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Eine mutige Frau kämpft im Outback um ihre Freiheit: Der Australienroman »Die Melodie des roten Landes« von Ann Clancy als eBook bei dotbooks. Ungerechtigkeit ist Bonnie und ihrem Vater Hugh Douglas nicht fremd: Aus Schottland vertrieben, führen sie in einer Kleinstadt an der Südküste Australiens ein entbehrungsreiches Leben – doch immerhin haben sie ihre Freiheit. Und als Bonnie den neuen Sergeant Rowan Elliott kennenlernt, wagt sie es zum ersten Mal, von Liebe zu träumen. Doch dann wird ihr Vater plötzlich fälschlich des Mordes beschuldigt – und Rowan, der von seiner Schuld überzeugt ist, nimmt ihn fest. Für Bonnie bricht eine Welt zusammen: Ohne Familie und vom Liebsten verraten, schließt sie sich einer Bande von Rebellen an, die in den wilden Weiten des Outbacks ihr Zuhause gefunden haben. Wird es Bonnie mit ihrer Hilfe gelingen, ihren Vater zu retten – und ist ihre Liebe zu Rowan wirklich für alle Zeit verloren? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende Outback-Roman »Die Melodie des roten Landes« von Ann Clancy wird Fans von Patricia Shaw, Di Morissey und Christiane Lind begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 799
Über dieses Buch:
Ungerechtigkeit ist Bonnie und ihrem Vater Hugh Douglas nicht fremd: Aus Schottland vertrieben, führen sie in einer Kleinstadt an der Südküste Australiens ein entbehrungsreiches Leben – doch immerhin haben sie ihre Freiheit. Und als Bonnie den neuen Sergeant Rowan Elliott kennenlernt, wagt sie es zum ersten Mal, von Liebe zu träumen. Doch dann wird ihr Vater plötzlich fälschlich des Mordes beschuldigt – und Rowan, der von seiner Schuld überzeugt ist, nimmt ihn fest. Für Bonnie bricht eine Welt zusammen: Ohne Familie und vom Liebsten verraten, schließt sie sich einer Bande von Rebellen an, die in den wilden Weiten des Outbacks ihr Zuhause gefunden haben. Wird es Bonnie mit ihrer Hilfe gelingen, ihren Vater zu retten – und ist ihre Liebe zu Rowan wirklich für alle Zeit verloren?
Über die Autorin:
Ann Clancy ist Australierin mit irischen Wurzeln. In Papua-Neuguinea aufgewachsen, bereiste sie die ganze Welt, bevor sie beschloss, das Schreiben zu ihrem Beruf zu machen. Abenteuerliche Romane über starke, unabhängige Frauen liegen ihr besonders am Herzen. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Adelaide im Süden Australiens.
Ann Clancy veröffentlichte bei dotbooks bereits »Der Ruf des roten Landes«.
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eBook-Neuausgabe April 2023
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Rebel Girl« bei Pan Macmillan Australia. Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Weites Land der Liebe« bei Weltbild.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 by Ann Clancy
Published by Arrangement with Ann Clancy
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/pisaphotography, AKV, KathySG, Ov-olga
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-496-8
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Ann Clancy
Die Melodie des roten Landes
Roman
Aus dem Englischen von Karin Dufner
dotbooks.
Für meine Kinder Nikita und Andreas, die geschlafen haben, damit ich arbeiten konnte.
»Wenn meine Lippen der Gesellschaft zu vermitteln vermögen, dass der Mensch erst durch schlechte Behandlung böse wird, und falls man die Polizei lehrt, dass sie diejenigen, die sie verfolgt und misshandelt, in Wahnsinn und Verzweiflung treibt, dann wird mein Leben nicht gänzlich vergeudet gewesen sein.«
NED KELLY, GEFÄNGNIS IHRER MAJESTÄT, MELBOURNE, 1880
ENCOUNTER BAY, KOLONIE SÜDAUSTRALIEN, MAI 1839
Bonnie hörte, wie sich, erst im Lager der Schwarzen, dann in der Siedlung der Walfänger selbst, lautes Geschrei erhob. Neugierig blickte sie zum Felsvorsprung am anderen Ende der Bucht hinüber. Und da war es! Die rote Flagge wanderte tatsächlich den Fahnenmast hinauf. Der erste Wal dieser Saison.
Als das schrille Läuten der Glocke ertönte, glitt ihr die Wäsche wie vergessen aus den Händen zurück in den Zuber. In der eben noch so stillen Siedlung herrschte auf einmal rege Betriebsamkeit, und Männer liefen rufend durcheinander. Bonnie hastete zu dem Häuschen aus grob behauenen Steinen hinüber, in dem sie ihrem Vater den Haushalt führte. Während sie zur Tür hineinstürmte, zog er bereits seinen Mantel an.
»Vater! Wale! Und das so früh in der Saison!«
»Bonnie, mein liebes Kind. Das ist ein gutes Zeichen. Außerdem ist gerade der richtige Tag dafür. Und du bist wie immer pünktlich zur Stelle, um deinem Vater zu helfen«, erwiderte er und steckte sein Messer in die Scheide, die er an der Hüfte trug. Wenn er sich für etwas begeisterte, war sein schottischer Akzent stets besonders ausgeprägt. Vermutlich hätten die meisten seiner Mitmenschen kein Wort verstanden.
»Ich gehe runter zum Boot und bereite alles vor«, sagte sie. »Währenddessen kannst du die Männer zusammentrommeln.«
Bonnie wirbelte herum und eilte zur Anlegestelle, wo einige Männer bereits damit beschäftigt waren, das erste der beiden Boote zum Ufer zu schleppen. Für Begrüßungen war keine Zeit, Fragen waren überflüssig. Schließlich wusste die Mannschaft, dass es Bonnies Aufgabe war, mit anzupacken, wenn ihr Vater in See stechen wollte. Allerdings hieß das nicht, dass Hugh Douglas auf ihre Unterstützung angewiesen gewesen wäre; denn er war der Kapitän und kannte sich besser in diesem Geschäft aus als alle anderen in der Siedlung. Doch er vertrat die Ansicht, dass vier Augen mehr sahen als zwei und dass auf Bonnie Verlass war, denn sie erkannte auf Anhieb, ob an Bord irgendetwas fehlte oder sich nicht an seinem angestammten Platz befand.
Nun musterte sie mit geschultem Blick das lang gestreckte weiße Boot, die Ruder und Paddel, die Axt, den Schöpfeimer und die Fässer mit den Leinen. Sie entfernte die Stoffabdeckung, um sich zu vergewissern, dass die Leinen auch ordentlich aufgerollt waren, und rüttelte am Wasserfass, um das Gewicht zu überprüfen. Denn der Walfang war eine harte Arbeit, bei der man trotz des kalten Winterwindes mächtig Durst bekam. Außerdem würden die Männer viele Stunden lang auf See sein. Auch ein Wassereimer stand bereit, um die Leine zu wässern, wenn der Wal sie auf seiner Flucht mit rasender Geschwindigkeit aus dem Behälter riss. Die Kiste mit der Notfallausrüstung stand zwar bereit, aber Bonnie hatte keine Zeit mehr, den Inhalt zu begutachten. Also ging sie einfach davon aus, dass sie, sorgfältig gegen Nässe geschützt, alles enthielt, was möglicherweise gebraucht werden könnte: Feuerstein, Laterne, Kerzen, Brot, Tabak, Reparaturwerkzeug und Lappen, um zu verhindern, dass die Männer sich an den Leinen die Hände aufrissen.
Auch lange, stabile und rasiermesserscharfe Harpunen waren vorhanden. Daneben lagen die Lanzen und außerdem ein Spaten, der dazu diente, ein Loch in den Kopf oder die Schwanzflossen des Wals zu schlagen, um das Zugseil zu befestigen. Das Boot roch nach frischer Farbe, Teer und neuen Hanfseilen, was Bonnie als wesentlich angenehmer empfand als den muffigen Gestank, den das Blut eines toten Wals verströmte. Nur eines fehlte noch, und das waren die wasserdichten Säcke mit dem Proviant. Wo mochte der Koch bloß stecken?
Bonnies Blick wanderte über die Landschaft, die das Meer von der kleinen Walfängersiedlung trennte. Im nächsten Moment hatte sie den Koch entdeckt, der, die großen Leinensäcke mit Lebensmitteln geschultert, angelaufen kam.
»Das war ja in letzter Minute«, meinte Bonnie erleichtert und griff nach dem ersten schweren Sack, um ihn im Boot zu verstauen. Vermutlich enthielt er wie immer Rindfleisch, Schweinefleisch, Fladenbrot und aller Wahrscheinlichkeit nach auch Rum. Der Koch brachte die übrigen Säcke an Bord. Inzwischen schaukelten beide Boote in der Uferdünung, und die Männer warteten ungeduldig darauf, in See zu stechen.
»Wo ist Vater?«, wunderte sich Bonnie. Für gewöhnlich war er als Erster zur Stelle, auch wenn es seine Aufgabe war, die Nachzügler zusammenzurufen.
Niemand antwortete. Die Männer sahen zu, wie das zweite Boot mit Verpflegung beladen wurde. Dann war es bereit zum Aufbruch.
