Die Nacht, in der der Kater sang - Andrea Schacht - E-Book

Die Nacht, in der der Kater sang E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Jenny van Rosmalen möchte auf dem Land ein neues Leben beginnen. Als sie ein kleines Gehöft bezieht, ist ein frecher Streunerkater namens Ghizmo in der Miete inklusive. Doch kaum hat sie sich eingerichtet, geschieht etwas Entsetzliches: Jenny findet eines Morgens auf der Weide nur noch Kopf und Hufe des Ponys, das dort untergebracht war. Ghizmo hat die abscheuliche Tat beobachtet - und versucht Jenny nun auf die Spur des Mörders zu bringen. Dabei gerät die junge Frau selbst unter Tatverdacht und muss alles tun, um den nächsten Anschlag zu verhindern. Zum Glück ist der gewitzte Ghizmo ihr dabei eine große Hilfe ...

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Wichtigste Personen

Die Autorin

Die Romane von Andrea Schacht bei LYX

Impressum

ANDREA SCHACHT

Die Nacht, in der der Kater sang

Roman

Zu diesem Buch

Um endlich ein wenig Ruhe in ihr turbulentes Leben zu bringen, möchte Jenny van Rosmalen auf dem Land einen Neustart wagen. Sie hat nur einen Wunsch: ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen und in der Einsamkeit zu genesen. Als sie ein kleines Gehöft bezieht, ist ein frecher Streunerkater namens Ghizmo in der Miete inklusive. Die getigerte Samtpfote wittert die Chance auf einen warmen Unterschlupf und jede Menge Futter. Doch kaum ist Jenny in dem kleinen Ort Freyenbach angekommen, geschieht etwas Entsetzliches: Die junge Frau findet eines Morgens auf der Nachbarweide nur noch Kopf und Hufe des Ponys, das dort untergebracht war. Ghizmo, der im Stall überwinterte, hat die abscheuliche Tat beobachtet – und versucht die neue Mitbewohnerin auf die Spur des Mörders zu bringen. Dabei gerät Jenny selbst unter Tatverdacht und muss alles tun, um den nächsten Anschlag zu verhindern. Zum Glück ist der gewitzte Ghizmo ihr dabei eine große Hilfe …

1

Einzug ins Haus

Das Erste, das ich wahrnahm, waren vier blendend weiße Pfoten, die in eine grau getigerte Katze übergingen, die wiederum auf einem knallroten Blecheimer saß. Pfoten nebst Katze verschwanden wie ein Spuk, geblieben war der Eimer.

»Abgelegen und ruhig, wie du es haben wolltest«, sagte Miriam und stöckelte über das Kopfsteinpflaster des Hofes auf die knallrote Tür zu. »Sehr abgelegen und ruhig. Ich bin ja immer noch der Meinung, dass du besser in einer Stadtwohnung leben würdest.«

»Danke, dass du trotzdem dieses Haus aufgetrieben hast.«

Ich sah mich langsam um. Ein Fachwerkhaus, ein bisschen heruntergekommen, eine klotzige Doppelgarage und eine Bretterscheune bildeten die drei Seiten um den Innenhof, der sich vor allem dadurch auszeichnete, dass er einen gemauerten Brunnen besaß.

»Ich habe eine Reinigungsfirma beauftragt, drinnen sauber zu machen«, erklärte Miriam. »Und die Besitzer haben einen Gärtner eingestellt, der sich um die Außenanlagen kümmert.«

»Schön«, sagte ich und betrachtete die Haustür. Der rote Lack blätterte hier und da ab, aber die beiden Buchsbäumchen in ihren Kübeln rechts und links vom Eingang waren akkurat rund geschnitten. Miriam ließ den Schlüsselbund in ihrer Hand baumeln.

»Na los, lass uns hineingehen!«

Ich ergriff die Schlüssel. Das Schloss war sichtlich neu und vermutlich genügte es höchsten Sicherheitsansprüchen. Die Tür jedoch sah aus, als ob man sie mit einem kräftigen Fußtritt öffnen könnte, was mein Vertrauen weckte.

Sie knarrte auch, als ich sie aufmachte.

»Der Vorbewohner war ein Kunstmaler, der unerwartet verstorben ist. Seine Erben haben die Einrichtung so gelassen, wie sie war. Darum wirst du oben auf der Galerie noch das Atelier vorfinden.«

Wir traten durch den Windfang in einen großen, offenen Raum. Wie es aussah, hatte der Mann das gesamte Haus von allen Zwischenwänden befreit und beinahe den ganzen unteren Bereich zu einem Wohn-/Esszimmer mit offener Küche umgestaltet.

»Nun ja, sein Geschmack war etwas – äh – solide?«

»Rustikal.«

»Ja.«

»Aber es gibt einen Schaukelstuhl.«

»Ein Gradmesser für Gemütlichkeit?«

Miriam lachte, hob den Hörer vom Telefon und lauschte auf das Freizeichen.

»Funktioniert.«

Ich öffnete die Tür neben der Küche und fand mich in einem schmalen Gang, der in ein Schlafzimmer und ein Bad führte. Auch rustikal.

»Und, wirst du bleiben?«, hörte ich Miriam fragen.

»Sicher.«

»Dann hole ich deine Sachen aus dem Auto.«

Natürlich würde ich bleiben. Wo sollte ich sonst hin? Irgendwie würde ich mich schon zurechtfinden.

Miriam war bald nach ein paar weiteren mürrischen Ratschlägen gegangen, und ich zog mir einen Küchenschemel ans geöffnete Fenster und betrachtete den Garten. Sie meinte es gut, ohne Zweifel. Und ich war ihr auch dankbar für alles, was sie für mich getan hatte, aber Miriam war Anwältin – und zwar eine sehr fähige – und damit ein Ausbund von Effizienz und Willensstärke. Immer perfekt in ihren maßgeschneiderten Kostümen, dezent geschminkt und wohlduftend, stets gefasst und auf alles vorbereitet. Sie lebte ein hektisches urbanes Leben, eine Oase der Ruhe und Zurückgezogenheit brauchte sie nicht.

Ich schon.

Die Spätsommersonne flirrte in den Ästen eines knorrigen alten Apfelbaumes vor dem Fenster, ein paar Bienen taumelten trunken über Fallobst, Spatzen tschilpten in der Hecke. Der Duft von Rosen wehte mich an, eine helle Kinderstimme rief ein paar Worte, ein fröhliches Wiehern antwortete. Von ferne, ganz leise nur, hörte man das Rauschen der Bundesstraße, die an Feyenbach vorbeiführte.

