Die Ungehorsame - Andrea Schacht - E-Book

Die Ungehorsame E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Ein großer historischer Roman aus der Zeit des Freiherrn Knigge

Bonn, 1842. Als die unscheinbare Leonie Gutermann und Landvermesser Hendryk Mansel sich das Jawort geben, bebt die Erde. Niemand mag an ein Omen glauben, doch in der Zweckehe kündigen sich schon bald Turbulenzen an. Beide hüten Geheimnisse voreinander, doch die Fassade bekommt erste Risse. Als auf Hendryk ein Anschlag verübt und auch Leonie bedroht wird, müssen sie sich ihrer Vergangenheit stellen – und ihren Herzen …

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Seitenzahl: 625

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Inhaltsverzeichnis
Buch
Autorin
Titel
August 1837: Die Koordinaten
25. Mai 1842: Hochzeit
Sein Alltag
Ihr Alltag
August 1837: Der Ausgang
Einsichten ins Leben
Copyright
Buch
Mai 1842: Eleonore Maria Gutermann, genannt Leonie, Tochter aus gutbürgerlichem, katholischem Haushalt, heiratet den vermögenden, wenn auch versehrten Geodät Hendryk Mansel. Bei dem Ehegelöbnis überrascht die Braut die Angehörigen damit, dass sie höchst widerwillig auf die Frage nach dem Gehorsam antwortet: »Mit Gottes Hilfe - ja!« In diesem Augenblick beginnt in Bonn die Erde zu beben. Was genau hat die widerspenstige Leonie in die Vernunftehe getrieben? Sie scheint froh zu sein, aus dem elterlichen Haushalt entkommen zu können, nur warum? Und ob sie es mit dem geheimniskrämerischen Hendryk besser getroffen hat?
Autorin
Andrea Schacht war lange Jahre als Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin tätig, hat dann jedoch ihren seit Jugendtagen gehegten Traum verwirklicht, Schriftstellerin zu werden. Nicht nur ihre historischen Romane um die aufmüpfige Kölner Begine Almut Bossart erobern Buch um Buch die Herzen von Lesern und Buchhändlern. Andrea Schacht lebt mit ihrem Mann und zwei anspruchsvollen Katzen, Mira und MouMou, in der Nähe von Bonn.
Bei Blanvalet lieferbar:
Die Lauscherin im Beichtstuhl. Eine Klosterkatze ermittelt (36263) · MacTiger - Ein Highlander auf Samtpfoten (36810) · Pantoufle - Ein Kater zur See (37054) · Kreuzblume (37145) · Göttertrank (37218) · Goldbrokat (geb. Ausgabe, 0297) · Rheines Gold (36262)
Die Beginen-Romane:
Der dunkle Spiegel (36774) · Das Werk der Teufelin (36466) · Die Sünde aber gebiert den Tod (36628) · Die elfte Jungfrau (36780) · Das brennende Gewand (37029)
Die Alyss-Reihe:
Gebiete sanfte Herrin mir (37123) · Nehmt Herrin diesen Kranz (37124)
Die Ring-Trilogie:
Der Siegelring (35990) · Der Bernsteinring (36033) · Der Lilienring (36034)
WIR SEHEN DIE KLÜGSTEN, VERSTÄNDIGSTEN MENSCHEN IM GEMEINEN LEBEN SCHRITTE TUN, WOZU WIR DEN KOPF SCHÜTTELN MÜSSEN.
Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen
August 1837: Die Koordinaten
FÜR HOFFNUNG - VERWESUNG STRAFT SIE LÜGEN - GABST DU GEWISSE GÜTER HIN?
Schiller: Resignation
Er hatte das Gefühl für die Zeit verloren, die er schon in der Finsternis der Höhle lag. Gefesselt, verwundet, auf felsigem Boden. Dabei hatte er gehofft, in der alten Mine Zuflucht zu finden, aber der andere hatte ihn gefunden und überwältigt.
Er würde wiederkommen, ohne Zweifel, denn noch hatte er ihm nicht verraten, was er wissen wollte. Ein kluger Mann, ihn hier im Ungewissen zu lassen. Dadurch hatte er genügend Möglichkeiten gehabt, sich auszumalen, welches Schicksal ihm bevorstand.
Gnade war nicht darunter. Nur der sichere Tod.
Die Frage war, wie qualvoll er zu sterben bereit war.
Und wem diese Qual etwas nützte - vermutlich weder den Toten noch den Mächtigen.
Dass der andere jedoch willens war, ihm jegliche Form von Qual angedeihen zu lassen, dessen war er sich sicher.
Hatte er selbst einen Vorteil davon, wenn er sein Wissen preisgab?
Einen schnellen Tod?
Vielleicht.
Über gewisse Phasen verlor er das Bewusstsein, dann aber schreckten ihn Schmerzen auf. Jemand zerrte ihn an seinen Fesseln hoch, und ein grelles Licht blendete seine an die Finsternis gewöhnten Augen.
„Und, hast du es dir überlegt, mein Lieber?«
Trotz aller Benommenheit kochte bei dem süffisanten Ton die Wut in ihm hoch. Er unterdrückte sie. Es galt zu spielen.
„Wer gibt dir die Gewähr, dass ich dir die richtigen Daten nenne?«
Seine Stimme war heiser vom Durst und dem langen Schweigen.
»Das Wissen darum, dass, wenn es die falschen sind, mein Freund, deine Teuersten und Liebsten nicht lange deinen Tod beweinen werden.«
Leider ein sehr kluger Mann, der um seine Verwundbarkeit auch in diesem Fall wusste. Er schwieg, beobachtete.
Der andere hatte, wie schon zuvor, einen Dolch in der Hand, und was er damit zu tun gedachte, war ihm aus vorherigen Unterhaltungen durchaus klar. Jetzt hielt er die Klinge in die Flamme der Petroleumlampe.
»Ich denke, wir beginnen mit dem rechten Auge. Du brauchst es in der Dunkelheit hier ja nicht.«
Wie viele Qualen ertrug ein Mann?
Wahrscheinlich war er ein Feigling.
Er nannte ihm Längen- und Breitengrad.
Der andere lachte und warf das rot glühende Messer in den Schutt an der Wand.
»Kluger Junge. Das gibt dir eine Frist von - sagen wir - zehn Tagen. Leb wohl!«
Der Mann ging davon, ohne den Gefesselten noch eines Blickes zu würdigen.
Als das schwankende Licht verschwunden war, stöhnte er auf, dann aber machte er sich ungeachtet der höllischen Schmerzen und der wieder aufbrechenden Wunden daran, zu dem Dolch zu kriechen. Sehen konnte er zwar nichts mehr, doch die Hitze, die das Metall ausströmte, konnte er wahrnehmen. Die rote Glut der Klinge mochte erloschen sein, doch in ihm glühte eine weit hellere - die der Rache. Sie gab ihm Kraft, letzte verzweifelte Kraft.
Dann hörte er das dumpfe Rumpeln und wusste, dass der Ausgang nun verschüttet war.
25. Mai 1842: Hochzeit
WÄHLE ALSO MIT VORSICHT DIE GEFÄHRTIN DEINES LEBENS, WENN DEINE KÜNFTIGE HÄUSLICHE GLÜCKSELIGKEIT NICHT EIN SPIEL DES ZUFALLS SEIN SOLL.
Freiherr von Knigge: Von dem Umgange unter Eheleuten
Der fünfundzwanzigste Mai des Jahres 1842 war ein leuchtender Frühlingstag. Im großen Salon im Bonner Stadthaus der Familie Gutermann hatte man sich versammelt. Ein kleiner Kreis der Angehörigen nur, denn der Anlass entbehrte nicht einer gewissen Delikatesse. Der Eheschließung zwischen einem Protestanten und einer Dame aus streng katholischem Haus lag zwar rechtlich gesehen kein Hindernis im Weg, seit die preußische Regierung die Religionsfreiheit geboten hatte, aber zum guten Ton gehörte es wahrhaftig noch nicht in allen Kreisen. Also hatte man auf die Trauung in der Kirche verzichtet und sich nach dem schlichten, bürokratischen Akt auf dem Standesamt im Haus der Braut versammelt. Hier würde sowohl der zur Familie gehörende Pastor als auch der mit dem Brautvater befreundete Pfarrer dem Paar den Segen spenden.
Dem Pastor gebührte in diesem Fall der Vortritt, denn er war der Onkel der Braut.
Vor ihm knieten also Mann und Frau, und er sprach mit angemessenem Ernst das Ehegelöbnis.
Carl Hendryk Mansel hatte bereits sein Ja mannhaft und entschlossen gesprochen, nun war sein zukünftiges Weib aufgefordert, die rechte Antwort zu geben.
»Hast du, Leonora Maria Gutermann, vor Gott dein Gewissen geprüft, und bist du frei und ungezwungen hierher gekommen, um mit diesem deinem Bräutigam die Ehe einzugehen?«
»Ja, das bin ich!«, sagte die Braut mit klarer Stimme. Ihre Haltung war so gefasst, wie man es sich nur wünschen konnte; sie neigte nicht zu Tränen oder Rührseligkeit.
