Die Fährmannstochter - Andrea Schacht - E-Book
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Die Fährmannstochter E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Von den Fans sehnlichst erwartet: der Auftakt der neuen Mittelalter-Reihe von Andrea Schacht

Brandstiftung in der Domstadt? Bei einem mysteriösen Feuer im Kloster der Machabäerinnen kommt die Oberin zu Tode. Verdächtigt wird eine kranke Pilgerin, die vor einigen Tagen von Myntha, der Tochter des Mülheimer Fährmanns, aus den Fluten des Rheins gerettet wurde. Myntha glaubt nicht an die Schuld der Pilgerin, zumal bekannt wird, dass die Oberin unmittelbar vor ihrem Tod mit einem Mann über die Qualität von Weihrauch gestritten haben soll. Steckt womöglich der düstere Fremde dahinter, der sich vor Kurzem mit einer Schar Kolkraben in der Nähe des Fährhauses einquartiert hat?

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Buch

Myntha, die Tochter des Fährmeisters von Mülheim, hat kein leichtes Leben. Trotzdem behält sie zumeist ihr fröhliches Gemüt und führt das Fährhaus und die angeschlossene Herberge mit klugem Geschick.

Als die Oberin der Machabäerinnen einem Brand zum Opfer fällt, gerät eine kranke Pilgerin unter Mordverdacht, die Myntha erst kurz zuvor vor dem Ertrinken im Rhein gerettet hat. Myntha und ihre Freundin Bilke glauben jedoch nicht an ihre Schuld und stellen Ermittlungen an. Immer mehr Rätsel scheinen sich aufzutun. Welche Rolle spielt der bezaubernde Karol, der Handelsgehilfe des Weihrauchhändlers Wolter van Duytz in Köln, der mit Myntha zu tändeln beginnt? Und welche Ziele verfolgt Frederic Bowman, der unheimliche Fremde, der sich mit einer Schar Kolkraben in einer einsamen Kate in der Nähe des Fährhauses niedergelassen hat?

Autorin

Andrea Schacht war lange Jahre als Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin tätig, bis sie sich ihren seit Jugendtagen gehegten Traum erfüllte und Schriftstellerin wurde. Mit ihren lebenssatten historischen Romanen um die scharfzüngige Begine Almut Bossert und ihre nicht minder gewitzte Tochter Alyss eroberte sie auf Anhieb die Herzen von Lesern, Buchhändlern und Journalisten und mit schöner Regelmäßigkeit die Bestsellerlisten.

Andrea Schacht lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in der Nähe von Bonn.

www.andrea-schacht.de

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Andrea Schacht

Die Fährmannstochter

Historischer Roman

1. AuflageTaschenbuchausgabe April 2015 Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH© 2014 by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenRedaktion: Dr. Rainer SchöttleUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Bridgeman Art Librarywr ∙ Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12569-1www.blanvalet.de

Viel Wunderdinge melden · die Mären alter ZeitVon preiswerten Helden · von großer Kühnheit,Von Freud’ und Festlichkeiten · von Weinen und von Klagen,Von kühner Recken Streiten · mögt ihr nun Wunder hören sagen.

Nibelungenlied

Dramatis Personae

Myntha, Tochter des Fährmeisters. Seit sie dem Tod von der Schippe gesprungen ist, hat sie erhebliche Probleme – sie ist mondsüchtig.

Reemt van Huysen, Fährmeister, der mitunter an Wahnvorstellungen von Rheinnixen und Goldschätzen leidet, aber ein gutmütiger Mann von großer Erzählgabe ist.

Witold und Haro, Mynthas bärtige Brüder.

Enna van Huysen, Mynthas Großmutter, eine schrullige Alte, die sich ihre eigene Welt zusammenspinnt.

Rickel und Swinte Moelner, Mühlenbesitzer. Rickel soll nach dem Willen seiner Schwester Swinte heiraten, trägt aber Bedenken.

Lore, lebenskluge Köchin im Fährhaus, die sich nichts vormachen lässt.

Frederic Bowman, Heimkehrer auf der Flucht vor einem unbekannten Rächer, der sein und das Leben seines zehnjährigen Sohnes bedroht. Herr der Raben.

