Gläser Wein. Danach eine Siesta. Versuchen zu vergessen. Obwohl das schwierig war. Jérôme dachte an die Polizisten und ihre Ermittlung, an die Lebensgefährtin des Substituts und an dessen Eltern.
Er konnte dem Horror entwischen und mit seiner Familie das Mittagessen genießen, wohingegen die Welt etlicher anderer Menschen zusammengebrochen war. Als er duschte, während die Kinder den Tisch deckten, sagte er sich, dass seine finanzielle Situation eigentlich kein Drama war. Es gab eine Lösung. Der Vorfall vom Morgen hatte ihn gelehrt, nicht grundlos unglücklich zu sein. Trotz allem.
Aurore war beim Kochen. Sie hatte am Vormittag Weihnachtseinkäufe getätigt. Sie würden über das lange Festwochenende zu ihren Familien nach Paris fahren. Die TGV-Tickets waren gekauft. Den Heiligen Abend würden sie bei ihren eigenen Eltern verbringen und den Weihnachtstag bei Davids Familie. Aurore hatte bereits alle ihre Geschenke besorgt. Diesmal hatte sie versucht, sie nicht im Internet zu bestellen oder in großen Einkaufszentren zu kaufen, sondern in kleineren Geschäften, die ohnehin unter dem rasant steigenden Onlinehandel litten.
Aurore bummelte außerdem gern durch die Einkaufsstraßen der Stadt. Sie genoss ihr Leben in Marseille. Sie liebte es, so nah am Meer zu wohnen. Der Alte Hafen mit seiner großen Fußgängerzone, seinen über dreitausend Jachten und den imposanten Festungen, die die Einfahrt auf der Nord- und der Südseite begrenzten, gefiel ihr. Sie mochte auch die Altstadt Le Panier, die auf dem Hügel zwischen dem Alten Hafen und der Kathedrale lag. Enge Straßen, kleine Gässchen, bunte Fassaden, Street-Art, Blumenschmuck und kleine Läden verliehen diesem Viertel einen ganz eigenen, leicht schmuddeligen mediterranen Charme. An diesem Morgen war Aurore jedoch auf der Südseite des Alten Hafens in den schönen Einkaufsstraßen unterwegs gewesen. La Place aux Huiles, ein großer Platz mit hellen Fassaden und vielen Cafés, wirkte auch im Winter sehr malerisch, und der Weihnachtsschmuck machte alles noch liebenswerter. Sie hatte den Morgen in der Stadt genossen.
Am meisten liebte Aurore jedoch ihr eigenes Quartier, Roucas Blanc, ein Villenviertel, das sich auf dem Hügel am Fuß der berühmten Basilika Notre-Dame de la Garde nicht weit von der Corniche und vom Meer erstreckte. Durch Davids Vorgesetzten Pierre hatten sie in dieser so begehrten Wohngegend ein kleines Häuschen zur Miete gefunden. Die goldene Muttergottes auf dem Turm der romanisch-byzantinischen Basilika aus dem neunzehnten Jahrhundert überragte Roucas Blanc.
»Diese Statue überblickt die ganze Stadt und beschützt ihre Einwohner und die Besucher«, hatten Pierre und Fiona ihr und David erklärt, als sie miteinander zur Basilika hinaufgewandert waren, um die Aussicht von der großen Terrasse der Kirche auf die Stadt und die prachtvollen Mosaike in deren Innerem zu bewundern.
Rachid hatte jedoch gemeint: »Die Muttergottes beschützt gar nichts. In Marseille geschehen so viele Verbrechen wie nirgendwo sonst in Frankreich.«
Wenn einer sich keine Illusionen über die Großstadt machte, so war das Rachid, der in einem Viertel der berüchtigten Quartiers Nord aufgewachsen war. Er war ihr Nachbar und mittlerweile in Marseille zu ihrem besten Freund geworden. Am Abend kam er oft zu ihnen, um zu plaudern und ein Glas Wein zu trinken. Seine Eltern führten ganz in der Nähe ein kleines Lebensmittelgeschäft, in dem Aurore fast jeden Tag einkaufte.
Auch mit ihrer Arbeit als Gerichtsschreiberin am Tribunal Judiciaire von Aix-en-Provence war Aurore zufrieden. Sie hatte dasselbe schon in Paris gemacht und dabei acht Jahre zuvor David kennengelernt. In Aix hatte sie unter den Kolleginnen sofort Freundinnen gefunden.
Sie summte zufrieden vor sich hin, während sie das Gemüse klein schnitt. Die Nudeln wollte sie erst kochen, wenn David nach Hause kam. Sie wusste nicht, wo er sich aufhielt. Vielleicht war er nach dem Joggen ins Büro gefahren? Sie versuchte ihn anzurufen, doch das Telefon läutete ins Leere. Vielleicht hatte er es wieder einmal auf lautlos gestellt? David arbeitete viel, er hatte gleich nach seiner Ankunft in Marseille sehr wichtige Fälle übernommen. Deshalb ging er häufig am Samstag ins Büro.
Es klingelte. Aurore stürzte zur Haustür. David hatte wohl seinen Schlüssel vergessen. Doch es war nicht ihr Lebensgefährte. Vor der Tür stand Rachid mit einer hübschen braunhaarigen Frau um die fünfundvierzig und sah sie ernst an.
»Oh ... hallo!«, rief Aurore beschwingt.