Tigers Wanderung - Andrea Schacht - E-Book

Tigers Wanderung E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Katzen leben länger.

Tiger hat sich entschlossen, die Goldenen Steppen, den Katzenhimmel, zu verlassen, um zu seiner geliebten Menschenfreundin Anne zurückzukehren. Doch klein und unschuldig, wie er wiedergeboren wird, braucht er Hilfe, um den Weg zu finden. Junior, er mutigste Kater des Reviers, macht sich auf, ihn zurückzuführen, doch schnell gerät er in schier aussichtslose Situationen und aberwitzige Gefahren ...

Die Bestsellerautorin Andrea Schacht erzählt von Katzen und Menschen und von den großen und kleinen Lieben, die das Leben für jeden bereithält.

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Seitenzahl: 418

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Andrea Schacht

Tigers Wanderung

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0528-5

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2009 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Ver wertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Mediabureau Di Stefano, Berlin

unter Verwendung einer Illustration von Frances Broomfield / The Bridgeman

Art Library

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Nina erzählt

Tigers Geburt

Am Neujahrsmorgen

Aufbruch

Jakobs Krankheit

Juniors Fahrt in die Stadt

Luzi räumt auf

Revierkampf

Anne und Luzi

Tiger wächst

Juniors Stadtleben

Einladung zum Tanz

Ein verhängnisvoller Fehler

Der Ball

Tiger wächst weiter

Jakobs Tod

Junior wandert weiter

Ein Schnupfen und Bertines Besuch

Trucker-Cat

Randy kommt

Junior auf Tour

Die Einbrüche

Tiger und Junior erkennen sich

Der Wettkampf

Juniors letzte Tour

Angriff auf Pinky

Aufbruch nach Hause

Frauengespräche

Leben in der Wildnis

Nina ärgert sich

Ein Streit unter Freunden

Angriff auf Bertine

Versöhnung

Pläne und Mausehund

Der Schattenkreis

Reizklima

Kampf

Still ruht der See

Tiger und Junior in der Krise

Thunfischdöslein

Wahre Freundschaft

Annäherungen

Heimkehr ins Dorf

Luzi trifft Junior

Spanische Blüten

… und ein Wiedersehen

Vorbemerkung

Thornton Wilder lässt seinen Roman »Die Brücke von San Luis Rey« mit den Worten enden: »Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzig Bleibende, der einzige Sinn.«

Nicht dass ich mich mit diesem großen Autor vergleichen will, aber die Idee der Brücke zwischen den Lebenden und Toten hat mich gefangen genommen.

Zwischen Menschen und Tieren kann eine unbeschreiblich tiefe Freundschaft entstehen, und die Vorstellung, dass sich unsere kätzischen Freunde, wenn sie uns verlassen müssen, auf den Goldenen Steppen versammeln, mag etwas Tröstliches haben.

Tröstlicher aber mag die Vorstellung sein, dass sie, wenn unsere Liebe zu ihnen groß genug war, auch sie die Brücke zu uns zurück finden.

Ich habe zwei Wiederkehrer in mein Haus aufgenommen, ich erlaube mir, daran zu glauben.

Und so soll auch Tiger wieder heimkehren, auch wenn er dabei ein paar garstige Hindernisse überwinden muss.

Begleiten Sie ihn und lauschen Sie Ninas Erzählung.

(Aber nennen Sie sie bloß nicht schlappohrig!)

IhreAndrea Schacht

Nina erzählt

Rücken Sie mal ein Stückchen, ich möchte mich mit auf das Sofa setzen. Ja, danke, so ist es nett. Sie wollen eine Geschichte hören, das sehe ich Ihnen an. Doch, doch, nur nicht so schüchtern, wir alle hören gerne Geschichten. Noch ein bisschen im Fell kraulen, ahhh ja, vielleicht noch hier, am Hals … Mmh …

Ah so, ja, die Geschichte. Beinahe hätte ich vergessen …

Gut, also! Es fing damit an, dass ich im Herbst letzten Jahres diesen Frechdachs unter meine Pfoten genommen habe. Aber ich bitte Sie, was soll man machen, wenn man als Katze mit latent mütterlicher Veranlagung so einen Wurm findet?

