Die Ministerpräsidentin - Tore Tungodden - E-Book

Die Ministerpräsidentin E-Book

Tore Tungodden

4,8

Beschreibung

Hannah ist 10 Jahre alt, als sie für die Partei "Stimme der Zukunft" zur Spitzenkandidatin für die anstehende Wahl zum Ministerpräsidenten ernannt wird. Hannah ist baff, warum denn gerade sie? Schon bald wird Hannah ins Fernsehen eingeladen, eine Live-Sendung, bei der sie mit den anderen Parteichefs sprechen soll. Auch wenn die Politiker Hannah nicht ernst nehmen, die Bevölkerung ist begeistert von dem Kind. Dabei weiß Hannah ja noch gar nicht, ob sie überhaupt Ministerpräsidentin werden möchte. Das Mädchen rückt immer mehr in den Mittelpunkt. Nur noch zwei Tage bis zur Wahl und vor dem Wohnhaus des kleinen Mädchens drängen sich die Journalisten, Fotografen, Fernseh- und Radioteams. Hannah fühlt sich eingeengt. Jeder will mit Hannah sprechen, eine 10-jährige als Spitzenkandidatin, das wird in die Geschichte eingehen. Der Wahltag ist gekommen und alle sind gespannt und der Vater hofft verzweifelt darauf, dass Hannah gewinnt. Doch als tief in der Nacht die Ergebnisse der Wahl kommen sind alle schockiert. Hannah hat mit gut 350 Stimmen verloren. Am nächsten Morgen klingelt das Telefon und Hannahs Vater kommt mit einer neuen, unfassbaren Nachricht zu Hannah. Nun folgt ein Schock nach dem anderen...Rezensionszitat"Das Buch ist in lockerer Sprache geschrieben, die einlädt auf die nächste Seite zu blättern. Die Geschichte ist spannend und leicht verständlich geschrieben." – www.lizzynet.de"Ein spannendes und lustiges Politik-Abenteuer." – Die Buchchecker, www.buecher.deBiografische AnmerkungTore Tungodden wurde 1966 geboren und ist ein norwegischer Journalist und Autor, der auch an der Universität von Bergen unterrichtet. Die Ministerpräsidentin ist sein erstes Buch und wurde mit dem Aschehoug-Debütanten-Preis ausgezeichnet.-

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Tore Tungodden

Die Ministerpräsidentin

Aus dem Norwegischen vonGabriele Haefs

Saga

Vorbemerkung

Hannah, die Erzählerin in diesem Buch, lebt in Norwegen. Norwegen ist wie Deutschland eine parlamentarische Demokratie. Im Unterschied zu Deutschland wird das Land aber durch einen König repräsentiert und nicht durch einen gewählten Bundespräsidenten. Und der Regierungschef wird nicht Bundeskanzler/in, sondern Ministerpräsident/in genannt. Davon abgesehen könnte Hannahs Geschichte aber ebenso gut in Deutschland spielen wie in Norwegen. Das Regierungsoberhaupt wird vom Parlament gewählt und muss nach der Wahl sein Kabinett mit den Ministern einberufen. Und genau wie in Norwegen sind Kinder auch in Deutschland nicht wahlberechtigt und können sich nicht für einen Regierungsposten wählen lassen.

Außerdem wird Euch vielleicht auffallen, dass Kinder und Erwachsene sich duzen, ebenso wie die Erwachsenen untereinander – das ist in Norwegen so üblich. Nur der König wird gesiezt.

1. kapitel

Hallo, ich heiße Hannah, und zwar von vorn und von hinten. Die Geschichte, die ich dir jetzt erzählen möchte, ist so phantastisch, dass sie einfach wahr sein muss. Du würdest garantiert nie auf die Idee kommen, so was zu erfinden, denn du würdest sofort durchschaut werden, von der ganzen Schule, von den Eltern, ja, sogar von kleinen Schwestern, denen du sonst alles weismachen kannst. Wenn du lügen willst, dann erzählst du am besten das, was fast wahr ist. Dass du zum Beispiel nicht weißt, wo die Tafel Schokolade geblieben ist, die im Kühlschrank lag. Und das ist sogar die Wahrheit, denn du hast sie aufgegessen, und jetzt befindet sie sich irgendwo in deinem Körper, aber wo genau, das weißt du nun wirklich nicht. Diese Geschichte ist ein bisschen so. Meine Geschichte ist einfach seltsam, unglaublich – und wahr.

