Die Morde von Worpswede - Helga Beyersdörfer - E-Book
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Die Morde von Worpswede E-Book

Helga Beyersdörfer

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Beschreibung

Ein Dorf, das ein dunkles Geheimnis hütet: Der packende Regio-Krimi »Die Morde von Worpswede« von Helga Beyersdörfer jetzt als eBook bei dotbooks. Im Teufelsmoor hört dich niemand schreien … Er will die Hochhausschluchten von Frankfurt hinter sich lassen: Alexander Laroche freut sich auf eine wohlverdiente Auszeit im idyllischen Worpswede. Doch seine Ankunft im Künstlerdorf fällt weit weniger herzlich aus als er erwartet hat – auf der Landstraße splittert seine Scheibe unter freiem Himmel … hat man etwa auf sein Auto geschossen? Und auch vor Ort verdichten sich die Hinweise, dass hier etwas nicht stimmt. Warum ist die neu erbaute Luxus-Unterkunft trotz Hauptsaison so seltsam verwaist? Als Laroche schließlich ein Mordopfer findet, das an einem Baum aufgeknüpft wurde, werden seine Zweifel zu tödlichem Ernst … »Ein höchst gelungener Kriminalroman, der fasziniert.« NDR Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der atmosphärische Kriminalroman »Die Morde von Worpswede« von Helga Beyersdörfer bietet fesselnde Spannung für alle Fans der Bestseller von Romy Fölck. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 280

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Über dieses Buch:

Im Teufelsmoor hört dich niemand schreien … Er will die Hochhausschluchten von Frankfurt hinter sich lassen: Alexander Laroche freut sich auf eine wohlverdiente Auszeit im idyllischen Worpswede. Doch seine Ankunft im Künstlerdorf fällt weit weniger herzlich aus als er erwartet hat – auf der Landstraße splittert seine Scheibe unter freiem Himmel … hat man etwa auf sein Auto geschossen? Und auch vor Ort verdichten sich die Hinweise, dass hier etwas nicht stimmt. Warum ist die neu erbaute Luxus-Unterkunft trotz Hauptsaison so seltsam verwaist? Als Laroche schließlich ein Mordopfer findet, das an einem Baum aufgeknüpft wurde, werden seine Zweifel zu tödlichem Ernst …

»Ein höchst gelungener Kriminalroman, der fasziniert.« NDR

Über die Autorin:

Helga Beyersdörfer studierte Germanistik in Frankfurt am Main und machte danach eine Ausbildung zur Journalistin. Zunächst war sie als freie Autorin u.a. für das ZEIT-Magazin, dann als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau, STERN und SAT1 tätig. Helga Beyersdörfer lebt in Hamburg.

Bei dotbooks erscheint bereits ihre Krimi-Reihe um die Journalistin Margot Thaler mit den Bänden »Die Reporterin und der falsche Mörder«, »Die Reporterin und der faule Zauber« und »Die Reporterin und der tote Maler«.

Außerdem veröffentlicht sie bei dotbooks die Kriminalromane »Ein mörderisches Hobby« und »Die Frau im blauen Kostüm« sowie ihren Regio-Krimi »Die Toten von Worpswede«.

Die Website der Autorin: www.helga-beyersdoerfer.de/

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eBook-Neuausgabe November 2023

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Irrlichter« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Ulrike Adam, shutternelke, U-Design

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98952-427-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Helga Beyersdörfer

Die Morde von Worpswede

Kriminalroman

dotbooks.

Vorwort der Autorin an die Leserin, den Leser

Fragen Sie sich eventuell, warum der vorliegende Roman (wie zuvor schon Die Toten von Worpswede) erneut in Worpswede spielt?

Meine Antwort darauf führt Sie ein klein wenig hinter die Kulissen dessen, was passieren kann, während die Idee zu einem Buch reift. Am Beginn stand eine klare pragmatische Aussage: Nachdem ich Die Toten von Worpswede geschrieben hatte und damit offen war für neue Eindrücke, war für mich klar, dass die nächste Geschichte nicht in Worpswede spielen sollte. Ich hatte einen anderen Spielort entdeckt, bereiste und beguckte ihn wie üblich, begeisterte mich dafür wie üblich, begann mich einzulesen wie üblich.

Und dann? Dann hielt ich auf der Rückfahrt von Bremen nach Hamburg für einen kurzen Zwischenstopp in Worpswede an. Und verwarf alle meine Pläne. Warum?

Weil das Dorf mir eine neue, eine ganz andere Seite zeigte: Planen flatterten über abgetragenen Dächern, Baugräben wurden ausgehoben, auf dem Platz vor der Gästeinformation stand ich plötzlich vor Sandhäufchen ‒ ein Schild belehrte mich, dass es sich dabei um Muster für eine Materialerprobung handele.

Nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht hatte, ob ich darin eine Aufforderung sehen sollte, mit meinem handfesten, moortauglichen Schuhwerk ordentlich in den Sand hineinzuwalken, wurde mir allmählich klar, was hier passierte: Worpswede rüstete sich für den Aufbruch in die Moderne. Es hatte jetzt, erfuhr ich, einen Masterplan, der die traditionelle Pflege seiner historischen Künstlerkolonie endlich mit den Angeboten seiner aktuell in Worpswede lebenden Künstler verknüpfen soll.

