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Ein grausiger Fund an einem sonnigen Frühlingstag ...
Selbst Lieutenant Nadia Aubertin und Capitaine Rachid Fandouli von der Kriminalpolizei Marseille sind erschüttert: In der Nähe des Meeresfelsens Cap Canaille wird im Kofferraum eines verbrannten Autos eine verkohlte Leiche gefunden. Alles deutet auf einen Mord im Drogenmilieu hin.
Wer ist der Tote? Bald finden Nadia und Rachid heraus, dass es sich um den Adjutanten Francis Gormet handelt - einen hochrangingen Gendarmen aus der Brigade von La Ciotat. Hat sich der Mann etwa mit Dealern eingelassen und versucht, sie zu betrügen?
Je mehr sich die Polizisten mit dem Leben des Adjutanten befassen, desto größer wird der Abgrund, der sich vor ihnen auftut. Denn Francis Gormet war Zeit seines Lebens nicht jener, der er zu sein vorgab ...
Düster, hochspannend, abgründig: Der vierte Fall für die toughe Ermittlerin Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!
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Seitenzahl: 447
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Ein sonniger Frühlingstag
Einsatz
Familiengeschichten
Die Identität des Opfers
Der Commandant
Ein neuer Verdacht
Anruf aus Marseille
Die schlimme Nachricht
Rachid
Die Brigade von La Ciotat
Mittagessen
Laura
Die Frau des Opfers
Diego Fréchet
Das Gespräch
Rosie Dupont
Aurore
Im Commissariat
Schwestern
Die Söhne des Opfers
Pressekonferenz
Der Rat einer Freundin
Das Drogennetzwerk in Toulon
Ein Geständnis
Fionas Ermittlung
Clémence
Krise
Ein überraschender Abend
Arbeit am Samstag
Ein Abend unter Freunden
Die Kletterpartie
Sonntag in La Ciotat
Die Familie Bouchkami
Zeit unter Freundinnen
Das Foto
Nadia
Besuch im Krankenhaus
Vernehmungen
Die Verletzung
Clémences Familie
Pontcarral
Fionas Arbeit
Ein weiteres Geständnis
Abend
Clémences Geständnis
Die schlimme Wahrheit
Fortsetzung der Ermittlung
Die Konfrontation
Castinis Idee
Lauras Artikel
Das Ende einer Karriere
Tröstende Worte
Ein freier Samstag
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Ein grausiger Fund an einem sonnigen Frühlingstag ...
Selbst Lieutenant Nadia Aubertin und Capitaine Rachid Fandouli von der Kriminalpolizei Marseille sind erschüttert: In der Nähe des Meeresfelsens Cap Canaille wird im Kofferraum eines verbrannten Autos eine verkohlte Leiche gefunden. Alles deutet auf einen Mord im Drogenmilieu hin.
Wer ist der Tote? Bald finden Nadia und Rachid heraus, dass es sich um den Adjutanten Francis Gormet handelt – einen hochrangingen Gendarmen aus der Brigade von La Ciotat. Hat sich der Mann etwa mit Dealern eingelassen und versucht, sie zu betrügen?
Je mehr sich die Polizisten mit dem Leben des Adjutanten befassen, desto größer wird der Abgrund, der sich vor ihnen auftut. Denn Francis Gormet war Zeit seines Lebens nicht jener, der er zu sein vorgab ...
Düster, hochspannend, abgründig: Der vierte Fall für die toughe Ermittlerin Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille.
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Anna-Maria Aurel
Die Marseille-Morde
Dunkle Geheimnisse in La Ciotat
Sie wusste nicht, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war wahrscheinlich ein Fehler gewesen, dass sie zugestimmt hatte, mit Mike in dessen Auto in den Wald zu fahren. Ihr war klar, was er wollte. Aber sie war noch nicht bereit dafür. Zoé ärgerte sich über sich selbst, weil sie es nie schaffte, Nein zu sagen, und sich dadurch in die unmöglichsten Situationen brachte.
»Wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen«, sagte Mike und nahm einen Schotterweg, der vom Hafenstädtchen La Ciotat zum Cap Canaille führte. »Einen Ort, wo wir ganz sicher ungestört sind.«
Zoé schluckte. Er war zwanzig. Vier Jahre älter als sie. Und sie selbst hatte es noch nie gemacht. Er ahnte es, obwohl sie es ihm nicht gesagt hatte. Aber jetzt saß sie in seinem Auto und musste ihm erklären, dass sie zwar Zeit mit ihm verbringen, aber keinen Sex mit ihm haben wollte. Er würde sie blöd finden. Blöd und kindisch.
Zoé mochte Mike, zugleich schüchterte er sie aber auch ein. Er war so viel erfahrener und älter als alle anderen Leute, die sie kannte. Er arbeitete bereits als Elektriker und besaß ein Auto. Zoés Freundinnen fanden es einerseits cool, dass sie mit so einem Typen ging, andererseits würden sie selbst so etwas nicht wagen.
Das Auto holperte über den Schotterweg, entfernte sich immer weiter von der Stadt und der Zivilisation. Hätte sie doch nur darauf bestanden, am Hafen ein Eis zu essen und dann an den Strand zu gehen, wie anfangs ausgemacht!
»Glaubst du nicht ... dass die für das Auto schlecht sind, diese Schotterwege?«, fragte sie Mike. Dabei bemühte sie sich, ihre Stimme nicht zu dünn klingen zu lassen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich fahre ganz langsam, und so extrem schlecht ist dieser Weg nicht. Ich habe schon Schlimmeres erlebt.«
»Kennst du dich hier gut aus?«, wollte Zoé wissen.
»Wie in meiner Westentasche«, erwiderte er. »Meine Alten haben mich früher fast jedes Wochenende zum Spazierengehen gezwungen, und immer ging es auf das beschissene Cap Canaille. Alle möglichen Wege mussten wir hier ablatschen.«
Er schnaubte verächtlich, um zu zeigen, was er vom Wandern im Allgemeinen und von Ausflügen mit den Eltern im Besonderen hielt.
Die Gegend war ein sehr beliebtes Wandergebiet. Zwischen La Ciotat und dem Cap Canaille, dem höchsten Meeresfelsen Frankreichs, gab es Felsmassive und Kiefernwälder, durch die beliebte Wanderrouten führten. Der Blick vom Cap Canaille war absolut atemberaubend, man konnte in der östlichen Richtung die Hafenstadt La Ciotat am Fuß des berühmten schnabelförmigen Felsens Bec d'Aigle wahrnehmen und sogar die Ortschaften noch weiter im Osten. Auf der westlichen Seite blickte man auf die kleinere Hafenstadt Cassis und dahinter den Calanques-Nationalpark. Das Cap Canaille und seine Umgebung waren eine der schönsten Küstenlandschaften Frankreichs.
Zoé hatte Mike vorgeschlagen, die Route des Crêtes, die Panoramastraße hinauf bis zum Cap Canaille zu fahren und sich dort oben hinzusetzen, um die Aussicht zu genießen und zu plaudern.
Aber Mike hatte gemeint: »Nein, an einem sonnigen Frühlingstag wie heute ist da viel zu viel los, und wir wollen doch allein sein!«
Zoé hatte die Botschaft verstanden. Mike wollte nicht nur plaudern und Händchen halten. Das war sonnenklar. Und nun waren sie weiter von der Küste entfernt in den Hügeln auf Forstwegen unterwegs. In einer Gegend, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagten und sie ganz bestimmt nicht gestört wurden.
»Na ja, es hat auch etwas Gutes, dass meine Eltern mich immer hier durch die Gegend geschleift haben«, meinte Mike grinsend. »Denn jetzt weiß ich ganz genau, wo ich hinwill.«
Zoé zitterte innerlich. Wenn sie nun nicht das tat, was Mike wollte, würde er sie aus dem Auto werfen und mitten im Kiefernwald stehen lassen? Würde sie wieder zurück in den Ort finden? Wie weit waren sie von La Ciotat entfernt? Obwohl sie dort wohnte, kannte sie die Gegend überhaupt nicht, war immer nur direkt an der Küste unterwegs gewesen. Sie sah auf ihr Telefon und bemerkte, dass sie fast keinen Empfang mehr hatte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Mike manövrierte das Auto in einen noch holprigeren und schmaleren Weg, und Zoé befürchtete, dass sie irgendwann stecken bleiben würden. Er fuhr sehr langsam und legte ihr die Hand auf den Oberschenkel.
»Weißt du, ich habe echt Lust auf dich«, sagte er.