Ich bin zehn Jahre alt und wohne in der größten Stadt im Land in einem ziemlich kleinen Haus, zusammen mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern, Andrine und Line. Line ist die Kleinste, und Papa nennt sie nur »Windel«. Ich habe auch ein paar Freundinnen und Freunde, unter anderem Fred, aber von dem erzähle ich später mehr.

Ich fange lieber mit einem ganz normalen Nachmittag an. Mein Vater kam wie immer von der Werbeagentur nach Hause, für die er arbeitet.

»Tag zusammen«, sagte Papa.

Das sagen sicher Millionen von Vätern zu ihren Kindern, wenn sie nach Hause kommen. Und was danach kam, war auch ganz normal, jedenfalls für mich.

»Heute habe ich eine Idee gehabt, die die Welt verändern wird«, sagte Papa und strahlte übers ganze Gesicht.

Keine von uns sagte etwas dazu. Du findest es vielleicht komisch, dass wir nicht reagieren, wenn er so etwas sagt, aber es ist wirklich ganz normal, dass Papa sich einbildet, er könnte die Welt verändern.

Ich sollte über meinen Vater vielleicht noch erzählen, dass er Finn heißt, dass er sich aber Fink nennt. Dass er immer mit T-Shirt und Turnschuhen zur Arbeit geht und dass mindestens die Hälfte seiner Haare immer steil nach oben oder geradeaus zur Seite steht.

Meistens sieht er aber trotzdem aus wie ein ganz normaler Papa, der aus dem Büro nach Hause kommt. Allerdings nennen sie das Büro, in dem er arbeitet, nicht Büro. »Büros sind was für Spießer. Ich arbeite in einer Ideenbank«, sagt Papa immer zu Mama, wenn er sie ärgern will. Mama arbeitet bei einer Versicherung, hat dort ein eigenes Büro und sicher einen viel ernsthafteren Job als Papa.

Einmal kam mein Vater nach Hause und erzählte, dass sich am nächsten oder jedenfalls am übernächsten Tag alle Menschen im Land umarmen würden, Menschen, die sich gar nicht kannten, einfach so, auf der Straße, weil er sich eben eine Umarmungs-Kampagne ausgedacht hatte. Diese Umarmungs-Kampagne sollte die Leute dazu veranlassen, sich in die Arme zu nehmen und ganz viel Schokolade zu kaufen.

Ich esse oft Schokolade, aber deshalb hab ich doch keine Lust, irgendwen zu umarmen. Wenn ich zu viel Schokolade esse, muss ich danach meistens kotzen oder etwas Salziges essen, um nicht kotzen zu müssen. Die Umarmungen spar ich mir für Leute auf, die ich gern mag.

Ich konnte mir also einfach nicht vorstellen, dass diese neue Idee genialer sein könnte als irgendeine andere Werbekampagne.

»Heute habe ich eine Idee gehabt, die die Welt verändern wird«, johlte Papa noch einmal.

Er hatte Line hochgehoben, und seine Augen strahlten vor Begeisterung. Da Mama gerade den Saft aufwischte, den Line dabei umgestoßen hatte, und da bei Andrine eine Wurst quer im Mund steckte, blieb mir keine Wahl. Ich musste etwas sagen.

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Das ist total genial!«, rief er. »Absolut durch und durch genial. Ich hab es ihnen gesagt. Das wird die Welt verändern! Sie zu einem besseren Aufenthaltsort machen und uns zu besseren Menschen.«

»Wovon redest du da eigentlich?«, fragte ich.

»Chop-stop-chop-stop«, johlte Papa.