»Bist du gewillt, deinen künftigen Gatten zu lieben, zu ehren und ihm zu gehorchen?«, lautete die nächste Frage, doch diesmal schob sich das Kinn der Braut ein wenig vor, und der Tonfall, in dem sie antwortete: »Mit Gottes Hilfe, ja!«, gab zu einem plötzlichen Geraune Anlass. Den verdutzten Gesichtern der Anwesenden sah man an, dass sie zu mutmaßen begannen, der Allmächtige möge ihr dazu wohl großen Beistand zu leisten haben. Und der Bräutigam bezweifelte plötzlich, ob die Fassade der vollkommenen Dame, die er soeben zu ehelichen im Begriff war, möglicherweise Risse bekommen könnte, wenn es um Fragen des Gehorsams ging. Er wirkte einen Augenblick lang irritiert, setzte dann aber wieder eine gleichmütige Miene auf.
Auch Pastor Merzenich mahnte die Braut mit strengem Blick, fuhr aber unbeirrt in der Zeremonie fort und hatte sie nach wenigen weiteren Segensworten beendet.
»Und nun, lieber Hendryk, dürfen Sie die Braut küssen«, schloss er mit einem feinen Lächeln auf seinen hageren Zügen.
Doch dazu sollte es nicht kommen, denn gerade als der Bräutigam die leicht verkniffenen Lippen seiner jungen Frau berühren wollte, geriet er durch einen heftigen Stoß aus dem Gleichgewicht und strauchelte gegen den Tisch mit der Hochzeitstorte. Die Braut selbst klammerte sich an dem Pastor fest, der Kronleuchter klirrte und schwankte, das Porzellan auf der langen Tafel klapperte, und in den Aufschrei der Gäste und Bediensteten mischte sich ein dumpfes Grollen, das aus der Erde klang.
Nur wenige Sekunden indes dauerte das Ereignis, dann war der Spuk vorbei, und nur der hin und her pendelnde Leuchter erinnerte an das unerwartete Beben.
Gustav Gutermann, der Brautvater, hatte sich als erster gefasst. Er sank auf die Knie, zog den abgegriffenen Rosenkranz aus der Jackentasche und begann zu beten. Weitere Gäste fielen in seinen monotonen Singsang ein, und bald lagen fast alle auf den Knien und folgten seinem Beispiel.
Nicht jedoch Pastor Merzenich, nicht der protestantische Bräutigam.
Und nicht die Braut.
»Leonora!«, mahnte Gutermann zwischen zwei Ave Marias.
»Nein, Vater, ich werde daran nicht mehr teilnehmen. Ich bin gestern konvertiert.«
Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit fragte sich der frischgebackene Ehemann, was er da wohl für einen unüberlegten Schritt getan hatte.
Für alle anderen Anwesenden übertraf diese Offenbarung sogar noch das Erdbeben. Ein allgemeines Gemurmel wurde laut, und das gemeinsame Gebet war vergessen.
»Leonora!«, donnerte Gutermann, und die Angesprochene reckte das Kinn kampfbereit vor. Doch bevor sie etwas nicht Wiedergutzumachendes erwidern konnte, sprang Pastor Merzenich ein.
»Ich selbst habe es angeregt, Gustav, denn es ist für alle Teile besser, wenn die eheliche Gemeinschaft sich in Glaubensfragen einig ist. Leonora hat die christlichen Regeln meiner Konfession als für sich annehmbar erachtet und ist freiwillig und mit freudigem Herzen übergetreten. Sie ist eine erwachsene, mündige Frau, und du wirst ihre Entscheidung billigen müssen.«
Der Brautvater wollte zu einer Entgegnung ansetzen, die vermutlich die Stimmung weiter getrübt hätte, wäre in diesem Augenblick nicht die Hochzeitstorte umgekippt und zu Boden gestürzt. Das aufwändige Meisterwerk der Konditorkunst lag nun als ein unförmiges Häuflein Sahne, Biskuit und Erdbeeren auf dem kostbaren Perserteppich, und lediglich die zehnjährige Rosalie begrüßte diese Katastrophe mit einem freudigen Aufjauchzen. Sie sprang herbei, kniete auf dem Teppich und vergrub ihre Hände in dem süßen Trümmerhaufen. Nachdem sie sich Früchte und Krümel in den Mund gestopft hatte, lief sie mit sahneverschmierten Teigstücken zu der Braut und bot ihr den klebrigen Matsch mit einem strahlenden Lächeln an.
»Rosalie, bitte!«
Scharf wurde sie abgewiesen, doch ihr Lächeln erlosch dadurch nicht. Sie reichte ihre Gabe an den Bräutigam weiter, der nicht recht wusste, wie er sich verhalten sollte.
»Edith, schaff dieses Kind hier raus und sieh zu, dass es sich wäscht!«, ordnete Leonora mit strenger Stimme an.
Eine nicht mehr ganz junge Frau, deren schiefe Schulter ihr ein gedrungenes Aussehen gab, nahm Rosalie am Arm und sagte: »Lass deine Schwester in Ruhe. Du beschmutzt ihr schönes neues Kleid.«
»Die Erde hat gewackelt, Tante Edith. Und die Torte ist umgefallen.«
»Ja, das haben wir gesehen!«
»Hast du das auch gemerkt, Onkel? Die Erde hat gewackelt. Und die Torte ist umgefallen.«
»Ja, Kind. Aber nun geh mit deiner Tante.«
Rosalie machte ein paar Schritte, blieb dann aber vor dem Trauzeugen stehen, einem gut aussehenden Offizier, Freund des Bräutigams, und erklärte auch ihm, was geschehen war.
»Wirst du wohl sofort Tante Edith folgen!«, fauchte die Braut und schubste das Mädchen grob Richtung Tür.
Hendryk Mansel kamen die nächsten Zweifel, ob seine Wahl eine gute war. Denn im Umgang mit Kindern schien seine Angetraute nicht viel Geduld an den Tag zu legen. Er seufzte kaum hörbar. Manche Pläne sollte man vermutlich doch etwas gründlicher durchdenken.
»Ich glaube, es wäre für alle Beteiligten das Beste, wenn Sie auf weitere Geselligkeiten verzichteten und den Weg in Ihr Heim antreten würden«, murmelte der Pastor neben ihm. »Es hat genug Aufruhr gegeben.«
»Da haben Sie wohl Recht, Pastor. Frau Mansel, würden Sie sich zum Aufbruch bereit machen?«
»Natürlich, Herr Gemahl!«
In untadeliger Haltung verabschiedete sich Leonora von ihrer Familie, um dann ein letztes Mal ihr Zimmer aufzusuchen und das blauseidene Festtagskleid gegen ein tannengrünes Reisekostüm zu wechseln. Sie steckte eben die Haare fest, um eine passende grüne, rosa paspelierte Schute aufzusetzen, als ihre Cousine Edith in den Raum trat.
»Die Farbe steht dir nicht«, stellte sie trocken fest.
»Ich weiß. Aber es ist ein Geschenk meiner Stiefmutter.«
»Aha.« Edith nickte verstehend und meinte dann mit weiterhin nüchterner Stimme: »Das mit der Konvertierung war wohl unvermeidbar, aber das Erdbeben war überflüssig, Leonie!« Dabei knüpfte sie die breite Schleife unter dem jetzt nicht mehr trotzigen, sondern nur mädchenhaft spitzen Kinn der Braut zurecht.
Ein freudloses Lachen antwortete ihr.
»Keine gelungene Hochzeit, nicht wahr?«
»Nein, sicher nicht das rauschendste Fest. Aber du bist nun eine verheiratete Frau und kannst dein eigenes Leben leben.«
»Wir werden sehen. Danke, Cousine Edith!« Leonie umarmte die Buckelige und drückte sie eng an sich. »Ich habe Angst!«
»Ich weiß. Aber bedenke, es ist das kleinere Übel!«
Die junge Frau bezwang ihr undamenhaftes Zittern und straffte sich.
»En avant!«
Im Hof standen der Bräutigam und sein Trauzeuge, der Leutnant Ernst von Benningsen, neben der Reisekutsche, die bereits mit ihrem Gepäck beladen war. Der Offizier war ein gut aussehender, hochgewachsener Mann mit einem schmucken Backenbart, der jedoch nur zum Teil die Narben einer üblen Brandverletzung auf seiner Wange verbergen konnte. Hendryk Mansel, vielleicht sogar noch ein wenig größer als er, konnte ebenfalls als gut aussehender Mann gelten, doch gab ihm eine schwarze Klappe über dem rechten Auge ein seltsam verwegenes Air. Bei einem Blick in das spiegelnde Glas des Kutschfensters, in dem ihrer beider Gesichter zu sehen waren, murmelte er bitter: »Ein hübsches Paar geben wir ab!«
»Wir? Oder meinst du dich und deine Frau? Sie ist wahrhaftig der hübschere Teil dieser Verbindung, Hendryk.«
Der schnaubte kurz.