Zoé schluckte. »Ich auch auf dich, aber ...«
»Ich weiß«, beruhigte er sie. »Du hast es noch nie gemacht. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nicht wehtun.«
Der Weg endete plötzlich mitten im Wald vor einem riesigen Holzhaufen. Es handelte sich um Zweige von Mittelmeerkiefern.
»Hier stört uns bestimmt niemand«, sagte Mike. Er schaltete den Motor aus und schnupperte. »Merkst du das?«, fragte er Zoé. »Es riecht verbrannt. Ein ekelhafter Geruch.«
Zoé erschrak. Hatte Mike das Auto beschädigt? Würde es in Flammen aufgehen? Die Luft um das Auto herum war seltsam neblig. Da war eindeutig Rauch!
Mike stieß die Tür auf. »Merde! Steig aus, Zoé!«, rief er hektisch. »Da ist was faul!«
Er sprang aus dem Auto. Zoé folgte seinem Beispiel. Ihr war von dem Gestank übel.
Mike ging kopfschüttelnd um den Wagen herum.
»Nein, das Auto brennt nicht. Zum Glück!«
Zoé nahm wahr, dass der Rauch überall im Kiefernwald war. Die ganze Luft war schwer und neblig von ihm.
»Mike ... das ist ... ein Waldbrand! Wir sollten besser abhauen.«
»Vor allem sollten wir die Feuerwehr rufen!«, erwiderte Mike. »Das kann für das gesamte Massiv brenzlig werden.«
Er hatte schon sein Telefon in der Hand. Zum Glück funktionierte an dieser Stelle das Netz.
»Wir sind zwischen La Ciotat und dem Cap Canaille mitten im Wald«, sagte er ins Telefon. »Wir wollten hier parken und wandern gehen, aber der Wald ist voller Rauch. Irgendwo nicht weit von hier brennt es.«
Der Feuerwehr gelang es, ihn zu orten. Die Person am anderen Ende der Leitung befahl ihm, kehrtzumachen und wegzufahren, so schnell es ging. Waldbrände konnten sich rasant ausbreiten.
Als Mike auflegte, sagte er: »Wir sollen dort unten warten, wo der Weg von der Straße abbiegt. Wir sollen raus aus der Gefahrenzone. Allerdings sind nirgends Flammen zu sehen. Komisch!«
»Komm, Mike!«, rief Zoé. Ihr war bewusst, dass ihre Stimme wieder sehr dünn klang. Aber der Rauch im Wald behagte ihr ganz und gar nicht. Doch Mike ging hinter den Holzhaufen und blickte den Hang hinunter.
»Komm, Mike!«, rief Zoé noch einmal. Sie wollte nichts wie weg.
Aber er blieb wie angewurzelt stehen.
»Es besteht keine Gefahr!«, stellte er fest. »Dort unten ist ein ausgebranntes Auto, das raucht. Aber es brennt nicht mehr. Sieht seltsam aus. Hat wohl jemand hierhergefahren und angezündet. Komm, gehen wir hin!«
»Aber ... wenn es explodiert?«, fragte Zoé zaghaft.
»Aber nein! Es ist schon explodiert und raucht wie verrückt. Aber es brennt nicht mehr.«
Mike zog Zoé an der Hand mit sich. Nun sah sie es auch. Das dunkle Fahrgestell eines ausgebrannten Autos ein wenig weiter unten im Kiefernwald.
»Da unten ist auch ein Weg. Komm, steigen wir hinunter! Ich muss der Feuerwehr meine Position melden!«
Das Autowrack qualmte fürchterlich, aber gefährlich schien es in der Tat nicht mehr zu sein.
»Es hat schon gebrannt«, meinte Mike wieder. »Wahrscheinlich ein gestohlenes Auto, mit dem ein Überfall verübt wurde. Putain, diese Blödmänner, das hätte leicht einen Waldbrand geben können! Zum Glück hat es Anfang der Woche so viel geregnet.«
Mike rief noch einmal die Feuerwehr an und sagte seine Position durch. Sein eigener Wagen stand weiter oben, und die Feuerwehrleute mussten einen anderen Weg nehmen, um zu dem Wrack zu gelangen.
Zoe begann zu husten, und Mike zog sie vom Auto weg. »Komm, wir gehen wieder nach oben!«, meinte er. »Hier ist zu viel Rauch.«
Sie keuchten den Hügel hinauf. Zoe bereute es, nach unten gegangen zu sein. Die zwischen den Kiefern wachsenden Sträucher stachen durch ihre Jeans, und sie fand den Aufstieg wegen der schlechten Luft sehr beschwerlich. Ihre Turnschuhe waren hauptsächlich für die Stadt geschaffen, und der Boden war steinig und abschüssig. Als sie endlich oben ankamen, sahen sie unten Blaulichter.
»Sie sind schon da!«, stellte Mike zufrieden fest. »Wir müssen wieder hinunter.«
Zoé seufzte. Das ausgebrannte Auto interessierte sie nicht. Sie wollte zurück nach La Ciotat, an den Hafen, dort ein Eis essen oder einen Cappuccino trinken. Oder sich ein wenig ans Meer setzen. Allerdings würde Mike nun einen anderen ruhigen Ort suchen wollen. Vielleicht war es doch besser, den Feuerwehrleuten zuzusehen und auf diese Weise Zeit zu gewinnen?
Mike stieg wieder ziemlich rasch den Hang hinunter. Zoé folgte ihm langsamer. Sie wollte sich nicht den Knöchel verstauchen.
Sie sah, dass zwei Feuerwehrautos angekommen waren und aus jedem vier Männer sprangen. Mike winkte ihnen zu. Sie hatten ihn erblickt, machten ihm jedoch Zeichen, nicht näher zu kommen.
Ehe Zoé sich's versah, begannen sie das Auto mit Wasser vollzuspritzen. Sie fand es jetzt doch interessant, den Feuerwehrmännern zuzuschauen.
Sie arbeiteten sehr schnell, spritzten Wasser mit Löschschaum auf den verkohlten Wagen, und bald rauchte er nicht mehr. Zoé stand neben Mike. Er schien von der ganzen Sache ziemlich gebannt zu sein. Nun näherten sich die Feuerwehrmänner dem ausgebrannten Wagen und sahen in das Wrack hinein.
»Putain, merde!«, hörte sie den Mann rufen, der die Heckklappe des Autos geöffnet hatte.
Die anderen drängten sich um ihn, um ebenfalls einen Blick ins Innere zu werfen.
Zoé sah, dass einer ein Telefon zückte. Neugierig näherte sich Mike der Szene. Sie selbst beschloss, dort zu bleiben, wo sie war. Verdutzt beobachtete sie, wie Mike zu den Feuerwehrmännern trat, zwei von ihnen ihn aber nach hinten schoben.
Einer ging mit ihm in ihre Richtung und redete auf Mike ein.
Zoé konnte nicht verstehen, worum es ging, sie begriff nur, dass der Feuerwehrmann auf keinen Fall wollte, dass Mike in den Wagen hineinsah.
»Okay, dann hauen wir ab!«, meinte Mike und wandte sich zum Gehen.
Doch der Feuerwehrmann rief ihm nach:
»Nein, Sie warten hier mit Ihrer Begleitung, die PJ wird gleich kommen und Sie befragen!«
»Ich habe nichts getan!«, erwiderte Mike aufgebracht.
»Nein, aber Sie haben uns gerufen! Sie sind ein wichtiger Zeuge!«
Zoé zuckte zusammen. Warum würde die Polizei kommen? Sie wollte keine Probleme mit denen. Ihre Eltern hatten keine Ahnung, dass sie mit einem Zwanzigjährigen allein im Wald unterwegs war. Auch Mike sah verunsichert aus, als er auf sie zukam. Er wusste gewiss, dass sein Verhalten nicht ganz astrein war. Er war volljährig, sie minderjährig, sie waren in den Wald gefahren, um im Auto zu knutschen und noch viel mehr. Die Polizisten konnten ihm daraus einen Strick drehen. Und sie selbst konnte mit den Eltern ernste Probleme kriegen.
Zoé spann den Gedanken weiter. Hoffentlich dachten die Polizisten nicht, dass sie beide den Brand gelegt hatten!