Das gehört zu den Dingen, die er oft sagt und die überhaupt keinen Sinn haben.

Papa lud Line von seinen Schultern aufs Sofa um. Dann setzte er sich umgekehrt auf einen Stuhl und legte sein Kinn auf den Stuhlrücken.

»Wir haben eine wichtige neue Kundin. Eine politische Partei.«

»Welche Partei denn«, fragte ich und gab mir alle Mühe, interessiert zu wirken.

»Eine ganz neue Partei, meine liebe Hannah, die hofft, in den nächsten vier Jahren bestimmen zu dürfen.«

Papas Werbeagentur sollte also für diese neue Partei eine Wahlkampagne entwickeln. Das bedeutete, dass sie allen erzählen sollte, wie klug und tüchtig die Leute in dieser Partei waren und dass alles gut werden würde, wenn sie nur genügend Stimmen kriegten.

Das hörte sich an wie ein passender Auftrag für meinen Vater.

»Mehr Geld für Kindergärten und Schulen ist ein hervorragender Aufhänger für diese Partei«, sagte er und lächelte, als ob er gerade etwas gesagt hätte, auf das vorher noch niemand gekommen war.

»Aber das bedeutet sicher nicht, dass es in den Schulen Gratissüßigkeiten geben wird«, antwortete ich.

»Höhö, nein, das wohl nicht. Ich glaube, den Erwachsenen würde Gratisbenzin für alle besser gefallen.«

»Das heißt noch lange nicht, dass Kinder dann Auto fahren dürfen«, sagte ich und merkte, dass ich schon das Interesse verlor.

Ich hatte solche Parteileute ein paarmal im Fernsehen erlebt, wenn Mama und Papa die Nachrichten sehen wollten, und ich kann euch sagen, die waren stinklangweilig. Sie sagen jede Menge komisches Zeug, ohne zu lächeln. Es ist zum Einschlafen, auch wenn du lieber wach bleiben möchtest. Nein, das interessierte mich überhaupt nicht. Aber mein Vater ist keiner, der merkt, wenn jemand ihm nicht mehr zuhört. Er warf die Hände in die Luft und rief: »Hier seht ihr den Mann, der die Welt verändern wird!«

Er sah mich auf eine Weise an, die mir zeigte, dass es hier kein Entkommen mehr gab. Jetzt half nur noch, gar nichts mehr zu sagen, damit er so schnell wie möglich zu Ende erzählte.

»Liebe Hannah, findest du es nicht ungerecht, dass wir Erwachsenen einfach alles bestimmen dürfen? Wann du aufstehen musst, wann du in die Schule gehst, was du isst, wann du fernsehen darfst, wann du schlafen gehen musst, wie viel Taschengeld du bekommst. Ja, es ist doch eigentlich so, dass Kinder überhaupt nichts bestimmen dürfen!«

Papa hatte natürlich recht. Auch wenn ich ihm oft erzählen musste, dass es nicht gesund ist, zum Frühstück Kaugummi zu essen, oder dass er nach einem halben Tag besser Lines Windel überprüfen sollte. Ich ging aber davon aus, dass andere Väter sich ein bisschen erwachsener benehmen, und deshalb brauchte ich gar kein Lügenkreuz zu machen, als ich sagte: »Natürlich ist das ungerecht.«

»Aber muss es so sein? Nein, das muss es natürlich nicht.«

Papa drehte eine Pirouette, dann redete er weiter.

»Das liegt nur daran, dass manche in meinem Alter glauben, dass wir klüger werden, je älter wir sind. Sie haben schreckliche Angst davor, dass die, die nach ihnen kommen, eine eigene Meinung haben könnten. Verstehst du, Hannah?«

Ich verstand das nicht so ganz, aber etwas war nicht ganz so wie sonst. Das hier war etwas anderes als der übliche Jobkram, über den er so oft redete. Er sagte zum Beispiel, dass ein Auto das Kind in dir hervorkommen lässt, oder dass gerade diese bestimmte Zahnbürste Kinder zum Lachen bringt, wenn sie sich die Zähne putzen.