Bis zum Ort selbst musste man wohl ein oder zwei Kilometer gehen. So genau hatte ich vorhin nicht aufgepasst. Aber das würde ich morgen erkunden. Für heute reichte es, angekommen zu sein und ein neues Leben zu beginnen.

Jennys Leben.

Ich hatte die Zeit vertrödelt, und als es dämmerig wurde, raffte ich mich auf, den Rest des Hauses zu erkunden. Eine hölzerne Wendeltreppe führte neben der Küche auf die Galerie. Ein wahrer Ordnungsfreak war der Künstler nicht gewesen. Immerhin hatte die Reinigungsfirma seine Utensilien zusammengeräumt und auf einem farbbeklecksten Tisch aufgestapelt. Doch der Boden war wild besprenkelt, es roch nach Terpentin und Ölfarben, aber der Raum war hell und licht, denn zwei große Dachflächenfenster öffneten sich zum Himmel. Offenbar hatte der Meister gerne bis zur Erschöpfung gemalt, denn er hatte auch ein Bett hier oben aufgeschlagen, und in einer Wandschräge verbarg sich ein kleines Duschbad.

Einer spontanen Regung folgend zerrte ich das Bett unter die Fenster und machte mich auf die Suche nach Bettwäsche und Handtüchern. Beides fand sich in einem Einbauschrank, und so sank ich in meiner ersten Nacht im neuen Heim glückselig in die Kissen. Durch die Fenster konnte ich in den Himmel schauen, über den einige kleine Wolken zogen. Dazwischen blinkten die Sterne. Manchmal zog der Schatten eines nachtjagenden Vogels vorüber, und sein unheimlicher Ruf durchschnitt die Stille. Darüber döste ich ein, oft aber wachte ich auf. Es störte mich nicht. Schlafen konnte ich seit geraumer Zeit nicht mehr besonders gut. Aber hier erfüllte mich jedes Erwachen mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl. Sternbilder wanderten vorüber, hoch fliegende Flugzeuge zogen blinkend ihre Bahn, eine bleiche, schmale Mondsichel blinzelte für eine Weile durch eine Fensterecke.

Nur einmal fuhr ich zusammen.

Ein gellendes Kreischen zerriss die Nacht. Dann folgte ein Brummen und Krakeelen, Jodeln und Schreien, Fauchen und Knurren. Offenbar waren unten im Garten zwei Katzen aneinandergeraten. Einer der Kontrahenten zog schließlich davon, und der andere stimmte einen volltönenden Triumphgesang an.

Als er verstummt war, fiel ich in einen tiefen Schlaf und wurde erst wach, als mir die Sonne ins Gesicht schien.

Ein neuer Tag in einem neuen Leben begann.

2

Erkundung im Revier

Die vier weißen Pfoten mussten gründlich gepflegt werden. Ghizmo widmete sich dieser Tätigkeit im Stall von Tinkerbell, dem kleinen Pony, das ihm gerne Gastfreundschaft gewährte. Der Kater war ihm dankbar, denn seit im vergangenen Jahr der Mann das Haus verlassen hatte, war ihm sein Heim verschlossen geblieben, und die Futterlage wurde prekär. Und dann stand der Winter vor der Tür, und seine schönen warmen Plätzchen an der Heizung waren auch perdu. Den Einschlupf ins Haus hatten die Menschen zugemacht. Tinkerbell aber war gutmütig. Ghizmo durfte im Stroh übernachten – wenn es sehr kalt wurde, sogar in der Krippe, die immer mit frischem Heu gefüllt war. Hier strich dann oft Tinkerbells warmer Atem durch sein Fell, und das Schnobern und Schnaufen aus der Pferdenase sorgten für eine gewisse Gemütlichkeit. Außerdem gab es im Stall Mäuse, und manchmal streute das Mädchen etwas Trockenfutter für ihn aus. Sie plauderte auch mit ihm und kraulte seinen Nacken. Aber hauptsächlich kümmerte sie sich um das Pony.

Inzwischen war aber eine Veränderung eingetreten. Schon im vergangenen Monat waren Leute aufgetaucht, die sich an dem Haus zu schaffen machten. Natürlich hatte er das aufmerksam beobachtet, sich aber vorsichtig ferngehalten. Am gestrigen Tag allerdings war dann die Frau in das Haus gezogen, und es schien so, als ob sie dort auch zu bleiben gedachte.

Jaromir hatte das ebenfalls bemerkt und sich augenblicklich angeschlichen, der Halunke. Obwohl er, Ghizmo, sehr deutlich seine Reviermarke an die Mauer gesetzt hatte. Nichts als Ärger hatte man mit diesem roten Teufel. Also musste er ihm eine Lektion erteilen – lautstark, mit allen Krallen und Zähnen. Ein feines Tänzchen war das, und es endete damit, dass Jaromir mit einer Schramme über dem Ohr das Weite suchte.

Jetzt, am Vormittag, war die Lage ruhig.

Ghizmo verließ den Stall, stromerte über die Koppel, zwängte sich durch die Eibenhecke und blieb schnuppernd am Gartenrand stehen. Keine Auffälligkeiten. So weit, so gut.

Dann sollte man wohl mal einen Blick ins Innere des Hauses werfen. Fensterbänke waren dafür gut geeignet. Ein kühner Satz, und er saß auf dem Vorsprung. Dumm nur, dass die Gardine vorgezogen war. Aber etwas rumorte darin.

Wieder runter und vorsichtig an der Wand entlang! Hier begann die mit Steinplatten belegte Terrasse, und – ah, welche Chance! – die große Fenstertür stand offen. Mit äußerster Vorsicht streckte Ghizmo seine Nase ins Innere des Hauses. Alles sah noch so aus wie früher. Das braune Sofa, auf dessen Polstern er gerne geruht hatte, der Tisch mit der grob gewebten Decke, aus der er einst ein paarmal so schön Fäden herausgekrallt hatte, der Teppich, auf dem er sich in Sonnenflecken geaalt hatte, die Küche, wo sein Futternapf gestanden hatte. Ah, ja, die Küche, Hort der Köstlichkeiten. In dieser Küche hielt sich die Frau auf. Sie stellte eben eine Tasse ab und begann, einen Apfel zu zerteilen. Eine mittelgroße Frau, der kurze Locken wirr um den Kopf standen. Ihre Schultern hingen irgendwie in dem blauen Pullover, eine schlabberige Hose reichte ihr bis zu den Waden, ihre Füße waren bloß. Alles in allem offenbar ein etwas jämmerliches Exemplar Mensch. Aber ihr Gesicht war nett. Sie hatte große Augen, die sie gerade eben auf ihn richtete.