»Ihr Aussehen mag sein, wie es will, ich hoffe, sie besinnt sich wieder auf ihr Benehmen als Dame. Bisher hatte ich sie für recht angenehm erzogen gehalten, aber vorhin hat sie mich etwas enttäuscht.«
»Du bist ein kalter Hund, Hendryk. Gestehe einer Dame, so untadelig sie auch sonst sein mag, an ihrem Hochzeitstag - mit Erdbeben - ein wenig angegriffene Nerven zu. Sie hat trotz allem eine gute Haltung bewiesen, und du solltest dich auf deine besinnen. Es war schließlich deine Idee, um sie anzuhalten.«
Ein Schlag auf die Schulter ließ den Leutnant zusammenzucken, aber ein kleines Lachen milderte die Geste.
»Touché, mein Freund. Und nun leb wohl. Denn hier kommt die Braut. Wir sehen uns die nächsten Tage gewiss.«
Leonie nahm ihren Platz in Fahrtrichtung der Kutsche ein und legte die behandschuhten Hände ruhig im Schoß zusammen. Sie saß sehr aufrecht und vermied es, sich mit dem Rücken an das Polster zu lehnen, wie sie es von Kindheit an gelernt hatte. Ihr Gatte setzte sich ihr gegenüber, legte seinen Zylinder neben sich auf das Polster und machte es sich in etwas legererer Haltung bequem. Das Gefährt ruckte an, und man rollte auf die Straße. Die junge Braut hielt ihren Blick auf ihre Hände gerichtet und erwiderte nicht die Abschiedsrufe und das Winken ihrer Angehörigen.
»Ist alles zu Ihrer Bequemlichkeit, Madame?«, erkundigte sich Mansel höflich.
»Danke, ja.«
»Wir haben eine etwa drei- bis vierstündige Fahrt vor uns. Wünschen Sie unterwegs eine Pause einzulegen?«
»Danke, nein.« Dann aber fügte sie mit einem schuldbewussten Ausdruck hinzu: »Ich hoffe, Sie tragen es mir nicht zu sehr nach, dass die Feierlichkeit durch mein Verschulden nun ein schnelles Ende gefunden hat, Herr Mansel.«
»Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken darüber. Der Erdstoß hat Verwirrung angerichtet. Doch sollten Sie zukünftig ähnlich drastische Schritte wie einen Konfessionswechsel - eine Tatsache, die ich natürlich nicht bedauern kann - vornehmen, sollten Sie mich bitte vorab darüber informieren.«
»Selbstverständlich.«
Leonie wusste, sie wirkte wortkarg, und nach einigen Minuten besann sie sich auf die Kunst der Konversation.
»Steht zu befürchten, dass Ihr Haus in Köln Schaden durch das Erdbeben genommen hat, Herr Mansel?«
»Nein, ich denke, da kann ich Sie beruhigen. Dererlei tektonische Ereignisse sind in unseren Breiten sehr lokal begrenzt. Vermutlich hat man dort noch nicht einmal ein leises Vibrieren wahrgenommen.«
Ein winziges Aufblitzen in den Augen seiner Gattin überraschte ihn, mehr noch die nächste Frage.
»Auch der Bau der Eisenbahnlinie wird vermutlich nicht davon tangiert sein, möchte ich dann annehmen.«
»Nein, gewiss nicht. Es ist ja, außer der Vermessung der geplanten Trasse und allerersten Schachtungsarbeiten, noch nichts geschehen.«
»Was aber würde passieren, Herr Mansel, wenn die Gleise bereits lägen und eine Lokomotive führe mit hoher Geschwindigkeit darüber?«
»Bei dieser Stärke des Bebens, denke ich, würde man annehmen, wie auch in dieser Kutsche, es habe eine Unebenheit des Geländes vorgelegen. Kräftigere Beben allerdings könnten den Gleiskörper schädigen und womöglich die Wagen zum Entgleisen bringen. Aber ich will Sie nicht ängstigen, Madame. Derartige Beben sind hier nicht zu erwarten.«
»Ich ängstige mich nicht, es war reine Wissbegier. Verzeihen Sie meine Neugier.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen, fragen Sie nur, was Sie wissen wollen.«
Da ihr Gegenüber sich ihr während ihrer kurzen Verlobungszeit als angenehmer Gesprächspartner empfohlen hatte, wagte Leonie also, weitere Fragen zum wissenschaftlichen Thema der Erdbebenkunde zu stellen, denn sie wusste, dass ihr Gatte, als Geodät und Geologe tätig, eine fundierte Kenntnis über diese Thematik besaß. Während des gelehrten Exkurses über neptunistische und vulkanologische Theorien der Erdgeschichte verlor sich dann auch allmählich ihre innere Anspannung.
Sie setzte schlagartig wieder ein, als sie schließlich ihr Heim in der Hohen Straße erreichten. Es war eines der vielen neuen Häuser, die in den vergangenen Jahren entstanden waren, seit Köln unter der preußischen Herrschaft, wenn auch zunächst zögerlich, einen beträchtlichen wirtschaftlichen Aufschwung genommen hatte. Es war, anders als die alten Stadthäuser mit ihren vorkragenden Obergeschossen, ein helles, dreistöckiges Gebäude, das wie so viele in der Nachbarschaft zur Straßenfront in jeder Etage drei große Fenster aufwies, im ersten Stock sogar einen hübschen Erker. Leonie hatte es bereits im April einmal in Begleitung ihrer Stiefmutter besucht, jedoch noch nicht alle Räume betreten.
Die Dämmerung hatte sich bereits breitgemacht, und das helle Licht der modernen Gaslampe empfing sie in der Eingangshalle. Hier warteten auch die Haushälterin Jette und ihr Mann Albert auf die Frischvermählten. Mit einem tiefen Knicks, doch ohne Lächeln, hieß Jette die Hausherrin willkommen, Albert hingegen verband seine Verbeugung mit einem freundlichen Lächeln und sprach die passenden Glückwünsche aus.
»Bringen Sie das Gepäck nach oben, aber kümmern Sie sich noch nicht um das Auspacken, Albert. Wir werden uns sogleich zurückziehen. Es war ein anstrengender, langer Tag«, beschied ihn Mansel und wies seiner Frau den Weg zur Treppe.
»Sehr wohl, gnädiger Herr. Wünscht die gnädige Frau noch Ursels Dienste?«
»Nein, lassen Sie das Mädchen schlafen«, wehrte Mansel statt ihrer ab.
»Sie haben eine Zofe für mich eingestellt?«, fragte Leonie einigermaßen erfreut, als sie das Wohnzimmer betraten.
»So kann man es sehen. Ursel und ihr Bruder Lennard sind Mitglieder des Haushalts und haben gewisse Pflichten zu übernehmen. Aber ich muss Sie bitten, nicht zu viel zu erwarten. Sie sind noch sehr jung, wenngleich durchaus aufgeweckt und folgsam. Ursel wird sich um Ihre - mhm - Effekten kümmern, Lennard nehme ich in meine Obhut. Lernen Sie das Mädchen an, Ihnen zur Hand zu gehen.«
Sie nickte zustimmend. Ein junges Ding in einfachen Zofendiensten zu unterweisen sollte keine allzu schwierige Aufgabe sein. Müßig sah sie sich in dem Raum um. Anders als andere junge Paare hatten nicht sie und ihre Eltern das gemeinsame Heim eingerichtet, sondern Hendryk Mansel hatte dieses Haus samt seinem Inventar von einem plötzlich gescheiterten Kaufmann erworben und keinerlei Anlass gefunden, am Interieur Wesentliches zu ändern. Es war modern und praktisch möbliert, die Räume in gefälligen Farben gehalten. Man mochte das eine oder andere in ein besseres Licht rücken, ihm eine persönlichere Note geben, aber dazu würde es in den nächsten Wochen und Monaten Zeit genug geben.
Wenn sie denn die nächste Prüfung überstand.
»Wünschen Sie noch eine leichte Erfrischung? Ein Glas Wein vielleicht oder einen Likör?«
Ihr Gatte war höflich, natürlich. Aber Leonie stand nicht der Sinn danach, etwas zu sich zu nehmen.
»Danke, nein.«
»Dann werde ich Jette bitte, Ihnen die oberen Räume zu zeigen.«
»Ja, danke.«
Er läutete, und die Haushälterin erschien umgehend.
»Begleiten Sie die gnädige Frau nach oben, Frau Jette, und gehen Sie ihr zur Hand.«
»Natürlich, gnädiger Herr. Wenn ich bitten darf, gnädige Frau!«
Leonie folgte der Hausdame, die ihr voran mit einem Licht die Treppe emporstieg und dann eine der Türen öffnete.
