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Es war die schönste Nacht ihres Lebens! Doch als Carin am nächsten Morgen auf Espada, der Ranch ihres Stiefvaters Jonas Baron, erwacht, ist ihr zärtlicher Liebhaber Raphael Alvares verschwunden. Suchte er nur ein flüchtiges Abenteuer bei ihr?
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Seitenzahl: 207
IMPRESSUM
Die Nacht auf Espada erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© by Sandra Marton Originaltitel: „The Alvares Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA, Band 1449
Umschlagsmotive: konradbak / Depositphotos
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2022
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751515030
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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New York City
Samstag, den vierten Mai
Carin Brewster umklammerte die Hand ihrer Schwester und fragte sich, wie es der Menschheit gelungen war, zu überleben, wenn jede Frau bei der Geburt eines Kindes so unerträgliche Schmerzen durchmachen musste. Sie stöhnte, als sie von einer weiteren Wehe gepeinigt wurde.
„So ist es richtig“, sagte Amanda al Rashid. „Press, Carin!“
„Tue ich ja“, stieß Carin nach Atem ringend hervor.
„Mom ist unterwegs.“
„Großartig. Sie kann mir versichern, dass sie weiß, wie man das macht.“
„Meinst du nicht, es ist an der Zeit, dass du mir verrätst, wer …?“
„Nein!“
„Ich verstehe dich nicht, Carin. Er ist der Vater deines Kindes.“
„Brauche … ihn … nicht.“
„Aber er hat das Recht zu wissen, was vorgeht!“
„Er hat keine … Rechte.“ Carin verzog das Gesicht vor Schmerz. Der Mann war fast ein Fremder. Sie hatte während der vergangenen Monate schwierige Entscheidungen treffen müssen. Ob sie ihr Baby behalten wollte. Ob sie sich an ihre Familie um Hilfe wenden sollte. Raphael Alvares nicht zu sagen, dass er sie geschwängert hatte, war eine einfache Entscheidung gewesen. Sie war ihm völlig gleichgültig, also warum sollte er Bescheid wissen wollen? Warum sollte ein Mann, der eine Stunde mit ihr im Bett verbracht und niemals versucht hatte, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen, erfahren wollen, dass er Vater wurde? Die Wehe ließ nach. Carin sank zurück in die Kissen. „Er ist nicht wichtig. Das Baby gehört mir. Meine Tochter braucht nur mich.“
„Das ist verrückt. Bitte verrat mir seinen Namen. Lass mich ihn anrufen. Ist es Frank?“
„Nein! Frank ist nicht der Vater. Und mehr sage ich nicht. Du hast mir versprochen, das nicht zu tun, Mandy. Du hast …“
„Madame al Rashid? Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss mit Ihrer Schwester sprechen.“
Amanda machte Dr. Ronald Platz. Der Arzt setzte sich neben Carin und nahm ihre Hand. „Wie geht es Ihnen, Carin?“
Sie zögerte. „Gut.“
Er lächelte. „Sie sind hart im Nehmen, so viel ist sicher. Wir finden jedoch, dass Sie jetzt lange genug dabei sind.“
Carin gelang ein schwaches Lächeln. „Sagen Sie das dem Baby.“
„Genau das will ich tun. Wir haben beschlossen, dieses Kind auf die Welt zu holen. Was meinen Sie dazu?“
„Wird es meinem Baby schaden?“ Eine neue Wehe ließ Carin aufstöhnen.
Der Arzt drückte ihr die Hand. „Nein. Im Gegenteil. Damit sparen Sie und Ihr Baby Kraft. Es ist das Beste, das kann ich Ihnen versichern.“ Dr. Ronald stand auf und ging beiseite, als zwei Krankenpfleger auf das Bett zukamen.
Carin wurde hochgehoben und auf einer Bahre den langen Flur entlanggeschoben. Amanda eilte nebenher, bis vor ihnen Türen aufglitten. Sie beugte sich hinunter und küsste Carin auf die Stirn.
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, flüsterte Carin, und dann war sie in einem weiß gekachelten Raum und sah über sich ein Licht, das so hell wie die Sonne war.
„Entspannen Sie sich einfach, Miss Brewster“, sagte jemand, und sie spürte ein brennendes Gefühl im Arm.