Ich schaffte es mit dieser Menschenfrau Anne zusammen, Junior über das Gröbste hinauszubringen, aber der Kleine entwickelte sich beinahe zu rasch zu einem abenteuerlustigen Racker. Na, man kann’s ja nicht ändern, wenn es die Kinder aus dem Haus drängt? Man muss sie wohl oder übel ziehen lassen.

Aber wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß … Wahrscheinlich hätte ich ihn nicht ziehen lassen.

Ich rede und rede, dabei wollte ich doch eine spannende Geschichte erzählen. Sie handelt, wie Sie schon ahnen, von dem Jungkater Junior, meinen Menschen Anne und Christian und natürlich auch von mir. Mein Name ist Nina, mein Fell ist cremeweiß, mein Näschen braun, und meine Augen sind golden. Von meinen Ohren sprechen wir lieber nicht.

Doch bevor der erste Held die Bühne betritt, noch eine kleine, aber wesentliche Szene, die davon handelt, wie mein alter Weggefährte Tiger wieder in diese Welt zurückkehrt.

Tigers Geburt

Babsy schnurrte glücklich. Sie war mit ihrer Leistung zufrieden und lag gemütlich zusammengerollt auf Nadines buntem, weichem Kopfkissen. An ihren Bauch gedrückt lagen zwei kleine wohlgestaltete Katzenbabys, gerade zwei Stunden alt. Eines davon war weiß, das war sogar in diesem Stadium zu erkennen, das andere kam vermutlich nach ihr und würde braun-schwarz getigert sein. Vielleicht mit ein bisschen Weiß um Bauch und Pfoten. Die kleine Weiße würde später mal eine Schönheit werden, mutmaßte die stolze Mutter träge. Und der andere, tja, da war schon jetzt etwas Außerordentliches um ihn. Das konnte natürlich nur sie erkennen, nicht die Menschen, die gerade in die Wohnung polterten. Aber da war so was um seine Nase, so ein undefinierbares Etwas um die Ohren …

Vielleicht lag es daran, dass sie so unplanmäßig spät im Jahr noch mal rollig geworden war und dann dieser phantastische Kater zur Pfote war.

»O Papa, das war toll heute! Das war eine absolute Superidee.«

»Ja, und wie Mutti über dich drüber gefallen war, einfach klasse, die Show!«

Nadine, die dreizehnjährige Tochter von Ralf und Daniele Ferguson kicherte haltlos, als sie ihre dicken Winterstiefel auszog. Ihre Mutter trug den Spott mit Gelassenheit. Die Familie hatte den Nachmittag mit einem gemeinsamen Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn im Park begonnen und sich dabei rosa Nasen und einen gewaltigen Hunger geholt. Nadine pellte sich aus dem knallroten Anorak, grünen Schal, rosa Handschuhen und türkisfarbenen Sweatshirt und schleppte ihre Garderobe in ihr Zimmer.

»O nein!«, hörte man sie kurz darauf quieken. »Mutti, Babsy hat ihre Babys bekommen.«

Sie stürzte in die Küche, wo ihre Mutter soeben anfing, Vorbereitungen zur Fütterung der wilden Meute zu treffen, zu der sich ihre Familie in der letzten halben Stunde entwickelt hatte.

»Das war doch zu erwarten, Nadine. Der Tierarzt hat uns gesagt, dass es um Neujahr so weit ist«, antwortete ihre Mutter lächelnd.

»Ja, aber sie hat sich dafür mein Kopfkissen ausgesucht!«, empörte Nadine sich.

»Na ja, wir wissen doch, dass sie ihren eigenen Kopf hat. Die Kiste ist natürlich lange nicht so bequem wie dein Bett. Pass auf, du lässt ihr das Kissen und holst dir aus dem Gästezimmer ein Ersatzkissen. Wie viele sind es denn?«

»Nur zwei diesmal, und sie sehen aus wie nackte Mäuse. Ich habe mir schon Namen ausgedacht.«

»Das besprechen wir gleich beim Kaffeetrinken. Gib mir mal die Eier aus dem Kühlschrank. Sahne könntest du auch schon mal schlagen.«

Kurze Zeit später zog der köstliche Duft von Vanille und Kaffee durch das Haus, und dann häuften sich heiße Waffeln, Preiselbeeren und Sahne auf den Tellern. Die Unterhaltung war in den ersten Minuten recht einsilbig und beschränkte sich auf so ursprüngliche Laute wie ein gutturales: »Mhh, guuut!«, »Mehr!«, »Super!«

Als der erste Hunger gestillt war, brachte Daniela das Gespräch auf den Familiennachwuchs.