Worpswede ist im Umbruch. Es wird umgebaut, umstrukturiert, Altes weicht Neuem oder präsentiert sich neu. Das alles geht nicht ohne Diskussionen, Interessenkonflikte, Wirrungen und Irrungen. Eine spannende Phase.

Ich konnte mich dem nicht entziehen. Und so bin ich nach dem kurzen Zwischenstopp mehrmals nach Worpswede zurückgekehrt, um zu schauen, zu hören und den unterschiedlichen Strömungen nachzuspüren. Und ehe ich michs versah, befand ich mich mitten in den Recherchen für Die Morde von Worpswede.

Die Morde von Worpswede ist ein Roman, das heißt, Personen und Handlungen sind frei erfunden. Das gilt auch für die Park-Residenz, die es so nicht gibt, aber geben könnte. Wer weiß.

Nicht fiktiv hingegen ist die Umgebung, in der dieser Roman spielt ‒ das etwas andere Worpswede, das sich gerade neu erfindet, das aber dennoch seine Geschichte wahren will, die eng mit der Künstlerkolonie um Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker verbunden ist. Auch dieser schwierige Spagat wird in dem Roman zum Thema.

Sollten Sie in nächster Zeit Worpswede besuchen, so werden Sie feststellen, dass einige der im Roman beschriebenen Neugestaltungen bereits fertiggestellt sind. Der Brunnen zum Beispiel mit den Namensziegeln der Sponsoren, vielleicht auch das Haus im Schluh. Anderes wird vielleicht gerade erst begonnen.

Was hoffentlich unverändert bleibt, ist der auch im Roman erwähnte samstägliche Markt, der nicht nur dem Verkauf einheimischer Produkte dient, sondern auch ein beliebter Treffpunkt ist. Bei verträglichem Wetter sitzen hier die Worpsweder gerne auf ein Glas zusammen, um sich den neusten Schnack zu erzählen.

Ich nutze die Gelegenheit, mich dafür zu bedanken, dass ich gelegentlich an diesen »Marktsitzungen« teilhaben durfte. Und da ich schon beim Bedanken bin: Die Gespräche mit vielen der dort lebenden jüngeren und älteren Künstler haben mich nicht nur bereichert, sondern mir darüber hinaus die Überzeugung vermittelt, dass es in Worpswede auch jenseits der alten Künstlerkolonie viele und vieles zu entdecken gibt.

Ebenfalls bereichernd war meine Zusammenarbeit mit dem zwölfjährigen Hamburger Gymnasiasten David. Er hat kritisch die Entwicklung und Sprache des elfjährigen Julian in meinem Roman begleitet und mich mehr als ein Mal stirnrunzelnd korrigiert. Mit welch sprachlichem Feingefühl und welchem Einsatz er das getan hat, war nicht nur hilfreich, sondern ließ mich auch so manche pauschale Kritik an der Verdummung unserer Schüler überdenken.

So wie ich ihm Einblick gab in meine Arbeit, so erlaubte er mir Einblick in seine. Ich war beeindruckt.

Meine Bibliothek zu Worpswede, seiner Geschichte, seiner Künstlerkolonie, seinen Menschen ist inzwischen einige Meter lang. Ohne das Hintergrundwissen aus all diesen Büchern hätte ich weder Die Toten von Worpswede noch Die Morde von Worpswede schreiben können. Denn ein Roman ist zwar fiktiv, er kann aber nicht auf reelle Wahrheiten als Hintergrund verzichten.

Kapitel 1

Endlich. Alexander Laroche schob seine Sonnenbrille von der Nase auf die Stirn und blinzelte durch die Windschutzscheibe hindurch zum Himmel hoch. Bewölkt, wie er erwartet hatte. Er war im Norden angekommen, mehr noch, er war mitten im Moor, im Teufelsmoor. Manche nannten dieses Stück Erde die traurigste Gegend der Welt.

Er konzentrierte sich wieder auf die Straße und drosselte das Tempo. Mochten andere denken, was sie wollten. Das platte Land, die Wolken, die Weite, die den Augen keine Grenzen setzte ‒ ihm gefiel das.

Sieben Stunden war es her, seit er die Hochhaus-Schluchten von Frankfurt hinter sich gelassen hatte. Die letzte nennenswerte Erhebung, die er passiert hatte, waren die Kasseler Berge. Und nun dies: eine schmale Straße, die auf direktem Wege auf den Horizont zuzulaufen schien, gesäumt von Birken, deren Stämme sich dem Wind beugten. In wenigen Minuten würde er in Worpswede sein und wiederum wenige Minuten später in der Wohnung, die ihm ein Refugium werden sollte für zwei friedvolle Monate. Ein Rückzugsort ohne Lärm, Gestank, Streit und Eile.

Seit mindestens fünf Minuten war ihm kein Auto mehr begegnet. Die schnurgerade Allee, die über seinen Kopf hinwegeilenden Wolken, die Stille machten ihn schläfrig. Selbstkritisch und ein wenig wehmütig gestand er sich ein, dass er die siebenhundert Kilometer noch vor zehn Jahren besser weggesteckt hätte. Aber da war er auch erst Mitte vierzig gewesen und hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, sich eine Pause von seinem bisherigen Leben zu verordnen. Jetzt würde er genau das tun. Für eine Weile und mit hoffentlich brauchbarem Ergebnis. Die Frankfurter Freunde hatten ihn skeptisch verabschiedet. Nun erst recht, dachte er und bestätigte sich zum wiederholten Male selbst, dass er richtig entschieden hatte.