Emery, Frederics abenteuerlustiger zehnjähriger Sohn, nachts manchmal auf Abwegen.

Karol, Weihrauchhändler, der in die eigene Tasche arbeitet und dabei einen Fehler begeht.

Magistra Rotraut, Oberin im Kloster Machabäern – ein Opfer ihres Misstrauens.

Die Pilgerin Agnes, die gerne Geschichten über Goldschätze im Rhein hört, von sich selbst aber nichts preisgibt.

Bilke, auf Geheiß ihrer Eltern Novizin bei den Machabäerinnen, nutzt jede Gelegenheit, aus dem Kloster zu entwischen.

Volmarus, Vikar von Mülheim, eine abergläubische Bangbotz.

Henning, ein Taschendieb ohne große Begabung.

Gevatterin Ellen, die Dorfzeitung, die alles weiß.

Ewwers, ein großmäuliger Fischer, der Unheil stiftet.

Frau Josepha, Meisterin im Beginenkonvent am Eigelstein.

Magistra Gesine, Nachfolgerin der Oberin Rotraut.

Rixa und Jorgen, Zeidler in der Heide.

Sybilla, eine weise Frau.

Robb und Crea, Ron und Cress, Raky und Creky, Frederics Wachmannschaft.

Mico, der obligatorische Kater.

Und natürlich:

Alyss vom Spiegel und Master John mit ihren Kindern Thomas, Jehanne und Gauwin.

Vorwort

Das Harz des Weihrauchbaums (Boswellia) wurde seit Menschengedenken als süß duftendes Räucherwerk verwendet. Olibanum, das graugoldene Granulat, stammt vorwiegend aus Afrika, den arabischen Ländern und Indien. Wegen der aufwendigen Ernte, der sorgfältigen Zubereitung und vor allem der langen Transportwege wurde es in Europa zu einem der wertvollsten Güter.

Nichtsdestotrotz durchwaberte Weihrauchduft das ganze Mittelalter. In Kirchen und Klöstern wurden Unmengen davon verbrannt, begleitete der heilige Rauch doch die Gebete der Frommen gen Himmel.

Eine Erfindung der christlichen Religion war das Räuchern natürlich nicht. Alle anderen Völker kannten das Rauchopfer ebenfalls, aber so heidnisch es auch sein mochte – auf den Wohlgeruch mochte kein Priester in seiner Zeremonie verzichten.

Aber nicht nur beim Beten unterstützt der Weihrauch: Man sagt ihm auch heilende Kräfte nach. Die beruhen allerdings eher auf dem angenehmen Geruch als auf pharmazeutisch wirksamen Inhaltsstoffen.

Auf jeden Fall vertrieb der Duft die nicht wirklich appetitlichen Gerüche aus wenig reinlichen Hütten und Kammern.

Was wertvoll ist, zieht aber auch kriminelle Energie an. Das Geschäft mit dem Harz blühte, und findige Händler hatten sehr bald heraus, wie man es strecken und damit die Ausbeute erhöhen konnte. Harze anderer Gewächse wurden dem Olibanum beigemischt – Kiefern, Tannen, Wacholder lieferten harzige Füllstoffe. Auch Holzspäne, Nadeln und Kräuter verlängerten den Weihrauch. Auch die Endverbraucher selbst, die sparsam mit dem kostbaren Gut umgehen wollten, entwickelten ihre eigenen Mischungen.

Zulasten der Qualität. Und dann knasterte und sprühte die Mischung auch schon mal. Funken stoben, es qualmte und roch stechend oder betäubend.

Wie weit das die inbrünstigen Gebete beeinflusste, die der Rauch zu Gott, den Heiligen oder Maria tragen sollte, möchte man lieber nicht ergründen. Und ob der Weihrauch die allgegenwärtigen Dämonen wahrlich bannte oder sie vielleicht gar anzog, können wir heute auch nicht mehr so genau beurteilen.