»Unsere Babsy hat zwei Junge bekommen – auf Nadines Kopfkissen.«

»Dumme Katze«, beurteilte ihr Bruder Sven die Lage. »Nur gut, dass sie nicht auf mein Bett gegangen ist.«

»Die Gefahr war nicht groß. Wer will schon auf einem derart grässlichen Bettbezug Kinder bekommen? Die sind ja von Geburt an gestört.«

»Und von deinem Bettbezug kriegen sie gleich das Kotzen!«

»Sven, Nadine, hört auf damit!«

Ralf versuchte seine Kinder zu mäßigen.

»Ach, ist doch wahr, bei dem Großformat von Schmachtlappen und rosa Wölkchen …«

»Das ist nun mal ihr Geschmack, Sven. Ich muss allerdings sagen, wenn ich in einem Bett wie deinem schlafen müsste, dann würden mich die Monster auf dem Bettbezug auch bis in die Träume verfolgen«, behauptete seine Mutter mit leisem Schauder in der Stimme.

»Ich bin schon froh, dass ich nicht mit einer kompletten Boygroup das Bett teilen muss«, kam Ralf seinem Sohn grinsend zur Hilfe.

»Siehste«, sagte Sven mit triumphierendem Blick zu seiner Schwester.

»Hört auf, ihr Zankhähne! Wir haben Nachwuchs bekommen. Diesmal bist du dran, die Namen zu finden, Nadine. Hast du schon einen Vorschlag?«

Es war in der Familie vereinbart worden, dass jeder abwechselnd die Kätzchen eines Wurfes benennen durfte. Streng hierarchisch, deshalb hatte Ralf den ersten und Daniela den zweiten Wurf getauft, der dritte war jetzt Nadines Aufgabe.

»Ich möchte sie Tiger und Leo nennen!«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen, denn sie hatte sich lange darauf vorbereitet.

»Uhh, du weißt doch gar nicht, ob das Kater sind«, warf ihr Bruder wenig hilfreich ein.

»Na und? Wenn sie weiblich sind, sollen sie Tina und Lea heißen. Aber bei dem Dunklen bin ich mir ganz sicher, dass er Tiger heißt.«

»Hast du mal wieder deine Anfälle von Hellsichtigkeit gehabt?«, neckte ihr Vater Nadine, der ihre gelegentlichen Anwandlungen von Aberglauben mit Fassung trug.

»Quatsch, das ist nur so ein Gefühl. Außerdem gefällt mir der Name.«

»Tiger und Lea sind auch in Ordnung. Wenn sie etwas älter sind, werden wir weiter sehen.«

Daniela strich ihrer Tochter liebevoll über die dunklen, glatten Haare und begann, den Tisch abzuräumen.

Am Neujahrsmorgen

So, und nun geht es richtig los. Hier darf ich Ihnen die Leute vorstellen, bei denen ich mein Heim aufgeschlagen habe. Sie hören bestimmt gerne etwas darüber, wie es bei andern im Schlafzimmer zugeht, oder? Menschen sind doch genauso neugierig wie Katzen, geben Sie es zu.

Am Neujahrsmorgen hatte ich verschlafen, einfach verschlafen. Ich wunderte mich, dass im Haus noch alles still war, und meine Futterschüssel war bis auf ein paar vertrocknete Krümel genauso leer wie mein Magen. Deshalb spazierte ich ins Schlafzimmer, um die Herrschaften an ihre Verpflichtungen mit einem zarten Miauen zu erinnern.

Anne wachte davon auf. Sie und Christian, mein Mensch, hatten Silvester nicht allzu lange gefeiert, und darum wirkte sie jetzt ausgeschlafen und tatendurstig. Leider richtete sich ihr Tatendrang nicht darauf, meine Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie drehte sich im Bett um und betrachtete den schlafenden Mann neben sich. Ich weiß, was sie sah! Christians blonde Haare, die sich an der Stirn schon ein wenig zurückzogen, waren zerwühlt, die ersten feinen Linien um die Augen, die dort manchmal zu sehen waren, wenn er müde oder gestresst war, waren fast ganz verschwunden. Er sah jung und entspannt aus. Eine Andeutung eines leichten Lächelns lag um seine Mundwinkel, und goldene Bartstoppeln zierten sein kräftiges Kinn. Anne strich leicht über die kratzigen Wangen und fragte flüsternd ganz nah an seinem Ohr: »Worüber grinst du so genüsslich?«

»Mhhh?«

Schon recht, schon recht, auch Menschen brauchen Schmusestunden. Ich bin ja tolerant – bis zu einem bestimmten Grad. Denn etwa eine Stunde später war ich der Meinung, dass die beiden allmählich aus ihrem Kuschellager kommen und mir wenigstens eine Dose Schleckerkatz zum Frühstück aufmachen sollten. Ich maunzte laut und vernehmlich an der Schlafzimmertür.