Es ging auf sechs Uhr zu an diesem kühlen Juninachmittag. Alexander Laroche lehnte den Kopf gegen die Nackenstützen und ließ sein Seitenfenster nach unten schnurren. Diese Luft, diese Lautlosigkeit. Er war müde.

Ein dumpfer Knall schreckte ihn auf. Instinktiv rammte er den Fuß auf die Bremse, bis sie fauchend und knirschend die Räder zum Stillstand brachte. Er brauchte eine Weile, ehe er sich steifnackig umwandte. In seiner Heckscheibe zeigten sich feine Risse, die sternenförmig auseinanderliefen. Alexander hätte an einen Steinschlag geglaubt, wäre da nicht ein paar Meter hinter ihm ein Auto quer gestanden, das offensichtlich aus einem Feldweg gekommen war, den er erst jetzt wahrnahm. Hatte er in einem Anfall von Sekundenschlaf die Kontrolle verloren und dieses Auto gerammt? Waren deshalb die Insassen, ein Mann und eine Frau, so aufgebracht? Er konnte ihre aufgeregten Stimmen hören. Stritten sie? Die Fahrertür war weit geöffnet, dahinter stand der Mann. Er hielt etwas in die Höhe, was ihm die Frau offenbar entreißen wollte. Ein Stück Holz? Einen Stock? Alexander kniff die Augen zusammen. Oder war das ein Gewehr? Erschrocken rutschte er tiefer in seinen Sitz. Durch das geöffnete Fenster drangen Wortfetzen. Die Stimme des Mannes wütend, die der Frau energisch, sehr hell, sehr spitz. Und seltsam vertraut. Ein Bild tauchte aus der Vergangenheit auf: ein zierliches Mädchen. Blondes, sehr blondes Haar, das Erbe der schwedischen Mutter. Wie auch der Name: Siri. Wie lange hatte er diesen Namen nicht mehr gehört, nicht mehr hören wollen. Es war ärgerlich, dass er sich von der Stimme einer fremden Frau beunruhigen ließ. Absurd.

Er lauschte. Stritten sie noch? Aus der Deckung zu kommen traute er sich nicht, setzte sich aber so, dass er in den Rückspiegel sehen konnte. So bekam er mit, wie der Mann ‒ ein untersetzter, bulliger Typ, an dem das Markanteste eine graue Strickmütze war, unter der halblange, beige-braune Haare herauszottelten ‒ sich am Kofferraum zu schaffen machte. Die Frau stand halb verborgen hinter der offenen Fahrertür, die Arme wie einen Schutzschild aufgestützt auf den Türrahmen. Mürrisch wirkte sie auf Alexander und trotz der sehr blonden Haare nicht mehr ganz jung. Einen Stock oder gar ein Gewehr konnte er nicht mehr entdecken.

Die beiden sahen in seine Richtung. Bedrohlich wirkte das nicht, allenfalls übellaunig. Ihm blieb keine Wahl, er musste mit ihnen sprechen, um herauszufinden, was eigentlich geschehen war. Langsam richtete er sich auf, holte tief Luft und stieg aus.

Ein Fehler. Denn kaum machte er Anstalten, auf die beiden zuzugehen, ballte der Vierschrötige die Fäuste und rannte los. Die Frau schnellte hinter ihm her.

»Lass das!«, rief sie ihm zu und krallte sich, als sie ihn endlich erreicht hatte, an seinem Pullover fest. »Du Idiot, Himmel, Arsch.«

Alexander starrte sie ungläubig an, fasste sich aber schnell und deutete an den beiden vorbei auf einen Traktor, der sich langsam, aber unbeirrt dem quer stehenden Auto näherte. »Der diskutiert nicht lange. Wetten?«

Die beiden drehten sich erwartungsgemäß um. Alexander nutzte die Gelegenheit, flüchtete sich in sein Auto, verriegelte die Türen und fuhr los.

Im Rückspiegel sah er, wie der Mann auf die Motorhaube schlug, während die Frau armwedelnd auf den Traktor zulief. Die echte Siri war kleiner, dachte Alexander, auch schlanker, jünger sowieso. Also bitte, daran sah man doch schon, dass die Fremde nicht Siri sein konnte. Andererseits hatte diese Frau hier nicht nur Siris helle, schneidende Stimme, sie benutzte auch deren Lieblingsfluch. Himmel, Arsch. Das Letzte, was Alexander nach ihrem ultimativ letzten Krach von ihr gehört hatte, war ebendieser Fluch gewesen.

Danach hatten sie sich nie wiedergesehen. Wie lange war das her? Zwanzig Jahre, ach was, länger, dreißig bestimmt. Er war jetzt siebenundfünfzig und hatte damals nach dem Studium seine erste Stelle angetreten. Siri war nur ein paar Jahre jünger. Klar, man verändert sich im Lauf der Jahre.

Aber nicht so, dass man sich nicht wiedererkennt. Oder doch? Nein, beschloss Alexander, das war nicht Siri. Er wollte nicht mehr daran denken, nicht an diesen blöden Zwischenfall und auch nicht an sie.