Hast du schon mal versucht zu lachen, während du dir die Zähne putzt? Eben! Dann weißt du, dass das nur geht, wenn du vorher die Zahnbürste aus dem Mund nimmst.

Das hier war etwas ganz anderes. Es stimmt ja wirklich, dass die Erwachsenen viel zu viel bestimmen dürfen. Natürlich machen wir Kinder nicht immer alles richtig, aber es kommt schon vor, dass wir etwas falsch machen, nur weil die Erwachsenen sagen, dass es falsch ist. Aber stellt euch vor, das wäre richtig und die Erwachsenen hätten sich geirrt. Stell dir vor, wir könnten zur Schule gehen, wann wir wollen. Oder uns Klamotten aus dem Schrank holen, die nicht passen, die aber trotzdem total klasse sind. Das ist eine wunderbare Vorstellung.

»Ihr wollt die Stimme der Kinder hören, habe ich zu ihnen gesagt. Gemeinsam werden wir die Kinder zu den Hauptpersonen machen. Du, Hannah, und alle anderen Kinder werden bestimmen dürfen. Das sage ich, so wahr ich Finn Fredriksen heiße!«

Und da Papa Finn Fredriksen heißt, war er also von dieser Idee absolut überzeugt.

Jetzt fragst du dich sicher, ob das nicht nur irgendein Unfug war, wie du ihn schon so oft gehört hast. Wenn du zum Beispiel mit deiner Mutter einkaufen gehst und sie fragt dich, was du abends essen möchtest, und du bist ja nicht blöd, also sagst du: Würstchen, aber das war dann trotzdem blöd, denn deine Mutter lässt dich nur entscheiden, wenn du Fisch sagst.

»Weißt du ganz genau, dass das ernst gemeint ist?«, fragte ich und schaute meinem Vater tief in die Augen.

»Ja, darauf kannst du dich verlassen. Ein Mann von einer frisch gegründeten Partei namens Stimme der Zukunft hat uns angerufen und um Hilfe im Wahlkampf gebeten. Weil sie eine neue Partei sind, wollen sie sich um Dinge kümmern, die die anderen alle vernachlässigen. Der Mann, der angerufen hat, sagte, sie wollten die Kinder bestimmen lassen. Nur wissen sie nicht so ganz, wie sie das schaffen sollen. Aber sie gehen davon aus, dass eine Werbeagentur jede Menge Ideen dazu hat, wie sie der Stimme der Kinder Gehör verschaffen können.«

Papa legte einen Stapel Plakate vor uns auf den Küchentisch. Auf den Plakaten waren lächelnde Kinder zu sehen, die die Hände zum Himmel hoben. Unter dem Bild stand mit Kinderschrift: »Wenn wir bestimmen dürften«, und dann kam eine lange Liste von Sachen, die die Kinder wichtig fanden. Die Partei forderte mehr Schulen, bessere Krankenhäuser, sicherere Straßen und andere Dinge, die sicher für Kinder und Erwachsene wichtig sind, die aber nicht weiter helfen, wenn du vor allem findest, dass es erlaubt werden sollte, zum Abendessen Schokomilch zu trinken.

Es gab also keinen Grund, sich viel zu erhoffen, dachte ich. Aber da hatte ich mich total geirrt.

»Ich habe meinen guten Freund vom Fernsehen angerufen, Stängel«, sagte Papa. »Der war Feuer und Flamme. Stängel möchte gerne dazu beitragen, dieses Programm bekannt zu machen, und er hat die Stimme der Zukunft für nächste Woche zu einer Diskussion der Parteivorsitzenden eingeladen. Und – haltet euch fest –, wisst ihr, wer die Stimme der Zukunft vertreten wird?«

Am Tisch wurde es ganz still. Ich kannte keine anderen Politiker als den Ministerpräsidenten, aber es war klar, dass Papa da den Durchblick hatte. Sein Gesicht schien vor Stolz fast schon zu platzen.