Die große Zeit der Dämonen ist vorbei. Zumindest jener, die im Mittelalter die Menschen drangsalierten. Ganze Bände voll Dämonenkunde sind verfasst worden. Allen voran der Abramelin, ein Basiswerk, im fünfzehnten Jahrhundert von einem Wormser Juden verfasst, der auf vielen Reisen allerlei Dämonen eingesammelt und in ordentliche Kategorien eingeteilt hatte. Für jedes denkbare Ungemach gab es einen Schuldigen.

In unserer aufgeklärten Zeit belächeln wir diesen Aberglauben selbstredend und schenken lieber den Aussagen von Werbung, Lebensratgebern und Ärzten Glauben.

Prolog

Winter 1415

Myntha erwachte, und das Erste, was sie wahrnahm, war der warme, süße Geruch von Weihrauch. Ihre Lider jedoch waren so schwer, dass sie sie nicht öffnen mochte. Für eine Weile ließ sie sich einlullen von dem Duft und dem leisen Psalmodieren, das an ihr Ohr drang. Ein klein wenig bewegte sie ihren Kopf, und ein Stöhnen kam über ihre trockenen, rissigen Lippen.

Mit einem Mal änderten sich die Stimmen, wurden barscher, fordernder, und es gelang ihr, die Augen einen Spalt zu öffnen.

Flackerndes Kerzenlicht erfüllte den Raum, und undeutlich hob sich vor ihr eine dunkle Gestalt ab. Angst kroch ihr den Rücken empor, und plötzlich ertönte ein Schrei.

Mit entsetzlicher Klarheit erkannte sie den angespitzten Pflock in der Hand des Priesters, der damit auf ihr Herz zielte.

Sie versuchte sich wegzudrehen. Doch schon wurde der Priester von ihr weggerissen, es gab ein dumpfes Krachen und Knirschen und einen weiteren Schmerzensschrei.

»Myntha! Myntha, Kleine, du lebst!«

Es war die tiefe Stimme ihres Vaters, und seine starken Arme hoben sie hoch und drückten sie an sich. Zitternd schmiegte sie sich an seine breite Brust, und salzige Tränen netzten ihre Wangen.

»Papa?« Ihre Stimme war raspelnd und kaum hörbar, ihre Kehle schmerzte.

Und nicht nur die, alle Knochen, alle Gelenke, jeder Muskel schmerzte – aber, ja, sie lebte. Eine weiche Decke wurde über sie gelegt, und ihre beiden bärtigen Brüder, Haro und Witold, nahmen sie aus den Armen ihres Vaters, hüllten sie in ihre Umhänge und trugen sie hinaus aus der weihrauchgeschwängerten Luft der Kirche in die dunkle Kälte.

Sie schloss wieder die Augen, sog aber die klare Frostluft tief in die Lunge, und in der sicheren Hut ihrer Brüder schlief sie wieder ein.

1. Kapitel

Mai 1420

Es hatte seine Vorteile, die Tochter des Fährmanns von Mülheim zu sein. Wann immer Myntha Lust hatte, die Annehmlichkeiten der großen Stadt zu genießen, begleitete sie ihre Brüder am Morgen auf der ersten Fahrt über den Rhein. So auch an diesem lieblichen Maitag, an dem die Vögel lauthals ihre Lieder zwitscherten und die leichte Brise, die durch das Tal wehte, an ihrem Gewand zupfte. Junge Federknäulchen folgten behäbigen Entenmüttern. Ihnen warf sie einige Krumen altbackenen Brotes zu und wurde mit einem vergnügten Schnattern belohnt.

Myntha zog den Schleier über ihren Kopf und betrat den Nachen. Mit ihr auf der Fähre fuhren einige Handwerker, die sie mit einem Nicken grüßte. Die Männer mit ihren Kiepen auf dem Rücken erwiderten ihren Gruß nicht, sondern schauten unangenehm berührt in die andere Richtung. Nur Rixa, das Weib des Honigsammlers Jorgen, lächelte sie an und erkundigte sich nach ihrer Großmutter Enna.