»Das Schlafzimmer. Die linke Tür führt in Ihr Boudoir, die rechte zum Ankleidezimmer des gnädigen Herrn.«
Ein großes Bett, mit blütenweißer Wäsche bezogen, war bereits aufgeschlagen, ihre kleine Reisetasche ausgeräumt. In dem Boudoir fand sie ihr Nachthemd bereitgelegt und die Waschschüssel mit dampfendem Wasser gefüllt.
»Kann ich Ihnen noch bei irgendetwas behilflich sein?«
»Wenn Sie so gut wären, die Häkchen an meinem Kleid zu öffnen!«, bat Leonie und legte die Schute ab. Die kleine Handreichung war schnell getan, und als sie aus dem steifen Kleid stieg, entließ sie die Haushälterin mit einem kurzen Nicken. Das enge Mieder schnürte sie selbst auf und entledigte sich seiner mit einem leichten Seufzen. Der Druck auf ihre Rippen hatte nachgelassen, der Druck auf ihren Magen blieb. Sie setzte sich auf den Hocker vor dem Frisiertisch und legte den Kopf in die Hände. Es war ein langer, schwieriger Tag gewesen, doch er war noch nicht vorbei. Das Schlimmste stand ihr noch bevor. Sie wusste, was sie erwartete, und das Grauen schnürte ihr die Kehle zu. Hätte sie noch irgendeinen Glauben gehabt, hätte sie vielleicht beten können. Aber sie hatte nicht nur die katholische Kirche verlassen, sie hatte weit mehr Türen hinter sich zugeschlagen, als ihre Angehörigen wussten. Eine Weile saß sie wie versteinert da, dann aber hörte sie ihren Gatten in das Nachbarzimmer treten und noch einige Worte mit Albert wechseln. Mit großer Willensanstrengung riss sie sich zusammen und begann mit der Nachttoilette. Schließlich bürstete sie mit einigen energischen Strichen ihre langen, widerspenstigen Locken und flocht sie zu einem festen Zopf.
Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie würde auch die Konsequenzen tragen. Wie immer diese aussehen mochten. Es mochte das kleinere Übel sein - ein Übel war es aber dennoch.
Als sie das Schlafgemach betrat, war Mansel in seinem Ankleideraum verschwunden. Zitternd legte sie sich unter die Decke und schloss die Augen. Vielleicht würde er so höflich sein, anzunehmen, der Schlaf habe sie bereits übermannt.
Er schloss wenig später die Tür hinter sich, ging zum Fenster, zog die Portieren zurück und öffnete es weit. Ein kühler Luftzug streifte Leonie, und unwillkürlich sah sie zu ihm hin.
»Ich schätze es, bei geöffnetem Fenster zu schlafen. Wenn Sie ein Problem darin sehen, Madame, empfehle ich Ihnen eine warme Nachthaube.«
Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern löschte das Licht. Dann legte er sich in seine Hälfte des Bettes, zog die Daumendecke über sich und drehte ihr den Rücken zu.
Ganz allmählich ließ das Zittern nach, und Leonie entspannte sich ein wenig. Es schien, als wolle ihr Gatte ihr die Gnade eines Aufschubs erweisen und in dieser Nacht nicht auf der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten bestehen.
Die Erschöpfung überwältigte sie und ließ sie in einen tiefen Schlummer fallen.
Als sie am Morgen erwachte, war das Fenster geschlossen und das Bett neben ihr leer.
Sein Alltag
DRINGEND RATE ICH DAHER, BEI DEM ERSTEN SCHATTEN VON UNZUFRIEDENHEIT ÜBER EIN BETRAGEN DES FREUNDES NICHT ZU SÄUMEN, OHNE ZUTUN EINES DRITTEN, AUF ERLÄUTERUNG ZU DRINGEN.
Freiherr von Knigge: Über den Umgang unter Freunden
Hendryk Mansel hatte den Vormittag damit verbracht, die Baustelle zwischen Brühl und Bornheim zu inspizieren, wo derzeit die Schachtungsarbeiten für die neue Trasse der künftigen Eisenbahnlinie zwischen Bonn und Köln im Gange waren. Unzählige Arbeiter stachen Grassoden, stießen ihre Spaten in den steinigen Boden, schaufelten das Material in die bereitstehenden Schubkarren, die wieder von anderen im Laufschritt zu den aufzuschüttenden Wällen gefahren wurden. Eine Knochenarbeit, an der sich gelegentlich auch kräftige Frauen beteiligten. Manchmal sogar Kinder.
Er selbst prüfte die Landmarkierungen auf ihre Übereinstimmung mit dem Streckenplan, denn nicht immer konnte man davon ausgehen, dass der Vorarbeiter sie korrekt einhielt. Zudem wurde auch schon mal Schabernack getrieben - oder es war Böswilligkeit im Spiel. Nicht alle waren davon überzeugt, dass es sich bei der Eisenbahn um eine fortschrittliche Errungenschaft handelte, und in den vergangenen Jahren hatte er selbst einige unglaubliche Diskussionen erlebt. Gerade wieder hatte sich der Dorfpfarrer von Bornheim ihm gegenüber wortgewaltig gegen das Teufelswerk ausgelassen und sogar das leichte Erdbeben zum Anlass genommen, darin den Fingerzeig Gottes gegen den geplanten Verkehrsweg zu sehen. Mit stoischer Geduld hatte er dem aufgebrachten Pfaffen zugehört, seine Beschimpfungen über sich ergehen lassen und ihm dann mit kühler preußischer Manier anempfohlen, ein Schreiben an die Direktoren der Gesellschaft zu schicken. Er erfülle nur seine Pflicht als Vermesser und könne über himmlische Weisungen nicht entscheiden. Dann hatte er sich wieder auf den Bock seines Phaetons geschwungen und war nun im hellen Frühlingssonnenschein auf dem Weg zurück nach Köln. Doch das lichte Grün der Bäume, die üppig schäumende Apfelblüte, den azurblauen Himmel mit seinen Federwölkchen nahm er nicht wahr. Seine Gedanken wanderten zum Beginn des Jahres zurück, als er die denkwürdige Entscheidung getroffen hatte, eine Vernunftehe einzugehen.
Seine Vermessungstätigkeit und seine dabei an den Tag gelegte Zielstrebigkeit bei der inzwischen fertiggestellten Strecke Aachen - Köln hatte Hendryk Mansel qualifiziert, auch den Auftrag der Bonn-Kölner Eisenbahngesellschaft anzunehmen. Man war durchaus angetan von seinen Kenntnissen und bot ihm ein recht anständiges Gehalt. Damit verbunden war sein endgültiger Umzug nach Köln, was seinen langfristigen Plänen entsprach.
Er enttäuschte auch hier seine Auftraggeber nicht, außer vielleicht darin, dass er ein wenig geselliger Typ war. Nur selten nahm er an den Veranstaltungen teil, die in regelmäßigen Abständen stattfanden, um einerseits das Projekt der Bürgerschaft vorzustellen, aber auch um Gelder und Aktionäre zu werben. Bei einer dieser Gesellschaften, einem Wohltätigkeitskonzert, um dessen Besuch er sich nicht hatte herumdrücken können, lernte er Leonora Gutermann kennen. Man hatte ihn ihr an jenem Januarnachmittag vorgestellt und dabei erklärt, sie sei die Tochter des Rentiers und Eisenbahnaktionärs Gustav Gutermann, eines jener Gäste, die es besonders zu hofieren galt. Er fand sie auf den ersten Blick nichtssagend, wenn nicht gar fade, aber von stiller Höflichkeit. Pflichtgemäß hatte er mit ihr Konversation betrieben und dabei einen nicht unangenehmen Eindruck von ihrer Bildung gewonnen. Er war nachdenklich nach Hause zurückgekehrt und hatte in der Folge weitere Geselligkeiten aufgesucht, denen sie ebenfalls beiwohnte. Zwei Dinge gaben schließlich den Ausschlag, dass er vorsichtig das Terrain sondierte. Zum einen klang in seinen Ohren das beharrliche Gerücht, Gutermann biete sein überreifes Fräulein Tochter auf dem Heiratsmarkt schon seit einiger Zeit wie sauer Bier an, und zum anderen gefiel ihm die ausgesucht kultivierte Contenance, die die junge Frau an den Tag legte. Sie verhielt sich freundlich, aber zurückhaltend, wenn nicht sogar ein wenig spröde, was ihm aber bei Weitem mehr entgegenkam als die romantischen Gefühlswallungen jüngerer Damen. Diskrete Erkundigungen ergaben, Leonora habe das fünfundzwanzigste Lebensjahr schon erreicht, ohne jemals auch nur an eine Verlobung gedacht zu haben. Desgleichen erfuhr er, die Vermögensverhältnisse Gutermanns seien nicht so üppig, dass eine reiche Mitgift zu erwarten war. Aber dieser Punkt hatte für ihn wenig Relevanz. Auch in ihrem katholischen Glauben sah er keinen Hinderungsgrund.