»Also los!«, befahl Pete Taylor, der zweite Kapitän und Stellvertreter ihres Vaters, der auf dem zweiten Boot das Kommando führte. Die Männer gehorchten, ohne zu murren, wateten, das Boot hinter sich herziehend, ins Wasser hinaus, kletterten hinein und griffen zu den Rudern. Es war ein schöner Vormittag im Spätherbst; nur einige kleine Wellen schlugen an den Strand.
Bonnie blickte ihnen nach, als sie davonruderten. Wo mochte bloß ihr Vater stecken? Die übrigen Männer machten aus ihrer Ungeduld keinen Hehl, schauten zwischen der Flagge auf dem Felsen und dem anderen Boot hin und her und nützten die Wartezeit, um sich eine letzte Pfeife zu genehmigen. Sonst war es Hugh Douglas’ Boot, das als erstes in See stach und den Wal erlegte. Ehrensache also und eine der wenigen Freuden, die dieser harte Beruf mit sich brachte.
»Wissen Sie vielleicht, wo er steckt, Roger?«, fragte sie den Harpunier und zweiten Offizier an Bord.
»Keine Ahnung, Miss«, antwortete der Mann. »Ob wir ohne ihn aufbrechen sollten?« Er wich ihrem Blick aus.
Das könnte Roger Sleath so passen, dachte Bonnie. Der Mann war von Ehrgeiz zerfressen und wollte um jeden Preis Kapitän werden. Im letzten Jahr hatte er diesen Posten wegen des großen Mangels an Arbeitskräften sogar vorübergehend bekleidet, denn die Lebensmittel waren derart knapp und die Bedingungen so erbärmlich gewesen, dass die Männer schneller verschwunden waren, als man neue Seeleute hatte anwerben können. Als ihr Vater eingestellt worden war, hatte Roger keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihn wurmte, nun einen erfahrenen Kapitän vor die Nase gesetzt zu bekommen.
Endlich hastete ihr Vater mit finsterer Miene den Strand entlang. »Zum Teufel mit Dick Motley! In der finstersten Hölle soll er schmoren!«
»Was ist mit ihm?«
»Sturzbesoffen ist er! Er liegt schnarchend im Gebüsch hinter der Männerunterkunft. Ein paar andere sind auch noch dabei.« Der Vater keuchte vom Rennen und bekam einen Hustenanfall.
»Kann man ihn denn nicht wecken?«, erkundigte sich Roger.
»Ja, gib ihm einen ordentlichen Tritt in den Hintern, Vater!«
Hugh räusperte sich. »Das habe ich versucht. Aber er hat nur gekotzt und ist gleich wieder umgekippt. Selbst wenn wir ihn an Bord schaffen könnten, wäre er zu nichts nütze.« Er schaute hinauf zum Felsen, wo ein Ausguck mit Handzeichen die Anzahl der Wale und die Richtung, in der sie schwammen, meldete. »Offenbar ist es mehr als einer, und zwar gleich südwestlich von uns. Wenn wir jetzt nicht sofort aufbrechen, werden wir keinen mehr kriegen.«
»Ich hole einen der Ersatzleute«, schlug Roger vor.
»Zwecklos. Die sind auch nicht in besserer Verfassung.«
»Wo haben sie denn bloß den vielen Rum her?«, wunderte sich Bonnie.
»Keine Ahnung. Die Tür ist jedenfalls noch abgeschlossen.«
Bonnie unterzog die Anwesenden einer raschen Musterung und stellte fest, dass Mick Fitzmartin den Blick senkte und sich abwandte. Röte stieg ihm den Hals hinauf.
»Als ob es nicht schon ohne solche Zwischenfälle schwierig genug wäre, ein Boot zu bemannen«, schimpfte ihr Vater weiter. »Bonnie, ich weiß, dass es dir das Herz bricht, mit anzusehen, wie diese schönen Tiere getötet werden, aber du musst mitkommen.«
Bonnie blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Der Walfang gehörte zu den gefährlichsten Berufen. Außerdem verabscheute sie es, die armen Tiere abzuschlachten. Doch sie wusste, dass ihr Vater sie jetzt brauchte. Immerhin verdienten sie mit dem Walfang ihren Lebensunterhalt, und ohne Wale gab es kein Geld.
Also nickte sie. »Einverstanden.«
»Sicher wollen Sie nicht, dass Ihr Rock nass wird«, raunte Roger Bonnie zu, schlang ihr einen Arm um die Taille und hob sie hoch, bevor sie Gelegenheit hatte, sich zu sträuben. Während er sie wie ein Kind über die Bordwand hievte, presste er seine schmale Hüfte gegen sie.
Bonnie hielt sich am Dollbord des kleinen Walfangbootes fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und setzte sich. Die Männer wateten tief ins Wasser hinaus und kletterten dann selbst an Bord. Für Vorsicht war keine Zeit. Bonnie versuchte, das wilde Schwanken des Bootes mit ihrem Körpergewicht auszugleichen. Nachdem jeder Mann seinen Riemen gegriffen hatte, ging es los.
Bonnie spürte die Blicke der Männer im Rücken, als sie mit Leibeskräften ruderte. Obwohl sie vermutlich nicht einmal so stark war wie der schwächste Mann, war sie fest entschlossen, ihr Bestes zu geben. Hugh, der an der Ruderpinne stand, feuerte seine Leute an, sich ins Zeug zu legen. Als Bonnie sich umwandte, sah sie, dass die Gesichter der Männer vor Anstrengung verzerrt waren. Den ersten stand bereits der Schweiß auf der Stirn. Das zweite Boot hatte bereits einen gewaltigen Vorsprung.
Bonnie stellte fest, dass sich das Haar ihres Vaters aus dem Haarband gelöst hatte und in der steifen Brise flatterte. Inzwischen war es nicht mehr rotbraun wie einst, sondern fast völlig weiß, und Bonnie fiel auf, wie sehr er seit dem letzten Winter gealtert war. Da hatte ihn eine schwere Grippeerkrankung, die ihm auf die Brust geschlagen war, für Wochen ans Bett gefesselt und ihn beinahe umgebracht. Seitdem schienen seine Kräfte stark nachgelassen zu haben. Vielleicht aber lag es auch daran, dass sie mit ihren siebzehn Jahren nunmehr alt genug war, um solche Veränderungen zu bemerken. Seine Augen versanken in tiefen Falten, als er unter buschigen weißen Brauen hervorspähte und Ausschau nach dem Wal hielt.
»Da ist er!«, rief er von seinem Ausguck im Heck aus.
Bonnie schaute sich erneut um, konnte jedoch nichts entdecken. Im nächsten Moment aber tauchte das Tier auf. Aus dem Blasloch des gewaltigen schwarzen Wals schoss eine Fontäne aus Luft und Wasser in den Himmel.
»Er bläst!«, jubelte sie.
Der Wal war so groß, dass sie ihn nun deutlich erkennen konnten. Kurz darauf sprangen zwei seiner Artgenossen aus dem Wasser, tauchten wieder und zeigten dabei ihre Schwanzflossen. Diese schlugen mit einem Geräusch aufs Wasser auf, das so ohrenbetäubend war wie ein Büchsenschuss. Beide Fangboote setzten den ahnungslosen Walen nach, die fröhlich im Wasser umhertollten. Zum Glück für Hughs Mannschaft wendeten die gewaltigen Tiere plötzlich und steuerten auf die Bucht und damit auf ihr Boot zu. Ihre riesigen schwarzweißen Körper schimmerten im Sonnenlicht.
Bonnies Puls raste, und sie wäre vor Begeisterung am liebsten aufgesprungen. Der Anblick der Wale löste heftiges Herzklopfen in ihr aus. Nun hatte die Jagd begonnen, und die Chancen standen gut, dass sie eines der Kolosse mit ihren Harpunen erlegen würden. Pete Taylor war inzwischen weit zurückgefallen.
»Pullt! Pullt! Pullt!«, schrie Hugh. Mit jedem Schlag der Riemen schien sich das Boot aus den Wellen zu erheben. »Schneller, Männer. Gleich haben wir sie eingeholt. Pullt!«
Beim Rudern spürte Bonnie, wie sich ihr Mieder an Schulterblättern und Brust spannte. Ihre Achselhöhlen waren schweißnass, und sie wusste, dass ihr Gesicht vor Anstrengung gerötet war. Petes Boot war noch immer in Sichtweite, und sie stellte fest, dass auch seine Männer sich mächtig ins Zeug legten. Ihr kleines Boot, das im Sonnenlicht grellweiß glänzte, tanzte wie ein großes Insekt auf dem Wasser.
»Fast haben wir sie!«, rief Hugh begeistert. »Roger, klar bei Harpunen!«
Hugh steuerte das Boot, das trotz seiner fünf Meter Länge neben dem Tier plötzlich winzig wirkte, näher an den Wal heran. Roger stand, die Harpune wurfbereit in der Hand und den Oberschenkel gegen die Bordwand gestützt, da und wartete auf den richtigen Augenblick. Währenddessen plätscherte ihre Beute noch ahnungslos mit den Flossen und genoss das Bad in der geschützten Bucht. Als das aufgewühlte Wasser das Boot traf und es beinahe zum Kentern brachte, schnappte Bonnie erschrocken nach Luft. Sie musste sich beherrschen, um nicht den Riemen fallen zu lassen und sich festzuklammern.