Als er das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte, war es kurz vor sechs gewesen. Seither waren zu seiner Verwunderung erst fünfzehn Minuten vergangen, in denen er die meiste Zeit einfach geradeaus gefahren war. Wo genau er sich befand, wusste er nicht, vermutete aber, dass er bereits in Worpswede war. Die Straße wurde nicht mehr gesäumt von Birken und Feldern, sondern verjüngte sich in eine Dorfstraße. Wahrscheinlich hatte er das Ortsschild übersehen, weil er immer wieder in den Rückspiegel sah. Seine Befürchtung, das seltsame Pärchen könnte ihm folgen, bestätigte sich zum Glück nicht, sodass er es wagte, rechts ranzufahren und seinen Wagen zu inspizieren. Nichts. Rein gar nichts. Keine Beule, keine Schramme. Der Befund bestätigte seine Vermutung: Es hatte keinen Zusammenstoß gegeben, die beiden hatten bewusst auf seine Heckscheibe gezielt, womit auch immer, und einen Volltreffer gelandet. Aber warum? Er versuchte, sich die Sekunden vor dem Knall in Erinnerung zu rufen, und dass ihm das nicht gelang, lieferte ihm die einzig mögliche Erklärung: Er war tatsächlich am Steuer eingeschlafen, hatte die beiden fast erwischt und damit eine gewaltige Wut ausgelöst. Genau. Alexander setzte sich wieder hinter sein Steuer und stellte das Radio lauter. Die würden den Teufel tun und ihm folgen. Vermutlich waren sie zur Vernunft gekommen und hatten sich ausgerechnet, was sie eine neue Heckscheibe kosten würde.

Er musste keine Haken schlagen deswegen, sondern konnte endlich sein Häuschen im Park ansteuern. Allerdings musste er es erst noch finden.

Er näherte sich dem Ortskern. Die niedrigen Häuser standen nun dichter beieinander, in den Vorgärten Schilder mit der Aufschrift FREMDENZIMMER. Er entdeckte die ersten Geschäfte, ebenerdig und einladend dekoriert mit allerlei Trödel, eine Ecke weiter machte sich ein Supermarkt samt Parkplatz breit. Dahinter wies ein Wegweiser nach rechts zum Rathaus und zum Kunstcentrum Alte Molkerei Worpswede. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte ein Bäcker trotz der kühlen Witterung Tische und Stühle vor seinem Laden aufgestellt. Alexander widerstand der Verlockung, sich einen Kaffee zu genehmigen und eine dieser unglaublich opulenten Torten zu probieren, die er hinter der Scheibe entdeckte. Später vielleicht. Im Augenblick fühlte er sich noch nicht ausreichend präpariert, um bei sechzehn Grad Außentemperatur im Freien Kaffee zu trinken. Die Norddeutschen, hatten Freunde gefrotzelt, die sitzen bei jedem Wetter draußen, außer wenn’s Backsteine hagelt. Klugscheißer, dachte Alexander, für manche von denen war Hannover Hauptbahnhof schon das Nördlichste, was sie kannten.

Er ließ die Bäckerei hinter sich, eine Buchhandlung, eine Teestube und entdeckte endlich ein Straßenschild, Findorffstraße, aha. Gleich darauf erkannte er, dass er in der falschen Richtung unterwegs war. Nicht Richtung Osterholz solle er sich halten, hatte man ihm telefonisch eingeschärft, sondern entgegengesetzt, nach Hüttenbusch hin.

Allmählich reichte es ihm. Die Augen brannten, er war hundemüde, hungrig, durstig, seine Heckscheibe war im Eimer, und er war knapp einem durchgeknallten Pärchen entkommen. Wieso führte ihn diese Scheißstraße jetzt auch noch einen Hügel hinauf zwischen zwei hochragende Gemäuer? Links oben, das war eine Kirche, danach war ihm nun gar nicht. Und rechts, das sah nach Stadtmauer aus. War es aber nicht. Keine Stadtmauer verfügte über eine Auffahrt. Das hier war ein Hotel, mit Auffahrt, Parkplatz und Wendemöglichkeit und hoffentlich irgendeinem menschlichen Wesen, das er nach dem Weg fragen konnte. In allzu dichten Rudeln, das war ihm auf der Fahrt bis hierher aufgefallen, liefen die nicht gerade rum.

Er fand einen Platz zwischen einem Fahrradständer und einem kleinen Pavillon, unter dessen Dach ein Tisch und ein paar Stühle standen. Offenbar handelte es sich um das hoteleigene Raucherasyl, denn an dem Tisch hatten zwei Männer in blauer Arbeitskluft Platz genommen, vor sich einen halb vollen Aschenbecher. Alexander ging auf die beiden zu.

»Entschuldigen Sie. Ich suche die Park-Residenz. Sie sehen so aus, als müssten Sie die kennen.«

»Müssten wir?« Die beiden sahen sich an, als hätte dieser Tourist gerade einen gar nicht mal so schlechten Witz gerissen. Alexander verstand nicht. Hatte er was falsch gemacht? Sich missverständlich ausgedrückt?