Nun kam Mike bei Zoé an. Seine Stimme war tonlos, als er verkündete: »Im Kofferraum liegt eine verkohlte Leiche. Sie wollen nicht, dass wir sie sehen. Aber die Polizei wird uns befragen, weil wir das Auto gefunden haben!«
Nadia saß in ihrem Büro und schaffte Ordnung in ihrem Computer. Es war nötig, denn sie hatte an die siebentausend E-Mails in ihrem Posteingang. Sie seufzte dabei immer wieder tief. Warum musste nur so viel Verwaltungskram mit ihrem Job verbunden sein? War der wirklich unerlässlich? Das ganze Administrative mit den Berichten, den Statistiken und den offiziellen Schreiben, die alle gelesen werden mussten, vergällten ihr teilweise ihre Arbeit als Lieutenant de Police und Leiterin eines Ermittlungsteams.
Für ihre Vorgesetzte, Commissaire Prévert, war alles noch schlimmer. Martine Prévert, mit der sich Nadia gut verstand und manchmal auch mittagessen oder etwas trinken ging, hatte der jungen Polizistin erklärt, dass sie selber zehnmal mehr administrativen Quatsch erledigen musste als ihre Ermittlungsleiter und manchmal befürchtete, in den ganzen Rundschreiben, Weisungen und Formularen des Ministeriums zu ersticken.
»Das ist Frankreich«, hatte sie zu Nadia gesagt. »Frankreich ist das Land, in dem der administrative Kram für besonders wichtig gehalten wird.«
Nadia selbst glaubte jedoch, dass es überall auf der Welt dasselbe war und dass durch die Existenz von E-Mail und Intranet viel zu viele Dokumente in Umlauf kamen.
Die Commissaire erschien an Nadias Bürotür. »Nadia, du musst nach La Ciotat. Eine verkohlte Leiche in einem verbrannten Auto mitten im Kiefernwald ganz in der Nähe der Küste. Du fährst mit Rachid hin. Die Spurensicherung ist schon dort. Es sieht nach einem Mord im Drogenmilieu aus, aber die Stups werden unsere Hilfe brauchen. Rachid und du, ihr kümmert euch um diesen Fall.«
Nadia spürte, wie neue Energie durch ihren Körper strömte. Eine verkohlte Leiche in einem Auto! Ein Barbecue! Es sah tatsächlich nach einer Tat der Drogenhändler aus. Ein aufregender Fall, der sie allerdings wieder einmal in die Quartiers Nord, die unliebsamen Vorstädte Marseilles, führen würde.
Nadia nahm ihre Jacke und verließ ihr Büro. Rachid war schon unten im Innenhof, wo er ein Auto bekommen hatte. Wie Nadia kam er jeden Morgen mit dem Motorrad ins Commissariat, deshalb brauchten sie jetzt einen Dienstwagen. Nadia ließ sich neben ihm auf den Beifahrersitz plumpsen. Rachid arbeitete für die Drogenbrigade, während Nadia in der Crim, der Abteilung für Schwerverbrechen, angestellt war. Auch privat waren Nadia und Rachid seit einigen Monaten eng befreundet. Nadia hatte ihn immer schon geschätzt, doch durch den Tod eines gemeinsamen Freundes, des Staatsanwaltes David Maurin, war Rachid Nadias Freundeskreis nähergekommen. Inzwischen war er meistens dabei, wenn sie am Abend weggingen, eine Wanderung planten oder ein Picknick organisierten.
Rachid hatte im Januar die Aufnahmeprüfung für die Weiterbildung zum Commissaire absolviert und wartete momentan auf die Ergebnisse des schriftlichen Tests. Wenn er diese bestanden hatte, würde er im Juni zur mündlichen Prüfung antreten müssen. Und falls er bestanden hätte, dann im Herbst Marseille verlassen, um die Polizeischule bei Lyon zu besuchen. Nadia wusste, dass ihr Kollege und Freund in dieser Hinsicht innerlich gespalten war. Einerseits wollte er aus Marseille weg, weil er sich nicht mehr in Sicherheit fühlte. Die Dealer, die wie er selbst Nordafrikaner waren, bedrohten ihn immer häufiger, und seit der Erschießung seines Freundes David wusste er mit Gewissheit, dass solche Drohungen nicht nur leere Worte waren. Aber in Marseille lebten seine Eltern und seine Schwester, außerdem hatte er einen großen Freundeskreis, und es war seine Heimatstadt.
»Auf geht's«, sagte Rachid und fuhr los. Sie verließen das Commissariat, fuhren an der Major, der großen Kathedrale von Marseille, vorbei, um den Tunnel zu nehmen, der unter dem Alten Hafen und der Innenstadt nach Osten führte. Rachid hatte das Blaulicht aufs Dach geschraubt, damit sie besser vorankommen würden.
Es war selten, dass sie allein und ohne ihre Teams unterwegs waren. Für Nadia arbeiteten zwei Frauen und vier Männer, Rachid hatte vier Männer in seinem Team.
»Meine Kunden sind wieder besonders kreativ«, schnaubte Rachid. »Wir hatten in den letzten drei Jahren vier Barbecues, allerdings immer am Stadtrand, nie so weit außerhalb, mitten in der freien Natur. Diese Idioten! Sie hätten leicht einen Waldbrand auslösen können!«
»An solche Dinge denken sie in ihrem Blutrausch sicher nicht«, entgegnete Nadia.
Aber Rachid hatte natürlich recht. Diese Wälder, in denen vorwiegend Mittelmeerkiefern, sogenannte Aleppo-Kiefern wuchsen, brannten lichterloh, wenn es zu trocken war. Es gab fast jedes Jahr irgendeinen schweren Brand in der Umgebung von Marseille, allerdings meistens im Hochsommer. Wahrscheinlich war der Boden im Moment noch feucht genug, um Waldbrände zu verhindern.
Zum Glück war im Tunnel und vor allem an dessen Ausgang an diesem Nachmittag nicht viel los, und sie waren bald auf der Autobahn A50, die in die Orte führte, die östlich der Großstadt lagen. Dort kamen sie zügig voran.
»Noch keine Nachrichten von deiner Aufnahmeprüfung?«, fragte Nadia Rachid.
Er schüttelte den Kopf und seufzte tief. »Keine. Ich weiß gar nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll, wenn ich sie nicht bestehe. Im Moment bin ich in so einer provisorischen Situation, ich habe keine Ahnung, wie mein Leben weitergehen wird. Und ich weiß auch nicht, ob ich Marseille wirklich verlassen will, trotz des gefährlichen Berufes.«
Nadia sah den Freund von der Seite an. Sie konnte sich vorstellen, wie er sich fühlte. Davids Tod hatte Rachid tief getroffen. Er hatte nicht nur seinen Kumpel verloren und war sich der Gefahr bewusst geworden, die sein Beruf für ihn darstellte. Da war auch noch die Sache mit Aurore, Davids Verlobter. Sie war über den Verlust ihres Partners untröstlich gewesen, und Rachid, der gleich nebenan wohnte, hatte sich sehr viel um sie gekümmert. Nadias gesamter Freundeskreis hatte Aurore unterstützt, und sie hatte beschlossen, vorerst in Marseille zu bleiben, obwohl ihre Familie in Paris lebte. Es war sehr bald offensichtlich geworden, dass Rachid in Aurore verliebt war. Und wahrscheinlich mochte sie ihn ebenfalls mehr, als sie sich eingestand. Aber gewiss wollte sie sich im Moment in keine neue Beziehung stürzen. Obwohl alle fanden, dass Rachid der ideale Mann für sie war. Sogar Nadia, die seit jeher auf Frauen stand, war dieser Meinung, ihre Lebensgefährtin Laura ebenso.
Rachid war sehr attraktiv, äußerst intelligent, liebenswürdig und ein guter Freund und Kollege. Seine Familie stammte aus Marokko, aber alle Familienmitglieder hatten sich in Frankreich voll integriert. Sie waren nicht religiös und sprachen perfekt Französisch, nur wenn sie miteinander stritten, wechselten sie ins Arabische. Rachid nahm die Situation mit Aurore, seiner ungewissen Karriere und seinem eventuellen Umzug nach Lyon sicher mit, wenngleich er es nicht zeigte.
»Ich weiß«, meinte Nadia. »Es ist mir genauso gegangen, als ich mich zum Lieutenant ausbilden ließ. Damals hatte ich gerade Laura kennengelernt, und ich wusste nicht, ob ich die Prüfung bestehen wollte oder nicht. Aber ich hatte das Glück, nach der Weiterbildung nach Marseille zurückzukommen.«
Rachid seufzte tief. »Ich weiß nicht, ob das so ein großes Glück ist! Diese Stadt ...« Er schüttelte den Kopf.