»Ruhig halten!«, befahl Hugh. »Näher heran.«
Zwei Ruderschläge, und der Abstand verringerte sich wieder. Das Sonnenlicht spiegelte sich in der Harpune, die Roger hoch über seinen Kopf erhoben hatte. Mit klopfendem Herzen beobachtete Bonnie, wie er zielte. Inzwischen befanden sie sich direkt neben dem Wal, der dicht unter der Oberfläche schwamm. Jetzt oder nie. Bonnie hielt den Atem an.
Die Harpune zischte schwungvoll und zielsicher auf die Flanke des Wals zu und beschrieb einen funkelnden Bogen, bevor sie abwärts raste und sich in das Fleisch des Tieres bohrte. Die Männer im Boot stießen Jubelrufe aus, die über das Wasser hallten. Die Harpune war tief eingedrungen.
»Bis zum Schaft«, meldete Roger stolz. Bonnie sah, dass sich das Eisen mindestens einen Meter tief in den Körper des Wals gebohrt hatte.
Das gerade noch so ruhige Meer verwandelte sich in Schaum, als der gepeinigte Wal in alle Richtungen mit dem Schwanz ausschlug. Bonnie ließ den Griff des Riemens los und klammerte sich mit aller Kraft am Dollbord fest. Ihre anfängliche Begeisterung wich dem inzwischen vertrauten Gefühl der Todesangst. Denn nun kam der gefährlichste Teil der Jagd, ein Wettlauf zwischen Leben und Tod, weil der Wal versuchen würde, der Lanze zu entfliehen.
In dem Versuch, das Eisen in seiner Seite wieder loszuwerden, warf sich das Tier wild hin und her.
Roger tauschte wie immer Plätze mit Hugh, obwohl es in Bonnies Augen ein ziemlich verwegenes Unterfangen war, so dicht neben einem verwundeten Wal aufzustehen und im Boot umherzugehen. Sie roch den Schweiß der Männer. Es war Angstschweiß, weil sie wussten, welche Mutprobe ihnen nun bevorstand. Im nächsten Moment und ohne jede Vorwarnung tauchte der Wal. Der für die Leine verantwortliche Ruderer stürzte zum Fass und begann, die Leine mit Wasser zu begießen, um sie feucht zu halten, während sie sich mit rasender Geschwindigkeit abrollte. Dennoch sah Bonnie kleine Rauchwolken aufsteigen. Der Wal tauchte immer tiefer. Bonnie blieb fast das Herz stehen, während sie darauf wartete, dass er wieder an die Oberfläche kam. Ein Blick zum Bug des Bootes verriet ihr, dass Hugh schon die kleine Axt bereithielt. Wenn der Wal noch tiefer tauchte, würde er die Leine kappen müssen, damit sie nicht auf den Meeresgrund gezogen wurden. Die Taurolle hatte schon beinahe den Boden des Fasses erreicht, und Hugh holte mit der Axt aus. Das war der Augenblick, in dem unerfahrene Walfänger oft in Panik gerieten. Doch Bonnie war trotz ihrer Jugend bereits ein alter Hase auf diesem Gebiet und zu klug, als dass sie vor Furcht über Bord gesprungen wäre. Stattdessen klammerte sie sich weiter an den Bootsrand und rührte sich nicht von der Stelle. Und dann tauchte der Wal wieder auf. Mit erleichtertem Aufatmen wurde die Axt weggelegt.
Der Wal versuchte nun, sich aus der Bucht in die Freiheit zu flüchten und zog das Boot hinter sich her. Als sie so über das Wasser rasten, wurden sie fast in die Luft gehoben. Ein banges Stoßgebet auf den Lippen, hielt Bonnie sich fest. Graue Gischt spritzte über die Bordwand, sodass man sich fühlte, als würde die Erde von einem gewaltigen Pflug aufgewühlt. Bonnie spürte, wie ihr der Hut vom Kopf gerissen wurde. Ihr Haar wehte wie eine rote Fahne hinter ihr her. Doch sie wagte es nicht, den Bootsrand loszulassen, um es wieder zu bändigen.
Der Wal schwamm indessen immer weiter, bis Granite Island ihm den Weg versperrte. Dann richtete er sich auf und blies erneut eine Wasserfontäne. Noch einmal machten sich die Ruderer ans Werk und brachten das Boot näher an die Beute heran. Bonnie ruderte, so schnell sie konnte. Zug um Zug holte der Bootsmann die Leine ein, und der zuständige Ruderer verstaute sie, ordentlich zusammengerollt, im Fass. Hugh stand, die Lanze gezückt, im Bug. Diese zweischneidige, an einem langen Schaft befestigte Klinge diente dazu, dem Koloss den Todesstoß zu versetzen, indem sie ihm Herz und Lunge durchbohrte.
Bei diesem Teil der Jagd war große Geschicklichkeit gefragt. Roger musste das Boot dicht an den gereizten Wal heransteuern, damit Hugh genau die richtige Stelle traf, um ihn zur Strecke zu bringen. Er hob die Lanze und hielt sie für einen Sekundenbruchteil in dieser Stellung, bevor er sie tief in den Wal hineinstieß. Der Wal spuckte Blut. Die Walfänger jubelten. Die Lanze hatte sich an der richtigen Stelle in den Leib der Beute gebohrt. Der Wal würde nun binnen kurzer Zeit verenden.
Doch noch peitschte er mit seiner Schwanzflosse das Wasser auf und schoss ziellos hin und her. Dabei blies er durch sein Atemloch riesige Fontänen schwarzen Blutes aus, das sich über die Männer, das Boot und das Wasser ergoss. Ärgerlich betrachtete Bonnie ihr bespritztes Kleid. Der fischige, schwere und metallische Geruch von Walblut stieg ihr in die Nase, sodass es ihr den Magen umdrehte. Der Wal wand sich in Krämpfen und verwandelte das Wasser in Schaum. Im nächsten Moment aber drehte er sich kraftlos auf die Seite und schließlich auf den Rücken. Es war vorbei. Die Männer johlten, während aus Peters Boot Glückwünsche zu ihnen hinüberhallten. Bonnie atmete erleichtert auf. Als sie Arme und Beine ausstreckte, wurde ihr bewusst, wie verkrampft sie dagesessen hatte, seit der Wal harpuniert worden war.
Sie musterte das gewaltige Tier, das, den Bauch nach oben, auf dem Wasser trieb. Es war ein trauriger Anblick, der sie mit Mitleid erfüllte, sodass sie den Triumph nicht richtig genießen konnte. Aus der Nähe betrachtet, war der Wal eigentlich ein hässliches Tier, dessen Schädel von einer dicken weißlichen Kruste bedeckt war. Seine Pracht verdankte er nur seiner enormen Größe und der Anmut, mit der er sich im Wasser bewegte. Dieses Exemplar war nach Bonnies Schätzung mindestens vierzehn Meter lang. Das bedauernswerte Geschöpf war hierher in wärmere Gewässer gezogen, um sich zu paaren, Junge zur Welt zu bringen und sie großzuziehen. Da es erst Mai war und die Saison noch am Anfang stand, war die lange Wanderschaft vom Atlantik her für diesen Wal vergeblich gewesen.
Mit jedem getöteten ausgewachsenen Wal starben alle seine möglichen Nachkommen. Wenn Hugh recht behielt, waren die riesigen Tiere womöglich sogar vom Aussterben bedroht, denn in anderen Gebieten waren die Bestände schon stark zurückgegangen. Die übermäßige Bejagung hatte seiner Ansicht nach – und Bonnie teilte diese Auffassung – bereits unter den Walen an der Ostküste und in Van Diemen’s Land ihren Tribut gefordert.
Vor ihrem Umzug nach Encounter Bay war Hugh Douglas Walfänger in Van Diemen’s Land gewesen. Da Furchenwale dort immer seltener vorkamen, hätte er sich auf Pottwale verlegen müssen. Und weil man dazu große Seereisen unternehmen musste, kam das für einen Mann, der eine kleine Tochter zu versorgen hatte, nicht in Frage. Die Walfangschiffe waren nicht nur viele Tage, Wochen, wenn nicht sogar Monate unterwegs, sondern hatten es zudem noch mit einer ausgesprochen gefährlichen Beute zu tun. Denn harpunierte Pottwale griffen in ihrer Wut häufig die Fangboote an, während das Exemplar, das sie heute erlegt hatten, einer sanftmütigeren und weniger wendigen Art angehörte, die zwar versuchte zu fliehen, aber niemals auf die Jäger losging.
»Gut gemacht, Männer!«, rissen die Worte ihres Vaters Bonnie aus ihren Gedanken. »Wirklich ausgezeichnet. Der erste Wal der Saison, und nach der Größe zu urteilen, werden wir daran mindestens sechshundert Pfund verdienen.« Bonnie öffnete das Wasserfass und reichte die Schöpfkelle herum. Während die Männer tranken, holte sie das Brot aus dem Sack, brach es in Stücke und verteilte es.
»Danke, Mädchen«, sagte der für die Leine zuständige Ruderer, als er sein Stück entgegennahm. »Sie haben sich heute wacker geschlagen.«
»Wenn sie so weitermacht, wird sie einmal eine großartige Walfängerfrau«, fügte Mick lachend hinzu und warf dabei Hugh einen raschen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht im Ton vergriffen hatte. Doch Hugh lächelte und freute sich so über den Fang, dass er gegen einen kleinen Scherz nichts einzuwenden hatte. »Also, Jungs, wer wird sie sich wohl schnappen?«, fuhr Mick fort.