Hendryk Mansel brauchte eine Ehefrau, aus den verschiedensten Gründen. Geld war keiner davon. Liebe auch nicht. Aber eine untadelige Dame, die seinem Haushalt vorstand und die Aufgaben in seinem Heim sorgfältig erledigte, würde seine Situation deutlich verbessern.
Also legte er an einem Sonntagvormittag im frühen März die korrekte Besuchskleidung an und sprach im Hause Gutermann vor.
Der Vater hatte Mühe, seine Begeisterung zu verbergen, die ihm der Antrag des verdienstvollen Geodäten entlockte, was Mansel mit heimlicher Belustigung registrierte. Es war ihm durchaus klar, Leonora hätte eine bessere Partie machen können. Unter strengen Gesichtspunkten galt er nämlich nicht als idealer Herr, da er für seinen Lebensunterhalt selbst zu arbeiten pflegte.
Auf die Reaktion der Tochter war er daraufhin milde gespannt. Würde sie sich ebenfalls erfreut zeigen oder trotzig ihre Einwilligung verweigern? Beides lag im Bereich des Möglichen.
Vielleicht hatte er sogar eine heftigere Regung erhofft, denn ihre kühle, höfliche Zusage wirkte seltsam ernüchternd auf ihn, wenngleich er nichts an ihrem Benehmen beanstanden konnte.
Man verkündete die Verlobung am Ostersonntag. In der Woche darauf hatte er das Haus gekauft und war von seiner kleinen Mietwohnung dorthin umgezogen. Zwei Tage später hatten sich Jette und Albert, die er bereits in Aachen schätzen gelernt hatte, eingefunden, um das Hauswesen in Ordnung zu halten.
Seine Arbeit ließ es nicht zu, allzu viel Zeit mit seiner Verlobten zu verbringen, was sie nicht einklagte, sondern nur einmal die Erlaubnis erbat, vor der Hochzeit noch einen Monat in Königswinter bei ihrem Onkel, dem Pastor Merzenich, verbringen zu dürfen.
Nun waren sie verheiratet. Zu ungünstigen Eindrücken, wie er sie von seiner Frau bei der Trauung gewonnen hatte, hatte es bisher keine weiteren Anlässe gegeben. Weder gab sie sich trotzig, noch widersprach sie seinen Wünschen oder stellte Forderungen. Vielleicht könnte ihr Ton den Kindern gegenüber etwas herzlicher sein, aber er war bereit, ihr da ein wenig Zeit einzuräumen.
Die Fortifikationsanlagen Kölns kamen allmählich in sein Blickfeld, und er zog die Taschenuhr hervor. Kurz vor vier - nun, er würde noch im Kontor vorbeischauen, und vielleicht ergab sich sogar noch eine Gelegenheit, sich mit Ernst auf einen Kaffee zu treffen.
Der Leutnant hat eine ausgesprochene Vorliebe für meine Gattin entwickelt, stellte er fest und wunderte sich ein wenig darüber. Denn hübsch war sie eigentlich wirklich nicht zu nennen. Sie fasste ihre hellbraunen Haare straff zusammen, was ihr ovales Gesicht sicher auf die richtige Weise betonte, aber ihre Lippen waren für das gängige Schönheitsideal zu breit. Möglicherweise gab sie ihnen deswegen häufig einen verkniffenen Zug. Ihre Figur war eher zierlich, jedoch schien sie wenig Wert auf die modisch eng geschnürte Taille zu legen. Immerhin hatte sie eine klare, reine Haut und lange, gebogene Wimpern, deren Spitzen golden schimmerten. Er hatte sie diesen Morgen eine Weile betrachtet, als sie, noch schlafend, neben ihm lag. Eigentlich waren auch ihre Augen ausdrucksvoll, von einem helleren Braun als das seine, doch sie hielt sie zumeist sittsam niedergeschlagen. Nur ihre Hände waren wirklich schön - langgliedrig, schmal und von gepflegter Zartheit.
Sie hatten ihn noch nie berührt.
Und das war ganz in seinem Sinne.
In den Räumlichkeiten, in denen die zwei Landvermesser, die Hendryk Mansel angestellt hatte, ihre Unterlagen erstellten, polterte der Oberbergamtsrat von Alfter herum. Als er Mansels ansichtig wurde, hielt er in seiner Tirade inne, die er auf die beiden Angestellten hatte herunterprasseln lassen, und hub zu einem neuen Thema an.
»Mensch, Mansel! Endlich erwischt man Sie mal. Wann immer man Sie braucht, heißt es hier, Sie seien unterwegs!«
»Guten Tag, Herr Oberbergamtsrat. Schön, Sie zu sehen. Was kann ich denn für Sie tun? Haben meine Leute Ihnen keine Auskunft geben können?«
»Doch natürlich. Gute Männer, die. Durchaus sachkundig. Aber man braucht auch Sie, Mansel.«
»Ich habe die Strecke kontrolliert. Sie wissen, wir hatten hin und wieder Probleme. Und dann war da das Erdbeben.«
»Klar, sicher doch, sicher doch. Aber das war ja nun wirklich kein Grund, sich vor der Soiree bei Jacobs zu drücken. Der Mann ist ein Pfeffersack, wie er im Buche steht. Wir brauchen solche Leute. Kapitalgeber, verstehen Sie?«
»Natürlich, Herr Oberbergamtsrat. Nur denke ich, es gibt größere Diplomaten als mich, um diesen Herrn von der Zeichnung von Aktien zu überzeugen.«
»Schon, schon. Aber er hat seine zweite Frau vorgestellt. Charmantes Persönchen, aber bisschen fremd hier. Stammt aus Ägypten. Da hätten Sie heimatliche Gefühle wecken können, Mansel. Sie haben doch einige Zeit dort verbracht!«
»Bedaure, nein. Meine Erfahrung mit dem Orient sammelte ich in Algerien, Herr Oberbergamtsrat.«
»Algerien! Ägypten! Muselmanische Länder allesamt und nicht sehr sauber, wie ich hörte. Aber egal, Sie haben sich wieder einmal gedrückt. Und ich verlange eine vernünftige Erklärung dafür!«
»Nun, ob es vernünftig war oder nicht, wird sich zeigen, Herr Oberbergamtsrat. Ich feierte just an diesem Tag meine Hochzeit. Ich sandte Ihnen kürzlich eine Anzeige!«
Der beleibte Amtsrat lief dunkelrot an, schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn und brüllte auf: »Mann Gottes, Junge, das habe ich glatt vergessen. Verdammt, wie konnte ich!« Ein donnernder Schlag auf seinen Rücken brachte Mansel fast aus dem Gleichgewicht, und die beiden Angestellten drehten sich feixend zum Fenster. »Meine allerherzlichsten Glückwünsche, mein Freund, meine allerherzlichsten. Auch an die werte Frau Gemahlin. Junge, warum sind Sie dann überhaupt hier? Sie sollten die süßen Tage der ersten Liebe mit Ihrem Weib verbringen und nicht auf staubigen Baustellen herumkriechen.«
»Nun, Frau Mansel ist eine sehr verständige Dame und versteht, dass mich gewisse Pflichten vom Haus fernhalten!«
»Ah, ein treffliches Weib. Gutermanns Tochter, nicht wahr? Hab Sie doch selbst mit ihr bekannt gemacht. Kluger Entschluss, sie zu heiraten, Mansel. Wenn auch ein bisschen überstürzt. Na, was soll’s, sie ist ein freundliches Ding, und eben auch nicht mehr die Allerjüngste. Wann empfangt Ihr Besuche, Mansel? Frau von Alfter und ich werden ihr selbstverständlich unsere Aufwartung machen. Müssen uns doch um das Frauchen kümmern, sie in die richtigen Kreise einführen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Oberbergamtsrat, doch sehen Sie, wir befinden uns erst seit zwei Tagen im Stand der Ehe, und manche Dinge, wie etwa Besuchstage und dergleichen, müssen wir noch regeln. Aber ich gebe Ihnen selbstverständlich Bescheid, wenn Frau Mansel sich eingerichtet hat.«
»Natürlich, natürlich, natürlich. Und nun sehen Sie, dass Sie nach Hause kommen, mein Junge. Ich verabschiede mich auch. Nein, nein, begleiten Sie mich nicht hinaus.«
Als der wortgewaltige Herr aus der Tür gewalzt war, setzte Hendryk Mansel sich erst einmal auf einen der hölzernen Hocker vor den Kartentischen. Seine Angestellten schenkten ihm ein mitleidiges Grinsen, das er schwach erwiderte.