Huch!

Und nun fing sie an zu lächeln.

Das wirkte zwar hübsch, aber als sie langsam auf ihn zukam, hielt sie das Messer in der Hand. Ghizmo fand es an der Zeit, seinen Besuch zu beenden. Schritt für Schritt wandte er sich rückwärts zum Fenster, und als sie mit rauer Stimme sagte: »Hallo, Weißpfote!«, machte er einen großen Satz hinaus ins Freie.

Vorsicht war der zweite Name der Katze.

Der erste war Neugier.

Und die war jetzt erst mal befriedigt.

3

Das Pony und die Fee

Der weißpfotige Katzenspuk, der mich am Tag zuvor auf dem roten Eimer entzückt hatte, materialisierte sich am offenen Terrassenfenster, als ich gerade meinen Morgentee trank. Mutig, der Kleine. Und ausgesprochen hübsch. Wenn auch ein wenig mager. Aber sein getigertes Fell wirkte gepflegt, ebenso die weißen Socken und der weiße Strich über seiner rosa Nase. Große, grün funkelnde Augen sahen sich neugierig um und schienen auch mich kritisch zu begutachten. Aber als ich ihn höflich begrüßte, zog er sich leider zurück.

Dann entdeckte ich das Messer in meiner Hand und verstand seine Vorsicht.

Ich mochte Katzen.

Vielleicht wäre es schön, mit einer zusammenzuleben.

Ich ging zum Fenster und schaute nach draußen. Aber der Katzenspuk hatte sich wieder in die Unsichtbarkeit verzogen. Immerhin schien er – etwas sagte mir, dass es sich um einen Kater handeln musste – das Revier zu kennen. Und vermutlich war er es auch gewesen, der in der Nacht seinen volltönenden Gesang dargeboten hatte.

Der Tag war noch jung, die Sonne schien, und ich fühlte mich tatsächlich stark genug, drastische Entscheidungen zu treffen.

Ich würde in den Ort hinuntergehen und Vorräte einkaufen.

Der Spaziergang führte mich an der benachbarten Koppel vorbei, wo sich mir ein geradezu märchenhaftes Bild bot. Auf einem langmähnigen weißen Pony voltigierte eine zierliche Elfe. Ein Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn, in rosa Jeans und einem flatternden weißen Hemd zeigte anmutig ihr Können. Ihre langen blonden Haare umwehten sie wie ein Schleier. Eine Szene wie aus einem kitschigen Mädchenpferdeliebe-Roman. Ich konnte nicht anders, ich musste stehen bleiben und ihr zusehen.

Das Geschöpf bemerkte mich und trabte auf den Zaun zu.

»Hi, ich bin Lili!«

Klar, wie auch anders?

»Hallo, ich bin Jenny«, stellte ich mich vor. »Ich wohne da drüben.«

»Weiß ich. Das ist Tinkerbell.«

Das Pony schnaubte.

»Und wer von euch beiden ist die Fee?«

Kichern antwortete mir. Lili hüpfte vom Ponyrücken.

»Wir haben schon gehört, dass das Haus vermietet wurde. Das ist gut so, es hat sich ziemlich einsam gefühlt. Gefällt es Ihnen?«

»Doch, ja. Es ist sehr hell und groß.«

»Da hat bis zum vergangenen Jahr der Florian drin gewohnt. Der war Maler, wissen Sie?«

»Ich habe es mir fast gedacht. Oben war sein Atelier, nicht wahr?«

Lili nickte eifrig.

»Er hat auch mal Tink gemalt. Und mir das Bild geschenkt. Das fand ich unheimlich süß.«

Links in meinem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr, und als ich mich leicht drehte, sah ich die weißen Pfoten. Der Kater schlich sich neugierig an.

»Und der Geselle da gehört auch zu dir?«, fragte ich.

»Der … Oh, das ist Ghizmo. Nein, der gehört nicht zu mir. Leider. Der war Florians Kater. Aber als der gestorben ist, letzten Herbst, da ist er in Tinkerbells Stall eingezogen. Ich hätte ihn ja gerne mit nach Hause genommen, aber Papa wollte das nicht. Also habe ich ihn hier hin und wieder gefüttert.«

»Er hat mich heute morgen schon besucht, ist aber ganz schnell verschwunden, als ich ihn begrüßen wollte.«

»Er ist ein bisschen menschenscheu. Wahrscheinlich vermisst er den Florian.«

Tatsächlich war der Kater wieder unsichtbar geworden.

»Vielleicht verliert er seine Scheu, wenn ich ihm ein Schälchen Futter anbiete.«

»Bestimmt. Er mag diese Knusperfischchen.«

Das Pony rieb seinen Kopf an Lilis Schulter, und sie strich ihm über die Nase.

»Wie lange trainierst du schon mit Tinkerbell?«, wollte ich wissen.

»Och, seit drei Jahren. Beim Sommerfest bin ich mit meiner Freundin Joly aufgetreten, in einem Duett. Mit Musik.«

Plötzlich wurde Lilis Gesicht traurig.

»Was ist passiert?«

»Jolys Pony kann nicht mehr auftreten. Jemand hat es verletzt. Am Hals. Sie haben es morgens auf der Weide gefunden. War ganz viel Blut. Aber es lebte noch. Und der Tierarzt wollte es einschläfern. Aber Joly … Jetzt steht es nur noch auf der Koppel.«

»Mein Gott, wer macht denn so was?«

»Ein Irrer. Ein durchgeknallter Irrer. Aber sie haben ihn nicht gefunden. Und ich habe Angst um Tink.«

Das konnte ich verstehen, und mir fielen auch keine beschwichtigenden Worte ein.

»Aber seither ist so etwas nicht wieder vorgekommen?«

»Nein. Und hoffentlich ist dieser Irre inzwischen weg. Papa meint, dass er nicht von hier war. Weil es in anderen Orten weiter weg auch solche Fälle gegeben hat.«

Da meine Kenntnisse zu regionalen Ereignissen der letzten Jahre eher dürftig waren, konnte ich nur nicken.