Bonnie betrachtete ihn. Er war ein gedrungener, vierschrötiger Bursche und so ungehobelt wie die meisten Walfänger. Wegen seiner Bärenkräfte wurde er von Hugh als Mittschiffsmann sehr geschätzt, denn keiner in der Siedlung konnte so schnell und ausdauernd rudern wie er. Auch die anderen Seeleute achteten ihn, denn er war ein echter Kerl, vor allem wenn es darum ging, zu trinken, sich zu prügeln und jedem Weiberrock nachzustellen. Mick würde sicher als Erster Ansprüche auf sie anmelden. Er machte ihr seit ihrer Ankunft in Encounter Bay schöne Augen, hatte aber zu viel Respekt vor ihr und ihrem Vater, um einen Annäherungsversuch zu wagen. Jedenfalls bis jetzt. Allerdings traute Bonnie ihm nicht über den Weg. Und wenn er betrunken war, konnte er gefährlich und gewalttätig werden.
»Falls hier jemand jemanden schnappt, werde ich das selbst übernehmen«, erwiderte Bonnie lachend.
»Und ich werde der Glückliche sein, oder, mein Schatz?«, gab Mick prompt zurück.
»So tief würde ich nie sinken, Mick Fitzmartin«, entgegnete sie schnippisch. »Und da können Sie von Glück reden.«
Die anderen johlten.
»Eine spitze Zunge wie ein Fischweib.« Mick schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf.
Bonnie bedachte ihn mit einem spitzbübischen Blick und stimmte dann eines der Lieder an, die ihr Vater ihr beigebracht hatte. Dabei änderte sie den Text, um ein paar Seitenhiebe auf Mick loszulassen.
Wenn Mick eines Tages ein Bräutigam wird,
Zeigt ihm seine Liebste gleich, wie man pariert.
Vielleicht ist sie hässlich, vielleicht ist sie schön.
Doch das spielt keine Rolle, nachts kann er nichts sehn.
Ist sie jung an Jahren, Micks Freude ist groß.
Ist sie eine Alte, wird er sie rasch wieder los.
Und wird Mick bald Vater, dann platzt er vor Stolz.
Lässt das Kind auf sich warten, sagt Mick sich: »Was soll’s?«
Lasst uns für Mick suchen eine reizende Braut.
Die Hauptsache ist, sie ist weiblich gebaut.
Die Walfänger, und auch Mick selbst, brüllten vor Lachen.
»Rache ist süß«, meinte er zu Bonnie.
»Ich werde mich zu wehren wissen, Mick«, gab sie zurück.
Als sie Roger seine Brotration reichte, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, dass sich ein nachdenklicher Ausdruck in seinen Augen malte. Sie sah seinem schmalen, wettergegerbten Gesicht förmlich an, dass er fieberhaft überlegte. Offenbar hatte Mick ihn auf eine Idee gebracht. Allerdings erkannte sie in seinem Blick, anders als bei Mick, keine nackte Begierde, sondern eher etwas Berechnendes. Obwohl er es nicht laut aussprach, wusste sie, dass er sich durch eine Hochzeit mit ihr Chancen auf eine Beförderung zum Kapitän versprach. Im nächsten Moment wanderte sein Blick zu Hugh und wurde noch grüblerischer. Bonnie mochte sich irren, aber eigentlich war sie sich sicher, was in ihm vorging: Er rechnete damit, dass Hugh seine Position an seinen Schwiegersohn abtreten würde.
Bonnie zuckte die Achseln. Vermutlich hatte sie nur eine blühende Fantasie.
»Hier kommt das andere Boot. Wir wollen den Wal an Land schleppen«, befahl Hugh.
Während Bonnie den Proviantsack wegräumte, schlug Hugh mit dem Spaten ein Loch in die Schwanzflosse des Tieres, damit sie die Schleppseile anbringen konnten. Nachdem sie ein Seilende Pete Taylor zugeworfen hatten, konnte es losgehen. Bonnie krempelte ihre Ärmel hoch, setzte sich einigermaßen bequem hin und griff mit beiden Händen nach dem Ruder.
»Alle Mann auf ihre Plätze!«, befahl Hugh. »Und pull... pull ... pull!«
Hugh stimmte mit heiserer Altmännerstimme ein altes Seefahrerlied an, und Bonnie fiel wie immer mit ihrem klaren Sopran ein. Es war ein langsames Lied, denn sie hatten keine Eile, den Wal ans Ufer zu bringen, und würden ausdauernd und gleichmäßig rudern müssen.
Das Lied half ihnen, den Rhythmus zu halten. Doch was noch wichtiger war, es erleichterte die schwere und langweilige Plackerei und stärkte die Kameradschaft. Bonnie arbeitete gern mit den Männern zusammen und fühlte sich unter ihnen keineswegs wie ein Fremdkörper. Am liebsten war es ihr, wenn man zwischen ihr und den Jungen keinen Unterschied machte. Sobald sie laufen konnte, war sie auf Bäume und Felsen geklettert und hatte mehr Spaß daran gehabt, kleine Tiere zu jagen und Vogeleier zu sammeln, als mit der Lumpenpuppe zu spielen, die mitleidige Walfänger dem mutterlosen kleinen Mädchen gebastelt hatten.
Das gleichmäßige Rudern gab ihr Gelegenheit, ihre Gedanken schweifen zu lassen. Mick hatte recht. Inzwischen war sie eine Frau und musste an ihre Zukunft denken. Sie konnte sich nicht mehr wie ein kleines Mädchen darauf verlassen, dass ihr zartes Alter sie schützen würde. Und eines Tages würde sie ihren eigenen Weg finden müssen. Da sie die einzige weiße Frau in Encounter Bay war, war es nicht weiter verwunderlich, dass sie die Aufmerksamkeit der Männer anzog. Allerdings waren sie alle Walfänger, der Bodensatz der Gesellschaft, wie ihr Vater zu sagen pflegte, und würden nie Zutritt zu besseren Kreisen bekommen. Hugh wäre strikt dagegen gewesen, dass sie einen von ihnen heiratete. Doch wie sollte sie hier einen kultivierten Mann kennenlernen?
Inzwischen war das Seemannslied verklungen, und die Männer sparten ihren Atem fürs Rudern. Also übernahm Hugh das Singen, denn wie er Bonnie gegenüber so oft betonte, half die aufmunternde Wirkung eines Liedes einem über die meisten Tiefen des Lebens hinweg.
Es war ein Lied, das er in Van Diemen’s Land gelernt hatte:
Kommt, ihr Söhne der Freiheit, stimmt alle mit ein.
Ich künd euch die Freiheit, die nun euer wird sein.
Aus Engelands düstren Kerkern kamt ihr ins Van Diemen’s Land.
Fern eurer Heimat, fern eurer Lieben, und für immer verbannt.
Wir haben vieles ertragen und erduldet manche Fron.
Doch eines Sträflings Wort begegnet alles nur mit Hohn.
Hunger, Peitsche, Schinderei, aller Bürgerrechte bar.
Der Busch war unser Zufluchtsort, so ging es Jahr um Jahr.
Der Tod wurde in unsrer Not zu unsrem letzten Streben.
Denn wer für seine Freiheit kämpft, bezahlt es mit dem Leben.
Zur Sklaverei verdammt man uns und schmiedet uns in Ketten.
Bis Swallow, Watt und David kamen, um uns zu erretten.
Für unsere Rettung wollen wir sie heut noch verehren.
So konnten wir Van Diemen’s Land endlich den Rücken kehren.
Die Ballade von Cypress ging noch weiter, aber Bonnie war in Gedanken weit vom Gefangenenaufstand entfernt, denn sie grübelte über ihre Zukunft nach. Als ihr Vater das Lied beendet hatte, hatten sie die Victoria erreicht, wo die Beute zerteilt werden sollte, weil die dazu gebauten Flöße durch die Stürme unbrauchbar geworden waren. Die Walboote wurden von den Männern am Ufer mit Jubel begrüßt. Die Schwarzen tanzten, kreischten und heulten, dass man nicht sagen konnte, ob Begeisterung oder Verzweiflung dahintersteckte.
Nach einigem Manövrieren gelang es, den Wal längsseits zum Schiff zu vertäuen. Hunderte von Haien waren ihnen gefolgt und wühlten das Wasser auf, als sie sich auf den Kadaver des Kolosses stürzten. Sie fielen darüber her wie die Bulldoggen, indem sie sich rasch näherten, einen Bissen Speck herausrissen und sich wieder aus dem Staub machten. Mick lachte und schien das blutige Schauspiel zu genießen, doch Bonnie wandte sich angewidert ab.
»Gute Arbeit, Männer«, lobte Hugh noch einmal, als sie die Boote zum Ufer steuerten. »Danke, Bonnie«, fügte er leise hinzu.
Wieder wurde sie von Roger Sleath nachdenklich gemustert, und Bonnie wusste genau, was in ihm vorging. Also blickte sie zur Seite, um ihm keine falschen Hoffnungen zu machen. Du liebe Güte, der Mann war mindestens zwanzig Jahre älter als sie! Außerdem fand sie ihn mit seiner hageren Figur, dem berechnenden Blick und dem stahlgrauen Haar nicht sonderlich anziehend.