»Was wollte er eigentlich?«
»Die Alternativpläne zu dem Mauerdurchstich. Offensichtlich haben die Herren vom Militär wieder neue Bedenken, was die Gleisführung betrifft.«
»Schon wieder. Aber Sie haben ihm vermutlich die Unterlagen gezeigt, die wir auf Basis der letzten Vermessungen angefertigt haben.«
Sie fachsimpelten eine Weile, dann verabschiedete Mansel sich und suchte das Caféhaus an der Brückenstraße auf. Hier fand er einen freien Platz und eine Tageszeitung, die er zu seinem Getränk zu lesen gedachte. Ein recht umfangreicher Artikel beschäftigte sich mit dem Eisenbahnunglück in Frankreich am achten Mai. Dort war ein Personenzug von Versailles nach Paris nach einem Achsbruch an der Vorspannmaschine entgleist, und an die fünfzig Menschen verbrannten, da die Lok umkippte, die hölzernen Wagen des Zuges auffuhren und von den glühenden Kohlen aus der Feuerbüchse in Brand gesetzt wurden. Die Abteiltüren waren aus Sicherheitsgründen abgeschlossen, weshalb sich viele Reisende nicht mehr rechtzeitig retten konnten.
Das wird wieder Wasser auf die Mühlen der Eisenbahngegner bringen, dachte Hendryk Mansel. Nichtsdestotrotz sollte man aus diesen Vorfällen lernen. Zum Beispiel dürften die Türen nicht verschlossen werden. Aber Unglücke und Katastrophen gab es auch aus anderen Gründen. So hatte zum nämlichen Zeitpunkt in Hamburg ein gewaltiger Brand gewütet, der ein Viertel der Stadt zerstört hatte. Auch hier waren fünfzig Menschen ums Leben gekommen.
Er legte die Zeitung nieder, um einen Schluck Kaffee zu nehmen. Dabei sah er seinen Freund Ernst sich seinen Weg durch die Caféhaustische bahnen. Mit leichtem Amüsement stellte er fest, dass ihm die verstohlenen Blicke der anwesenden Damen folgten. In seiner schwarzen Uniform mit den roten Aufschlägen, wie sie die Soldaten des Regiments Lützow traditionell trugen, bot er aber auch ein beeindruckendes Bild. Er winkte ihm dezent zu, und Ernst trat an seinen Tisch.
»Ah, Hendryk, wie geht es dir?«
»Nicht zu schlecht. Es wird wieder Ärger mit den Bahngegnern geben. Und mit euch auch.«
»Hab schon gehört. Wegen des Mauerdurchstichs.«
Ernst bestellte seinen Kaffee, und eine Weile befassten die beiden sich mit den aktuellen Nachrichten. Dann aber fragte der Leutnant: »Und wie geht es deiner Frau, Hendryk?«
»Vermutlich gut.«
»Wie es sich für einen frisch verheirateten Mann gehört, eine geradezu enthusiastische Antwort.«
»Wenn sie dir nicht gefällt, frag nicht.«
»Ich frage doch, denn du kennst meine Haltung zu dem Thema.«
»Ja, du billigst mein Verhalten nicht.«
»Nein. Sie ist eine nette Person, die mehr als diese Scharade verdient hat. Du ziehst sie da in etwas hinein, das mit ihr nichts zu tun hat.«
»Ich werde sie auch daraus wieder entlassen, Ernst. Selbst unter Aufopferung meines untadeligen Rufes. Keine Sorge. Aber im Moment ist es so am besten.«
Sehr leise, sodass nur Hendryk es hören konnte, fügte Ernst aber hinzu: »Deine Mutter würde es gewiss nicht gutheißen.«
»Lass meine Eltern aus dem Spiel!«, flüsterte Hendryk ebenso lautlos zurück, und es hörte sich an wie ein bösartiges Zischen. Ernst ignorierte es und fragte in normaler Lautstärke nach: »Hättest du etwas dagegen, wenn ich euch gelegentlich besuche?«
»Du auch noch! Himmel, gerade hat von Alfter mir angedroht, uns samt seinem Weib heimzusuchen. Wir haben noch keinen Besuchstag!«
»Nun ja, Alfter ist ein Polterer, aber im Kern ganz liebenswürdig. Seine Gemahlin ist das, was du zu fürchten hast.«
»Ja, sie hat genauso viel Stroh im Kopf wie falsche Locken darauf. Und würde Leonora durch die gesamte Gesellschaft schleifen.«
»Und wenn schon? Sie wird etwas Abwechslung brauchen, Hendryk.«
»Sie hat das Haus und die Kinder. Aber du bist in meinem Heim natürlich immer ein gern gesehener Gast. Komm, wann immer du willst. Frau Jette ist eine passable Köchin.«
Ein weiterer Offizier nickte Ernst zu, und er erhob sich, um mit dem Kameraden einige Worte zu wechseln. Hendryk ließ er nachdenklich zurück. Die beiden Hinweise auf die Besuchsgepflogenheiten der guten Gesellschaft machten ihm klar, dass er da in seiner Planung ein weiteres Detail übersehen hatte. Natürlich musste er als verheirateter Mann mit seiner Frau zusammen einen gewissen gesellschaftlichen Umgang pflegen, wollte er nicht einflussreiche Leute verärgern. Es missfiel ihm jedoch außerordentlich, denn damit würde er seine wohl gepflegte Anonymität aufgeben. Aber möglicherweise fiel ihm dazu eine Lösung ein.
Was sehr viel unangenehmer an seinem Gewissen nagte, war der Hinweis auf die Missbilligung seines Verhaltens durch seine Mutter.
Ihr Alltag
GUTE HAUSWIRTSCHAFT IST EINES DER NOTWENDIGSTEN STÜCKE ZUR EHELICHEN GLÜCKSELIGKEIT.
Freiherr von Knigge: Von dem Umgange unter Eheleuten
Leonie saß im Wintergarten, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, und blickte auf die grünenden und blühenden Gärten hinaus, die sich erstaunlich großzügig hinter der Front der Häuser erstreckten. In den Zweigen der Bäume und Büsche tschilpten die unterschiedlichsten Singvögel, ein Eichhörnchen floh schimpfend vor einer schlanken, schwarzen Katze, die ihm in einem kühnen Sprung von der Mauer zum Nachbargrundstück nachsetzte. Eine Wolke Spatzen erhob sich daraufhin mit Gezeter und schwang sich in die blaue Luft auf.
Ihr Interesse an dem sicher sehr lehrreichen Buch über den Umgang mit Menschen, das der Freiherr von Knigge vor nunmehr fünfzig Jahren herausgegeben hatte, und das weder an Witz noch Weisheit und auch nicht an Frische verloren hatte, war erlahmt. Sie sann über den sie mehr persönlich betreffenden Umgang mit den Menschen ihres neuen Umfelds nach.
Einerseits war sie erleichtert, denn ihre allerschlimmsten Befürchtungen waren bisher noch nicht eingetreten. Ihr Gatte zeigte sich außergewöhnlich rücksichtsvoll und höflich ihr gegenüber, auch wenn sie seine distanzierte Haltung etwas verwunderte. Aber sie war selbstverständlich die Letzte, die derartig delikate Themen wie das Verhalten im ehelichen Schlafzimmer ansprechen würde. Ansonsten verließ er morgens das Haus, ehe sie sich erhob, kam aber zum abendlichen Mahl pünktlich heim und befleißigte sich dabei der liebenswürdigen Konversation. Er hatte ihr gewisse Regelungen im Haushalt völlig überlassen, ihr ein großzügiges Budget zur Verfügung gestellt, über dessen Verwendung er nur beiläufige Rechenschaft abgelegt zu bekommen wünschte, hatte keine Einwände gegen einige Veränderungen in der Einrichtung erhoben und ihr selbstverständlich gestattet, sich mit den Zeitungen und Zeitschriften zu vergnügen, die wöchentlich geliefert wurden. Auch das Personal war in ausreichender Form vorhanden, gut geschult und ging unauffällig den Pflichten nach, die sie allmorgendlich erteilte. Wobei sie allerdings das Gefühl hatte, die eigentlichen Fäden hielt Jette dabei in der Hand. Sie beaufsichtigte das Stubenmädchen und die Küchenhilfe, den Gärtner und die Waschfrauen. Als ein weitaus komplexeres Thema aber stellte sich die Einweisung der angehenden Zofe und des jungen Kammerdieners dar. Die beiden Kinder, die ihr Gatte ihr kurz als Ursel und Lennard vorgestellt hatten, waren lediglich zehn Jahre alt, Zwillinge mit flinken Augen und misstrauischen Blicken, deren eigentliche Stellung sie nicht recht zu ergründen wusste. Vormittags besuchten sie auf Weisung Mansels die Schule des Pfarrbezirks, in den Nachmittagsstunden hatten sie ihren häuslichen Pflichten nachzukommen, die auch hier weit mehr von Jette bestimmt wurden als von ihr. Leichte Bügelarbeiten, Wäsche falten, Schuhe putzen, Kleider ausbürsten und ähnliche passende Tätigkeiten erfüllten sie durchaus zur Zufriedenheit. Ursel war auch geübt darin, ihr beim Anlegen der Kleider zu helfen, ihre geschickten Finger konnten in Windeseile die vielen Häkchen und Knöpfe öffnen und schließen und sogar verwickelte Miederbänder entwirren. Aber sie war für ein Kind ungewöhnlich still, und bisher hatte sie außer »ja, gnädige Frau« und »nein, gnädige Frau« noch nicht viel von ihr gehört.