»Rachid, ich habe jahrelang in Lyon und Paris gearbeitet. Du glaubst, Marseille sei krimineller als andere Städte. Aber in Lyon und Paris ist es genauso. Das Problem ist nicht diese Stadt, sondern unser Beruf.«
»Sicher ... Aber ich kenne hier die meisten meiner Kunden persönlich. Während ich in einer anderen Stadt mit anonymen Verbrechern konfrontiert sein werde.«
Allerdings. Rachid kannte die Vorstädte in- und auswendig, was ein Vorteil war. Aber auch die Drogenhändler kannten ihn und bedrohten ihn regelmäßig. Und nun begann Rachid Angst zu haben. Er wollte nicht mehr in der Drogenbrigade von Marseille arbeiten. Er hatte den Freunden anvertraut, dass er ohnehin seine Versetzung beantragen würde, auch wenn er die Aufnahmeprüfung nicht schaffte.
Nadia hatte ihm vorgeschlagen, doch einfach die Drogenbrigade zu verlassen und sich stattdessen mit Schwerverbrechen zu befassen. Sie selbst musste oft aus Marseille hinaus ins Hinterland und in ländlichen Gegenden ermitteln. Sie verbrachte zwar auch einige Zeit in den Banlieues, aber längst nicht so viel wie Rachid und seine Kollegen, die ständig dort unterwegs waren. Rachid hatte gemeint, er würde sich das überlegen. Doch Nadia war sich ziemlich sicher, dass er sich nichts überlegen musste, weil er die Prüfung bestehen würde. Er war äußerst intelligent und hatte als Nordafrikaner gewisse Vorteile. Es ging natürlich um die Quote, die Tatsache, dass in der Polizei Nordafrikaner in führenden Positionen bevorzugt wurden, weil es davon kaum welche gab und sie dringend benötigt wurden. Genauso wichtig waren aber auch seine Sprachkenntnisse. Rachid sprach perfekt Arabisch, Englisch und Spanisch, was ihm zusätzlich Punkte einbrachte.
Bald kamen sie nach La Ciotat, einem Hafenstädtchen östlich von Marseille, das ein hübsches kleines Zentrum mit einem malerischen Jachthafen besaß, aber auch einen größeren Industriehafen mit Schiffswerften. La Ciotat war auch landschaftlich sehr schön mit den kleinen Calanques, Felsbuchten, und bizarr geschliffenen Felsen, die aus einem orange-rötlichen Gestein bestanden. Westlich des Ortes erhob sich der Bec d'Aigle, der Adlerschnabel, mit seiner bizarren Schnabelform, dahinter das Cap Canaille, das die Grenze zwischen den Gemeinden Cassis und La Ciotat darstellte. Nadia kannte diesen Felsen sehr gut, weil sie dort regelmäßig kletterte.
»Der Wagen wurde zwischen Cap Canaille und Bec d'Aigle gefunden«, erklärte Rachid. »Einige Kilometer von der Route des Crêtes und der Küste entfernt. Auf einem Forstweg. Versuch mal, die Navi-Koordinaten in dein Handy einzugeben.«
Das gelang, und sie fuhren über winzige Straßen durch den Kiefernwald. Bald ratterten sie einen Schotterweg entlang Richtung Cap Canaille.
»Zum Glück haben wir nicht unser eigenes Auto«, Rachid grinste. »Das ist ja kriminell hier.«
Nadia besaß kein Auto, sie war immer auf dem Motorrad oder im Wagen ihrer Lebensgefährtin Laura unterwegs. Rachid nahm ebenfalls meist sein Motorrad und teilte sich ein Auto mit seiner Schwester, die es sicher unerhört gefunden hätte, wenn er ihren gemeinsamen Fiat auf diesem Weg malträtiert hätte.
Bald schon sahen sie Feuerwehrautos und Polizeiwagen. Auch die Spurensicherung war bereits vor Ort.
Rachid stellte den Wagen hinter den Wagen der Feuerwehr ab, und sie gingen schnell auf das verkohlte Auto zu, um das herum extreme Geschäftigkeit herrschte.
Nur wenige Meter vom Wrack entfernt lag der Tote auf dem Boden. Nadia war an sich nicht zimperlich, sie hatte während ihrer acht Jahre bei der Kriminalpolizei schon sehr schlimm zugerichtete Leichen gesehen. Den Anblick dieser vollkommen verbrannten, bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leiche fand sie jedoch unerträglich. Das Gesicht war nur mehr eine verkohlte schwarze Masse, aus der die Zähne hell und makaber hervorstanden, von der Kleidung des Toten war fast nichts mehr zu sehen. In der Luft lag ein penetranter unangenehmer Geruch nach verbranntem Fleisch. Nadia hoffte inbrünstig, dass dieser Mensch tot gewesen war, bevor das Auto, in dessen Kofferraum er sich befunden hatte, angezündet worden war.
Zu ihrer Freude sah sie, dass Louis Fernandez, der Leiter der Rechtsmedizin und der älteste Arzt Marseilles, vor Ort war. Er begrüßte sie erfreut.
»Bonjour, Lieutenant Aubertin!«, rief er. »Bonjour, Capitaine Fandouli! Heute haben wir einen besonders gut aussehenden Kunden.«
Der alte Rechtsmediziner grinste breit.
Nadia wusste, dass er gern deftige Witze machte und einen makabren Humor besaß. Nur die Anwesenheit ihrer Freundin und Kollegin Fiona, auf die der alte Arzt stand, veranlasste ihn, sich zu mäßigen. Doch an diesem Nachmittag war Fiona nicht da und er schien besonders gut in Form zu sein.
»Ich wollte anfangs Docteur Mellot schicken. Aber sie ist immer so fürchterlich schick gekleidet, und da habe ich mir gedacht, ein ausgebranntes Auto mitten im Wald, da geht der sportliche Opa lieber mal selbst hin.«
Nadia nickte. »Gut so. Wir freuen uns, Sie zu sehen. Haben Sie schon irgendetwas feststellen können?«
»Nun, ich brauche es Ihnen nicht zu sagen. Es sieht nach einem Toten aus dem Milieu der Drogenhändler aus. Das Auto hat kein Nummernschild, es ist komplett ausgebrannt, doch die Techniker meinen, es sei ein Opel Corsa gewesen. Der Genosse hier scheint ein Mann zu sein, was auch nicht erstaunlich ist. Allerdings vermute ich aufgrund der Statur, dass es sich um einen Mann um die fünfzig handelt. Was für den Drogenmarkt ein bisschen alt ist. So alt werden die kaum und wenn, dann setzen sie sich irgendwohin ab. Aber das ist vorläufig nur eine Vermutung. Morgen werde ich Ihnen mehr sagen können.«
Nadia wusste, dass Fernandez sich nur selten irrte. Auch nicht bei vorläufigen Vermutungen.
»Haben Sie eine Ahnung, wie er gestorben ist? Ist am Körper irgendetwas festzustellen?«, fragte Rachid.
Fernandez schüttelte den Kopf. »Auf den ersten Blick nicht. Aber auch darüber werden ich Ihnen morgen mehr sagen können. Normalerweise werden diese Typen erschossen und dann erst verbrannt. Sie wissen ja, dass es sich bei einem Barbecue um eine Marseiller Spezialität handelt.«
Rachid und Nadia nickten. Jeder wusste das, dafür brauchte man nicht bei der Polizei zu arbeiten.
Einer der Techniker kam auf sie zu und begrüßte sie. Bruno, der Leiter der Kriminaltechnik, war anscheinend nicht vor Ort, und dieser Kollege vertrat ihn.
»Wir haben im Moment keine Anhaltspunkte für die Identität des Toten. Kein Handy, kein Schmuck, gar nichts wurde im Auto gefunden. Nur ein Taschenmesser und eine Gabel haben im Handschuhfach überlebt.«
Der Techniker reichte Rachid ein Säckchen mit den ziemlich ramponierten Gegenständen. Rachid sah sie sich an, und plötzlich kniff er die Augen zusammen.