Als der Bug des Bootes auf Grund lief, sprangen alle, auch Bonnie, die sich keine Gedanken mehr um ihr blutbespritztes Kleid machte, ins seichte Wasser. Bald waren sie von Menschen umringt. Die Schwarzen beklagten den Tod des Wals, die Arbeiter aus der Transchmelze wollten unbedingt mehr über den ersten Fang erfahren, und Captain Smyth, der Offizier, der der Siedlung vorstand, erwartete sie schon, um ihnen zu gratulieren.
Der Captain hörte sich den Bericht an und bat dann mit erhobener Hand um Ruhe. Selbst die Schwarzen verstummten, und die Menge sah ihn erwartungsvoll an. Offenbar hatte er ihnen eine bedeutsame Mitteilung zu machen.
»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem ersten Fang in der Saison. Wollen wir hoffen, dass es ein gutes Omen für unsere Siedlung ist. Gut gemacht, insbesondere Hughs Männer, denn ich habe gehört, dass Sie unfreiwilligerweise verspätet aufgebrochen sind. Ich weiß zwar, dass die Besatzungen der Boote jetzt am liebsten nach Hause gehen, sich waschen und etwas essen würden, aber ich muss Ihnen noch etwas Wichtiges sagen. Der Tag, auf den wir so lange gewartet haben, ist endlich da. Heute Morgen sind die uns angekündigten Polizisten auf dem Landweg aus Adelaide eingetroffen, um hier in Encounter Bay einen Posten einzurichten.«
Ihn mochte diese Neuigkeit begeistern, aber es war nicht zu übersehen, dass nicht alle Anwesenden am Strand seine Freude teilten. Einige Mitglieder der Mannschaften und Trankocher, auch Mick, spuckten abfällig in den Sand. Die anderen starrten den Captain gleichmütig an.
»Damit wäre unser freies Leben zu Ende«, hörte Bonnie jemanden murmeln.
Obwohl niemand es laut aussprach, war allgemein bekannt, dass es sich bei vielen Walfängern um entflohene Sträflinge, entlassene Zwangsarbeiter oder desertierte Matrosen handelte, die lieber einen Bogen um die Hüter des Gesetzes machten. Die Walfängersiedlung fernab der Zivilisation war für diese Männer stets ein Zufluchtsort gewesen, denn bis zur nächsten Polizeistation waren es mehrere Tagesreisen.
»Wer sich anständig geführt hat, braucht nichts zu befürchten«, fügte der Captain beschwichtigend hinzu.
»Wie man sich führt, ist denen doch egal«, brummte Bonnies Vater. Sie war erstaunt über seinen verbitterten Tonfall.
Der Captain, der nichts davon bemerkt hatte, fuhr fort: »Der Himmel weiß, dass wir manchmal den Arm des Gesetzes bitter nötig haben. Allein im letzten Jahr sind zwei Männer und ein Straßenräuber hier in Encounter Bay ermordet worden. Außerdem hat es einige Havarien gegeben, nicht nur in dieser Bucht, sondern auch in Murray Mouth und an den gefährlichen Ufern des Coorong. Hinzu kommt, dass die Einheimischen ...« – er senkte die Stimme und warf einen verstohlenen Blick auf die Schwarzen – » ... uns nicht immer freundlich gesinnt sind.«
Die »Einheimischen«, die der Ansprache offenbar nicht folgen konnten, nickten weiter begeistert.
»Wie dem auch sei. Ich habe die drei Polizisten in der ungenutzten Walfängerhütte an der Landzunge unweit von Granite Island untergebracht. Sergeant Elliott, der sie befehligt, hat mich gebeten, alle Männer, die entbehrlich sind, zu einer offiziellen Zusammenkunft einzuladen. Ich habe ihm geantwortet, sie würden sich alle morgen nach dem Frühstück vor der Hütte einfinden. Einige Männer werden gebraucht, um die Schmelzkessel zu beaufsichtigen. Aber ich erwarte, dass sich die Übrigen dort einfinden werden. Vielen Dank, Männer«, beendete er seinen Vortrag und schickte sie weg.
Dann wandte er sich an den Schiffskapitän. »Hugh, kann ich Sie einen Moment sprechen?«
Hugh und der Captain gingen ein paar Schritte. »Ich habe gehört, einige Männer seien heute früh betrunken gewesen ...«, hörte Bonnie den Captain sagen. Doch mehr von der Unterredung konnte sie nicht verstehen.
Sie beobachtete, wie die Walfänger müde über den Strand zu ihren Hütten trotteten, während die Arbeiter sich daranmachten, die Beute zu zerteilen und den Tran zu schmelzen. Bonnie ließ sich erschöpft in den Sand sinken, um auf ihren Vater zu warten und zusammen mit ihm zu ihrer Hütte zu gehen.
Hughs Bemerkung über die neuen Polizisten hatte sie überrascht. Ihr Vater sprach stets so abfällig über die Hüter des Gesetzes, als hege er einen persönlichen Groll gegen sie. Aber warum? Soweit Bonnie es beurteilen konnte, gab es in der ganzen Siedlung keinen ehrlicheren Mann als ihn. Stets hielt er sich streng an die Regeln der Kirche und an die staatlichen Vorschriften. Als sie ihn einmal gefragt hatte, ob er früher Sträfling gewesen sei, hatte er das verneint, und sie glaubte es ihm aufs Wort. Weshalb also war er nach Van Diemen’s Land ausgewandert, wenn nicht aus diesem Grund?
Sie beschloss, einen günstigeren Zeitpunkt abzuwarten, um mit ihm darüber zu reden. Heute Abend würde er zu müde dafür sein. Stattdessen würde sie ihm ein leckeres Abendessen aus Hafergrütze und Rüben kochen, wie er es am liebsten hatte. Und nach dem Essen würde sie ihm zur Entspannung ein ganz kleines Gläschen Whisky gestatten.
Sie sah zu, wie die Männer den Speck vom Kadaver des Wals hackten. Sie fingen dicht unterhalb des Kopfes an und trennten etwa fünfzig Zentimeter breite Streifen ab, als stächen sie Torf. Anschließend wurde der Speck in die Schmelzschuppen gebracht, Unterstände ohne Seitenwände, wo man ihn in Stücke schnitt und in riesige eiserne Kessel gab, die Bonnie bis zur Taille reichten. Die Feuer unter den Kesseln waren bereits angezündet worden. Bonnie beobachtete, wie Qualm aus den Schmelzschuppen aufstieg. Die Männer und ihr Vorarbeiter würden die ganze Nacht auf den Beinen sein, denn wenn der Tran nicht die richtige Temperatur hatte oder achtlos in die Fässer gegossen wurde, verdarb er rasch.
Der Qualm wehte in ihre Richtung. Jetzt roch er noch süßlich und frisch, weil das Feuer mit Eukalyptusholz geschürt wurde. Bald jedoch würde der kochende Tran übel zu stinken beginnen. Wenn sich der Tran vom Fleisch löste, fischte man Letzteres heraus und warf es ins Feuer, was den Gestank noch steigerte. Bonnie wollte unbedingt in ihrer Hütte sein, die nicht in Windrichtung der Schmelzschuppen stand, bevor der schauderhafte Geruch sie erreichte. Nicht zum ersten Mal verfluchte sie das schmutzige und übelriechende Geschäft des Walfangs. Ihr Vater hatte schon recht, wenn er immer wieder sagte, eine Walfängersiedlung sei kein Platz für eine Frau.
Am nächsten Morgen war es bewölkt, sodass Meer und Himmel zu einem silbergrauen Schleier verschmolzen. Bonnie stand in der Tür ihrer spartanischen Hütte mit den zwei Zimmern und ließ den Blick über die Siedlung schweifen. Trotz des Gestanks, der Haufen ausgebleichter Walknochen und des tristen Wetters war es eigentlich recht idyllisch in Encounter Bay.
Die Bucht war langgezogen, gesäumt von einem weißen Sandstrand und mit niedrigen Büschen bewachsen. Einige kleine Inseln ragten aus der Wasserfläche. Die Bucht selbst wurde von einer sandigen Landzunge vor Granite Island in zwei mehr oder weniger gleich große Hälften geteilt. Sie betrachtete die Landzunge und konnte jene Hütte ausmachen, die nun die Polizisten beherbergte. Obwohl sich vor der Hütte etwas bewegte, hatte die Versammlung sicher noch nicht angefangen. Nachdem sie noch einmal den Blick über die Siedlung hatte schweifen lassen, kehrte sie in die Hütte zurück, um das Frühstück zuzubereiten.
Vielleicht würden sich die Lebensbedingungen hier allmählich ändern, dachte sie voller Hoffnung, als sie über der offenen Herdflamme Haferflocken in einen Topf mit Wasser rührte. Die Verpflegung hatte sich seit dem letzten Jahr eindeutig verbessert, und dass sie einen Wal gefangen hatten, war schon einmal ein guter Anfang. Es hieß sogar, dass Siedler eintreffen würden, um in Encounter Bay Farmen zu gründen. Dann würde es andere Frauen geben, dazu Kinder sowie frisch angebaute Lebensmittel und vielleicht eines Tages sogar Kirchen und Schulen. Außerdem würde die Polizei die weniger Gesetzestreuen unter den Walfängern in Schach halten. Als Bonnie so über die Zukunft nachgrübelte, musste sie an die Vergangenheit denken. Vielleicht war jetzt ja der richtige Zeitpunkt, um mit dem Vater darüber zu sprechen.