„Wir fangen an.“
Das war die Stimme des Arztes. Carin wusste nicht, ob Minuten oder Stunden vergingen. Sie trieb auf einem Meer weicher Wolken, während sie auf den Schrei ihres Babys wartete. Aber der Arzt sagte irgendetwas, Zahlen wurden gerufen, fünf Einheiten Blut verlangt. Carin öffnete die Augen. Das Licht war jetzt blendend. Eine Schwester beugte sich über sie, und Carin versuchte zu sprechen, weil sie plötzlich wollte, dass jemand wusste, was passiert war. Dass sie den Vater ihres Kindes und die eine Stunde in seinen Armen nicht vergessen konnte.
Dann wurde alles schwarz, und es war nicht mehr ein warmer Morgen im Frühling, sondern ein heißer Abend im August. Sie war auf Espada, und bald würde sich ihr Leben für immer ändern. Er war groß und gut aussehend und beobachtete sie, seit sie ins Zimmer gekommen war. Das ist sicher Raphael Alvares, dachte Carin. Den „Latin Lover“ hatte sie ihn genannt, als Amanda ihr Bestes getan hatte, um sie davon zu überzeugen, dass sie den Mann einfach kennenlernen müsste.
„Er ist ein Freund von Nic, und er ist hier, weil er von Jonas Pferde kaufen will“, sagte Amanda, die bei Carin im Gästezimmer saß und zusah, wie sich ihre Schwester das lange dunkelbraune Haar bürstete. „Und natürlich hat Mutter ihn eingeladen, das ganze Wochenende zu bleiben.“ Amanda lachte. „Kupplerin, Kupplerin“, sang sie.
Carin hielt sich die Ohren zu. „Hör auf!“ Sie seufzte resigniert. Na gut, eine Überraschung war es nicht. Sie hätte wissen sollen, dass ihre Mutter den Plan nicht aufgeben würde, ihre zwei anderen Töchter unter die Haube zu bringen. Samantha war in Sicherheit, irgendwo in Europa, deshalb hatte Marta Baron Zeit, all ihre Bemühungen auf Carin zu konzentrieren. Sie konnte ja nicht wissen, dass sich Carin geschworen hatte, sich nie wieder mit einem Mann einzulassen. Und selbst wenn Marta Baron es wüsste, hätte sie das auch nicht abgehalten.
„Er ist wundervoll“, schwärmte Amanda. „Und reich und unglaublich gut aussehend. Na ja, er sieht nicht ganz so gut aus wie mein Nicholas, aber er ist wirklich ein besonderer Mann.“
„Wie schön für ihn“, sagte Carin höflich.
„Er heißt Raphael Alvares. Ist das nicht sexy?“
„Ich glaube, es ist Spanisch.“
Amanda kicherte. „Brasilianisch. Was bedeutet, dass er Senhor Alvares ist und nicht Señor Alvares, wie mein Mann mir erklärt hat.“
Carin hatte fast erwartet, dass Amanda sie aus dem Zimmer zerren würde, damit sie den Mann sofort kennenlernte, aber Amanda hatte sich anscheinend für eine subtilere Methode entschieden.
Anstatt ihr Raphael Alvares zu zeigen, hatte sie ihm offensichtlich ihre Schwester gezeigt. Jedenfalls blickte er sie weiter starr an. Gelegentlich lächelte er, und Carin erwiderte das Lächeln aus Höflichkeit, aber er war nicht ihr Typ. Kein Mann war mehr ihr Typ. Sie hob das Glas an den Mund und trank einen Schluck, damit sie nicht länger lächeln musste, denn dazu hatte sie überhaupt keine Lust. Der Wein ging mühelos hinunter, vielleicht weil es ihr zweites Glas war. Oder war es das dritte? Sie trank normalerweise keinen Rotwein, nicht einmal einen wie diesen, der aus dem Weinkeller von Espada kam und wahrscheinlich so viel kostete, wie sie als Miete für ihre erste Wohnung in New York vor sechs Jahren bezahlt hatte. Auf dem Tablett des Obers, den sie zuerst gesehen hatte, waren jedoch nur Gläser mit Rotwein gewesen.
„In der Not darf man nicht wählerisch sein“, hatte sie gesagt und sich eins genommen. Dieses Wochenende verlangt danach, sich Mut anzutrinken, dachte sie und führte das Glas wieder zum Mund, bevor sie dem Senhor den Rücken zuwandte. Ihre Mutter glaubte, sie sei wegen der Jahresfeier für Tyler und Caitlin auf Espada. Zumindest gab sie vor, es zu glauben, was lieb von ihr war.