»Auf dem Messer, da steht etwas geschrieben!«, sagte er. »Ich kann es nicht lesen, aber vielleicht könnt ihr es reinigen?«
»Klar«, meinte der Techniker. »Aber zuerst suchen wir darauf nach Fingerabdrücken.«
Bald trat einer der Polizisten, die vor ihnen vor Ort gewesen waren, an Nadia und Rachid heran: »Wenn Sie mit den jungen Leuten sprechen wollen, die das Auto gefunden und die Feuerwehr gerufen haben ... sie sitzen dort hinten!« Er deutete auf ein Pärchen, das ein wenig weiter oben auf einem quer im Wald liegenden Baumstamm saß. »Viel haben sie nicht zu sagen, aber man weiß ja nie!«
Nadia bedankte sich und ging auf die beiden zu. »Bonjour, ich bin Lieutenant Aubertin von der Kriminalpolizei. Wir werden hier eine Mordermittlung einleiten.«
Das zierliche Mädchen zuckte zusammen. Sie schien Nadia sehr jung, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Ihr rundes, von blonden Haaren umrahmtes Gesicht wirkte kindlich. Der Junge hingegen war gewiss über achtzehn. Er war groß und muskulös, relativ gut aussehend, wirkte jedoch etwas unsicher. Sicherlich hatte er nicht jeden Tag mit der Kripo zu tun. Außerdem durchschaute Nadia die Situation. Er war volljährig, seine Begleitung nicht. Bestimmt hatte er nun Angst vor der Polizei, obwohl er nur als Zeuge und nicht als Verdächtiger vernommen werden würde.
Nadia bat die beiden Jugendlichen um ihre Ausweise und nahm ihre Personalien auf. Sie hatte sich nicht geirrt, das Mädchen war sechzehn, der Junge zwanzig.
»Sie haben also die Feuerwehr gerufen?«, begann sie mit der Befragung.
Er nickte. »Als wir den Rauch bemerkten, habe ich sofort den Notruf gewählt. Erst dann haben wir das qualmende Autowrack entdeckt.«
»Das war eine sehr gute Entscheidung«, meinte Nadia aufmunternd.
»Seid ihr von La Ciotat hier herauf gewandert?«, fragte sie dann.
Der Junge räusperte sich und errötete. »Nein. Mein Auto steht weiter oben.« Er zeigte mit der Hand den Hang hinauf, wo sich ein Holzhaufen befand.
»Hinter dem Holz. Wir sind von La Ciotat hergefahren und wollten ein Stück Richtung Cap Canaille wandern.«
»Ach ja?« Nadia zog die Brauen hoch. Die Schuhe der beiden Jugendlichen sahen nicht wie Wanderschuhe aus. Das Mädchen trug außerdem hautenge Jeans und hatte eine Handtasche dabei. Seltsame Art, wandern zu gehen!
Viel eher dachte sie, dass die beiden sich ein ruhiges Plätzchen gesucht hatten, um im Auto oder in der Natur ungestört zu sein. Wahrscheinlich würden sie den Eltern des Mädchens Bescheid sagen müssen, weil ihre Tochter bei einem romantischen Stelldichein eine Leiche gefunden hatte.
»Sie haben also den Rauch gesehen oder gerochen und sofort die Feuerwehr gerufen? Erst dann haben Sie das qualmende Auto entdeckt?«, hakte sie noch einmal nach.
Der Junge nickte. »Genau. Wir sind nicht ganz ran, weil der Rauch wirklich widerwärtig war. Und dann haben wir hier auf die Feuerwehr gewartet. Sie kam sehr schnell. Ich habe sie um drei gerufen, um viertel nach waren sie vor Ort. Allerdings mussten wir dann noch eine Stunde auf Sie warten. Dürfen wir jetzt gehen? Zoé muss nach Hause.«
Das Mädchen nickte und bedachte Nadia mit einem ängstlichen Blick.
Nadia überlegte. »Ja, ich denke, wir brauchen Sie im Moment nicht mehr. Geben Sie mir bitte Ihre Telefonnummern, und eventuell muss ich auch Ihre Eltern verständigen, Zoé.«
Das Mädchen sah Nadia bang an. »Es – lieber nicht. Meine Eltern wissen nicht, dass ich mit Mike zusammen bin. Und wir sind doch nicht verdächtig, oder?«
Nadia musste lachen. »Nein, auf keinen Fall. Aber wenn wir Sie noch einmal befragen müssen, dann muss ein Erziehungsberechtigter dabei sein. Allerdings haben Sie uns alles gesagt, denke ich. Belassen wir es im Augenblick dabei. Nur noch eine Frage: Ist Ihnen beim Herauffahren niemand begegnet? Zu Fuß oder im Wagen? Haben Sie überhaupt niemanden gesehen?«
Die beiden sahen sich an und schüttelten die Köpfe.
»Niemanden seit dem Ortsrand von La Ciotat«, antwortete der Junge. »Gleich am Anfang des Schotterweges habe ich eine Frau mit einem Labrador spazieren gehen sehen und dann niemanden mehr.«
»Kennen Sie die Gegend gut?«, fragte Nadia ihn. »Die Wege und so?«
Er nickte. »Ich bin früher oft hier spazieren gegangen. An der Stelle, wo wir geparkt haben, führt ein Pfad Richtung Cap Canaille.«
»Und dieser Weg?«
»Wenn ich mich nicht irre, mündet er in einen anderen, etwas breiteren Weg, der direkt zur Route des Crêtes führt.«
»In Ordnung. Er ist von beiden Seiten also vollkommen befahrbar?«
Der Junge nickte. Nadia seufzte.
Sie hatten keine Ahnung, woher der Wagen gekommen war, und keinen Hinweis auf die Identität des Opfers.
Sie entließ die beiden Jugendlichen, die erleichtert wirkten und sich den ziemlich steilen Hang hinauf mitten durch die Sträucher auf den Weg machten.
Die Polizisten unterhielten sich noch mit den Feuerwehrmännern. Diese vermuteten, dass das Auto in der vorhergehenden Nacht angezündet worden war. Die Gefahr für den Wald war wegen der Regenfälle der letzten Tage nicht besonders groß gewesen. Trotzdem war es eine Riesendummheit, ein Auto mitten im Nadelwald zu verbrennen.
Bald gab es am Fundort der Leiche nichts mehr zu tun, Nadia und Rachid brachen auf. Beide telefonierten mit ihren Teams im Büro, um sofort eine Liste aller in der Gegend vermissten Männer erstellen zu lassen. Derjenige, der da verkohlt im Auto lag, war sicher an diesem Morgen nicht bei der Arbeit oder zu Hause erschienen. Und war vielleicht schon länger abgängig!
Rachids Team würde sich vor allem die neuesten Informationen zu den verschiedenen Drogenringen ansehen, und Nadia wollte sich um eventuelle andere Vermisste kümmern. Die Commissaire würde eine Meldung an die Medien herausgeben, auch wenn im Moment keine Pressekonferenz geplant war. Der Vorteil dieses abgelegenen Fundortes des Wracks und der Leiche war, dass die Presse noch nicht auf dem Laufenden war und sie vorerst in Ruhe ermitteln konnten.
Rosie fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit vom Einkaufen nach Hause. Hinter ihr brüllte Cyril wie am Spieß in seinem Autositz. Das Baby war müde, konnte jedoch nicht einschlafen. Es war heiß im Wagen, die Lüftung funktionierte nicht richtig, und Rosie war ungeduldig. Sie fuhr etwas zu schnell durch den Ort auf ihr Stadtviertel zu und bemerkte die beiden Gendarmes, die mit der Radarpistole auf sie zielten, zu spät. Fluchend bremste Rosie ab, aber das nützte nun nichts mehr. Nur wenige Hundert Meter weiter wurde sie von Kollegen der beiden angehalten.
»Hier sind fünfzig Stundenkilometer erlaubt, Madame. Sie sind mit siebzig unterwegs gewesen. Das kostet Sie hundertfünfunddreißig Euro und drei Punkte.«
Rosie knirschte mit den Zähnen. Drei Punkte! Sie hatte zwar noch alle zwölf, aber sie fand das trotzdem unfair. Wortlos nahm sie den Strafzettel entgegen und fuhr weiter, ohne sich von den beiden jungen Männern in Uniform zu verabschieden. Sie wusste, dass die Gendarmes in ihrer Kleinstadt ein ungutes Pack waren. Ihr eigener Schwager, der Mann ihrer älteren Schwester, war Gendarme, und Rosie mochte ihn nicht. Sie vertraute ihm nicht im Geringsten. Er schien ihr durch und durch korrupt. Rosie war sich sicher, dass er im Rahmen seiner Arbeit immer wieder krumme Dinger drehte und dabei von seinen Kollegen unterstützt oder gedeckt wurde. Außerdem hatte er etwas an sich, was ihr Angst machte. Er war sehr aufbrausend und leicht aus der Fassung zu bringen. Es war nicht angenehm, mit ihm zu diskutieren und nicht derselben Meinung wie er zu sein. Rosies Schwester Clémence wirkte in ihrer Ehe nicht unbedingt glücklich, aber anscheinend zog sie dennoch nicht in Betracht, ihren Mann zu verlassen. Wahrscheinlich, weil sie zwei Kinder im Alter von acht und zehn Jahren hatte und selbst zu wenig verdiente, um allein durchzukommen.