»Sie hat das Reißen in den Knochen, aber jetzt, wo es wärmer wird, geht es ihr wieder besser«, erzählte Myntha der krummrückigen Frau. Die schlug ihr vor: »Kannst ja mal die aal Sybilla aufsuchen, drüben in Merheim. Die hat Salben, die die Knochen wärmen.« Und dann senkte sie die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern: »Aber frag nicht zu genau nach, woher sie das Fett hat.«

»Von Schweinen, Rixa. Ich kenne die Sybilla. Aber ich habe auch eine gute Tinktur aus der Apotheke am Neuen Markt bekommen. Die hat der Großmutter einige Erleichterung verschafft. Wie läuft das Geschäft? Honig hast du in den Fässchen da nicht drin.«

Myntha wollte nicht weiter über die Leiden ihrer Großmutter und irgendwelche quacksalberischen Vorschläge reden, und Rixa war leicht abzulenken.

»Nein, die Bienen fliegen noch nicht. Wir haben Harz gesammelt, gutes, feines Wacholderharz. Verkaufen wir an den Turm. Die Wachen verwenden es für ihre Waffen, gibt gutes Geld dafür.«

»Und du bekommst einen neuen Kittel?«

Rixa lachte und entblößte eine Zahnlücke.

»Der hier tut’s noch. Die Wolle hab ich selbst gesponnen und gewebt. Aber ein gutes Essen im Adler, das wird’s geben. Und, was treibt dich in die Gassen?«

Es waren natürlich nicht nur die städtischen Vergnügen, die Myntha suchte. Sie hatte auch einige ernsthafte Aufträge zu erledigen. Heute beispielsweise ging es darum, einige Fässer Wein zu ordern. Das erzählte sie Rixa auch, und darüber kamen sie an der Landestelle am Niehler Ufer an.

Rixa schulterte die Kiepe wieder, und sie und Myntha warteten, bis alle Fährgäste an Land waren. Dann stellten sie sich neben Mynthas Bruder Haro. Er überragte sie um mehr als Kopfeslänge, und in seinem dichten Vollbart schien ein Lächeln auf. Er zupfte ihr den Schleier vom Gesicht und meinte: »Bleibt beide auf dem Nachen. Wir treideln ein Stück stromaufwärts, das schont eure Füße.«

Myntha hatte damit gerechnet, denn damit die Fähre auf dem Rückweg von der Strömung flussabwärts nach Mülheim getragen wurde, musste eines der starken Zugpferde sie ein Stück am Ufer entlangziehen. Heute machte ihr Bruder Witold den Treideldienst. Rixa nickte, dankbar dafür, dass auch sie auf dem Nachen bleiben durfte. Während sie langsam dahinglitten, meinte Haro zu seiner Schwester: »Schau, ob Frau Alyss wieder ein hübsches Maidchen beherbergt, Myntha. Es wird Zeit, dass Witold sich ein Weib nimmt.«

»Ach, der Witold? Und du?«

»Na, wenn’s zweie sind, nehm ich auch eins.«

»Wenn ich nicht dem Jorgen sein Weib wär, tät ich dich nehmen«, kicherte Rixa.

»Dann werd ich mal sehen, ob der Jorgen nicht das nächste Mal mitten auf dem Rhein von einer Nixe ins Wasser gezogen wird«, unkte Haro.

Rixa, ein schlichtes Gemüt, lachte schallend und hieb ihm auf den Rücken. Haro musste sich an der Ruderpinne festhalten, um nicht selbst ins Wasser zu fallen.

Sie erreichten nach kurzer Zeit die zweite Anlegestelle, und Haro verabschiedete sich von ihnen.

»Dann macht euch mal auf den Weg. Myntha, zieh die Fahne hoch, wenn du wieder rüberwillst!«

»Am Nachmittag. Das Essen in Frau Alyss’ Hauswesen werde ich mir nicht entgehen lassen.«

Rixa und sie gingen an Land und machten sich am Ufer entlang auf den Weg in die Stadt.

»Ich wünschte, meine Brüder würden sich wirklich bald dazu entschließen, zu heiraten«, murrte Myntha.