„Ich kann nicht, Mutter“, hatte Carin gesagt, als Marta Baron angerufen hatte. Und sie hatte es aufrichtig bedauert. Eine Zusammenkunft des Clans, all der Barons, Kincaids und al Rashids, war immer ein lautes, aufregendes Ereignis, und dann waren da ja noch die entzückenden Babys. Die Frauen ihrer Stiefbrüder brachten Kinder auf die Welt, als wäre „Fruchtbarkeit“ ihr zweiter Vorname. „Ich wünschte, ich könnte, aber ich bin an dem Wochenende auf einer Hochzeit.“
Natürlich war alles anders gekommen.
Latin Lover beobachtete sie wieder. Es war, als spürte sie seinen Blick im Nacken. „Steck dir das Haar hoch“, hatte Amanda sie gedrängt, und Carin hatte es getan. Jetzt fühlte sich ihr Nacken nackt an, was natürlich blöd war, aber es war ihr unangenehm, wie Raphael Alvares sie ständig ansah. Sie dachte daran, sich umzudrehen und ihn ebenso starr anzublicken, doch dann würde sie ihn vielleicht veranlassen, sich falsche Vorstellungen zu machen. Das wäre dumm, und sie hatte es satt, dumm zu sein.
Carin trank das Glas aus. Auch wenn sie sich nicht unter die Gäste mischte, war es vielleicht doch gut, dass sie gekommen war.
Der Mann, mit dem sie fast sechs Monate zusammen gewesen war, hatte gleichzeitig eine Beziehung zu einer ihrer besten Freundinnen gehabt. Es war eine so klischeehafte, jämmerliche Geschichte, dass sie eigentlich nicht bemerkenswert war – bis auf eine kleine Abweichung. Er hatte nicht nur eine Beziehung zu Iris gehabt, er hatte sich mit ihr verlobt. Die beiden hatten den Hochzeitstag festgesetzt und alle Vorbereitungen getroffen. Carin hatte eine der Brautjungfern sein sollen.
„Ich kann nicht glauben, dass ich deinen Verlobten noch nie getroffen habe“, hatte sie einmal lachend zu ihrer Freundin gesagt. Iris, ebenso ahnungslos wie Carin, hatte erklärt, er reise viel.
Carin entdeckte einen anderen Ober mit einem Tablett. Auf diesem standen Cocktailgläser mit einer farblosen Flüssigkeit und auf kleine Plastiksäbel gespießte Zwiebeln oder Oliven. „Niedlich“, sagte Carin. Sie stellte ihr leeres Glas auf das Tablett und nahm sich eins mit einer Zwiebel. Weil es ihr nicht gerade groß vorkam, klemmte sie sich ihre Abendtasche unter den Arm und nahm sich auch noch eins mit einer Olive.
Der Ober zog die Augenbrauen hoch.
Carin probierte den Drink mit der Zwiebel. „Wow!“, flüsterte sie und trank noch einen Schluck. Es stimmte. Frank war tatsächlich viel gereist. Hauptsächlich zwischen ihrer und Iris’ Wohnung. Carin lachte fast, als sie jetzt daran zurückdachte, wie dumm sie gewesen war.
Vor einem Monat war alles vorbei gewesen. Frank musste klar geworden sein, dass er nicht länger so weitermachen konnte, nicht mit der nahe bevorstehenden Hochzeit. Er rief eines Abends an und sagte, er müsse sie sofort sehen, er habe ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Carin eilte in den Weinladen an der Ecke, kaufte eine Flasche Champagner und stellte sie in den Kühlschrank. Frank wird mir einen Heiratsantrag machen, dachte sie schwindlig.
Stattdessen erklärte er ihr, er habe sich in eine grauenhafte Lage gebracht. Er habe sich mit einer anderen verlobt. Und während Carin ihn entsetzt ansah und versuchte, diese Neuigkeit zu verdauen, gestand er ihr, wer die Frau war. „Du machst Witze“, sagte Carin schließlich.
Frank zuckte die Schultern und lächelte verlegen. Und da verlor Carin die Beherrschung. Schreiend warf sie eine Vase und den bereitgestellten Weinkühler nach ihm, als Frank zur Tür rannte.