Clémence und Francis wohnten in einer sogenannten Kaserne, einer Dienstwohnung der Gendarmerie, die in Wirklichkeit ein kleines Haus neben der Brigade, der Dienststelle von Clémences Mann, war. Rosie hätte um keinen Preis dort wohnen wollen, neben den Kollegen ihres Mannes, wo jeder jeden kannte und alle sich ständig beobachteten. Aber Clémence war sehr pragmatisch. Francis musste wegen seiner Arbeit dort wohnen, und in La Ciotat hätten sie sich ohnehin nur schwer ein Haus mit einem kleinen Garten leisten können.
Diesbezüglich konnte Rosie ihrer Schwester nur zustimmen, sie selbst lebte mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Baby in einer Wohnung und fand kein Haus, das ihren finanziellen Verhältnissen entsprach. Nun erwogen Joël und sie, vom Meer weg ins Hinterland zu ziehen, in ein kleines Dorf, wo die Häuser etwas günstiger waren. Wenn Cyril zu laufen begann, dann wollten sie auch einen Garten. Ihr Sohn sollte im Grünen aufwachsen, nicht in einer Mietwohnung.
Rosie wusste, dass ihr Schwager Francis die Aktion angezettelt hatte, der sie gerade zum Opfer gefallen war. Er war ein Adjutant, nach dem Leiter der Dienststelle war er der Gendarme mit dem höchsten Dienstgrad. Er hatte ihr einmal voller Genugtuung erklärt, dass es heutzutage nicht mehr möglich sei, Freunden oder Familienmitgliedern die Strafe zu erlassen, weil alles sofort im Computer erfasst wurde und direkt nach Rennes ins Zentrum für Verkehrssicherheit ging. Ansonsten hätte Francis sicher irgendetwas gedeichselt, um seinen Freunden zu helfen und gleichzeitig auch daran zu verdienen. Nun, es war inzwischen nicht mehr so einfach, ein korrupter Gendarme zu sein, sicher gab es aber trotzdem Möglichkeiten, sich bei der Polizei nebenbei zu bereichern. Nun war Rosie wirklich zornig auf ihren Schwager, obwohl ihr so eine Sache überall hätte passieren können und die Gendarmes ja theoretisch gesehen im Recht waren.
Aber sie mochte Francis einfach nicht, und sie wäre erleichtert gewesen, wenn Clémence ihn verlassen hätte. Da war etwas an diesem Mann, was sie zutiefst störte.
Rosie fuhr trotz ihres Zorns nun langsamer nach Hause, wobei sie wütend schnaubte. Cyril hatte sich seltsamerweise beruhigt und schlief. Rosie seufzte. Sie hoffte, dass er nicht in dem Moment wach würde, in dem sie den Kindersitz aus dem Auto hob. Denn dann würde er wieder schreien und nicht mehr einschlafen. Es gelang ihr, den Maxi-Cosi mit dem schlafenden Baby in die Küche zu stellen. Cyril wachte tatsächlich nicht auf.
Rosie hatte die Zeit, ein wenig aufzuräumen, dann beschloss sie, ihre Schwester anzurufen und ihr von ihrem Strafzettel zu erzählen. Doch Clémence meldete sich nicht. Sie arbeitete als Sekretärin in einer großen Spedition und konnte nicht immer ans Telefon gehen. Rosie erreichte allerdings ihren Lebensgefährten Joël und berichtete ihm, was geschehen war.
»Aber Rosie«, belehrte er sie, »du weißt doch, wie das auf dieser Strecke ist. Dort stehen sie ständig! Mich haben sie schon zweimal erwischt. Auch wenn der Kleine hinten im Wagen brüllt, du musst dich zwingen, langsam zu fahren.«
Rosie schnaubte genervt. »Das war wieder einmal Francis' Werk.«
Joël lachte nur. »Du bist ungerecht. Ich sag dir, die Gendarmes machen überall im ganzen Land dasselbe. Sie stellen sich an solche Strecken, auf denen die Fahrer gern rasen. Außerdem kümmert sich Francis schon seit Langem nicht mehr um Verkehrskontrollen, sondern um Straftaten. Das hat er uns doch erzählt. Du magst ihn wirklich nicht, deinen Schwager, wenn du jetzt auf ihn so zornig bist.«
»Nein, überhaupt nicht. Ich konnte ihn noch nie ausstehen. Von Anfang an nicht.«
Rosie konnte sich an ihre erste Begegnung mit dem damaligen Freund ihrer Schwester erinnern. Sie war damals richtig erschrocken. Sie wusste nicht, was es gewesen war, aber nun dachte sie, dass sie eine ungute Vorahnung überkommen hatte. Bei Rosie war das manchmal so. Ganz instinktiv fühlte sie Dinge, die anderen komplett verborgen blieben. Sie wusste, dass es unmöglich war, in die Zukunft zu schauen, aber sie glaubte an Vorahnungen.
Und bei Francis war die Sache sehr ernst gewesen. Sie hatte an diesem Mann etwas wahrgenommen, was sie in tiefe Beunruhigung versetzt hatte. Sie hatte, nur wenige Monate nachdem Clémence mit dem Gendarme zusammengezogen war, den Eindruck gehabt, dass ihre Schwester sich verändert hatte. Clémance war nicht mehr so lebensfroh, sprühend und optimistisch. Rosie war damals erst achtzehn gewesen, aber sie hatte als Einzige hinter Francis' angenehme und freundliche Fassade geblickt und von Anfang an befürchtet, dass er Clémence nicht gut behandelte. Als Vater war er hingegen fantastisch. Ihr fiel auf, dass er Clémence als sein Eigentum betrachtete. Sie gehörte ihm, er durfte sie behandeln, wie er wollte. Clémence fürchtete sich anscheinend vor ihm. Sie war mit ihren zwei Kindern viel zu abhängig von Francis, der gut verdiente und auch das Haus von seinem Arbeitgeber – der französischen Armee – zur Verfügung gestellt bekommen hatte.
In den vergangenen Wochen war Clémence Rosie besonders niedergeschlagen erschienen. Sie hatte gesundheitliche Probleme, das war erwiesen. Sehr häufig hatte sie Migräneanfälle und blieb mehrere Tage lang im Bett. Auch ihr Immunsystem war wohl nicht das beste. Sie erwischte jede Krankheit, die gerade umging. Außerdem hatte Clémence in den vergangenen Monaten sehr viel Gewicht verloren.
Auch die Eltern machten sich Sorgen um sie und boten ihr ihre Hilfe an, wann sie nur konnten. Sie wohnten in dem kleinen Dorf La Cadière d'Azur nicht weit von La Ciotat entfernt und luden die beiden Jungs häufig zu sich ein. Den Kindern schien es gut zu gehen, doch auch an ihnen nahm Rosie etwas wahr, was ihr nicht gefiel. Benjamin und Lucas hatten sich komplett auf ihren Vater fixiert. Sie wollten wie er Gendarme werden, wie er eine Pistole mit sich tragen und schienen wie er ihre Mutter nicht besonders wertzuschätzen. Vielleicht fiel Rosie das alles auf, weil sie selbst ihre ältere Schwester seit jeher vergöttert und verehrt hatte. Vielleicht war sie auch eifersüchtig auf die Familie ihrer Schwester?
Joël jedenfalls bemerkte bei Francis und dessen Söhnen nichts Negatives. Er verstand sich mit dem Schwager, der immer etwas zu erzählen hatte, relativ gut und fand ihn sehr gesellig. Aber ihr Lebensgefährte hatte eine sehr positive, manchmal etwas naive Einstellung zum Leben und zu seinen Mitmenschen, während Rosie Probleme zumeist sofort auffielen. Sie hatte dafür einen sechsten Sinn.
Rosie seufzte und beschloss, ihre Gedanken von ihrer Schwester weg auf etwas Positiveres zu lenken. Der Frühling war da, und am Wochenende wollten sie mit mehreren befreundeten Paaren, die auch kleine Kinder hatten, ein Picknick am Meer veranstalten.