»Sind zwei stramme Burschen. Um die müssten die Weibchen sich doch reißen.«

»Pah. Sowie eine junge Frau ihren Blick auf sie wirft, werden sie rot, beginnen zu stammeln, treteln mit den Füßen und suchen schnellstmöglich das Weite. Das sind Kerle wie Baumstämme, aber so was von schüchtern.«

»Was für ein Jammer. Hilft wohl nur beten.«

»Oder ein Holzhammer.«

Eine Weile schwatzten sie gemächlich über dieses und jenes, dann erreichten sie die Stadtmauer, und am Kunibertstor verabschiedete Rixa sich, um dem Turmmeister ihre Ware anzubieten. Myntha wanderte weiter durch die Gassen.

Auf dem Weg zu Frau Alyss, der Weinhändlerin in der Witschgasse, lag die Dombaustelle, an der sie mit immerwährendem Staunen einen Augenblick stehen blieb, um zuzusehen, wie der gewaltige Tretkran einen riesigen, sorgfältig behauenen Stein nach oben schweben ließ.

Dann musste sie aber zwei Männern aus dem Weg gehen, die zwischen sich einen Bottich mit Gips trugen, und wandte sich Richtung Alter Markt. Später würde sie hier an den Ständen noch einige Einkäufe tätigen, jetzt aber galt es zunächst, andere Dinge zu erledigen. Diszipliniertes Vorgehen hatte sie schon vor Jahren im Hauswesen von Frau Alyss und Master John gelernt. Dort hatte sie als junges Mädchen ihre Lehrzeit verbracht und großen Nutzen aus diesem Aufenthalt gezogen. Die Führung eines sehr lebendigen Haushalts hatte sie gelernt, die Buchführung eines schwunghaften Weinhandels, hartes Feilschen, kühles Beurteilen von Qualitäten und – nicht zu unterschätzen – die lateinische Sprache, in der sie der staubtrockene Magister Jakob unterrichtet hatte. Diese Kenntnisse wussten ihr Vater und ihre Brüder sehr zu schätzen, denn oftmals kamen Menschen aus fernen Ländern an die Fährstelle, die der heimischen Zunge kaum mächtig waren. Einige Brocken Latein jedoch konnte ein jeder, und Myntha half gerne, der Fremden Begehr zu übersetzen.

Doch bei Frau Alyss hatte sie nicht nur Arbeit kennengelernt, sondern auch überschäumenden Frohsinn. Manche wilden Scherze hatte sie mit den anderen Jungfern und jungen Männern getrieben, trauliche Gespräche beim Spinnen geführt und ernsthaftes Disputieren mit dem Hausherrn und den Gästen erprobt, die häufig das Hauswesen mit ihrer Anwesenheit beehrten. Besonders in ihr Herz geschlossen hatte Myntha aber Frau Alyss’ Eltern, den wohledlen Herrn Ivo vom Spiegel und die scharfzüngige Frau Almut. Anfangs hatte sie Angst vor dem brummigen Herrn gehabt, dessen Augen unter den buschigen Brauen vor geistiger Schärfe funkelten. Seine Donnerwetter, so munkelte man, waren furchterregend gewesen. Bis sie eines Tages entdeckte, dass sich hinter der Wortgewalt des großen Mannes ein tiefsinniger Humor und ein gütiges Herz verbargen und er auf eine treffende Erwiderung mit grollender Erheiterung reagierte. Sein Weib, eine ehemalige Begine, stand ihm an Witz in nichts nach, und die Beobachtung des Geplänkels der beiden hatte Myntha gezeigt, was es hieß, wenn sich zwei Menschen in grenzenloser Liebe zugetan waren.

Im vergangenen Jahr nun war Herr Ivo im gesegneten Alter von vierundachtzig Jahren sanft entschlafen, und sie betrauerte noch immer den Verlust.

Darum hielt sie auf ihrem Weg durch die Stadt an dem trutzigen Kloster von Groß Sankt Martin an, in dem Herr Ivo einst als Benediktinerpater gelebt hatte. Hier ruhte er nun auf dem Friedhof von Sankt Brigiden, der kleinen Kirche neben dem Kloster. An seinem Grab wollte sie eine Fürbitte für den gütigen Mann halten.