»Jo«, setzte der Dickere der beiden an, »müssen nicht, aber kennen schon.«

»Macht ja genug Ärger«, fügte der andere hinzu, »die Residenz.«

»Kann er ja nich’ für«, warf der Dicke dazwischen, »immer da längs.« Er deutete in die Richtung, aus der Alexander gekommen war. »Und kurz vor dem Hinweisschild Neu Sankt Jürgen scharf links rein. Denn noch ein kleines Stück geradeaus, bis es nicht mehr weitergeht. Sind Sie vielleicht von der Initiative oder von der Kripo?«

War das norddeutscher Humor? Alexander war nicht in der Verfassung, der Frage heute Abend noch nachzugehen. »Sehe ich so aus?«, antwortete er deshalb so locker, wie er es gerade noch hinbekam. »Nein, ich habe dort schlicht ein Apartment gemietet, das ist alles.«

»Oha.« Der Dicke erhob sich und klopfte Alexander freundschaftlich auf die Schulter. »Denn alles Gute. Man sieht sich.«

Kapitel 2

Peter Chamisso war dabei, einen vollgestopften Leinensack ins Haus Nummer vier zu wuchten, als der Audi mit Frankfurter Kennzeichen auf den Carport von Nummer sechs rollte. Mit einem Tritt beförderte Chamisso den Sack über die Schwelle und ließ die Tür ins Schloss fallen. Er sah sich prüfend um. Nach den unliebsamen. Erfahrungen der vergangenen Wochen hielt man besser die Augen offen.

In der Anlage mit ihren unzähligen Bäumen, Büschen, Pfaden und Nischen schien alles ruhig zu sein. Die Park-Residenz bestand derzeit erstens aus dem Park und zweitens aus sieben kleinen Wohnhäusern, weiß geklinkert und mit viel Glas bis unter die Dachschrägen. Die »Chalets«, wie Peter Chamisso sie nannte, standen in jeweils angemessenem Abstand zueinander in einem großen Halbkreis um eine runde Rasenfläche herum. In der Mitte des Rasens hatte ursprünglich ein Springbrunnen stehen sollen. Der Plan war inzwischen aufgegeben. Chamisso warf noch einen Blick über das unbebaute Halbrund hinweg auf die andere Seite des Parks, ehe er sich dem Fahrer des Frankfurter Wagens zuwandte, der inzwischen ausgestiegen war und das Haus musterte. Chamisso war mit wenigen Schritten bei ihm. »Moin. Kann ich helfen?«

»Ich hoffe doch. Mein Name ist Laroche, und ich habe hier …«

»Gemietet. Ich weiß. Sie sind mir angekündigt worden. Allerdings erst für übermorgen.«

»Das muss ein Missverständnis sein. Hier, sehen Sie.« Laroche hielt ihm die E-Mail hin, die seine Buchung bestätigte und die er noch in letzter Minute ausgedruckt hatte.

Es war dem Mann anzusehen, dass er wenig begeistert war über diese aus seiner Sicht vorzeitige Anreise. »Hm. Da hat man mich falsch informiert. So was mag ich gar nicht. Ich bin übrigens der Hausmeister hier.« Er reichte Laroche die Hand. »Mein Name ist Schamisso. Aber mit Ch am Anfang. Französisch eben. Ich schätze, Sie kennen sich damit aus.«

»Sie meinen wegen Larosch, mit che am Ende?« Alexander lachte. »Wird oft falsch geschrieben, da haben wir wahrscheinlich ähnliche Erfahrungen.«

»Eben.« Chamissos Ton wurde vertraulicher. »Schon als Sie mir angekündigt wurden, habe ich mich gefreut. Klassischer Hugenottenname. Hoffentlich haben wir mal Gelegenheit, uns über die Geschichte unserer Vorfahren auszutauschen. Meine sind aus dem Languedoc nach Bremen geflohen. Und Ihre? Vermutlich nach Hessen, da wurden damals ja viele Hugenotten aufgenommen. Hanau vielleicht?«

»Sie kennen sich gut aus«, antwortete Alexander ausweichend. Er selbst hatte bislang wenig bis gar keine Zeit in Ahnenforschung investiert, geschweige denn seine Wurzeln bis ins Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts verfolgt, als die Hugenotten ihres protestantischen Glaubens wegen bekämpft und verjagt wurden, so viel wusste er wenigstens. »Lassen Sie uns das demnächst vertiefen«, fügte er diplomatisch hinzu.

Chamisso nickte und kramte einen Anhänger mit zwei Schlüsseln aus seiner Jackentasche. »Holen wir erst mal Ihr Gepäck, und denn rein in die gute Stube. Zum Glück ist so weit alles gerichtet, nur im Kinderzimmer fehlt noch die Bettwäsche.«

»Kinderzimmer? Habe ich gar nicht gebucht. Schon wieder ein Missverständnis?«

»Nö. Ist Standard in unseren Chalets. Braucht Sie aber nicht zu stören. Das Kind wird ja schließlich nicht mitgeliefert.« Chamisso war schon um den Wagen herumgelaufen und deutete auf die Heckscheibe. »Nanu. Wie ist das denn passiert?«

Mit neu aufflackernder Wut schilderte Alexander ihm die Begegnung auf der Landstraße. Peter Chamisso beugte sich über die Scheibe.

»Schade, dass Sie das Kennzeichen nicht sehen konnten. Wird nämlich ein teurer Spaß. Hier, die Schlieren gehen bis an den Rand. Da muss ’ne neue Scheibe rein. Steinschlag war’s nicht. Sehen Sie mal.« Er deutete auf den Rahmen. »Sieht aus wie Hagelschlag, nur dass die Einschläge kleiner sind. Also ich sag Ihnen was. Wenn unsere Vögel hier nicht neuerdings Schrot scheißen, dann bleibt nur eine Erklärung: Der Kerl hat auf Ihr Auto geballert.«

»Den kauf ich mir«, fauchte Alexander. »Der kam nämlich aus einem mickrigen, staubigen Feldweg. Ich habe mir die Stelle genau gemerkt. Also werde ich diesen Weg abfahren. Dann werde ich ja sehen, wo der hinführt.«

Chamisso richtete sich auf. Sein Blick ging zu der Eiche am anderen Ende der Zeile und blieb, von Alexander unbemerkt, an einem mächtigen Ast hängen, bevor er sich abrupt abwandte. Seine Hände waren feucht geworden, wie so oft in den vergangenen drei Wochen. Er schob sie unauffällig in die Taschen seiner Jeans.