Rosie begann eine WhatsApp-Gruppe zu erstellen und eine Nachricht zu verfassen. Sie schlug einen Ort vor, den sie alle gern mochten, die Calanques de Figuerolles, eine südwestlich von La Ciotat liegende Bucht mit einem schönen Strand, umgeben von bizarren Felsen, und mit glasklarem Wasser. Vielleicht hatte aber jemand eine bessere Idee? Und jeder sollte bitte schreiben, was er mitzubringen gedachte. Rosie wollte einen pikanten Kuchen, einen sogenannten Cake, mit Oliven backen und einen griechischen Salat machen. Als sie die Nachricht abschicken wollte, rief ihre Schwester an.
Nun konnte Rosie ihre Wut auf die Gendarmerie von La Ciotat loswerden!
Clémence wirkte wie meistens in den letzten Wochen zögerlich und niedergeschlagen.
»Rosie«, sagte sie, »ich habe wieder einmal eine fürchterliche Migräne. Mein Schädel droht zu zerspringen.«
Rosie erschrak. »Musst du zum Arzt? Soll ich kommen?«
»Nein, nein, so schlimm ist es nicht ... Nur ... diese ständigen Anfälle! Und, Rosie ... Francis' Kollegen sind vor einer Stunde vorbeigekommen. Francis hätte heute Morgen Dienst gehabt, aber er ist nicht aufgetaucht. Und mir hat er gestern gesagt, er hätte Nachtschicht! Sein Telefon ist tot. Sie sind dabei, es zu orten.«
Clémence klang reichlich besorgt. Rosie seufzte. War das jetzt Francis' nächster Schritt? Seiner Frau einfach nicht mehr zu sagen, wo er hinging? Allerdings war die Sache seltsam. So unwichtig ihm Clémence war, so ernst nahm Francis seinen Beruf. Er wäre niemals grundlos der Arbeit ferngeblieben. Wenngleich Rosie ihn auch als einen Gendarme einstufte, der mit einem einzigen Schritt die Seite wechseln und vom Ordnungshüter zum Verbrecher werden konnte. Warum sie diese Vermutung hegte, konnte sie nicht erklären, sie hatte dafür keine Beweise, aber sie spürte es einfach.
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«, fragte Rosie ihre Schwester.
Clémence schien einen Augenblick lang zu überlegen.
»Gestern früh«, sagte sie dann. »Als ich zur Arbeit ging. Als ich heimkam, war er nicht da, aber ich war mir sicher, dass er nebenan war.« Nebenan, das war die Dienststelle, die nur Hundert Meter vom Haus entfernt lag und einen eigenen Eingang hatte.
Rosie konnte sich auf die ganze Sache keinen Reim machen. Wo konnte ihr Schwager nur stecken? Obwohl sie ihn nicht mochte, hoffte sie für ihre Schwester, die ohnehin schon an einem schweren Migräneanfall litt, dass ihm nichts passiert war.
Als Rachid zurück ins Büro kam, hatten seine drei Mitarbeiter Léo, Paul und Momo schon Neuigkeiten für ihn. Sein vierter Mitarbeiter Kevin hatte Urlaub genommen, deshalb waren sie im Team momentan nur zu viert.
»Wir haben zwei Typen in den Cités, die seit letzter Woche spurlos verschwunden sind. Nordafrikaner mit Drogenhintergrund. Einer im Parc Corot, der andere in der Cité des Oliviers. Der vom Parc Corot ist allerdings vermutlich zu jung. Erst zwanzig. Der andere ist dreißig.«
»Hm.« Rachid war mit diesen Erkenntnissen nicht zufrieden. Der Rechtsmediziner war sich ziemlich sicher, dass es sich bei der verkohlten Leiche um einen Mann mittleren Alters handelte, und Rachid wusste aus Erfahrung, dass Fernandez sich nur selten irrte.
»Und sonst? Noch jemand abgängig? Außerhalb der Drogenszene?«
»Ein Unternehmer aus Martigues, der eine Chemiefabrik besitzt. Er hatte eine Steuerprüfung. Wahrscheinlich ist er deshalb weg. Ins Ausland. Und zwei alte Männer, die schon über siebzig sind.«
»Also wurden in den letzten Tagen in der Gegend fünf Männer vermisst gemeldet?«, fragte Rachid.
Momo nickte. »Ja. Aber es könnte auch jemand aus einer anderen Region sein.«
Rachid stimmte ihm zu. »Nehmt euch die Meldungen aus dem ganzen Land vor und überprüft auch die Datenbanken von Interpol! Man weiß ja nie ...«
Die fünf Kandidaten gefielen ihm alle nicht. Bis auf den Unternehmer, der wohl eher mit seinem gesamten Geld durchgebrannt war, stimmte das Alter keines der Männer mit Fernandez' Schätzung überein. Trotzdem beschloss Rachid, sich die beiden jungen Männer aus der Vorstadt näher anzusehen. Wenn in der Banlieue jemand verschwand, dann war er entweder untergetaucht oder von einem feindlichen Drogennetzwerk eliminiert worden. Und natürlich war ein Drogenring die plausibelste Spur für diesen Mord. Wer außer den Dealern sollte ein Barbecue veranstalten?
Rachid erinnerte sich beim Durchsehen der Eintragung in der Datenbank, dass er den vermissten Mann aus der Cité du Parc Corot kannte. Er hatte schon zwei lange Haftstrafen abgesessen und im Alter von dreißig Jahren mehr Zeit hinter Gittern als draußen verbracht. Er hatte zehn Jahre zuvor bei einer Racheaktion gegen ein verfeindetes Drogennetzwerk mitgemacht, bei der es auch Tote gegeben hatte, und deshalb neun Jahre Haft bekommen. Erst vor einem Jahr war er wieder herausgekommen und hatte sich ein paar Monate lang ruhig verhalten, bis er vor einigen Wochen urplötzlich verschwunden war. Rachid seufzte. Ja, er konnte sehr gut beseitigt worden sein. Die Dealer kannten kein Erbarmen, wenn jemand ihnen im Weg war. Der Verschwundene selbst war auch einer von der Sorte, die andere einfach abknallten und in ein Auto steckten, das dann angezündet wurde. Er war tatsächlich der geeignetste Kandidat. Und doch musste Rachid auch den fünfzigjährigen Unternehmer überprüfen.
Er befahl seinen drei Kollegen, zur Cité du Parc Corot zu fahren, dort nach Khaled Bakish zu fragen, und gab vor, deren aufgebrachte Blicke zu ignorieren. Keiner ging gern in die Cités, wo sie von Drogenhändlern und ihren Handlangern, den Guetteurs, am Arbeiten gehindert und sogar bedroht wurden. Aber leider führte jede Ermittlung sie in die Banlieues, so war es in Marseille nun einmal.
Rachid beschloss, selbst die Familie des verschwundenen Unternehmers zu kontaktieren. Bald hatte er dessen Frau am Telefon.
Sie war ziemlich aufgebracht, weil sie fand, dass die Gendarmes von Martigues, die die Ermittlung übernommen hatten, nicht richtig nach ihrem Mann suchten. Sie war sich sicher, dass ihm etwas passiert war und dass er nicht freiwillig verschwunden war. Sie glaubte, dass er Probleme mit Lieferanten und Kunden gehabt hatte. Er hatte ihr nie etwas erzählt, jedoch sehr bedrückt gewirkt. Rachid fragte die Frau, ob er jemals etwas mit dem Drogenmilieu zu tun gehabt hatte, was diese entsetzt verneinte. »Absolut nicht! Wie kommen Sie denn auf so etwas?«
Rachid erklärte, dass er bei der Drogenbrigade von Marseille arbeitete und dass soeben bei La Ciotat eine verkohlte Leiche in einem Wagen gefunden worden war. Die Dame war erschrocken, das spürte Rachid, auch wenn sie bezweifelte, dass ihr Mann mit der Drogenszene etwas zu schaffen hatte. Rachid ahnte aber, dass sie über die Tätigkeiten ihres Gatten nicht auf dem Laufenden und aus diesem Grund so verunsichert war. Beinahe bereute er es, ihr Details genannt zu haben.