»Jenny, Sie wohnen jetzt hier gegenüber von Tinkerbell. Achten Sie ein bisschen auf sie?«

»Gerne. Aber ständig kann ich nicht am Fenster sitzen.«

»Nein, ich meine nur … Falls Ihnen was auffällt, rufen Sie uns dann bitte an?«

»Natürlich.«

Lili kramte einen rosa Notizblock aus ihrer Hosentasche und kritzelte zwei Telefonnummern darauf.

Ich steckte den Zettel in meine Hosentasche.

»Dann will ich mal sehen, dass ich etwas Futter für Ghizmo und mich finde. Unten im Ort gibt es sicher Geschäfte?«

»Klar, immer die Straße lang.«

Wir verabschiedeten uns, und beschwingt von der Begegnung mit der jungen Fee wanderte ich los. Gut zwanzig Minuten lang führte mich die Landstraße zwischen Weingärten und Feldern zu den ersten Häusern, umgeben von prachtvollen alten Gärten mit hohen, Schatten spendenden Bäumen. Die Kirchturmspitze leitete mich zum Ortskern, und hier mitten in das rege Geschäftsleben. Es war ein hübsches Örtchen. Vor den Läden standen Kästen mit Geranien und Margeriten, aus einer Bäckerei wehte mir der Duft von Hefegebäck entgegen, drei Hunde saßen mit hängenden Zungen vor der Metzgerei, eine Boutique warb mit Sonderpreisen auf die Sommerware, und vor einem Lebensmittelladen warteten Einkaufswagen auf die Kunden.

Ich beschloss, einen dieser Wagen zu nehmen und wagte mich in das Innere.

Für einen Moment musste ich die Augen schließen. Es war lange her, dass ich eine solche Fülle von Waren gesehen hatte. Aber dann packte es mich wie ein Rausch. Im Haus hatte ich so gut wie keine Vorräte gefunden, also legte ich alle möglichen Grundnahrungsmittel in den Wagen, bedachte, dass ich auch für die Sauberkeit verantwortlich war, und sammelte Reinigungsmittel zusammen, fand eine reiche Auswahl an Katzenfutter, und an der Frischetheke wühlte ich glücklich in Trauben, Äpfeln, Zwiebeln und Kartoffeln.

Und dann passierte es. Zwei übergewichtige Frauen drängten mich zur Seite, es wurde plötzlich so eng um mich. Keuchend sog ich den Atem ein. Mein Gesichtsfeld wurde immer kleiner, meine Lungen fassten keine Luft mehr. Ich schwankte. Atmen – ja, ganz ruhig atmen. Sich ablenken, keine Angst haben – aber mach das mal einer, wenn er kurz vor dem Ersticken steht. Ich hörte mich röcheln, meine Beine gaben nach, blinde Panik umfing mich …

Arme hielten mich, ließen mich zu Boden gleiten, drückten mir den Kopf zwischen die Knie.

»Alles gut, weiteratmen!« Hände drückten auf meinen Brustkorb. »Keine Angst, ich bin hier. Ich helfe Ihnen. Ich bin Ärztin. Ganz ruhig, ganz ruhig. Gleich geht es vorbei. Nichts bedroht Sie.«

Unter ihren Händen wurde mein Atem ruhiger, klärte sich die Sicht.

»Geht es wieder?«

»Gleich. Gott, wie peinlich.«

»Aber überhaupt nicht. Kommen Sie, da drüben können Sie sich hinsetzen.«

Die Frau führte mich zu einem Hocker, den eine hilfreiche Seele herbeigeschafft hatte. Mit wackeligen Knien setzte ich mich, noch immer zitternd.

»Irgendeine Krankheit, irgendwelche Medikamente, die das auslösen, oder einfach Panik?«

»Enge … kann ich nicht ertragen.«

»Ja, das gibt es. Und Hilfe gibt es auch dagegen.«

»Ich weiß. Aber manchmal … Zu früh …«

»Kann man nichts dagegen tun. Ist das ihr Einkaufswagen?«

Jemand hatte den vollgeladenen Wagen neben mich geschoben. Und schon wollte mich wieder Panik übermannen. Wie sollte ich nur all diese Sachen nach Hause bekommen?

»Ruhig, ganz ruhig, das kriegen wir schon hin. Wo haben Sie geparkt?«

»Ich bin zu Fuß hier. Gott, ich bin so blöd.«

Die Ärztin sah mich mit einem langen, fragenden Blick an. Dann sagte sie leise: »Es ist noch nicht lange her, dass Sie Ihre Therapie beendet haben, richtig?«

Ich senkte den Kopf.

»Vorgestern. Ich … ich bin gestern hier in ein Haus gezogen. Es ist noch alles so neu.«

»Gut, wo wohnen Sie?«

»Auf dem Feyenhof, oben, hinter den Weinfeldern.«

»Dann gehen wir jetzt gemeinsam zur Kasse, und ich fahre Sie nach Hause. Nein, keine Widerrede!«

Ich sparte mir diese, dankbar für die unerwartete Hilfe.

Drei große Tüten luden wir in das Auto, und die Ärztin, die sich als Serena Werla vorstellte, plauderte während der Fahrt über ihre Tätigkeit in der Klinik im Nachbarort. Außer ein, zwei Richtungsanweisungen brauchte ich nichts zu sagen. Sie half mir auch, die Einkäufe in die Küche zu tragen, legte dann eine Visitenkarte auf die Theke und verabschiedete sich mit den Worten: »Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen. Es mag Zufall gewesen sein, aber solche Fälle wie der Ihre fallen in meinen Aufgabenbereich.«

Damit war sie weg, die Frau Psychiater.

Nein, ich gehörte nicht zu den Bekloppten. Nein, nein. Ich hatte nur ein paar kleine Probleme. Ganz kleine nur.

Müde ließ ich mich in den Sessel sinken und suhlte mich in Selbstmitleid.

Dann kitzelte mich ein Sonnenstrahl, und ein Windstoß trieb die Äste der Kletterrosen an die Fensterscheiben. Ich schüttelte den Trübsinn ab und stand auf, um meine Einkäufe wegzuräumen. Himmel, wozu hatte ich eigentlich fünf Kilo Kartoffeln gekauft? Was sollte ich damit anfangen? Kochen war noch nie meine Stärke gewesen.

Essen schon.

Eine Erinnerung tauchte auf. Kartoffeln, heiß, cremig, gelb. Butter, schmelzend, ein wenig salzig.

Wasser lief in meinem Mund zusammen.

Pellkartoffeln würden meine Fähigkeiten hoffentlich nicht überfordern. Und Butter hatte ich eingekauft.