»Lassen Sie man, die Mühe können Sie sich sparen«, sagte er endlich, »der Weg führt geradewegs hierher aufs Gelände.«

Alexander starrte ihn an. »Ach. Dann müssen Sie den Typen und seine Freundin doch kennen.«

»Hier läuft so manch einer rum. Wenn ich die alle kennen wollte.«

Chamisso klang verärgert. Ohne ein weiteres Wort nahm er Gepäck, Decken und Gummistiefel aus dem Kofferraum und trug sie zum Haus. Alexander packte sich ebenfalls die Arme voll und folgte ihm.

Vom Eingang aus ging es direkt in den Wohnraum, der weiß gestrichen und möbliert war, aber dennoch relativ duster wirkte wegen der vielen belaubten Bäume rundum. Noch immer schweigend, stiegen sie eine Wendeltreppe hoch in die erste Etage, wo sie links in ein Schlafzimmer einbogen und ihre Fracht auf dem Boden vor dem Bett ablegten.

Alexander öffnete eine Glastür und trat auf einen kleinen, überdachten Balkon. Von hier aus konnte er die gesamte halbrunde Häuserzeile überblicken und einen Großteil des sie umgebenden Parks. Er sah Eichhörnchen, die von Ast zu Ast sprangen, hörte den Vögeln zu, die sich zirpend Botschaften sandten, beobachtete ein Amselpaar, das sich hoch oben in einer Baumkrone bei der Brutpflege abwechselte. In den Scheiben der Häuser spiegelten sich wiegende Äste. Das Licht der Abendsonne beschien eine nahezu perfekte Kulisse. War es nicht genau das, was er sich vorgestellt hatte? Nein, war es nicht. Etwas fehlte.

Er drehte sich zu Chamisso um. »Die Häuser wirken ausgestorben. Wohnt da überhaupt jemand?«

»Hm«, brummte Chamisso. Offensichtlich war er noch immer verstimmt. Alexander konnte ihn sogar verstehen. Es gab keinerlei Grund, anzunehmen, dass der Mann ihm absichtlich etwas verschwieg. »Tut mir leid«, sagte er deshalb versöhnlich, »ich wollte Ihnen beileibe nichts unterstellen. Kann ich Sie eventuell mit einem Bestechungsbier versöhnen? Oder bin ich damit im nächsten Fettnapf gelandet?«

Chamisso sah ihn von der Seite an, als wäge er den Vorschlag sorgsam ab. »Bestechung mit Bier klappt bei mir nicht.« Er machte eine Kunstpause, indem er die hochgeschobenen Ärmel seines Pullovers bis zum Handgelenk herunterzog und glatt strich. »Mit einem guten Wein aber schon. Einem Côtes du Roussillon beispielsweise.«

Alexander bemerkte das herausfordernde Blinzeln in Chamissos Augen und schaltete schnell. »Aber natürlich, wieso bin ich nicht von alleine darauf gekommen ‒ ein Wein aus dem Languedoc-Roussillon. Ein hugenottischer Wein sozusagen.«

»Sie kennen die Gegend?« Aus Chamissos Zügen war die Verärgerung verschwunden. »Das größte Anbaugebiet Frankreichs, zieht sich von der Rhônemündung bis hin zu den Pyrenäen. Herrliche Weine in einer herrlichen Landschaft. Wären die Verfolgungen nicht gewesen, könnte meine Familie noch heute dort verwurzelt sein.«

Während er zuhörte, versuchte Alexander, sich den drahtigen Worpsweder Hausmeister Peter Chamisso vorzustellen, wie er einen von der Sonne beschienenen Weinberg bearbeitete, das kantige Gesicht mit der ausgeprägten Nase und den flinken Augen wettergegerbt, auf den Haaren, die an den Schläfen schon weiß wurden, vielleicht ein Strohhut. So hätte es werden können. So war es aber nicht geworden.

Peter Chamisso kehrte ins Hier und Jetzt zurück. »Denn man los«, sagte er, »Sie sehen aus, als könnten Sie eine ordentliche Stärkung brauchen.«

Und ein Bett, ergänzte Alexander in Gedanken. Aber das musste warten. Denn erstens hatte er seit dem Morgen nichts mehr gegessen, und zweitens hatte er noch immer nicht erfahren, warum sich weder im Park noch in den Häusern bislang eine Menschenseele gezeigt hatte.

Kapitel 3

Die Kneipe hieß »Zum Grenzer«. Sie wählten einen Tisch gleich neben der Tür. Peter Chamisso nickte ein paar Männern zu, die am Tresen zusammenstanden.