Anschließend erkundigte sich Rachid auch im Unternehmen des Mannes. Es gelang ihm, mit demjenigen zu sprechen, der bisher mit dem Vermissten das Unternehmen geleitet hatte. Dieser erklärte dem Capitaine, dass sein Partner sicher nicht ermordet worden war. Er war seiner Meinung nach ganz einfach ins Ausland verschwunden, hatte seine Familie verlassen und ihn, seinen Partner, mit all den Problemen wegen der Steuerprüfung allein gelassen. Er war sehr wütend auf seinen Partner, der ihn in eine unmögliche Situation gebracht hatte. Als der Mann Rachid noch genauer schildern wollte, dass sein Partner für die Steuerhinterziehungen der Firma verantwortlich war, verabschiedete sich der Capitaine schnell.
Sein Telefon läutete, und er hob ab, ohne auf die Nummer zu achten. Das war ein großer Fehler. Am anderen Ende der Leitung war Nathalie. Die er seit dem Herbst mied. Er hatte es ihr erklärt, doch sie wollte es nicht verstehen. Nathalie ließ sich von ihrem Mann scheiden und setzte alles daran, Rachid zu zeigen, dass sie ihn wirklich liebte. Ihre Affäre im letzten Sommer war mehr als nur ein Abenteuer für sie gewesen. Doch Rachid empfand nicht dasselbe für sie. Im Sommer hatte er wegen einer Drogensache in Nizza unter der Leitung von Commissaire Nathalie Barrier ermittelt. Diese hatte ihm von Anfang an deutlich gemacht, dass sie ihn besonders attraktiv fand. Rachid hatte versucht, ihre Annäherungsversuche zu ignorieren. Nathalie war siebenundvierzig und mit einem erfolgreichen Anwalt verheiratet. Außerdem fing Rachid prinzipiell in der Arbeit keine Beziehungen dieser Art an. Das konnte nur schiefgehen. Auch wenn Nathalie eine sehr attraktive Frau war, die weitaus jünger wirkte, hatte Rachid sich vorgenommen, nicht schwach zu werden. Doch Nathalie war auch eine Frau, die immer erreichte, was sie wollte. Eines Abends hatte sie Rachid in ihre Villa zitiert, um angeblich wichtige Dokumente mit ihm durchzugehen. Ihr Mann war in Paris gewesen, und sie hatte es geschafft, den jungen Capitaine zu verführen. Er hatte die Nacht und einige weitere Nächte mit ihr verbracht. Allerdings hatte er es gegen Ende seines Aufenthalts in Nizza bitter bereut. Vor allem, weil er bemerkt hatte, dass er für Nathalie viel mehr als ein Abenteuer war. Die Commissaire war nicht diskret gewesen, und die Kollegen aus Nizza hatten bald mitbekommen, was gespielt wurde.
Nach einer Woche in Nizza war Rachid wieder nach Marseille zurückgekehrt. Und dort war die Hölle über ihn losgebrochen. Denn Nathalie hatte ihrem Mann von ihrer Beziehung zu Rachid erzählt, und dieser hatte Rachids Vorgesetzten kontaktiert. Commissaire Feldmann war das alles ziemlich egal gewesen, er hatte den Rechtsanwalt abgewimmelt und Rachid lediglich eine lasche Rüge erteilt.
Aber Nathalies Mann war eines Abends zum Commissariat gekommen und hatte Rachid auf dem Heimweg abgepasst. Der Mann war wohl sehr aufgebracht gewesen, denn er hatte begonnen, Rachid auf dem Gehsteig vor dem Commissariat anzuschreien und zu stoßen. Aber Rachid war ein durchtrainierter Polizist, der auch schon Kampfsport betrieben hatte, und so hatte er dem Mann schnell den Arm auf den Rücken gedreht. Als zwei uniformierte Kollegen auftauchten, hatte er sie gebeten, Maître Barrier ins Commissariat zu bringen. Rachid hatte zwar darauf verzichtet, gegen den Rechtsanwalt Anzeige zu erstatten, und hatte ihn nach einigen Stunden in einer Zelle laufen lassen, mit der Weisung, nur ja nicht mehr zum Commissariat zu kommen. Nun waren jedoch alle Kollegen über Rachids Beziehung zu Nathalie informiert.
Rachid hatte Nathalie kontaktiert und ihr gesagt, dass er sie nicht mehr sehen wolle. Doch sie hatte ihn immer wieder angerufen und um ein Treffen gebeten. Sie würde ihren Mann verlassen und wolle mit ihm leben, auch wenn er in Marseille arbeite und sie in Nizza. Auch wenn er fünfzehn Jahre jünger war als sie. Rachid hatte sich in die Ecke gedrängt gefühlt. Er mochte Nathalie, aber er liebte sie nicht. Er war gern mit ihr zusammen gewesen, doch er wollte mit ihr nicht sein Leben verbringen. Er wollte eine Frau seines Alters, mit der er auch eine Familie gründen konnte. Und dann hatte er Aurore kennengelernt ... Und nun kam Nathalie wieder daher, mit der Nachricht, dass sie ihren Mann verließ. Rachid seufzte tief. Er hatte keine Wahl. Er musste Nathalie wehtun. Es hatte keinen Sinn, ihr etwas vorzumachen.
»Können wir uns dieses Wochenende treffen?«, fragte Nathalie. »Wie wär's mit Saint Tropez? Ich bezahle uns ein schönes Hotel.«
Rachid atmete tief durch. »Nathalie«, sagte er, »es tut mir wirklich leid, aber das mit uns beiden ... das wird nichts. Ich habe jemand anderen kennengelernt. Eine Frau meines Alters. Ich möchte die Gegend verlassen und eine Familie gründen.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Rachid zog den Kopf ein. Er hatte Angst, dass Nathalie gleich toben würde.
»Ja ...«, sagte Nathalie schließlich mit dünner Stimme »... eigentlich hätte ich mir das denken können. Was habe ich denn erwartet? Dass du wegen mir auf eine Familie verzichten würdest? Ich bin wirklich zu dumm!« Rachid hörte die Bitterkeit in ihren Worten.
»Aber nein, Nathalie«, beschwichtigte er sie, »es will nicht jeder Kinder. Aber ich habe im Winter eine Frau kennengelernt. Und sie wird mir folgen, wohin ich auch versetzt werde.«
Zugleich hasste er sich selbst, weil er log. Aber was er Nathalie vorschwindelte, war genau das, was er sich wünschte.
»Na gut, Rachid«, erwiderte Nathalie nach einem weiteren Schweigen. »Ich wünsche dir ein gutes Leben. Viel Erfolg im Beruf und viel Glück privat. Ich werde dich nicht vergessen.«
Sie legte auf. Rachid war einen Moment lang versucht, sie zurückzurufen. Aber was sollte er ihr sagen? Er konnte sie nicht trösten. Sie hatte sich einer unsinnigen Hoffnung hingegeben. Und es war nicht Rachid, der die Beziehung zu ihrem Mann kaputt gemacht hatte. Sie war schon seit Jahren sehr wackelig gewesen, hatte Nathalie ihm im Sommer anvertraut.
Er wollte die Commissaire vergessen, wollte nicht mehr an das denken, was damals geschehen war. Er war schwach gewesen, und nun bezahlte er dafür. Viel besser war, sich wieder der Ermittlung zuzuwenden. Er schob jegliche Gedanken an Nathalie und Aurore auf die Seite und vertiefte sich in die Liste der Personen, die in den vergangenen Wochen in ganz Frankreich vermisst gemeldet worden waren.
In der Brigade von La Ciotat herrschte Verunsicherung. Commandant Vincent Laurier war gestresst. Die verkohlte Leiche im verbrannten Wagen am Cap Canaille hatte ihn in Unruhe versetzt. Es war auf seinem Gebiet geschehen, aber er und seine Leute waren nicht hinzugezogen worden. Die Art, wie die Leiche entsorgt worden war, ließ darauf schließen, dass es sich um einen Drogenmord handelte, und deshalb hatte sich die PJ den Fall bereits unter den Nagel gerissen. Sie würden in den Banlieues von Marseille ermitteln und herauszufinden versuchen, ob dort nicht irgendein Dealer spurlos verschwunden war.
Vincent war erleichtert. Er wollte diesen Fall nicht. Er war seit einigen Monaten deprimiert und unmotiviert. Seine Arbeit machte ihm keine Freude mehr. Und er wusste ganz genau, warum das so war. Er hatte das Gefühl, sein Team nicht mehr im Griff zu haben. Noch nie hatte er unter so schwierigen zwischenmenschlichen Bedingungen gearbeitet wie in La Ciotat. Noch nie war seine Autorität so wenig respektiert worden wie in dieser Brigade, und noch nie hatte er das Gefühl gehabt, so schlecht zu arbeiten.