Sie überstand es und schaffte es sogar, alles in die richtige Perspektive zu rücken. Frank war kein großer Verlust. Sie wollte keinen Ehemann, der nicht treu sein konnte. Es würde ihr gut gehen, sobald sie den Tag überstanden hatte, an dem ihre ehemalige Freundin und ihr ehemaliger Liebhaber heirateten. Natürlich würde sie nicht an der Hochzeit teilnehmen, aber das bedeutete nicht, dass sie Trübsal blasen würde. Sie würde Pizza bestellen und die Flasche Champagner trinken, die sie an jenem schrecklichen Abend in den Kühlschrank gestellt hatte. Zum Teufel mit Frank. Iris konnte ihn haben.
Alles war in Ordnung, oder fast in Ordnung, bis Carin eine Einladung zur Hochzeit erhielt, zusammen mit einem kurzen Brief von Iris, die höflich fragte, ob Carin wohl so freundlich sein würde, ihr Brautjungfernkleid an die Frau weiterzugeben, die ihren Platz einnehmen würde. Carin zerriss den Brief und die Einladung, steckte die Schnipsel in einen Umschlag und schickte ihn dem glücklichen Paar. Dann gestand sie sich ein, dass sie das Hochzeitswochenende niemals allein durchstehen würde, ohne zu weinen oder vielleicht sogar in die Kirche zu gehen und sich zu melden, wenn der Pfarrer fragte, ob irgendein Anwesender einen Grund wisse, warum die Trauung nicht stattfinden sollte. Deshalb rief sie Marta an und sagte, der Plan sei geändert worden, und sie werde doch zur Party kommen.
„Mit Frank?“, hatte ihre Mutter gefragt.
„Nein, allein“, hatte Carin erwidert.
„Oh, ich verstehe“, hatte Marta Baron in einem Ton gesagt, der Bände sprach.
Falls sie in der Zwischenzeit von Amanda mehr erfahren hatte, so hatte Marta Baron es nicht verraten. Sie hatte Carin bei ihrer Ankunft nur umarmt und geflüstert: „Ich habe ihn sowieso nicht gemocht.“
Niemand hatte Frank gemocht, wie sich herausstellte. Ihre Sekretärin nicht, Amanda und Nicholas nicht, niemand, der halbwegs intelligent war. Nur sie. Carin seufzte. Sie war so dumm gewesen.
„Kanapees, Miss?“
Carin sah auf, lächelte den Ober an, stellte das leere Glas auf einen Tisch und nahm sich ein Blätterteiggebäck vom Tablett. Dekadent lecker, dachte sie, als sie sich das kleine Horsd’œuvre in den Mund schob. Sie brauchte nur noch einen Schluck von dem, was in dem Glas mit der Olive war. Es war leer. Wie war das passiert? Tja, das Problem ließ sich leicht lösen. Sie stellte das Glas neben das andere und machte sich auf die Suche nach einem Drink.
„Miss?“, sagte ein Mann direkt hinter ihr.
Carin drehte sich um. Wie sie erwartet hatte, war es der brasilianische Sexbolzen. Aus der Nähe sah er nicht ganz so gut aus, und er sah Frank sehr ähnlich.
„Miss“, sagte er wieder und gab ihr einen Handkuss.
Carin entzog ihm schnell die Hand und unterdrückte den fast überwältigenden Wunsch, sie an ihrem Kleid abzuwischen. „Hallo“, erwiderte sie so freundlich, wie sie konnte.
„Hallo.“ Er lächelte breit. „Ich frage, wer die schöne Dame mit dem dunklen Haar und den grünen Augen ist, und mir sagen, sie ist Carin Brewster, ja?“
„Ja.“ Hörte sich ein portugiesischer Akzent so an? „Danke für das Kompliment, Senhor.“
Er lachte. „Wie amüsant, dass Sie mich das nennen, Carin Brewster.“
Das Gespräch hatte kaum Sinn. Der Latin Lover sprach schlecht Englisch und sie kein Portugiesisch. Außerdem wollte sie sich mit niemand unterhalten, besonders nicht mit einem Mann, der sie an Frank erinnerte.