Es wurde ein Genuss. Und gesättigt machte ich mich anschließend auf eine Runde durch den Garten.

4

Gartenidylle

Sie hatte sich unter dem Farn versteckt, diese aufdringliche braune Maus. Ghizmo lauerte mit peitschendem Schwanz darauf, dass sie sich wieder rührte. Dreimal war ihm das verflixte Tierchen schon entwischt. Diesmal musste es klappen. Da, ein Rascheln. Seine Hinterbeine spannten sich an, seine Schnurrhaare zuckten. Die Nase der Maus erschien unter dem Wedel. Ghizmo katapultierte sich nach vorne. Ein kühner Biss, ein leiser Schrei, die Maus war tot.

Endlich. Zufrieden knurpselte er sie auf. Der nagende Hunger war endlich gestillt.

Der Garten gehörte zu Ghizmos Revier, das hatte er auch nicht aufgegeben, nachdem Florian weg war. Aber er hatte darum kämpfen müssen. Jaromir, der rote Bastard, hatte immer wieder versucht, die Grenzen zu überschreiten. Auch an diesem Tag hatte er sich wieder unbeliebt gemacht. Die Frau, gar nicht übel für einen Menschen, hatte tatsächlich eine Schale mit Katzenfutter auf die Terrasse gestellt. Am Vormittag hatte ihn der Duft angezogen, doch als er sich vorsichtig angeschlichen hatte, musste er mit knurrendem Magen und aufsteigendem Zorn feststellen, das Jaromir ihm zuvorgekommen war. Sauber ausgeschleckt war die Schüssel, und eine hämische Markierung daneben gab ihm zu verstehen, dass es wunderbar geschmeckt hatte.

Teufel, der.

Aber es würde wieder Nacht werden, und im Schutze der Dunkelheit würde er zum Fetzer werden und Rache nehmen. Rote Fellflusen würden der Frau zeigen, dass ein ungebetener Besucher vertrieben worden war.

Ghizmo streckte sich, schlug schon mal mit der krallenbewehrten Tatze nach einer Rose, die ihre blutroten Blätter daraufhin verstreute. Dann beruhigte er sich wieder und trottete im Schutz der Sträucher zum Haus. Man könnte ja mal nachsehen, ob die Tür wieder offen stand, und wenn die Frau da war, es mal mit einem hungrigen Blick versuchen. Vielleicht hatte sie noch eine zweite Portion übrig.

Hatte sie nicht. Dafür kam der Gärtner angestrolcht. Lothar schien jetzt häufiger zu kommen. Im vergangenen Jahr hatte er nur hin und wieder den Rasen gemäht, aber nun schnitt er die Hecke, rupfte Unkraut aus den Beeten, band Pflanzen hoch und goss Wasser auf die Blumen. Ghizmo mochte den Kerl nicht sonderlich. Er roch recht scharf, beäugte ihn mit stumpfem Hass und hatte schon mal den Wasserschlauch auf ihn gerichtet. Außerdem trug er eine Reihe unangenehm aussehender Geräte an seinem Gürtel – Scheren, Hacken, Messer. Eine Katze wusste, wann sie misstrauisch zu sein hatte.

Die Frau trat auf die Terrasse und begrüßte Lothar höflich, und der katzbuckelte vor ihr. Er sülzte schleimig über das Wetter rum und darüber, wie anstrengend es bei der Hitze war, die Sträucher zu stutzen. Aber wie schön es sei, dass eine so freundliche Frau nun wieder hier wohnte …

Besagte Frau blieb kühl und verzog sich wieder ins Haus. Ein giftiger Gärtnerblick folgte ihr. Der Lothar hatte wohl gehofft, sie würde ihn tränken und füttern. Tat sie aber nicht, und er griff in seine Tasche, holte eine flache Flasche hervor und stärkte sich mit dem scharf riechenden Inhalt.

Bah.

Besser, man ging ihm aus dem Weg.

Ghizmo sprang auf die Gartenmauer und von dort schlenderte er in den schattigen Innenhof. Am Brunnen hatten sich zwei rote Gartenstühle und ein runder Tisch eingefunden. Der rote Eimer stand aber noch immer bei den blauen Hortensien, und auf ihm nahm Ghizmo Platz, um sich eine Weile der Kontemplation hinzugeben.

Lange hielt die Phase der Besinnlichkeit nicht an, denn erst röhrte ein schweres Motorrad am Haus vorbei, dessen sonores Brummen Ghizmos Schnurrhaare in unangemessene Vibration versetzten, dann hielt ein Auto vor dem Tor, und die stöckelnde Frau segelte auf die Haustür zu, in ihrem Gefolge ein überwältigender Duftschleier.

Ghizmo nieste.

Er wollte schon seinen Lieblingsplatz verlassen, da kamen die Bewohnerin und ihre Besucherin in den Hof zurück und ließen sich auf den roten Stühlen nieder. Ihn schienen sie nicht zu bemerken, sondern vertieften sich sofort in ein Gespräch.

Gespräch war gut. Wenn man aufmerksam lauschte, bekam man dabei allerhand mit. Und natürlich war es für ihn von großer Wichtigkeit, mehr über die neue Frau zu erfahren.

Ghizmo stellte die Ohren auf.

»Wie kommst du zurecht, Jenny?«

Aha, Jenny hieß sie also. Das konnte man sich merken.

»Ganz gut. Ich habe eine junge Fee namens Lili auf ihrem Pony Tinkerbell kennengelernt.«

»Hast du geträumt?«

»Aber nein. Das Pferdchen steht nebenan auf der Koppel. Aber die beiden boten ein märchenhaftes Bild. Weniger märchenhaft war allerdings ihre Bemerkung, dass hier jemand herumstreicht, der nächtens Pferde massakriert.«

Die Stöckelfrau ergriff Jennys Hände.

»Eine Wohnung in der Stadt …«

»Nein, fang damit nicht schon wieder an. Es ist schön hier. Ich kann nachts in den Sternenhimmel schauen, weißt du. Und Ghizmo hält unten Wache.«

»Ghizmo? Schon gleich einen Anbeter gefunden?«

Jennys Kopf drehte sich zu Ghizmo – so viel zu nichts bemerkt – und Miriams Blick folgte dem ihren.

»Eine Streunerkatze.«

»Nein, soweit ich verstanden habe, der rechtmäßige Besitzer dieses Anwesens.«

Miriam nippte an ihrem beschlagenen Glas und holte dann einen Stapel Papier aus ihrer Tasche.