Dicht an der Kirchmauer hatte man ihn begraben, und zwei dunkelgrüne Eiben flankierten den Grabstein. Doch während Myntha den Lichhof überquerte, erkannte sie, dass sie nicht die Einzige war, die am Grab des wohledlen Herrn beten wollte. Es kniete eine Gestalt in einem dunkelgoldenen Gewand dort auf dem Grün, und ein Distelfink landete flatternd auf dem Grabstein des Herrn. Er begann, aus voller Kehle zu singen.

Myntha hielt in ihren Schritten inne. Frau Almut pflegte oft hierherzukommen, um Zwiesprache mit ihrem Gatten zu halten. Wie unsagbar musste sie ihn vermissen, denn sie hatte viele Jahrzehnte an seiner Seite verbracht.

Myntha sprach ihre Gebete still in schicklicher Entfernung, doch dann sah sie plötzlich, wie Frau Almut die Trauer derart übermannte, dass sie niedersank und lang ausgestreckt auf dem Boden zu liegen kam.

Leise näherte sich Myntha und räusperte sich vorsichtig. Das Gras war noch taufeucht und sicher nicht bekömmlich für eine alte Dame.

Frau Almut bewegte sich nicht.

Myntha trat noch näher, beugte sich nieder und berührte sanft die samtbekleidete Schulter. Ein leises Stöhnen kam über Frau Almuts Lippen, dann flatterten ihre Lider.

»Habt Ihr Schmerzen, Frau Almut? Geht es Euch nicht gut?«

»Atmen so schwer«, keuchte die alte Dame leise. Dann drehte sie langsam den Kopf. »Myntha, Kind. Hilf mir auf.«

Ganz vorsichtig hob Myntha Frau Almut an, sodass sie sitzen konnte. Etwas leichter ging ihr Atem, und ihre Augen blickten wieder klar.

»Ich hole die Mönche, sie werden Euch ins Hospiz tragen.«

»Nein, nein. Es geht schon. Stütz mich, Liebes, und bring mich heim. Es ist ja nicht weit.«

Das war richtig: Das Haus derer vom Spiegel lag am Alter Markt, eben um die Ecke von Groß Sankt Martin. Fest auf Myntha gestützt, wanderte Frau Almut den kurzen Weg, schweigend zunächst, doch vor der Eingangstür murmelte sie: »Er hat gesagt, er wartet.«

Es gab nicht viel zu überlegen, was die wohledle Dame damit meinte.

»Der Herr vom Spiegel.«

»Ivo, ja.« Und dann huschte ein geisterhaftes Lächeln über Frau Almuts Gesicht. »Geduld war nicht seine höchste Tugend.«

»So hörte man gelegentlich.«

Die wohledle Dame kicherte.

»Klopft an die Tür, Kind. Man wird sich um mich kümmern wollen. Sie sind alle so fürsorglich geworden die letzten Monate.«

So war es auch. Kaum hatte Myntha den Klopfer einmal bewegt, wurde die Tür auch schon aufgerissen, und eine füllige Matrone streckte ihre Arme nach Frau Almut aus. Die aber wehrte sie sacht ab und wandte sich noch einmal Myntha zu.

»›Ich sehe jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.‹«

Wieder lächelte sie, und ihr Gesicht wirkte wie verklärt. »Er hat seinen Paulus gerne zitiert.« Sinnend blinzelte sie in die Sonne. »Mit Paulus’ Worten auf den Lippen schied er aus dieser Welt.«

Frau Almut wurde von der Matrone ins Haus geführt, die Tür fiel zu.

Und Myntha flüsterte: »›Die Liebe hört niemals auf.‹«

Dann eilte sie zur Witschgasse.

2. Kapitel

Um die Mittagszeit des nächsten Tages ergriff Frederic Bowman die Zügel seines Reitpferds und die Lenkleine des Packtiers, um beide von dem Niederländer ans Ufer zu führen. Hinter ihm folgte Emery mit dem Pony, das gutmütig über die Planke trottete. Es war ein hübsches Tier, hellbraun mit einer noch helleren Mähne und Schweif, sanft im Gang und von heiterem Gemüt. Dem zehnjährigen Jungen folgte es aufs Wort, aber Fremden gegenüber war es zurückhaltend. Maldwyn, unerschrockener Freund, hatte Emery das Pferdchen genannt.