Frank, dieser nichtsnutzige Mistkerl. Der Schleimer. Der Lügner. Andererseits waren alle Männer Lügner. Ihr Vater hatte ihre Mutter belogen. Und sie auch, jedes Mal, wenn sie ihn gebeten hatte, nicht mehr wegzufahren. „Dies ist das letzte Mal“, hatte er immer gesagt, aber es hatte niemals gestimmt. Nach dem, was so erzählt wurde, hatte Jonas Baron Lügen zu einer Kunst gemacht. Na schön, es mochte Ausnahmen geben. Was ihre Stiefbrüder und Amandas neuen Ehemann betraf, war sie optimistisch. Trotzdem, normalerweise …
„Ein guter Witz, ja?“
Carin nickte und lachte. Was für einen Witz auch immer der Senhor erzählt hatte, er konnte nicht halb so gut sein wie derjenige, der ihr eingefallen war. Frage: Woran erkennt man, dass ein Mann lügt? Antwort: Seine Lippen bewegen sich.
Frank hatte behauptet, sie zu lieben, und jetzt stand er in New York vor dem Altar und heiratete eine andere. Genug, dachte Carin. Der Brasilianer erzählte ihr gerade den nächsten Witz. Sie schüttelte ihm kräftig die Hand und sagte, es sei ihr ein Vergnügen gewesen, ließ sich von seinem verletzten Blick nicht rühren und ging durch die Eingangshalle in die Bibliothek, wo ein Streichquartett gegen den Country Music spielenden Fiedler im Esszimmer ankratzte. „He!“, sagte Carin zu dem Ober, der sich vor ihr durch das Gedränge schlängelte. Nicht gerade höflich, ihn so auf sich aufmerksam zu machen, aber es funktionierte. Er drehte sich um, und sie nahm sich ein Glas vom Tablett. Es war ein Bowlenglas, das halb mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit und Fruchtstückchen gefüllt war. „Igitt“, flüsterte Carin nach dem ersten Schluck.
Amanda und ihr Mann kamen an ihr vorbei, „Pass auf, oder du wirst betrunken“, sagte sie leise.
Sie hatte recht. Von den drei Schwestern konnte nur Sam eine ganze Menge vertragen. Carin beschloss, vorsichtig zu sein. Sie wollte sich nicht betrinken und Tyler und Caitlin die Party verderben. Die Party ihrer Schwester. Nein, nicht direkt. Catie war ihre Stiefschwester. Oder nicht?
Carin knallte das leere Glas auf einen Tisch. Die familiäre … familiäre Struktur der Barons, Brewsters, Kincaids und al Rashids war kompliziert. „Pass auf, Mädchen“, flüsterte sie. Wenn sie „familiär“ nicht mehr denken, geschweige denn aussprechen konnte, war es vielleicht an der Zeit, langsamer zu trinken.
Zum Teufel damit. Sie hatte Durst, sie war erwachsen und konnte so viel trinken, wie sie wollte. Sie hatte den Schluckauf. „Entschuldigung“, sagte sie kichernd zu niemand im Besonderen. Irgendjemand lachte. Bestimmt nicht über sie. Die meisten Leute gingen auf Partys, um zu lachen und sich zu amüsieren. Sie war gekommen, weil sie vergessen wollte, dass jemand sie dazu gebracht hatte, wie eine Vollidiotin dazustehen und sich auch so zu fühlen.
Sie brauchte frische Luft. Ihr war warm. Carin ging zu den Türen, die nach draußen auf die Veranda führten. Frank hatte behauptet, niemals heiraten zu wollen, und sie hatte gesagt, das sei in Ordnung. Was war denn schon die Ehe? Zwei Menschen gaben ein Versprechen, das sie nicht zu halten beabsichtigten. Der Mann jedenfalls nicht.
Carin atmete tief die milde Nachtluft ein. Was Sex betraf … Wie konnte eine Heirat etwas verbessern, was nicht gerade großartig war? Trotzdem hatte sie nach einigen Monaten gedacht, es wäre vielleicht nicht so schlecht, zu heiraten. Am Ende eines langen Tages in ihrem Büro in der Wall Street nicht allein zu Hause zu sitzen. Jemand zu haben, mit dem sie die Sonntagszeitung teilen konnte. Wie sich herausstellte, hatte nicht nur sie ihre Meinung geändert. Frank war zu dem Schluss gekommen, dass er doch heiraten wollte. Nur nicht sie. Carin befahl sich, nicht länger darüber nachzudenken. Darüber, was sie nicht hatte, was er bei Iris gefunden hatte.