»Dann wollen wir mal sehen, ob du ihm auch noch seinen ihm zustehenden Mietzins entrichten kannst.«

»Uh, muss das sein?«

»Ich habe dich lange genug damit verschont, Jenny. Aber jetzt lebst du hier und wirst Ausgaben haben. Du solltest wissen, wie dein Geld angelegt ist.«

»Ist denn nach deinen Honorarforderungen überhaupt noch etwas übrig?«

Miriam gab ein Schnauben von sich und blätterte in den Unterlagen.

»Ja, doch.«

Was dann folgte, überstieg Ghizmos Verständnis. Geld war so ein Menschending und sollte es auch bleiben. Er legte seinen Kopf auf die Pfoten und stellte seine Ohren auf das Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel ein – die Frauenstimmen wurden zu einem leisen Rauschen.

Aus dem Rauschen tauchte plötzlich der Name Florian Malchow auf, und er spitzte seine Ohren doch wieder. Das konnte von Interesse sein.

»Ein Kunstmaler, sagte Lili.«

»Ja, ein – na ja, mäßig erfolgreicher Maler, hat vor allem Auftragsarbeiten ausgeführt. Du weißt schon, Porträts von Fotografien, Kinderbilder, Hundis und Pferdchen. Das Haus gehörte seiner Großmutter, einer gestrengen Generalswitwe, die nicht sonderlich viel für ihn übriggehabt hat. Sie starb kurz nach ihm und hat das Haus dem hiesigen Gesangsverein vermacht. Die waren nicht sehr erbaut darüber. Um es verkaufen zu können, hätte man einiges hineinstecken müssen, und die Sangesbrüder haben nicht viel Geld. Weshalb sie so glücklich waren, dass sie es dir, so wie es ist, vermieten können. Darum stellen sie dir sogar noch den Gärtner.«

»Willst du damit andeuten, dass sie es gerne loswerden wollen?«

»Ich schätze, sie würden dir mit dem Preis sehr entgegenkommen, wenn du die Renovierungen auf deine Rechnung durchführen würdest.«

»Renovierungen … Dreck, Staub, Lärm, Stress und ständig Handwerker im Haus.«

»So was geht vorbei.«

»Das Atelier … es ist ein wunderschöner Raum …«

Jenny sinnierte, und Miriam spielte mit ihrem Glas.

»Ich habe von einer jungen Schreinermeisterin im Ort gehört, die sehr kreativ sein soll«, warf sie dann leise ein. »Isabell Boncoeur. Soll ich sie dir mal vorbeischicken? Ganz unverbindlich?«

»Deine Unverbindlichkeiten sind mir ein Graus, Miriam. Sie sind immer so verbindlich.«

»Ist ja nur ein Vorschlag.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Tu das, meine Liebe.« Miriam sah auf ihre Uhr und stand auf. »Ich muss los, Jenny. Um die Angelegenheiten, die wir besprochen haben, kümmere ich mich und gebe dir dann Bescheid, wenn sie erledigt sind. Über die Investition denkst du bitte auch bald nach.«

»Vielleicht.«

»Ja, ich weiß, ich drängele dich. Nimm dir Zeit.«

Ghizmo sah ihr nach, als sie zum Tor stöckelte, und staunte, dass keiner dieser dünnen Stifte an ihren Hacken zwischen den Pflastersteinen hängen blieb. Eine erstaunliche Fähigkeit. Er hatte hier Frauen schon weinend ihre Schuhe in der Hand halten sehen.

Jenny blieb auf ihrem Stuhl sitzen und malte mit dem feuchten Finger Kringel auf die Tischplatte. Irgendwas an ihr zog ihn an, und er sprang von seinem Eimer, um sich ihr zu nähern. Zunächst bemerkte sie ihn nicht, war in einer fühlbar grauen Wolke untergetaucht, die wie kalter Nebel roch. Das schien Ghizmo sehr ungesund, und er verspürte den Wunsch, sie da herauszulocken. Also setzte er sich auf die Hinterpfoten, richtet sich auf und gab ein leises, aber vernehmliches Maunzen von sich.

Es half.

Sie bewegte sich, drehte sich zu ihm und schaute ihn an.

Hungriger Bettelblick, noch ein Maunzer.

»Ghizmo!«

Der Nämliche.

Sie reichte ihm sehr langsam und höflich ihre Hand, und er näherte seine Nase ihren Fingerspitzen. Sanftes Begrüßen.

»Schön, dass du dich näher traust, Ghizmo. Hast du das Futter heute Morgen gefunden?«

Dank auch, aber das ist durch Jaromirs Schlund verschwunden. Erneut hungriger Blick.

»War zu wenig?«

»Mauuunz!«

»Dann sollte ich mal nachschauen, ob ich noch eine weitere Portion für dich finde. Du siehst ein wenig mager um die Rippen aus.«

Oh ja, ja, ja!

Ghizmo trabte, Schwanz hoch, vorweg an die Haustür, und sie lachte leise.

Der graue Nebel um sie hatte sich verflüchtigt.

Das hatte er gut gemacht, fand er.

Und die Belohnung war reichlich.

5

Der Wirbelwind

Der magere Kater schmatzte mit Begeisterung den Napf leer, wusch sich ausgiebig Gesicht und Pfoten und lustwandelte dann durch den Garten davon. Netter Kerl, der Kleine. Und er schien auch ein gewisses Vertrauen zu entwickeln.

Lothar, der Gärtner, hatte seine Pflichten erfüllt, der Rasen war gemäht, die bunt blühenden Dahlien an Stöcken hochgebunden, ein Haufen Grünzeug in der Kompostkiste aufgehäuft. Unschlüssig stand ich zwischen den Beeten und überlegte, womit ich mir wohl die Zeit vertreiben könnte.

Ein seltsames Gefühl, ungewohnt und irgendwie lästig.

Sollte ich lesen? Das Fernsehgerät anmachen? Musik hören? Die Küche putzen? Einen Spaziergang machen? Meine mangelhaften Kochkünste ergänzen?

Nichts davon reizte mich.

Vielleicht sollte ich über Miriams Vorschläge nachdenken?

Wollte ich dieses Haus kaufen?

Was für eine absurde Idee. Seit kaum drei Tagen wohnte ich hier, und schon sollte ich mich festlegen. Immobilienbesitz verlangte Verantwortung, band einen fest, forderte Pflichten.