»Das ist die Kathedrale, von der du mir erzählt hast, Vater?«

»Ja, das wird einmal der Dom sein.«

Frederic schaute ebenso wie sein Sohn hoch zu dem Turmstumpf, auf dem der Kran stand. Der Turm war gewachsen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Vierzehn Jahre war das nun her, und doch waren ihm der Geruch der Stadt, die Sprache der Menschen und der Anblick der Stapelhäuser am Ufer sofort wieder vertraut.

Sein Pferd schnaubte leise, als er es zum Trankgassentor führte. Es war vermutlich ebenso glücklich wie er, wieder auf festem Boden zu stehen. Etliche Wochen lang hatten sie Schiffsplanken unter den Füßen gehabt, und die Fahrt von King‘s Lynn durch die Nordsee war streckenweise recht stürmisch gewesen. Der April mit seinen Frühlingsstürmen war nicht der rechte Monat zum Reisen, aber es war notwendig gewesen, und so hatte er die Zähne zusammengebissen, um seinem Sohn ein Vorbild zu sein. Der Arme war mager geworden, das Salzfleisch und das harte Brot – ihre hauptsächliche Nahrung während der Reise – waren selten lange genug in ihm dringeblieben. Erst als sie Deventer erreicht hatten und dort im Hause des Tuchhändlers Robert van Doorne Rast machen konnten, hatten sie sich beide etwas erholt. Frau Catrin hatte sie mit allen Leckerbissen verwöhnt, die Markt und Speisekammer hergaben, und hätte sie auch gerne noch länger bei sich beherbergt. Frederic zog es jedoch weiter, und so hatten sie zwei Tage später das nächste Schiff bestiegen. Immerhin war der Rhein ein ruhigeres Gewässer, und eine Woche später nun waren sie am Ziel angekommen.

Am Kai lagen zwei weitere Schiffe, die eben entladen wurden, und Emery war stehen geblieben, um den Männern im Rad des Tretkrans zuzusehen, die mit großem Geschick Tuchballen vom Deck eines zweiten Niederländers hoben. Ein Wagen stand bereit, auf dem sich bereits mehrere Ballen stapelten, und eine helle Frauenstimme gab Anweisungen, wie das nächste Gebinde daraufzupacken sei.

»Du wirst noch häufiger zusehen können, Emery. Aber jetzt wollen wir einen Boten zu Master Johns Heim schicken.«

»Ja, Vater.«

Der Junge war bekümmert, aber daran konnte Frederic nun nichts ändern. Besser bekümmert als tot. Er legte seine Hand auf dessen magere Schulter und drückte sie sacht.

»Du weißt, was du zu tun hast, mein Sohn?«

»Ja, Vater.«

Ein Botenjunge wurde herbeigepfiffen und trabte mit der Meldung los, Emery Friederson sei am Trankgassentor eingetroffen.

»Es wird gleich jemand aus dem Hauswesen hier eintreffen. Stell dich nahe ans Tor, Emery. Ich werde dort hinter den Fässern warten, bis man dich erkannt hat.«

»Ist gut, Vater.«

»Emery, du bist ein guter Sohn. Und sobald ich kann, werde ich dich wieder aufsuchen und berichten, wo ich Wohnung genommen habe.«

Emery nickte, und seine Hände krallten sich fest um die Zügel seines Ponys. Er kämpfte mit den Tränen. Noch einmal zog Frederic ihn an sich, dann leitete er seine beiden Pferde zu dem Fässerstapel. Vollständig verborgen war er dort nicht, aber er hoffte, dass, wer immer auch Emery abholte, verstehen würde, dass er selbst nicht angesprochen werden wollte.

Lange brauchte er nicht zu warten. Es war John of Lynne selbst, der mit langen Schritten durch das Tor geeilt kam und zielgerichtet auf den Jungen zutrat.

»Emery Friederson?«

»Ja, der bin ich.«

»Ich bin John of Lynne. Ich grüße dich, mein junger Freund.«

Frederic registrierte, dass John englisch mit seinem Sohn sprach, und war dankbar dafür. Er hatte versucht, Emery während der Überfahrt einige Worte Deutsch beizubringen, aber dem Jungen war es viel zu schlecht gegangen. Doch es mochte sein, dass in der freundlichen Atmosphäre im Hauswesen von John und seinem Weib Alyss ihm die Kenntnisse der Sprache schnell vermittelt würden.