»Ist wie im Wohnzimmer hier, was zum Sitzen, was zum Trinken, und es kommen immer dieselben Leute vorbei.« Er schob seinen Stuhl zurück und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

»Und wie ich jetzt hier sitze, bin ich mit dem Hintern in Neu Sankt Jürgen und mit den Armen in Worpswede. Verstehen Sie nicht, was?«

Alexander sah zerstreut an ihm vorbei auf eine Tafel, auf die jemand mit Kreide das Tagesgericht gekritzelt hatte. Er kniff die Augen zusammen. Schnitzel, Geschnetzeltes? Egal, er würde es nehmen, ehe sich ihm vor Hunger der Magen umstülpte.

»Es ist nämlich so«, fuhr Chamisso ungerührt fort, »dass Worpswede nicht nur das Dorf Worpswede ist, sondern die Großgemeinde Worpswede. Seit der Zusammenlegung mit sieben anderen Dörfern. Verstehen Sie? Und eins davon ist Neu Sankt Jürgen. Das fängt hier unter meinem Stuhl an. Jedenfalls fast. Nicht, Piet?«

Letzteres galt dem Wirt, der mit einer Weinflasche und zwei Gläsern an den Tisch trat.

»Côtes du Roussillon?«, entfuhr es Alexander. »Das hätte ich nicht erwartet.«

»Hab extra für den Monsieur hier immer ein paar Flaschen auf Lager.« Der Wirt, ein rundlicher Typ mit den gelassenen Zügen eines Menschen, den nicht mehr viel erschüttern kann, deutete gutmütig auf Chamisso. Die zwei wirkten vertraut miteinander.

»Jeder spinnt auf seine Weise. Meinen übrigen Gästen hab ich das Zeug angeboten wie Sauerbier, die wollen das nicht.« Während er die Flasche entkorkte und anschließend die Gläser füllte, musterte er Alexander unverhohlen.

»Das ist Herr Laroche«, sagte Chamisso, »er ist gerade erst angekommen.«

»Na, den richtigen Namen zum Wein hat er ja. Denn ist er wohl auch in deinem Hugenottenverein.«

»Oh, Mann, er kann’s nicht lassen«, stöhnte Chamisso und wandte sich Alexander zu, »aber er meint es nicht so. Hat halt keinen Sinn für Geschichte. Dafür macht er die besten Schnitzel in hundert Kilometern Umkreis.«

»Nehme ich«, sagte Alexander schnell und hob sein Glas. »Auf Worpswede, Frankreich, die Vorfahren, ganz gleich, von wem, und auf zwei ungestörte Monate in der Residenz.«

»Residenz?« Der Wirt verzog das Gesicht, als hätte er in Seife gebissen. Chamisso reagierte schnell. »Bleib ruhig, Piet. Herr Laroche hat lediglich für ein paar Wochen ein Chalet gemietet. Und er zahlt eine ortsübliche Miete.«

Alexander streifte ein Blick, der zwischen Misstrauen, Mitleid und Unverständnis wechselte.

»Na denn«, murmelte der Mann und wischte mit einer Serviette imaginäre Krümel vom Tisch, um dann kommentarlos zur Tagesordnung überzugehen. »Das Schnitzel mit Bratkartoffeln oder Pommes frites?«

Alexander entschied sich für die Bratkartoffeln und sah dem Wirt nachdenklich hinterher, bis der in der Küche verschwunden war. Die beiden Arbeiter fielen ihm ein, die rauchend vor dem Hotel gestanden und ihn gefragt hatten, ob er von der Initiative oder von der Kripo sei. Er hatte das für Flachserei unter Einheimischen gehalten, die ein Südlicht wie er eben nicht verstand. Nun aber bereute er, nicht nachgefragt zu haben. Welche Initiative? Wieso Kripo? Und weshalb glaubte der Hausmeister, erwähnen zu müssen, ob und wie viel Miete für das Chalet in der Residenz gezahlt wurde? Dieser Chamisso, dachte Alexander, der schlürft andächtig seinen Wein und tut, als könne er kein Wässerchen trüben. Er streckte die Beine unter dem Tisch aus und kreuzte die Arme vor der Brust.

»Wir müssen einiges klären«, sagte er, »zum Beispiel, warum in der Residenz Totentanz ist.«

Chamisso zuckte zusammen. »Sagen Sie doch nicht so was.« Er wich Alexanders Blick aus und fixierte sein Weinglas, als müsse er es sich für den Rest seines Lebens einprägen.

Alexander beugte sich vor. »Ich merke doch, dass irgendetwas nicht stimmt«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

»Das ging mit den beiden Verrückten los, die ohne erkennbaren Grund auf mich losgegangen sind. Wenig später erfahre ich, dass der Weg, auf dem die gekommen sind, direkt zur Park-Residenz führt. Kaum bin ich eingezogen, habe ich schon den nächsten Grund, mich zu wundern: Es ist Sommer, Hochsaison, aber die Anlage ist menschenleer. Und jeder, dem ich sage, dass ich dort wohnen will, reagiert seltsam: Der Wirt hier verzieht das Gesicht, zwei wildfremde Männer, die ich nach dem Weg frage, machen einen Insiderwitz mit Kripo und Initiative. Erklären Sie mir das mal, ich will endlich kapieren, was eigentlich los ist.«

Peter Chamisso hob den Kopf. »Ich bin nur der Hausmeister. Alles weiß ich auch nicht.« Er brach ab, als der Wirt einen Teller mit in Papierservietten eingerolltem Besteck vor sie hinstellte.