Andererseits – man könnte viel aus dem Haus machen. Das Atelier unter dem Dach war ein wundervoller Raum, aber in einem unmöglichen Zustand. Wenn der Boden abgeschliffen wäre, die Wände frisch gestrichen, ein paar Teppiche …

Ich erwischte mich beim Träumen, fand mich plötzlich mit einem Stift Zahlen auf ein Blatt Papier kritzeln und fuhr auf, als die Türglocke schepperte.

Besuch, welch schöne Abwechslung!

Und dann fuhr ein Wirbelwind von Energie durch meine besinnliche Behausung.

»Hallo, ich bin Isabell, die Schreinerin. Ihre Freundin schickt mich zu Ihnen, wegen der Renovierung. Mann, was für ein Haus! Ich hab dem Flori damals schon immer in den Ohren gelegen, dass er es mal auf den Stand der Zeit bringen sollte. Aber der durfte ja nicht, weil es seiner Großmama gehörte. Na, und die Gesangsbrüder wollten auch nix machen. Aber Sie wollen doch ganz bestimmt, dass hier mal der Muff rauskommt. Wo sollen wir anfangen? Die Küche sieht ja noch halbwegs ordentlich aus, und die Wendeltreppe muss nur mal ein bisschen überarbeitet werden. Aber der Boden hier!« Sie schob einen Schraubenzieher unter den Teppichboden und hob ihn ein Stück an. »Hab’s mir gedacht, da sind gute Eichendielen drunter.«

»Moment, Moment«, stöhnte ich und klammert mich am Esstisch fest.

»Ziehe ich Ihnen den Boden unter den Füßen weg? Ich weiß, ich kann überwältigend sein.«

»Äh, ja.«

Strahlende Augen sahen mich unter der gelben Schirmmütze an. Ein etwas schiefes Lächeln spielte um die ungeschminkten Lippen, und auf der Nase hüpften die Sommersprossen. Isabell war eine wahrlich lebenssprühende junge Frau.

»Tut mir leid, Frau van Rosmalen. Sie haben sich sicher schon selbst Gedanken dazu gemacht, was Sie verändert haben wollen.«

Vor Kurzem noch, ja, und alles war sehr unfertig. Aber wie sollte man einem solchen Energiebündel widerstehen?

»Ich habe vor allem an das Atelier oben gedacht«, murmelte ich unschlüssig.

»Oh, klar. Flori war nicht eben zimperlich, wenn er malte. Ist ziemlich verkleckst, was?«

»Gehen wir mal nach oben, und sagen Sie mir dann, was man da tun kann.«

Isabell sah sich einen Augenblick schweigend um, dann nickte sie und bemühte sich merklich, nicht wieder überzusprudeln.

»Wollen Sie hier oben schlafen?«, fragte sie und deutete auf das Bett unter den Fenstern.

»Würde ich gerne. Man kann nachts die Sterne sehen.«

»Ja, das kann ich mir toll vorstellen. Also machen wir ein Schlafzimmer aus dem Atelier?«

»Mhm, ja.«

»Gut. In die Schrägen kann ich Ihnen Schränke einbauen. Der Boden … Kaum noch zu retten. Ein neues Parkett wäre wohl besser. Ah, und hier das Bad. Ich habe einen Bekannten«, mildes Erröten schmückte Isabells Wangen, »ja, einen Bekannten, der sich das mal ansehen sollte. Stefan Albrecht, der ist Installateur. Soll er?«

»Soll er was?«

»Sich das Bad ansehen.« Isabell drehte den Wasserhahn auf, und rülpsend und gurgelnd schoss das Wasser heraus. »Da geht noch was«, meinte sie und stellte den Strahl ab.

»Ja, es gurgelt durch das ganze Haus.«

»Und die Heizung müsste man sich auch mal ansehen.«

»Ist ja schon gut, schicken Sie Ihren Installateur.«

»Sie werden sehen, er ist in Ordnung. Soll ich Ihnen für hier oben mal eine Kostenaufstellung machen?«

Ich stimmte zu, überwältigt von Isabells Tatkraft.

Als der Staub sich wieder gelegt hatte, den die Schreinermeisterin aufgewirbelt hatte, sank ich entkräftet auf dem Sofa nieder. Vermutlich hatten sie alle recht, an dem Haus gab es mehr als genug zu tun. Mein Blick fiel auf das Durcheinander auf der Küchentheke. Dagegen konnte ich zumindest selbst etwas machen. Ich raffte mich also auf und verstaute die Sachen in den Schränken. Jener verblichene Florian schien ein genügsamer Mensch gewesen zu sein, sein Kühlschrank war allenfalls geeignet, ein paar Flaschen Bier und drei Scheiben Wurst aufzunehmen. Die Anschaffung eines größeren Aggregats schien mir erforderlich, vielleicht sogar ein Tiefkühlschrank. Es gab so verlockende Fertiggerichte in den Truhen des Supermarktes.

Am Abend besuchte mich Ghizmo noch einmal, schnorrte eine Schale Futter und schnurrte beim Schmatzen. Ein wahres Talent im Multitasking. Als ich ihn streicheln wollte, zuckte er jedoch zurück, zockelte anschließend durch den Hof zur Straße und verschwand auf der Koppel bei Tinkerbell. Das Fell des weißen Ponys schimmerte im Sternenlicht, und wieder war ich von dem zauberhaften Bild, das es dort auf der Weide bot, entzückt.

Meine Nacht war wie so oft unruhig, meine Gedanken kreisten um das Haus und damit um meine Zukunft. Über mir kreisten die Sterne.

Draußen kreischten zwei Katzen.

Als ich aus dem Fenster schaute, waren die Kontrahenten verschwunden. Und auch auf der Koppel war alles ruhig. In den Morgenstunden schlummerte ich endlich ein, und als ich wach wurde, hatte ich zumindest einen Entschluss gefasst.

Miriam gab freudige Geräusche von sich, als ich ihr am Telefon erklärte, dass ich das Haus kaufen wollte. Sie liebte Verhandlungen, und ich überließ es ihr, mit den Sangesbrüdern einen vernünftigen Vertrag auszumachen.

Vor der Terrassentür fand ich einige rötliche Fellflusen, als ich den gefüllten Napf hinausstellte. Hier hatte sich also der nächtliche Kampf abgespielt, und der Gegner hatte einiges an Haaren lassen müssen. Ghizmo durfte ich wohl als Sieger betrachten. Er kam, zumindest nach meiner unfachmännischen Betrachtung, unversehrt angehoppelt und fiel über das Futter her.