»Vater, warum schimpfst du immer so auf die Polizei?«, fragte sie beiläufig, während sie den Haferbrei in zwei verbeulte Blechschalen verteilte.
Er schwieg und schien zu überlegen, wie er ihr seinen Standpunkt erklären sollte. Schließlich zog er seufzend eine Schale über den grob gezimmerten Tisch zu sich heran.
»Du hältst Polizisten für Männer, denen du vertrauen kannst und die jeden Menschen nach Recht und Gesetz behandeln«, begann er. »Aber leider stimmt das nicht. Das Gesetz ist nie auf der Seite der Armen, sondern schützt zumeist nur die Reichen. Und je mehr Macht man einem Mann, insbesondere einem vom Schlage eines Polizisten, gibt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sie missbraucht.«
»Aber es können doch nicht alle Polizisten unehrlich und bestechlich sein, Vater.«
»Sie nützen ihre Macht jedenfalls zu ihrem eigenen Vorteil und zu dem ihrer Freunde. Außerdem dulden sie Unrecht nicht nur, sondern begehen es sogar selbst. Sie verteidigen die Benachteiligten nicht, sondern treten sie mit Füßen. Oder hast du die Polizisten in Van Diemen’s Land vergessen?«
»Es müssen doch auch vertrauenswürdige und ehrliche Männer darunter sein!«
»Du gehst immer vom Guten im Menschen aus, mein Kind«, meinte er achselzuckend.
»Nun, du hast mir schließlich selbst beigebracht, dass es überall gute und schlechte Menschen gibt. Schau, auch hier in Encounter Bay gehören zwar viele der Walfänger zum Abschaum der Menschheit, doch wir gehören nicht dazu. Wir sind anständige Leute. Also muss es auch anständige Polizisten geben.«
»So einen möchte ich erst noch kennenlernen«, brummte Hugh wegwerfend, steckte seinen Löffel in die noch halbvolle Schale und stand auf.
Bonnie berührte seine Hand. »Vater, bitte lauf jetzt nicht weg. Ich will mit dir reden.«
»Worüber denn, mein Kind?«
»Über all die Dinge, die du mir erzählen wolltest, wenn ich erst einmal alt genug bin. Die Vertreibungen in den Highlands, warum wir nach Van Diemen’s Land ausgewandert sind, was aus Mutter geworden ist. Nun bin ich alt genug.«
Doch noch während sie sprach, hallte eine Glocke durch die Siedlung, und Bonnie sah sich abermals enttäuscht, noch ehe der Vater antworten konnte.
»Ich erkläre dir alles, mein Kind, versprochen. Aber nicht jetzt. Es ist eine lange Geschichte, und gerade wurde die Glocke geläutet.« Er spähte aus dem Fenster zum Fahnenmast auf dem Felsvorsprung hinüber. Diesmal war kein Wal gesichtet worden. »Vermutlich geht es um die Versammlung bei der Polizei.«
Bonnie stapelte das Geschirr in dem Topf, der den Haferbrei enthalten hatte, und füllte ihn mit Wasser aus dem Eimer. Der Abwasch würde warten müssen. Sie strich ihr abgetragenes Kleid glatt, krempelte die Ärmel hinunter und schloss die Manschetten um ihre schlanken Handgelenke. Dann nahm sie ihre Haube vom Haken an der Tür und stülpte sie fest über ihre ungebärdige Lockenmähne.
»Dann also los«, sagte sie entschlossen.
Auf dem Weg zur Landzunge schlossen sich ihnen andere Männer an.
»Dass die Polente uns hier belästigt, hat uns gerade noch gefehlt. Wir sind doch hier, weil wir nichts mit diesen Schweinekerlen zu tun haben wollen«, schimpfte eine Stimme hinter Bonnie.
Andere pflichteten dem Sprecher bei. Offenbar war ihr Vater nicht der Einzige, der Polizisten verabscheute.
Fast alle Männer hatten sich vor der alten Walfängerhütte eingefunden. Nur einige Arbeiter waren an ihren Schmelzkesseln geblieben. Nun standen sie alle im spärlichen Schatten der niedrigen Eukalyptusbäume und Kasuarinen. Hier an der Landzunge schienen die Bäume, wie fast überall entlang der Küste, dem kalten Südwestwind zu trotzen, indem sie ihre kahlen Äste ins Landesinnere reckten, als suchten sie Schutz vor den Stürmen. Dabei lehnten sie sich so weit zur Seite, dass ihre dem Meer zugewandten Wurzeln knorrig und nackt aus dem Sand ragten.
Auch die meisten Schwarzen waren gekommen. Sie wollten sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Es geschah nur selten, dass Bonnie etwa hundert von ihnen auf einmal begegnete. Ihr Anblick war ziemlich furchterregend, und Bonnie wäre sicher in Panik geraten, hätte sie es nicht besser gewusst. Trotz ihres wilden und kriegerischen Auftretens trugen sie weder Federn noch Kriegsbemalung, was bedeutete, dass sie weder einen Kriegszug gegen einen verfeindeten Stamm noch andere Gewalttätigkeiten im Sinn hatten. Die Männer waren mit Umhängen aus Opossumfell bekleidet, die nur die linke Schulter bedeckten, sodass die rechte frei blieb, um ungehindert einen Speer werfen zu können. Ihre verfilzten Bärte fielen ihnen über die Brust und reichten bei manchen bis zur Taille hinab. Auch ihr Haar war lang und zerzaust und mit Federn und Känguruzähnen geschmückt. Die meisten waren mit Knüppeln und Speeren bewaffnet, einige trugen auch große, aus dicker Rinde gefertigte Schilde. Offenbar handelte es sich um ihren Sonntagsstaat – ein Hinweis darauf, dass sie das Eintreffen der Polizisten als sehr wichtig einstuften.
Die jungen Frauen und Mädchen hatten sich mehrere Schichten von Schnüren um die Taille geschlungen, die ihre Scham verhüllten. Die älteren Frauen begnügten sich mit einem ledernen Lendenschurz. Diese Aufmachung wurde durch einen Umhang aus Opossum- oder Kängurufell oder geflochtenem Gras vervollständigt. Dieser wurde einfach vor die Brust gehalten oder mit einem Seil um die Taille zusammengeschnürt, sodass die Männer verführerische Einblicke auf nackte Brüste, Bäuche und Hüften erhielten.
Anscheinend bereitete die Veranstaltung den Schwarzen keine großen Sorgen. Die meisten hatten sich auf den Boden gesetzt, plauderten lachend miteinander und kratzten genüsslich ihre Flohbisse. Die Kinder spielten mit den Hunden. Bonnie erkannte Big Solomon, einen ausgesprochen hochgewachsenen Vertreter seines Volkes, der alle seine Stammesgenossen überragte. Encounter Bay Bob, der als Übersetzer fungierte, unterhielt sich mit dem einarmigen Charlie, dem ein Hai beim Tauchen nach Krabben den Arm abgebissen hatte. Zitter-Jack, auch ein Mitglied der Gruppe, das sich wesentlich von den anderen unterschied, war noch nicht eingetroffen. Doch Bonnie sah, wie er den Strand entlanghinkte. Da er an Schüttellähmung litt, bereitete ihm jede Bewegung große Mühe. Die anwesenden Frauen dagegen waren Bonnie alle fremd.
Bonnie hoffte, dass die Versammlung bald beginnen würde, denn von den Schmelzkesseln zog ein ekelhafter Gestank herüber. Inzwischen hatte sich der Captain gewichtig vor seinem Publikum aufgebaut. Die Polizisten in ihren blauen Uniformen standen neben ihm.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Männer«, begann der Captain. Wie üblich waren Bonnie und die Schwarzen nicht wert, dass man sie erwähnte. »Ich habe die große Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass die sehnsüchtig erwarteten Polizeibeamten aus Adelaide eingetroffen sind. Zu lange schon befindet sich Encounter Bay in den Klauen der gesetzlosesten Elemente unserer Kolonie. Erschwerend kommt hinzu, dass wir fernab der Zivilisation leben und die Siedlung in der Kolonie Südaustralien liegt, die sich in unmittelbarer Nähe der Sträflingslager im Osten befindet. Wie wir aus leidvoller Erfahrung wissen, kann ein Strafgefangener, der den Mut hat, ein Pferd zu stehlen und in unsere friedliche Kolonie zu fliehen, auf dem Weg nach Adelaide Encounter Bay gar nicht verfehlen. Dem Himmel sei Dank, dass diese Polizisten uns nun vor solchen Elementen schützen werden.«
Bonnie stellte fest, dass einige Männer verlegen mit den Füßen scharrten und den Blick abwandten. Der Captain hatte mit seinen Worten ins Schwarze getroffen, denn er wusste nur zu gut, dass viele der Anwesenden auf diese oder ähnliche Weise nach Encounter Bay gekommen waren.