Ihr Ehemann hatte ihr keine Erklärung dazu abgegeben, warum diese Kinder mit im Haus wohnten - sie waren in einem der Mansardenzimmer untergebracht und hatten sogar einen kleinen Raum, in dem sie ihre Schularbeiten erledigen konnten. Dann und wann hatte sich Leonie einen heimlichen Blick auf sie erlaubt, denn auf eine unbestimmte Weise schienen die Geschwister Hendryk Mansel zu ähneln. Wenn sie diesen Gedanken weiterspann, hatte sie jedoch Mühe, eine aufsteigende Empörung niederzudrücken. Sollte er tatsächlich die Unschicklichkeit begangen haben, seine Bastarde mit in die häusliche Gemeinschaft aufzunehmen und ihr auch noch deren Erziehung zu überlassen?
Sie konnte sich auf Grund seines bisherigen korrekten Verhaltens eine solche Unziemlichkeit kaum erklären und rief sich zur Vernunft. Wahrscheinlich bildete sie sich die Ähnlichkeit nur ein, schließlich waren die Kinder beide blond, Mansels Haare jedoch von einem stumpfen Dunkelbraun. Ursel hatte zwar ebenso braune Augen wie er, Lennard jedoch verblüffte mit strahlend blauen Augen. Überhaupt war es vermutlich schlichtweg eine törichte Einbildung von ihr, denn ein Vergleich der Gesichtszüge fiel natürlich schwer. Ihr Gemahl pflegte einen modischen Kinn- und Oberlippenbart, der sein markantes Profil auf nicht unangenehme Weise betonte. Sie hatte ihn vom ersten Anblick an als attraktiv empfunden und sich auch nie von der Augenklappe abgestoßen gefühlt, obwohl er schon gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft ihre unausgesprochene Frage mit den Worten beantwortet hatte: »Ein bedauerlicher Unfall, meine Liebe. Beachten Sie es bitte nicht weiter.« Sie hatte natürlich seinem Wunsch Rechnung getragen und auch keine weiteren Nachforschungen über die Narbe auf seiner Hand und das leichte Nachziehen seines linken Fußes gestellt. Über vergangene Schmerzen zu sprechen, das wusste sie aus eigener Erfahrung nur zu gut, hieß nur wieder das Grauen aufleben zu lassen, das man durchlitten hatte.
Ihr Sinnen wurde durch eine ungewöhnliche Lautkulisse unterbrochen. Eiliges Füßetrappeln, eine schlagenden Tür, ein Quietschen, und dann das scheppernde Klirren zerbrechenden Porzellans. Danach absolute Stille.
Leonie stand auf und strebte zum Wohnzimmer.
Hier standen die Missetäter betreten vor den Scherben einer großen - sehr hässlichen - Bodenvase, die ihr Wasser über den Teppich ergossen hatte, auf dem auch die Blumen verstreut lagen.
»Hat man euch geheißen, durch das Haus zu toben?«
»Nein, gnädige Frau«, kam es leise.
»Habt ihr zu wenige Pflichten, die euch beschäftigt halten?«
»Nein, gnädige Frau.«
»Räumt das hier auf und trocknet den Teppich. Ihr bekommt, soweit ich weiß, keinen Lohn, von dem ich euch den Verlust der Vase abziehen könnte, sondern nur Kost und Logis. Ihr werdet also heute ohne Abendessen zu Bett gehen, verstanden?«
»Ja, gnädige Frau!«
»Und ihr werdet anschließend in euer Zimmer gehen und eine Lektion auswendig lernen, die euch über das sittsame Benehmen belehrt.«
»Ja, gnädige Frau.«
Während die Kinder die Scherben aufkehrten und das Wasser wegwischten, suchte Leonie ein passendes Büchlein aus ihrem eigenen Fundus heraus und wählte eine erbauliche Geschichte daraus. Sie war nicht eigentlich ungehalten über die Kinder, vertrat aber die Meinung, ihr Übermut müsse durch Strafe eingedämmt werden. Darum stieg sie anschließend zur Mansarde hoch, wo die beiden Übeltäter nebeneinander auf Ursels Bett saßen. Leonie hatte diesen Raum bisher noch nicht aufgesucht und stellte fest, dass er sicher besser und gemütlicher eingerichtet war als die üblichen Dienstbotenquartiere. Es gab zwei Betten rechts und links vom Dachfenster, dazwischen lag ein Teppich, zwar schon etwas abgetreten, aber noch brauchbar. Eine große Truhe barg die Habseligkeiten der Kinder, und ein geflochtener Paravent versteckte die Waschgelegenheit. Zierrat oder Schmuck jedoch fehlten gänzlich, außer - und hier verengten sich Leonies Augen - einem bunten Madonnenbild an der Wand. Zudem lagen ein Rosenkranz und ein abgenutztes Brevier auf dem Truhendeckel.
»Das Zeug dulde ich nicht in meinem Haus!«, sagte Leonie knapp und nahm Buch, Bild und Kette an sich. »Hier ist der Text, den ihr auswendig zu lernen habt. Um sechs Uhr höre ich euch ab!«
»Ja, gnädige Frau. Aber, bitte, können wir das Bild behalten?«, fragte Lennard.
»Nein. Dies ist ein protestantischer Haushalt, Götzenverehrung dulden weder der Herr noch ich.«
»Bitte«, sagte auch Ursel und sah so flehentlich dabei aus, dass Leonie sich beinahe hätte erweichen lassen. Aber dann glitten die Rosenkranzperlen durch ihre Finger und fielen zu Boden. Ihre Miene wurde hart.
»Nein. Und keine Widerworte mehr!«
Sie schloss leise, aber bestimmt die Tür hinter sich und ging wieder nach unten. Die konfiszierten Gegenstände legte sie auf den Tisch neben sich und versuchte, sich erneut durch die Lektüre von ihren Gedanken an vergangene Tage abzulenken.
Mit großer Willenskraft gelang es ihr auch eine Weile, dann hörte sie ihren Gatten heimkehren. Doch kam er nicht, wie sonst üblich, zu ihr, um sie zu begrüßen, sondern sie hörte ihn an der Treppe mit den Kindern sprechen. Kurz darauf trat er zu ihr in den Wintergarten.
»Wie ich hörte, Frau Mansel, hat es eine häusliche Auseinandersetzung gegeben.«
»Eine Petitesse, die Sie nicht zu kümmern braucht, Herr Mansel.«
»Sie kümmert mich durchaus, Madame, denn wie es scheint, haben Sie wegen eines geringfügigen Vergehens eine überaus harte Strafe verhängt.«
»Die Vase …«
»Die Vase war ein billiges Stück Steingut, das jederzeit ersetzt werden kann. Den Kindern das Abendessen zu verwehren ist vollkommen unangemessen. Lassen Sie sich eines gesagt sein, Madame: In meinem Haus wird kein Bewohner jemals hungrig zu Bett gehen.«
»Wie Sie wünschen, Herr Gemahl.«
In diesem Moment konnte Hendryk Mansel wieder das trotzig vorgeschobene Kinn wie auch den unterdrückt aufsässigen Tonfall erkennen, der ihn bereits bei dem Ehegelöbnis stutzig gemacht hatte. Prompt kam auch die Replik.
»Sie werden mir stattdessen sagen, welche weiteren Freiheiten ich den von Ihnen protegierten Kindern einräumen soll, und welche Handhabe ich ansonsten besitze, sie zu disziplinieren.«
Er betrachtete seine Frau einen Augenblick mit einem grimmigen Ausdruck, besann sich dann aber und erklärte: »Haben Sie jemals ein Waisenheim besucht, Madame?«
»Ich habe ausreichend Wohltätigkeit geübt, Herr Mansel. Mein Vater achtete stets darauf.«
»Ja, aber haben Sie schon einmal eine solche Anstalt betreten? Mir will scheinen, die praktische Seite der Charité ist Ihnen bisher entgangen. Als man diese beiden Kinder fand, waren sie ausgemergelte Gespenster mit dunklen Ringen unter den übermüdeten Augen. Sie arbeiteten bereits mit sechs Jahren vierzehn Stunden am Tag in einer Baumwollspinnerei. Dabei erhielten sie morgens einen dünnen Brei, mittags einen Kanten Brot und abends noch einmal eine dürftige Suppe. Ich ließ sie dort herausholen und bei einem Brillenmacher als Dienstboten unterbringen. Doch auch dort waren sie nicht in so guten Händen, wie ich es mir wünschte. Darum sind sie jetzt hier, und darum, Madame, werden sie hier bei uns nicht hungern. Haben Sie mich verstanden, Madame?«
»Natürlich, Herr Mansel.« Leonie war ehrlich betroffen, sie wusste tatsächlich sogar eine ganze Menge über die Zustände in den Heimen und hatte selbst oft genug für Speisung und Bekleidung der Kinder gesorgt. »Vielleicht hätten Sie mich auf diesen Umstand hinweisen sollen. Selbstverständlich bekommen die Kinder ihr Abendessen.«
»Und sie werden auch diese Devotionalien zurückerhalten, Madame!«
»Nein. Ich dulde in meinem Haus keine abergläubische Heiligenverehrung und keine Rosenkranz-Salbaderei!«
»Sprach die jüngst Konvertierte. Es ist mir schon oft aufgefallen, dass bekehrte Sünder die frömmsten und geläuterte Verbrecher die rechtschaffensten Fanatiker abgeben. Seien Sie nicht protestantischer als Luther selbst, Madame.«
Leonie sah die beiden Kinder in der Tür stehen und mit großen Augen lauschen. Leise zischte sie: »Sie beleidigen mich, Herr Mansel! Und das vor den Kindern.«
Er drehte sich um und winkte die zwei kurz entschlossen herbei.