»Essen kommt gleich.«

»Danke, Piet.« Chamisso wartete, bis sie wieder ungestört waren. »Es steht nicht gut um die Park-Residenz. Hat hier deshalb schon einigen Aufruhr gegeben. Eine Wohlfühl- und Wellnessanlage sollte das werden. Mit Seminarangebot. Im ganz großen Stil, klar. Aber dann kam die Wirtschaftskrise ‒ na ja, Sie haben ja selbst gesehen, was davon übrig geblieben ist.«

Alexander nickte. »Insolvenz?«

»Ja. Seit fast einem Jahr arbeitet der Insolvenzverwalter an einem neuen Konzept. Das Gelände ist ja super und stellt einen Wert dar. Er ist zuversichtlich, dass da noch was geht. Mal sehen, schön wäre es. Ich verdiene vorläufig mein Geld weiter als Hausmeister, weil er mich übernommen hat. Einer muss die Anlage schließlich in Schuss halten und die Mieter der Chalets betreuen.« Er grinste. »Sie zum Beispiel.«

»Gut zu wissen.« Alexander hob sein Glas. »Als derzeitiger Einzelspieler werde ich mein Bestes geben, damit Sie nicht aus der Übung kommen.«

»Das kriegen Sie hin. Da bin ich ganz sicher.« Chamisso goss erneut sein Glas voll und hielt es Alexander entgegen. »Santé.«

Beide schwiegen, solange der Wirt das Essen auftischte. Alexander nahm den Faden wieder auf, während er sich Bratkartoffeln auf seinen Teller häufte. »Nun erzählen Sie schon. Wenn Sie bereits vor der Insolvenz an Bord waren, müssen Sie doch einiges wissen. Ich finde, ein paar Informationen stehen mir zu, immerhin bin ich da ohne Vorwarnung reingeraten.«

»Ja, also«, begann Chamisso, und dann berichtete er, was er, wie er sich ausdrückte, »im Laufe der Zeit mitbekommen hatte«.

Als er endete, hatte er alles in allem nicht länger gebraucht, als es dauert, ein ordentliches Stück Fleisch einschließlich der Beilagen ohne Hast zu verzehren. Alexander hatte ihn nicht unterbrochen, obwohl er den Eindruck nicht loswurde, dass Chamisso allenfalls eine unvollständige Kurzfassung geliefert hatte. Eine Kurzfassung, die von hochfliegenden Plänen und vollmundigen Versprechungen handelte, von Skrupellosigkeit, Blauäugigkeit, Gier und schließlich vom Absturz in die Insolvenz, in zerplatzte Träume, in Wut und Verluste.

Chamisso leerte sein Glas in einem Zug und wischte sich den Mund ab. Alexander schwieg. Er versuchte zu verdauen, dass seine Illusionen soeben ins Wanken gerieten. Von wegen Auszeit in naturnaher Idylle. Stattdessen fand er sich wieder als einziger Bewohner zwischen toten Häusern, umgeben von mächtigen Bäumen und wuchernden Büschen, die sich, wenn man sie ließe, eines Tages die Ruinen einverleiben würden wie einst der Regenwald die untergegangenen Städte der Maya.

»Gehen wir«, knurrte er, legte zwei Scheine auf den Tisch und stand auf.

»Tschüss, Piet«, rief Chamisso in den Raum.

»Macht’s gut, Messieurs, bis die Tage denn«, tönte es gelassen aus der Küche zurück.

Bis die Tage? Da war sich Alexander nicht mehr so sicher.

»Sie sind jetzt bestimmt sauer auf die Agentur, die Ihnen das Chalet vermietet hat«, sagte Chamisso, als hätte er Alexanders Gedanken erahnt. Er blieb vor dem Eingang stehen und zündete sich eine Zigarette an. Die Dämmerung war inzwischen übergegangen in Finsternis. In seinen dunklen Jeans und dem blauen Pullover verschwanden Chamissos Konturen fast, die Glut seiner Zigarette tanzte wie ein Glühwürmchen zwischen seinen Fingern.

Alexander sah überrascht zum Himmel hoch. Mondfinsternis? Heranziehendes Unwetter? »So was von Dunkelschwarz habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«

Chamisso sah ihn irritiert an. Was hatte der denn erwartet? Las-Vegas-Beleuchtung im Teufelsmoor? Er zog es vor, nicht darauf einzugehen.

»Ziemlich link von dieser Agentur«, fuhr er stattdessen fort. »Also, ich könnte es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie sich morgen Ihre Sachen schnappen und adieu.«

Sieh an, dachte Alexander, der kann mich wohl nicht schnell genug loswerden. »Ich habe zwei angeborene Eigenschaften«, erwiderte er gereizt. »Die eine ist Sturheit und die andere Neugier. Da ich mich nun einmal für Worpswede entschieden habe, soll es möglichst auch dabei bleiben. Und da Sie sich dafür entschieden haben, meine Frage nicht zu beantworten, muss ich mir die Antwort selbst suchen.«

Chamisso ruderte mit den Armen, als hätte er lästige Fliegen abzuwehren. »Ich habe Ihnen doch alles erzählt. Was wollen Sie denn noch wissen?«

»Das, was ich nun schon mehrfach konkret gefragt habe: Warum bin ich der einzige Gast in der Residenz? Es gibt sieben bestens ausgestattete Häuser, die Saison in Worpswede ist längst angelaufen, und für die Park-Residenz haben sich außer mir keine zahlenden Gäste gefunden? Wieso nicht?«

Peter Chamisso zündete sich die nächste Zigarette an.