Nichts tat sich.

Ich ging näher und maunzte noch mal am Fußende des Bettes.

Keine Reaktion.

Das hieß, zu deutlicheren Maßnahmen greifen. Ich sprang hoch, arbeitete mich zum Kopfende vor und stellte fest, dass da viel Haut war.

»Mauuuuuuu!«, forderte ich.

»Sei still«, murrte Christian.

»Mahauuuu«, widersprach ich.

»Geh weg«, antwortete er wenig zuvorkommend.

Zögernd setzte ich meine Pfote auf die nackte Haut. Ich weiß, dass ich bei Menschen da ein bisschen vorsichtig sein muss. Die dünne Haut, die sie umgibt, zerreißt so leicht. Also trampelte ich mit vorsichtigen Samtpfötchen auf Christians Brustkasten herum. Jetzt sah er mich endlich an.

»Du willst uns nicht in Ruhe lassen?«

Die Frage konnte als rhetorisch abgehakt werden.

»Ich glaube, Nina möchte ihr Frühstück«, mischte sich Anne ein und wand sich aus Bettdecke und Christian.

»Na und, bin ich der Sklave meiner Katze?«

»Mau«, bestätigte ich.

»Da hörst du’s.«

»Na gut, dann gib ihr was und mach auch dem Kleinen ein Häppchen zurecht, sonst kommt dieser kleine Kannibale von Junior auch noch ins Bett.«

»Oh«, sagte Anne beim Aufstehen. »Da war doch was …?«

Sie verschwand nachdenklich in der Küche.

In der Tat, da war noch was. Aber weil mein Teller reich gefüllt wurde, vergaß ich das für eine Weile.

Gegen Mittag setzten sich Anne und Christian zu einem späten Frühstück zusammen. Ich hatte einen kurzen Blick auf die verschneite Terrasse geworfen und dann pfotenschüttelnd entschieden, dass heute kein Tag für einen Spaziergang war. Stattdessen hatte ich mich, nicht ohne eine kleine Portion Räucherlachs erbettelt zu haben, wieder in meinen Korb zurückgezogen und bot der Welt das friedliche Bild einer selig verdauenden Katze.

Das Gespräch am Kaffeetisch drehte sich um dies und das. Christian stellte Spekulationen über das Wetter an, Anne versuchte sich in der kreativen Gestaltung des späteren Nachmittags.

»Wenn es nicht anfängt, matschig zu werden, wäre vielleicht ein kleiner Neujahrsspaziergang durch den Schnee ganz hübsch, was meinst du?«

»Sieht noch ziemlich kalt aus. Ich denke, das ist eine gute Idee. Ich muss ein bisschen auslüften.«

»Danach überlegen wir, wo wir heute essen gehen wollen.«

»Schon wieder essen …! Bald kannst du mich rollen.«

Anne zwickte Christian spielerisch in die schmalen Hüften und bemerkte, dass ihm eine kleine Prinzenrolle ganz gut zustattenkäme.

»Jetzt, wo du den neuen Job hast, musst du doch etwas gewichtiger auftreten.«

»Wenn du meinst! Ich wusste gar nicht, dass du seit neuem eine Vorliebe für Pummelchen hast. Oder fehlt dir deine Freundin Bärbel schon?«

»Nein, aber jetzt, wo du mich daran erinnerst, fehlt mir eine Katze.«

»Richtig, der kleine Irrwisch ist noch gar nicht aufgetaucht.«

Anne wurde nachdenklich und sah schweigend aus dem Fenster. Nach einer Weile fragte Christian, warum sie so still war.