Ich wagte einen weiteren Ausflug in den Ort, diesmal aber mit der Absicht, lediglich kleine Geschäfte aufzusuchen. Da der Kater eine gewisse Zugehörigkeit zu dem Haus entwickelte, war ich willens, ihm einige kätzische Annehmlichkeiten zu bieten, so etwa einen Katzenkorb und ein paar weitere Dosen Futter. Und da ich ebenfalls beschlossen hatte, meine Fähigkeiten in der Küche auszubauen, nahm ich das Sonderangebot eines Haushaltswarenladens an und erstand ein Messerset.

Der Tag war noch immer schön, auch wenn hier und da ein paar Wolken aufkamen und mir kleine Windböen Staub ins Gesicht wehten, als ich mich auf den Rückweg machte.

Um die Mittagszeit war ich wieder im Haus, glücklich, meinen Ausflug ohne nennenswerte Ausfälle überstanden zu haben. Ich stellte das Radio an, dann kamen die neuen Messer zum Einsatz, denn diesmal wagte ich mich an das Kartoffelschälen. Während sie kochten, wärmte ich eine Fertigsoße auf und packte ein paar Scheiben Räucherfisch aus.

Mächtige Akkorde erklangen aus dem kleinen Lautsprecher, und die gewaltige Stimme von Ignacia besang den sterbenden Phönix.

Verloren lauschte ich dem Song, und das Kartoffelwasser kochte über.

Das Essen schmeckte mir nicht besonders.

Nachmittags kam ich wieder in den Genuss, Lili auf ihrem Pony turnen zu sehen. Das Mädchen hatte bestimmt ein gewisses Talent, und als sie mich sah, kam sie zu einem Schwatz an den Zaun. Da ich im Ort die Plakate eines Zirkus’ entdeckt hatte, kreiste unser Gespräch natürlich um Pferdedressur und Auftritte. Lili war ganz offensichtlich der Star des Reitklubs und führte häufig bei den Festen ihr Können vor.

Während ich mit ihr plauderte, näherte sich das dumpfe Röhren einer schweren Maschine, sie wurde langsamer, und der Motorradfahrer hielt neben mir. Ein Muskelprotz, dessen bloße, tätowierte Arme aus einer ausgefransten Jeansjacke ragten, schob das Visier seines schwarzen Helms hoch und grunzte: »Na, Schnecke! Was geht?«

Mir blieb die Spucke weg.

Lili kicherte.

Ich drehte mich ganz langsam um, betrachtete eingehend den Boden zu meinen Füßen und sah dem Kerl dann in die Augen.

»Bedauere, Schnecken können wir hier nicht bieten. Wenn der Herr sich bitte anderweitig umsehen würde.«

»Ey, Alte, ich meinte dich. Alles paletti?«

»Die Luft war hier besser ohne die Abgase aus dieser Maschine. Entschuldigen Sie uns bitte!«, sagte ich in eisigstem Tonfall und drehte dem Idioten den Rücken zu. Lili verdarb meine Reaktion durch haltloses Kichern. Der Motor heulte zweimal herrisch auf, dann donnerte der Rowdy davon. Empört sah ich ihm nach. Dabei fiel mir der aus schimmernden Nieten zusammengesetzte Schriftzug auf dem Rücken seiner Weste auf, die ein Totenkopf mit Schweinsohren zierte.

»Schwein oder nicht Schwein«, sagte ich laut. »Na, das ist hier ja wohl nicht die Frage.«

6

Zusammenleben

Das Leben hatte für Ghizmo eine Wendung zum Besseren erfahren, seit Jenny das Haus bewohnte. Auch wenn er es tagsüber nicht zu betreten wagte, denn von morgens bis abends rumorte Isabell darin herum. Schrecklich, die Geräusche, die sie verursachte. Aber am späten Nachmittag verschwand sie, und dann kam seine Stunde. Einladend stand dann die Terrassentür offen, und in der Küche werkelte Jenny. Manchmal roch es sehr komisch. Angebrannt, stechend, säuerlich. Hin und wieder aber auch verlockend würzig, fleischig, fettig. Die Frau rührte in Töpfen herum, brutzelte in Pfannen, schnipselte und wiegte und summte heiser dabei, aber nie vergaß sie, einem hungrigen Kater Tribut zu leisten.

Genüsslich putzte Ghizmo seine Flanken und befand, dass sich auf seinen Rippen inzwischen ein angenehmes Polster gebildet hatte. Als er seine Körperpflege nach dem Mahl beendet hatte, streifte er müßig im Haus umher und registrierte die Veränderungen, die die neue Bewohnerin vorgenommen hatte. Die wesentlichste betraf den Geruch – wo es früher streng nach Ölfarben und Terpentin gerochen hatte, herrschte jetzt Blumenduft vor. Jenny plünderte jeden Morgen den Garten, und bunte Sträuße standen auf Tischen und Kommoden. Einmal war er die Wendeltreppe nach oben gelaufen, aber hier war es ungemütlich. Holzstaub, ein Haufen Bretter, eine gefährliche Maschine mit einer zahnbewehrten Scheibe, Kisten und Dosen und alte Lappen lagen da herum. Das Bett war auseinandergenommen, die Matratze lehnte an der Wand. Jenny, so hatte er herausgefunden, schlief derzeit in dem unteren kleinen Zimmer. Das hatte er auch schon erkundet und zu seiner Überraschung festgestellt, dass sie, ebenso wie er selbst, nachts gerne umherstrich. Florian hatte sich immer unter die Decke verzogen und sich die ganze Nacht über nicht gerührt.

An diesem Tag hatte es eine Unterbrechung der Routine gegeben, denn ein Lieferwagen war vorgefahren und zwei Männer hatten eine große weiße Kiste angeschleppt. Jenny nannte das Ding Gefrierkombination und befüllte es mit Futter. Man sollte sie dafür loben – einer Hungersnot wurde damit gewiss vorgebeugt.

Ghizmo war also zufrieden und hatte auch schon einen Lieblingsplatz gefunden. Früher hatte er sich gerne an den Heizkörper hinter dem Sofa verzogen, aber inzwischen gab es da so einen kuscheligen Pullover, der herrenlos auf dem Sessel herumlag. Jenny schien nichts dagegen zu haben, dass er sich ein Nest darin tretelte und seinen Verdauungsschlaf in der weichen Wolle genoss.