»Du nämlich, Hannah. Meine Tochter! Du wirst der ganzen Welt erzählen, was Kinder sich für die Zukunft wünschen.«

Er sagte sicher noch mehr, aber das kriegte ich nicht mehr mit. Ich stand unter Schock, glaube ich, oder wie immer man das nennt, wenn man ganz wackelige Beine kriegt und das Kinn in eine Portion Würstchen mit Kartoffelbrei fällt.

2. kapitel

Wenn du zu Hause vor dem Fernseher sitzt, sieht das, was in einem Fernsehstudio passiert, fast ganz normal aus. Der Moderator ist meistens schön angezogen. Die Wände haben tolle Farben, aber ansonsten könnte es fast bei dir zu Hause sein.

Die meisten Leute, die im Fernsehen auftreten, sehen auch aus, als wären sie da zu Hause. Sie wissen genau, was sie sagen wollen und wann sie das sagen sollen. Hast du schon mal im Fernsehen Leute dermaßen stottern gehört, dass sie sich nicht trauen, etwas zu sagen? Und dass sie vielleicht ihre Mutter oder ihren besten Freund anrufen müssen, um sich Rat zu holen? Hab ich mir gedacht. Es kommt auch nicht oft vor, dass die Frau vom Wetterbericht erzählt, dass sie keine Ahnung hat, wie morgen das Wetter sein wird, oder dass die Ansagerin die Nachrichten ankündigt, während sie doch eigentlich sagen sollte: »Willkommen zur Kinderstunde«. Wenn du aber selbst da sitzt, ist das ganz anders, das kann ich dir sagen!

An den letzten Tagen vor der Fernsehsendung hatte Papa viel mit denen geredet, die die Partei Stimme der Zukunft gegründet hatten. Sie sagten, ich solle einfach ich selbst sein. Ich fand das ein bisschen komisch, denn wie konnten sie so was sagen, wo sie mich doch gar nicht kannten? Aber Papa sagte, er habe ihnen genau erzählt, wie ich bin, und deshalb hätte ich keinen Grund zur Sorge. Die Parteileute meinten außerdem, dass Kinder selbst am besten Bescheid wüssten. Deshalb wollten sie ja auch ein Kind als Ministerpräsidenten oder Ministerpräsidentin haben.

»Aber ich hab doch noch nie so eine Diskussion von Parteivorsitzenden gesehen«, sagte ich.

»Davor brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Papa und lächelte. »Das ist einfach nur eine Fernsehsendung, die kurz vor der Wahl ausgestrahlt wird. Die Vorsitzenden aller Parteien treffen sich, um über die wichtigsten Themen zu sprechen, bevor die Leute entscheiden, wem sie ihre Stimme geben wollen.«

»Und ich soll also die Vorsitzende von der Stimme der Zukunft sein?«

»Chop-stop. Das sollst du. Meine Tochter soll den Fernsehzuschauern erzählen, warum sie die Stimme der Zukunft wählen sollen.«

Am Tag vor der Sendung gingen Papa und ich neue Kleider für mich kaufen.

»Jetzt, wo das ganze Land dich sehen wird, kannst du dir aussuchen, was dir am besten gefällt.«

Es fiel mir gar nicht schwer, mich zu entscheiden. Ich suchte mir eine tolle glitzernde Hose mit Silbersternen auf dem linken Oberschenkel und eine schwarze Bluse mit einer großen rosa Blume aus. Damit war ich perfekt angezogen!

Dachte ich, bis ich ins Fernsehgebäude kam.

Im Zimmer vor dem Studio wartete der Moderator Stängel. Weil er so hieß, hatte ich mir einen Quatschkopf im T-Shirt vorgestellt, aber Stängel trug einen eleganten dunklen Anzug und einen Schlips. Um ihn herum standen die Parteivorsitzenden, die an der Diskussion teilnehmen sollten. Auch sie waren elegant angezogen, im Kleid oder Anzug. Nirgendwo waren Silbersterne oder rosa Blumen zu sehen.