»Wo ist dein Vater, Emery?«

»Weg, Master.«

Johns schwerlidrige Augen schweiften über den Kai, und sein Blick blieb an dem Fässerstapel hängen.

»Das ist betrüblich, aber wohl nicht zu ändern. Emery, du bist willkommen in meinem Haus. Doch muss ich dir sagen, dass wir eben um die Mutter meines Weibes trauern.« Mit erhobener Stimme und Richtung Fässer sprach John. »Frau Almut ist heute Nacht ihrem Gatten gefolgt.«

Frederic sah, dass Emery blass wurde und zu zittern begann. John bemerkte es wohl auch und legte dem Jungen den Arm um die Schultern.

»Ist sie … ist sie gemördert worden?«

»Nein, mein Freund. Sie entschlief sanft nach einem sehr langen, sehr bunten Leben und wurde von Mutter Maria im Himmel aufgenommen. Wir bedauern ihren Verlust, aber ihr Scheiden, wie auch das von Ivo vom Spiegel, war friedlich.«

Emery hielt den Kopf gesenkt, und Frederic senkte den seinen ebenfalls. Mit Almut und Ivo hatten zwei gütige Menschen diese Welt verlassen, die er gerne wiedergesehen hätte.

Dann aber richtete er sich auf, um einen letzten Blick auf seinen Sohn zu richten.

Master John sah zu ihm hin und nickte unmerklich. Ja, die Worte waren auch für ihn bestimmt gewesen. Und mit großer Einfühlsamkeit wandte der Tuchhändler sich dann an Emery.

»Du hast deine Mutter verloren?«

»Ja, Master.«

»Das ist schlimm, mein Junge. Komm mit, wir wollen sehen, ob Frau Alyss und ihr Hauswesen deinen Kummer ein wenig lindern können. Ich habe einen Sohn in deinem Alter, und – gnade Gott – er hat ebenso rote Haare wie du.«

»Oh je.«

»Du sagst es.«

Master John nahm die Zügel des Ponys und führte es durch das Tor. Emery hielt sich an seiner Seite und schaute vertrauensvoll zu dem großen Mann mit den grau durchzogenen blonden Haaren auf.

Frederic atmete tief durch. Seine größte Sorge war behoben, sein Sohn war in Sicherheit.

Nun würde er sich eine Wohnstatt suchen. Er wandte sich dem Rhein zu. Das andere Ufer war weit genug entfernt – so weit, dass Emerys Schutz gewährleistet war –, und gleichzeitig doch so nahe, dass er dann und wann nach seinem Sohn würde schauen können.

3. Kapitel

Myntha rupfte Unkraut. Gerne tat sie das nicht, aber die Großmutter hatte noch immer zu sehr das Reißen in den Gliedern, als dass sie die Gartenarbeit hätte machen können. Aber sie hatte ein scharfes Auge darauf, dass ihre Enkelin wirklich auch nur die unerwünschten Triebe ausgrub und nicht etwa die Petersilie oder den Thymian.

In der Hecke tschilpten die Spatzen, Rotkehlchen und Finken zwitscherten fröhlich, und irgendwo über den Feldern mit ihrem jungen Grün krächzten ein paar Raben. Die murmelnde Stimme ihrer Großmutter sprach in eintönigem Rhythmus von den Taten der Könige früherer Zeiten. Es war Ennas Angewohnheit, lange Texte zu rezitieren. Sie behauptete, damit hielte sie ihren Geist beweglich und bekämpfe die Vergesslichkeit. Womöglich hatte sie recht. Seit Myntha denken konnte, wiederholte ihre Großmutter die langen, verschlungenen Verse eines gewaltigen Epos, das sie das Nibelungenlied nannte. Sie hatte es als Kind von einem alten Barden gelernt und memorierte Teile daraus beinahe täglich. Heute war sie bei der neunzehnten Aventüre angelangt, und eben sprach sie:

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