Sie brauchte etwas zu essen. Bis auf dieses Hummerdingsbums hatte sie seit Stunden nichts angerührt. Im Haus war ein fantastisches Büfett angerichtet. Muscheln, Austern, Hummersalat, Rippenspeer, pochierter Lachs und Wachteln. Was war das? Sie spürte ein Prickeln im Nacken. Oh nein. Der brasilianische Kerl war ihr gefolgt. Noch einmal würde sie sich nicht umdrehen. Sollte Senhor Wundervoll seinen Charme bei einer Frau ausprobieren, die sich für diese Spiele interessierte. Sie hatte geglaubt, Frank sei über Spiele erhaben, und das hatte ihr zuerst an ihm gefallen.
Sie lernten sich bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennen, und er war eine Offenbarung! Mindestens sechs Männer machten sich an dem Abend an sie heran, und alle benutzten die ältesten Aufreißersprüche der Welt. Von „Entschuldigung, sind wir uns nicht schon mal begegnet“ bis zu „Ich muss Ihnen einfach sagen, dass Sie die schönste Frau hier sind“. Frank kam auf sie zu, schüttelte ihr die Hand, gab ihr seine Visitenkarte und sagte, einer seiner Klienten habe sie erwähnt.
„Er hat Sie eine der besten Investmentberater in New York genannt.“
Carin lächelte. „Ich bin die beste.“
Das war der Beginn ihrer Beziehung. Sie sahen sich oft, aber jeder führte sein eigenes Leben. So wollten sie es beide. Getrennt leben und keine Abhängigkeit. Sie hatten die Sache ehrlich und pragmatisch besprochen. Keiner hatte dem anderen einen Schlüssel gegeben oder die Zahnbürste in der Wohnung des anderen gelassen.
Hatte Frank seine Zahnbürste in Iris’ Badezimmer gelassen?
„Verdammt.“ Carin schlug mit der Faust auf das Teakholzgeländer. Hatte Jonas nicht etwas von einem Barbecue auf der Veranda gesagt? Dann war hier draußen sicher auch eine Bar aufgebaut.
„Ein Glas Sauvignon Blanc, bitte“, bestellte sie, als sie die Bar gefunden hatte. Was sie tatsächlich herausbrachte, klang mehr wie ein einziges unverständliches Wort, und fast hätte sie gekichert. Doch der Barkeeper sah sie seltsam an, deshalb erwiderte sie seinen Blick ruhig und wartete. Schließlich schenkte er ihr Wein ein und gab ihr das Glas. Aus irgendeinem Grund hatte sie eine unsichere Hand und verschüttete das meiste. Sie trank aus, was übrig war, und hielt dem Barkeeper das Glas hin. „Noch mal.“
Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Madam, aber ich glaube, Sie haben genug.“
Carin kniff die Augen zusammen. Als sie sich vorbeugte, wurde ihr schwindlig. Das war normal. Im Sommer war es in Texas selbst in der Nacht noch warm. „Was meinen Sie damit? Dies ist eine Bar, stimmt’s? Sie sind Barkeeper und sollen den Leuten Drinks einschenken.“
„Ich hole Ihnen gern einen Kaffee.“
Der Mann sprach leise, aber alle in der Nähe waren verstummt, und seine Worte schienen auf der Veranda widerzuhallen. Carin wurde rot. „Wollen Sie behaupten, ich sei betrunken?“
„Nein, Madam.“
„Dann schenken Sie mir ein Glas Wein ein.“
„Madam. Wie wäre es mit dem Kaffee?“
„Wissen Sie, wer ich bin?“, hörte sich Carin fragen und zuckte im Geiste zusammen.
„Er weiß es. Und wenn Sie nicht Ihren reizenden Mund halten, werden es auch alle anderen wissen“, sagte ein Mann hinter ihr, der nicht ganz akzentfrei sprach.