Wir wurden nebeneinander an einen langen Tisch gesetzt, auf den alle Fernsehkameras gerichtet waren. Ich musste ganz links sitzen. Vielleicht würden die Kameras mich nicht einfangen, wenn ich mich auf meinem Stuhl ganz klein machte? Vielleicht würden sie einfach über meinen Kopf fegen, und dann würde niemand mitkriegen, dass ich im Fernsehen war? Aber das sollte ein Traum bleiben. Die Sendung fing an, und Stängel – oder Stein Andersen, er hatte auch einen richtigen Namen – hieß alle willkommen.

»Bald wird in unserem Land gewählt, meine Damen und Herren.«

Wenn Stängel in die Fernsehkameras redete, hörte er sich an wie eine Schlange, die versucht, freundlich zu klingen, ehe sie zuschnappt und ihr Gift verspritzt. Es war also keine besonders angenehme Stimme, sie war eher einschmeichelnd, so wie Erwachsene gern mit Kindern sprechen, wenn sie versuchen, nett zu sein.

»In einigen Tagen wird Ihre Stimme entscheiden, wer in den kommenden vier Jahren das Land regiert. Und die Wahl in diesem Jahr hat eine kleine Überraschung zu bieten. Oder eher eine riesige Überraschung, müssen wir wohl sagen. Die Partei Stimme der Zukunft hat die zehn Jahre alte Hannah Fredriksen als Spitzenkandidatin aufgestellt. Höhö, ja, Sie haben richtig gehört.«

Stängel grinste in die Kameras.

»Es gibt dabei allerdings ein paar kleine Haken. Hannah ist zu klein, um zu wählen, zu klein, um eine richtige Arbeit zu haben, und sie müsste eigentlich schon im Bett liegen. Höhö.«

Ich merkte, dass meine Wangen heiß wurden.

»Aber da ich das nicht zu entscheiden habe«, sagte Stängel jetzt, »fangen wir also lieber mit der Diskussion an und fragen zuerst die Anwesenden, was sie von dieser aufsehenerregenden Entscheidung halten.«

Danach fragte er die Parteivorsitzenden der Reihe nach nach ihrer Ansicht. Das Seltsame war, dass sie alle keine Lust hatten, in irgendeiner Hinsicht anderer Meinung zu sein. Als Erster antwortete der Ministerpräsident. »Das ist eine sehr interessante Frage«, sagte er und lächelte mich an, als ob er soeben einen verschimmelten Käse im Kühlschrank gefunden hätte. »Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft, wo alle mitbestimmen dürfen. Ich kann also zunächst einmal keinen Grund dafür anführen, warum die Stimme der Zukunft und Anna, Verzeihung, Hanne, zur Wahl nicht zugelassen werden sollten. Eine ganz andere Frage ist natürlich, ob ich das für eine gute Idee halte.«

Ein anderer Mann sagte, er habe gelesen, dass in den USA eine Grünpflanze zu einer Wahl angetreten sei, und dann müsse es doch gestattet sein, dass hierzulande kleine Mädchen das machten. Als jemand lachte, war ihm das peinlich, und er erklärte, er wolle natürlich Mädchen nicht mit Pflanzen vergleichen, sondern nur sagen, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gebe als gemeinhin angenommen. Und da lachten die Leute wieder.

Ein Mann mit Ziegenbart und verschlafener Stimme fand es vor allem wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Rednertribüne im Parlament so hoch war, dass mich niemand sehen würde, wenn ich da eine Rede hielte. Ein anderer, der ziemlich traurig aussah, hielt es für ein »konstitutionelles Problem«, das jahrzehntelang reifen müsse, ehe das Grundgesetz geändert werden könne.

Eine Frau, die laut und schnell redete, hielt Kinder für unseren wichtigsten Rohstoff. Und gerade deshalb müssten Hannah und alle anderen Kinder so lange wie möglich Kinder sein dürfen. Ich fand das ein bisschen komisch, schließlich kann doch kein Mensch einem Kind verbieten, ein Kind zu sein.