Mick Fitzmartin allerdings gehörte nicht zu denen, die sich von der herablassenden Art des Captain einschüchtern ließen. Er spuckte demonstrativ aus und rief laut: »Meinetwegen soll sich die Kolonie doch aus Angst vor den Sträflingen in die Hose machen. Aber wo wären wir denn ohne sie? Hätten Sie dann Ihren schönen Posten, Captain? Woher würden Sie die Männer für eine solche Drecksarbeit wie den Walfang nehmen? Wer würde denn das Holz fällen oder für einen Hungerlohn auf den Farmen schuften?«
»Ich habe noch nie wissentlich einen entflohenen Sträfling beschäftigt«, protestierte der Captain – vermutlich weil die Polizisten mithörten. Die Männer hatten Mühe, sich ein höhnisches Grinsen zu verkneifen, denn sie glaubten ihm kein Wort.
»Und ich werde es auch niemals tun«, fuhr er fort. »Wer hingegen gelobt, sich zu bessern, ist jederzeit willkommen. Doch wir wollen nicht weiter herumstreiten, sondern diese tapferen Polizisten begrüßen, die auf dem Landweg aus Adelaide zu uns gekommen sind. Vier Tage lang mussten sie sich in der unwirtlichen Wildnis durchschlagen, und wir können froh sein, dass sie heil in unserer kleinen Gemeinde eingetroffen sind.«
Als der Beifall ausblieb, sprach er weiter.
»Aber nun genug geredet. Sergeant Rowan Elliott wird das Polizeirevier von Encounter Bay leiten. Ich erteile ihm das Wort.«
Der Captain applaudierte, und einige andere, auch Bonnie, stimmten halbherzig ein, denn sie wollte nicht, dass die Polizisten die Walfänger für unhöflich hielten.
Der größte unter den drei Polizisten trat vor. Bonnie fand, dass er in seiner dunkelblauen Uniform ungemein attraktiv wirkte. Jacke und Hose waren makellos sauber – ein Wunder, wenn man die anstrengende Reise und die Tatsache bedachte, dass er seit seiner Ankunft in Encounter Bay nicht die Möglichkeit gehabt hatte, seine Kleidung zu waschen. Der Stehkragen seines Uniformrocks war mit weißen Spiegeln versehen, die seinen ordentlich rasierten Kiefer betonten, und die weißen Lampassen der Hose ließen seine Beine lang und schlank erscheinen.
Sein gepflegtes Äußeres stand in vollkommenem Gegensatz zu dem wüsten Erscheinungsbild der Walfänger mit ihren zerzausten Haaren und den ungestutzten Bärten, deren Kleider so schmutzig und zerknittert aussahen, als hätten sie darin geschlafen. Die Schwarzen, die ihre Haut zum Schutz gegen die Kälte eingefettet hatten, machten auch keinen besseren Eindruck. Außerdem verströmten Einheimische wie Walfänger einen Geruch, als sei der Begriff »Badezimmer« ein Fremdwort für sie.
Bonnie betrachtete ihr eigenes Kleid und strich verstohlen den billigen braunen Baumwollstoff glatt. Ihre Sachen waren zwar abgetragen und eher praktisch als elegant, aber stets sauber. An ihr mochte zwar, wie der Vater meinte, ein Junge verloren gegangen sein, doch zumindest einer, der sich regelmäßig wusch, sagte sie sich entschlossen.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, wandte sich der Polizist in ebenso zackigem wie sachlichem Ton an die Anwesenden, denn er hatte Bonnie in der Menge bemerkt und blickte sie beim Sprechen an. Er hatte hellblaue, beinahe leuchtende Augen, die gar nicht zu seinem schweren und oftmals verachteten Beruf passen wollten. »Vielen Dank, dass Sie uns so freundlich in Encounter Bay willkommen heißen. Wir waren sehr erleichtert, als wir gestern Nachmittag wohlbehalten hier ankamen. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, handelt es sich bei Encounter Bay um den ersten Polizeiposten, der östlich von Adelaide eingerichtet werden wird, um den immer größer werdenden Zustrom von Männern aus anderen Kolonien einzudämmen. Durch die Gründung dieses Polizeipostens wollen wir den hiesigen Problemen Rechnung tragen ...«
»Was für Probleme meinen Sie denn, Sergeant?«, fragte Dick Motley herausfordernd. Vermutlich hoffte er, der Mann werde sich durch eine ausführlichere Erklärung bei den Einheimischen sofort alle Sympathien verscherzen.
Falls der Sergeant geglaubt hatte, diese Klippe elegant umschiffen zu können, hatte er sich geirrt. Doch er zögerte nur kurz, und seine Miene verriet, dass er entschlossen war, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Ich kann leider nicht verhehlen, dass Encounter Bay bei den meisten Bürgern von Adelaide als Schlupfwinkel für Diebe, Straßenräuber und Mörder gilt. Abschaum ist einer der Begriffe, der in diesem Zusammenhang häufiger fällt. Trunkenbolde und Faulpelze sind ebenfalls durchaus beliebte Bezeichnungen.«
Ein ärgerliches Murren erhob sich.
Der Sergeant bat mit einer befehlsgewohnten Geste um Ruhe. »Lassen Sie mich ausreden, bevor Sie widersprechen. Laut Auffassung der Kolonisten teilt sich die Gesellschaft in drei Schichten auf: eine erwünschte Klasse, die aus angesehenen und fleißigen Einwanderern besteht, eine unerwünschte, die sich aus Sträflingen, Zwangsarbeitern, desertierten Seeleuten, Walfängern und Gelegenheitsarbeitern von zweifelhaftem Ruf zusammensetzt, und die der Eingeborenen. Die Einstellung zu Letzteren hat sich in letzter Zeit geändert, da es immer häufiger zu Rassenunruhen kommt. Die sogenannte erwünschte Klasse hat sich stark für die Bildung eines Polizeiapparats eingesetzt, der sie vor denen, die sie für unerwünscht hält, also den illegalen Einwanderern, schützen soll. Und da in letzter Zeit einige Weiße von Schwarzen getötet worden sind, wächst zudem die Überzeugung, die Polizei müsse die Kolonisten auch gegen die Eingeborenen verteidigen.«
»So viel zur klassenlosen Gesellschaft, die man uns damals versprochen hat. Aber diese Idee hat sich nur drei Jahre gehalten. Schau, sie sind nur hier, um die Interessen der Reichen zu schützen.« Eigentlich war Hughs Bemerkung nur an Bonnie gerichtet gewesen, doch seine raue Stimme und sein verbitterter Tonfall waren auch dem Sergeanten nicht entgangen.
Der Polizist sah Hugh an. »Ich möchte noch etwas hinzufügen«, fuhr er fort. »Ich bin noch nicht lange genug in der Kolonie, um mir selbst ein Bild machen zu können. Außerdem bin ich, was die Lage in Encounter Bay betrifft, völlig unvoreingenommen. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass jeder Mann und jede Frau« – bei diesen Worten blickte er Bonnie an – »ein ehrenwerter und gesetzestreuer Bürger ist, solange man ihm nicht das Gegenteil nachweisen kann. Zweitens ...« – dabei wandte er sich an den Captain – »Werden die Schwarzen mich verstehen, wenn ich sie direkt anspreche?«
»Dazu brauchen Sie einen Dolmetscher. Bob, kommst du mal bitte?«
Encounter Bay Bob stand auf, trat vor und nickte dem Sergeant freundlich zu.
Sergeant Elliott erwiderte den Gruß und drehte sich dann zu den am Boden sitzenden Schwarzen um. »Zweitens darf ich hinzufügen, dass die eingeborene Bevölkerung der Kolonie sämtliche gesetzlich garantierten Rechte genießt. Gouverneur Hindmarsh hat verkündet, dass die Eingeborenen in jeder Hinsicht gleichberechtigt zu behandeln sind.« Er hielt inne, während Bob übersetzte. »Das heißt aber auch, dass Straftäter, seien sie nun schwarz oder weiß, die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.«
Die Schwarzen nickten zwar, nachdem Bob übersetzt hatte, aber Bonnie bezweifelte, dass sie den Sinn der Worte verstanden.
»Das britische Rechtswesen ist derzeit das gerechteste und angesehenste der Welt«, sprach er weiter. »Und unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt.«
»Wenn Sie dieses Rechtswesen genauso aufrechterhalten wollen, wie wir es erlebt haben, können wir die Hoffnung wohl aufgeben«, rief ein Mann aus einer der hinteren Reihen.
»Ich habe einen heiligen Eid geschworen«, entgegnete der Sergeant. »Und ich glaube, ich spreche auch im Namen meiner Männer, wenn ich sage, dass wir entschlossen sind, ihn niemals zu brechen. Wir haben gelobt, Aufstände, Unruhen, Landfriedensbruch, die Erregung öffentlichen Ärgernisses und sämtliche Gesetzesverstöße in dieser Provinz zu verhindern. Und ich werde jeden Mann, der das geltende Recht bricht, ohne Ansehen der Person zur Rechenschaft ziehen. Die südaustralische Polizei ist straff organisiert und wurde von Sir Robert Peel nach dem Beispiel der Irish Constabulary und der London Metropolitan Police geschaffen. Bestechlichkeit gibt es in unserer Truppe nicht, und nur Männer mit dem besten Leumund dürfen ihr angehören. Jetzt aber genug geredet. Bevor ich zum Ende komme, möchte ich Ihnen meine Männer vorstellen. Constable Geoffrey Jennings ...«
Ein gedrungener, rundlicher Mann trat vor und nickte knapp. Der enge Stehkragen schien ihm das Blut abzuschnüren, denn selbst diese knappe Kopfbewegung ließ ihn puterrot anlaufen.