Der Latin Lover, dachte Carin und drehte sich um. „Sie glauben wohl, das sei Ihre große Chance …“ Er war es nicht. Diesen Mann hatte sie noch nicht gesehen. Beschwipst oder nicht, und okay, vielleicht war sie ein bisschen betrunken, an ihn hätte sie sich erinnert. Er war breitschultrig und viel größer als der Typ, mit dem Amanda sie hatte zusammenbringen wollen. Er hatte schwarzes Haar, graue Augen und einen sinnlichen Mund. Ein energisches Kinn bewahrte sein Gesicht davor, hübsch zu sein. Nüchtern hätte Carin es niemals zugegeben, beschwipst konnte sie es. Er war ein Traummann, der Inbegriff der Männlichkeit … Und was sie tat oder sagte, ging ihn nichts an. Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger an die harte Brust. „Ich brauche Ihren Rat nicht, Mister.“
„Sie sind betrunken, Senhora.“
„Ich bin nicht verheiratet.“
„In meinem Land werden alle Frauen Senhora genannt, ob ledig oder verheiratet.“ Er umfasste ihren Ellbogen.
Carin sah ihn wütend an und versuchte, sich loszureißen.
Sein Griff wurde fester. „Und wir mögen es nicht, wenn sie betrunken sind und unangenehm auffallen.“
Er sprach leise, damit die Zuschauer der kleinen Szene ihn nicht hörten, und Carin wusste, dass sie sich nach ihm richten, still sein und von der Bar weggehen sollte, aber verdammt, sie würde in dieser Nacht keine Befehle annehmen, besonders nicht von einem Mann. „Mich interessiert nicht, was Sie in Ihrem Land an Frauen mögen oder nicht.“
„Senhora, hören Sie mir zu …“
„Lassen Sie los.“ Als er es nicht tat, trat Carin ihm auf den Fuß. Es musste wehtun, denn sie trug schwarze Seidenpumps mit sieben Zentimeter hohen Stilettoabsätzen.
Der Fremde zuckte nicht einmal zusammen. Er hob sie hoch und trug sie unter dem Gelächter und Applaus der Leute auf der Veranda die Stufen hinunter in den Garten.
„Sie Mistkerl!“, schrie Carin und schlug mit den Fäusten auf seine Schultern ein. „Für wen halten Sie sich?“
„Ich bin Raphael Eduardo Alvares“, sagte er kühl. „Und Sie, Senhora Brewster, sind der Inbegriff einer verzogenen …“
„Raphael?“ Carin öffnete die Augen und blickte starr in das Licht. „Raphael, wo bist du?“
„Wir verlieren sie“, sagte jemand.
Dann folgte nur Stille.
Rio de Ouro, Brasilien
Samstag, den vierten Mai
Raphael Eduardo Alvares wachte plötzlich auf. Sein Herz hämmerte, und er schwitzte. Er hatte geträumt, aber wovon?
Von der Frau und dem einen Mal, als er mit ihr zusammen gewesen war. Er warf die Decke zurück und setzte sich auf. Warum? Sie und jene Nacht waren nur eine fast neun Monate alte Erinnerung. Trotzdem war der Traum sehr real gewesen und nicht derselbe wie sonst immer. In diesem war sie verletzt worden, bei einem Unfall vielleicht. Und sie rief nach ihm …
Nicht, dass es eine Rolle spielte. Die Frau bedeutete ihm nichts. Außerdem glaubte er nicht an Träume. Wichtig war, was man sehen und anfassen konnte. Träume waren dumm und führten nur zu Kummer.
Raphael stand auf, reckte sich und ging zum Fenster. Gerade färbte die Morgendämmerung den Himmel und tauchte die sich bis zu den niedrigen Bergen erstreckende Steppe in hellrosa Licht. Es war gut, dass er früh aufgewacht war. Er würde an diesem Morgen nach São Paulo fliegen, wo er sich nach einer geschäftlichen Besprechung mit Claudia zum Mittagessen treffen würde. Seinem Piloten hatte er gesagt, er solle das Flugzeug um acht Uhr startbereit haben. Jetzt konnte er vorher noch zwei Stunden arbeiten.
Nachdem er geduscht, sich rasiert und angezogen hatte, ging Raphael nach unten, begrüßte seine Haushälterin, nahm die Tasse Kaffee, die sie ihm reichte, und zog sich in sein Büro zurück.
Zwanzig Minuten später schaltete er den Computer aus und gab auf. Er war unfähig, sich zu konzentrieren, weil er wieder an den Traum dachte. Und an die Frau. Würde er sie sich denn niemals aus dem Kopf schlagen können?