Jedenfalls wollte niemand ganz offen sagen, dass es blödsinnig wäre, Kinder bestimmen zu lassen. Ich hatte aber trotzdem das Gefühl, dass alle diese Idee ebenso sinnvoll fanden wie den Vorschlag, mit Geldscheinen ein Kaminfeuer anzuzünden.

Aber irgendwann schienen die Politiker es dann sattzuhaben, über Kinder zu reden. Stattdessen diskutierten sie über andere politische Fragen, Arbeitsplätze, Straßen, Benzinpreise, Steuerniveau, Krieg und Frieden. Sie unterbrachen sich gegenseitig, schrien sich an und benahmen sich so, wie wir das in meiner Klasse in der Schule nie und nimmer gedurft hätten.

Mir war das egal, denn sie schienen mich komplett vergessen zu haben. Außerdem verstand ich höchstens die Hälfte von dem, was sie sagten. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung, was Wörter wie prioritieren, effektivisieren oder marginalisieren bedeuten. Es hörte sich fast an, als ob es etwas mit Essen zu tun hätte, aber sicher war ich da nicht, und deshalb saß ich mäuschenstill da und hoffte, dass die Sendung bald zu Ende sein würde.

Aber Stängel hatte mich offenbar nicht vergessen. Plötzlich drehte er sich zur Kamera um und sagte: »Wir haben jetzt die unterschiedlichen Meinungen unserer etablierten Politikerinnen und Politiker gehört, aber ich glaube, meine Damen und Herren, dass nun auch unsere jüngste Teilnehmerin zu Wort kommen sollte. Was glaubst du, Hannah, was würdest du verändern, wenn du die Möglichkeit hättest, zu bestimmen?«

Er stellte diese Frage so, als ob es lächerlich wäre zu glauben, ich könnte irgendetwas zustande bringen, das schwieriger wäre als mir die Schnürsenkel zuzubinden.

Während die Parteivorsitzenden diskutierten, hatte ich mir glücklicherweise überlegt, was ich sagen wollte, wenn ich doch noch irgendetwas gefragt würde. Mein Kopf war eigentlich ein schwarzes Loch, aber dann fiel mir ein, was ein Lehrer mal in einer Stunde gesagt hatte, nämlich, dass es wichtiger ist, von anderen zu lernen als von sich selbst.

Ich holte tief Luft und versuchte, das erste Wort für meinen ersten Satz zu finden. Meine Stimme kam mir vor wie die einer kleinen Maus, die versucht, einem Elefanten etwas zu erklären.

»Alle Kinder können von Erwachsenen viel lernen«, sagte ich. »Das Problem ist, dass Erwachsene aufhören zu lernen, wenn sie erwachsen sind, denn dann glauben sie, alles zu wissen. Ihr schafft es auch so gut wie nie, voneinander zu lernen, weil ihr immer meint, alles am besten zu wissen. Aber es muss doch möglich sein, voneinander zu lernen.«

Danach sagte niemand mehr etwas. Ich versuchte, mich umzublicken, aber die grellen Scheinwerfer sorgten dafür, dass ich gar nichts sehen konnte. Dann räusperte Stängel sich, bedankte sich bei den Zuschauern und wünschte ihnen eine schöne Wahl.

Die Parteivorsitzenden sagten mir nach der Sendung allesamt nicht auf Wiedersehen und bedankten sich auch nicht für mein Kommen, aber das war mir nur recht.

Stängel war in ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten vertieft und schien sich auch nicht mehr für mich zu interessieren. Ich hatte dasselbe Gefühl wie an dem Tag, an dem wir in unser neues Haus eingezogen waren. Als Erstes lief ich auf die Straße, um jemanden zum Spielen zu finden. Viele hatten den Möbelwagen gesehen und wollten jetzt wissen, wie ich hieß und woher ich kam, aber als sie das erfahren hatten, gingen sie einfach wieder, ohne zu fragen, ob ich mitkommen wolle.