»Christian, manchmal glaube ich, ich spinne ein bisschen. Aber ich habe ein ganz eigenartiges Erlebnis oder einen Traum heute Nacht gehabt.«

»Na, dann erzähl ihn doch mal.«

»Also, ich bin irgendwann so um drei herum wach geworden – oder eben auch nicht – und hatte das Gefühl, dass Junior etwas von mir wollte. Dann bin ich ins Wohnzimmer gegangen und habe mich mit dem kleinen Kater unterhalten. Ich könnte schwören, dass er mit mir gesprochen hat. Er hat sich für den Aufenthalt hier bedankt und sich verabschiedet, weil er jetzt Abenteuer erleben will. Ich habe ihn rausgelassen, und er ist im Dunkeln verschwunden.« Anne schüttelte – noch immer verständnislos – den Kopf. »Katzen können nicht sprechen. Das weiß ich doch. Aber …«

»Mh, vielleicht war das eine Mischung von Traum und Wirklichkeit. Ich glaube, du bist wirklich aufgestanden. Ich habe das im Halbschlaf gemerkt. Ganz sicher ist Junior nicht mehr in der Wohnung, also hast du ihn wohl auch rausgelassen. Da du das Ganze schlafwandelnd gemacht hast, hast du dabei geträumt, dass er mit dir gesprochen hat. Du hast ja schon immer ein sehr persönliches Verhältnis zu deinen Katzen. Hast du nicht gesagt, als Tiger gestorben ist, hast du auch so einen intensiven Traum gehabt?«

»Das wird wohl die Erklärung sein.«

Anne nickte, doch ich merkte, dass sie nicht ganz zufrieden mit der Erklärung war. Dann stand sie auf.

»Wenn er wirklich auf Wanderschaft gegangen ist, werden wir es merken. So, ich ziehe mich jetzt zum Spaziergang um.«

Sie ahnte es, und ich wusste es: Um Mitternacht hatte der kleine Quirlewisch von Junior sich von uns verabschiedet, Anne hatte das nicht geträumt. Sie ist eine Frau mit großen Gaben, obwohl sie selbst daran oft zweifelt. Aber sie hat eindeutig etwas Kätzisches in ihrem Charakter.

Jedenfalls hatte für Junior das Abenteuer begonnen.

Aufbruch

Junior hatte also das Haus, sein Heim verlassen, das er mit Nina und Anne eine Weile geteilt hatte. Das einsetzende Schneegestöber vor seiner Nase störte ihn wenig, denn sein warmes Unterfell schützte ihn vor der beißenden Kälte. Noch befand er sich auf bekanntem Territorium. Er war auf den gewohnten Pfaden seines Reviers schnell vorangekommen, aber sein Entschluss, auf Wanderschaft zu gehen, ließ ihn schon bald diese Wege verlassen.

Es war etwa drei Uhr morgens in der Neujahrsnacht. Aus einigen Häusern drang noch das Lärmen ausgelassener Feiern. Sogar vereinzelte Kracher zerrissen hin und wieder die kalte Stille der Winternacht. Bald näherte sich Junior der Ortsmitte und lief auf den Parkplatz des Bürgerhauses zu. Hier hatte ein Silvesterball stattgefunden, aber das Fest fand nun so allmählich seinen Abschluss, und nach und nach kamen Damen und Herren in festlicher Kleidung, viele in dicke Pelze gehüllt, aus dem Eingang. Sie begaben sich zu ihren schneebestäubten Fahrzeugen, einige leise schimpfend, weil sie erst die Scheiben freikratzen mussten, bevor sie vorsichtig losrollen konnten.

Junior, in der Hoffnung, eine bequeme Beförderungsmöglichkeit ins Abenteuer zu finden, setzte sich dicht an die stachelige Hecke am Parkplatz und beobachtete die einzelnen Grüppchen. Die Menschen hingegen bemerkten den kleinen grau-schwarz getigerten Kater mit den weißen Pfoten nicht.

Ein elegant gekleidetes Ehepaar ging dicht an ihm vorbei, und er folgte den beiden Menschen mit den Augen. Die Frau roch gut. Das war schon mal ein Vorteil. Dann blieben die beiden an einem großen dunklen Auto stehen, und der Mann schloss die Tür auf. Mit einem leichten Kopfschütteln strich sich die Frau ein paar Schneesterne aus dem silbriggrauen Haar und setzte sich auf den Beifahrersitz. Der Mann öffnete auch die hintere Tür, er holte unter dem Sitz einen Eiskratzer hervor und ging um den Wagen, um die Frontscheibe freizumachen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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