»... und Constable Herbert Mountford.« Der zweite Polizist hatte das schmale Gesicht eines Frettchens und war mager wie eine Bohnenstange.
»Wir sind hier, um den Walfängern zur Seite zu stehen, und freuen uns darauf, in Eintracht mit Ihnen allen zusammenzuleben«, fuhr der Sergeant würdevoll fort. »Bitte wenden Sie sich mit Ihren Sorgen und Anliegen an uns. Danke für die freundliche Begrüßung. Es wäre schön, wenn wir Sie alle persönlich kennenlernen könnten.«
Captain Smyth rief nun die wichtigsten Männer der Siedlung zusammen, während die anderen sich trollten. Bonnie begleitete Hugh, Pete Taylor, Roger Sleath und einige andere, um mit den Neuankömmlingen persönlich vorgestellt zu werden. Hugh und Pete kamen zuerst an die Reihe. Dann folgte Roger Sleath, der sich in dem offensichtlichen Versuch, sich beliebt zu machen, erbot, die Polizisten in Encounter Bay herumzuführen. Bonnie war als Letzte dran.
»Miss Mary Douglas, genannt Bonnie«, verkündete Captain Smyth, als sie vortrat. Die beiden Constables nickten lediglich, während der Sergeant ihr die Hand schüttelte. »Sehr erfreut«, sagte er förmlich.
Seine Hand fühlte sich fest und kühl an. Bonnie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen, denn er war einen ganzen Kopf größer als sie. Sein Blick war freundlich, strahlend und schien sehr interessiert. Wieder fiel Bonnie sein lebhafter Blick auf. Aber vielleicht war diese Wirkung ja nur der Tatsache zu verdanken, dass sich diese Augen stark vom strengen Dunkelblau seiner Uniform abhoben.
»Miss Douglas genießt das Privileg, die einzige Frau in unserer Siedlung zu sein, Sergeant Elliott«, erklärte Captain Smyth. »Doch selbst wenn das nicht so wäre, wäre sie noch immer die hübscheste. Kein Wunder, dass alle sie Bonnie nennen.«
»Ich kann die Leute verstehen«, erwiderte Sergeant Elliott lächelnd, bevor er ihre Hand losließ.
Die Anwesenden standen noch immer plaudernd beisammen, als die Glocke läutete. Alle Blicke wanderten zum Felssporn.
»Wale!«, rief der Captain aus. »Los, Männer.«
»Wir müssen die Besichtigung wohl auf ein andermal verschieben«, meinte Roger über die Schulter zum Sergeanten und hastete davon.
Der Captain drehte sich wieder zu Bonnie und dem Polizisten um. »Vielleicht könnten Sie den Herren ja die Siedlung zeigen, Bonnie. Ich weiß ja, dass Sie Ihrem Vater normalerweise bei den Vorbereitungen helfen, aber er kommt heute sicher auch ohne Sie zurecht. Anschließend könnten Sie die Herren von der Polizei auf den Felsen begleiten, um die Jagd zu beobachten.«
»Vater, bist du einverstanden?«, fragte sie Hugh, denn er kam bei ihr stets an erster Stelle. Schließlich war er alles, was sie hatte.
»Geh nur, mein Kind«, meinte er mit einem Nicken und setzte sich in Bewegung.
Bonnie blieb allein mit dem Sergeanten und seinen Männern zurück. »Wenn Sie die Jagd beobachten wollen, sollten wir uns beeilen«, sagte sie. »Am besten steigen wir zuerst auf den Felsen.«
Bonnie und der Sergeant marschierten raschen Schrittes den Strand entlang, gefolgt von den beiden Constables. »Ich erkläre Ihnen die Abläufe in der Siedlung und der Transchmelze, nachdem wir zurück sind«, schlug sie vor. »Wie Sie sehen, sind die Fangboote bereits in See.«
Der Wind wehte ihnen ins Gesicht, als sie am Lager der Schwarzen, der Transchmelze und der Siedlung vorbeieilten. Da Bonnie rasch ausschritt, reichte ihr die Luft nicht zum Reden. Im Windschatten des Hügels spürte sie, wie ihre Wangen von der Anstrengung glühten. Offenbar war der Sergeant gut in Form, denn er konnte als einziger der drei Polizisten mühelos mithalten.
»Sie legen ein ordentliches Tempo vor, Miss Douglas«, sagte er, als sie kurz stehen blieben, um auf die anderen zu warten.
»Wir wollen doch nichts verpassen. Vielleicht sind die Wale schon da.«
»Man merkt Ihnen an, dass Sie viel unterwegs sind«, setzte er hinzu, während sein Blick forschend über ihren Körper glitt, als bewundere er dessen Kraft und Geschmeidigkeit.
»Stimmt. Ich liebe die Landschaft hier und erkunde sie jeden Tag, wenn es meine Zeit erlaubt. Außerdem steige ich oft die Hügel hinauf, um Fallen zu stellen und Vogeleier zu sammeln.«
»Essen Sie die auch?«
»Selbstverständlich.«
»Für ein Mädchen wissen Sie sich ziemlich gut zu helfen.«
»Wen kümmert es hier, dass ich ein Mädchen bin?«, gab sie achselzuckend zurück. »In dieser wilden Gegend wird uns nichts geschenkt. Und für meinen Vater würde ich alles tun«, fügte sie in versöhnlicherem Tonfall hinzu.
»Er hat großes Glück, eine so liebevolle Tochter zu haben.«
Bonnie antwortete nicht. Inzwischen hatten sie den Gipfel der Anhöhe erreicht. Unter ihnen erstreckte sich das Meer. Ein frischer Wind blies ihnen ins Gesicht, und Bonnie war froh, dass er ihr die störrischen Korkenzieherlocken aus der Stirn wehte.
Der Ausguck, der die Bucht durch sein Fernrohr nach Walen absuchte, zeigte ihnen die Position der Boote, die ihrer Beute weit aufs Meer hinaus gefolgt waren. Wegen der Entfernung war mit bloßem Auge fast nichts zu erkennen. Da es offenbar eine Weile dauern würde, bis die Jagd begann, ließen Bonnie und Sergeant Elliott sich auf einem großen Stein nieder, der Aussicht auf das Wasser bot. Die beiden Constables nahmen in angemessener Entfernung Platz.
»Ich bin froh, dass ich gestern und nicht heute mit dem Fangboot draußen war«, stellte sie fest und spähte angestrengt aufs Meer hinaus. »Ich hätte nämlich keine große Lust gehabt, so weit zu rudern.«
»Sie waren auf einem Fangboot und haben als Walfängerin gearbeitet?«
»Schauen Sie mich nicht an wie ein Gespenst. Die schwarzen Frauen fahren manchmal auch mit hinaus, wenn zu wenig Männer da sind ...« Sie zuckte die Achseln, ohne den Satz zu beenden.
Der Sergeant lachte auf. »Ich dachte immer, Walfänger wären schmutzige, hässliche Grobiane.«
»Soll das heißen, dass ich keiner bin?«, erwiderte sie lachend und hoffte, dass ihr die Antwort nicht als Koketterie ausgelegt werden würde.
»Wenn alle Walfänger so hübsch wären wie Sie – ich glaube, die Wale würden freiwillig an den Strand schwimmen, um Sie ansehen zu können.«
»Sie schmeicheln mir, Sergeant«, entgegnete sie.
Er blickte sie aus funkelnden blauen Augen an. Sein Tonfall wurde ernst. »Ich könnte Ihnen gar nicht schmeicheln, Miss Douglas, denn es gibt kein Kompliment, das Ihnen gerecht würde. Sie sind hübsch, Ihrem Vater eine gute Tochter, offenbar sehr tüchtig, und der Captain scheint Sie ebenfalls zu schätzen. Ich dürfte das alles gar nicht sagen, aber ich bin so überrascht, an einem solchen Ort einer jungen Frau wie Ihnen zu begegnen.«
»Ich bin doch eine Fremde für Sie.«
»Richtig. Allerdings halte ich mir einiges auf meine Menschenkenntnis zugute. In meinem Beruf ist das eine wichtige Fähigkeit. Ich muss mein Gegenüber stets schnell und zutreffend einschätzen können.«
Bonnie musterte ihn nachdenklich und versuchte, sich ihrerseits ein Bild von ihm zu machen. Offenbar war er ein anständiger und aufrichtiger Mensch, und ihr Instinkt sagte ihr, dass er sicher ehrlich und vertrauenswürdig war. Außerdem schien er sich zu ihr hingezogen zu fühlen, und obwohl sie sich erst wenige Minuten kannten, war ihr klar, dass dies durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Jedenfalls kam Bonnie zu der Überzeugung, dass sie keine Anzüglichkeiten von ihm zu befürchten hatte. Er würde sich wie ein Gentleman benehmen.
»Und haben Sie mich auch schon eingeschätzt, Sergeant?«, fragte sie kühn.
Als er sie forschend betrachtete, fragte sie sich, wie seine Antwort wohl lauten mochte. Zunächst blieb seine Miene sachlich und distanziert, aber im nächsten Moment wandelte sich sein Gesichtsausdruck. Sein sonst so strenger Mund wurde weicher, seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Schmunzeln, und seine funkelnden Augen weiteten sich. Plötzlich war er nicht mehr Polizist und Amtsperson, sondern sah sie an wie ein Mensch einen anderen ... wie ein Mann eine Frau.