»Erklärt der gnädigen Frau, warum ihr diese Dinge zurückhaben wollt!«
»Ja, gnädiger Herr.« Ursel war die mutigere der beiden, und während Lennard noch seine Finger krampfhaft verschränkte, hob sie die Augen und sah Leonie offen an. »Gnädige Frau, die Sachen haben unserer Mama gehört. Es ist das Einzige, was wir noch von ihr haben. Sie hat zu Mutter Maria gebetet, und niemand hat etwas Schlechtes darin gesehen.«
Leonie nickte. Vor vielen Jahren, als sie noch an Wunder glauben konnte, hatte sie selbst zu der heiligen Jungfrau gebetet und darin Trost gefunden. Mit einem Teil ihres Wesens konnte sie die Kinder verstehen.
»Herr Mansel, ich fühle mich überfordert, den Kindern die rechte religiöse Unterweisung zu geben. Ich muss Sie bitten, sich selbst darum zu kümmern. Ich will ihnen natürlich nicht die Erinnerungsstücke an ihre Mutter vorenthalten. Nehmt sie also wieder an euch, Ursel.«
»Danke, gnädige Frau!«
Hendryk Mansel reichte ihnen die drei Gegenstände und sagte in freundlichem Tonfall: »So, ihr zwei, jetzt lauft in die Küche. Wenn ich es vorhin richtig gerochen habe, ist da gerade ein Kuchen fertig gebacken worden.«
Ursel und Lennard verschwanden, und Leonie saß, wie üblich, mit sittsam im Schoß ruhenden Händen vor ihm.
»Ich appelliere an Ihr Verständnis, Frau Mansel. Die Kinder haben schon früh ihre leibliche Mutter verloren und suchen in ihrer Verehrung der Maria eine Art Ersatz. Natürlich werden sie nach und nach an den protestantischen Glauben herangeführt werden müssen, doch sie brauchen derzeit noch ein wenig Trost aus ihrem kindlichen Glauben. Ich hatte die Hoffnung, in Ihnen eine Hilfe zu finden, indem Sie ihnen etwas mütterliche Gefühle entgegenbringen. Aber darin habe ich mich offensichtlich getäuscht.«
Die Entgegnung kam wie ein Peitschenschlag.
»Wenn Sie eine Mutter für Ihre Abkömmlinge suchten, Herr Mansel, dann hätten Sie mir die beiden nicht als Dienstboten vorstellen sollen! Und eine kleine Aufklärung über die mir zugedachte Rolle, vor der Eheschließung, wäre auch wünschenswert gewesen!«
Er bekam einen kalten Blick in sein sichtbares Auge, als er erwiderte: »Sie unterstellen mir tatsächlich, ich würde Ihnen meine - wie nennen Sie es? Abkömmlinge? - unterschieben? Madame, das ist geschmacklos!«
»Tatsächlich? Und Ihr Verhalten entspricht vollends dem guten Ton?«
Kochend vor Wut stürmte Hendryk Mansel aus dem Raum und ließ eine leise knurrende Leonie im Wintergarten zurück.
Sie war wütend auf sich selbst, dass sie sich derart hatte gehen lassen. Entschlossen raffte sie ihre Röcke zusammen und lief die Treppen hinunter, um einige Schritte im Garten zu tun. Sie brauchte frische Luft und Bewegung.
Dort, zwischen den Blumenrabatten, beruhigte sie sich allmählich wieder. Gut, sie hatte die Kinder nicht sehr freundlich behandelt, das mochte wohl stimmen. Ihrer jüngeren Schwester Rosalie, dem Nachkömmling in ihrer Familie, war sie ebenfalls immer sehr distanziert begegnet, weil sie ihr immer fremd geblieben war. Mütterlichkeit, die Mansel von ihr forderte, lag ihr fern, und wahrscheinlich musste man sie als widernatürlichen weiblichen Charakter einstufen. Aber hätte er ihr etwas mehr von der leidvollen Vergangenheit der Zwillinge erzählt, hätte sie zumindest das übliche Mitgefühl an den Tag gelegt, das sie auch für andere Waisen verspürte. Sie nahm sich vor, zukünftig etwas herzlicher mit den beiden umzugehen. Und sich bei ihrem Gatten zu entschuldigen. Ihre Unterstellung war tatsächlich ausgesprochen geschmacklos gewesen. Er mochte die beiden aus wahrhaft barmherzigen Gründen aufgenommen haben, eine persönlichere Art, Wohltätigkeit auszuüben, als allgemeine Spenden zu geben. Man sollte dies achten, beschloss sie. Außerdem wollte sie noch einige Dinge mit ihm regeln, zu denen sie bisher noch keine Gelegenheit gehabt hatte. Es ging um ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen. Von ihrem Vater hatte sie eine Liste der Persönlichkeiten in Köln erhalten, denen sie anstandshalber einen Vormittagsbesuch abstatten sollte, und diese Besuche erforderten gleichermaßen, auch selber einen Empfangstag zu haben. Die Herrschaften auf ihrer Liste mochten zwar würdige Herrschaften sein, große Lust, sie zu ihrem näheren Umgang zu zählen, hatte sie allerdings nicht. Sie hatte gehofft, unter den Freunden ihres Mannes neue Bekanntschaften zu schließen, aber der schien ein rechter Eigenbrötler zu sein.
Sie lehnte sich mit der Stirn an den Stamm der Blutbuche und fragte sich, ob sie mit ihrer Eheschließung nicht vom Regen in die Traufe gekommen war. Sicher, sie war der frömmelnden Atmosphäre ihres Vaterhauses endgültig entronnen, und selbst ihr schamhaft gehütetes Geheimnis hatte sie bisher nicht offenbaren müssen, aber die gepriesene Freiheit einer verheirateten Frau genoss sie nicht, solange sie strikt ans Haus gebunden war und keinerlei gesellige Kontakte pflegen konnte. Dabei hatte sie sich auf Theaterbesuche und Ausstellungen, Soireen und Picknicks, vielleicht sogar den einen oder anderen Ball gefreut. Dererlei Abwechslungen hatte sie bisher weitgehend entbehren müssen. Aber wahrscheinlich machte Mansel sich nicht viel aus solchen schlichten Belustigungen.
Wenn sie wenigstens eine Freundin hätte, mit der sie dann und wann einen kleinen Bummel durch die Läden oder durch die Parks machen könnte.
Sie löste sich von dem Baum, wanderte weiter und pflückte eine frühe Rosenknospe.
Vielleicht - ja, vielleicht würde der liebenswürdige Leutnant Benningsen sie gelegentlich begleiten. Er war offensichtlich der engste Freund ihres Mannes und hatte sie die Male, die sie mit ihm zusammengetroffen waren, sehr zuvorkommend behandelt.
Ein kleines Lächeln stahl sich bei dem Gedanken in ihre Augen. Mit dem schmucken Offizier zu flanieren würde ihr sicher einige neidvolle Blicke einbringen.
So seelisch gestärkt, machte sie sich auf den Weg nach oben, um gebührend Abbitte zu leisten und dann ihre Vorschläge zu unterbreiten.
August 1837: Der Ausgang
KAM JE EIN LEICHNAM AUS DER GRUFT GESTIEGEN, DER MELDUNG TAT VON DER VERGELTERIN?
Schiller: Resignation
Lange war er mühsam und unter höllischen Schmerzen durch die Höhle gekrochen, nachdem es ihm irgendwie gelungen war, mit dem Dolch die Fesseln zu zerschneiden. Ein uralter Instinkt, eine seltsame Verbindung zur Erde und ihren Strukturen hatte ihm geholfen. Ähnlich wie ein Tier, das Wasser wittert, hatte er gespürt, geahnt und manchmal geschmeckt. Mineralien, Sedimente, Metalle - Erde hatte Geschmack. Er kannte ihn gut genug, um sich in einer Welt, in der sein Augenlicht erloschen schien, zu orientieren, und er hatte nur überlebt, weil er die Stelle gefunden hatte, an der unerwartet Feuchtigkeit aus dem Gestein getreten war. Geduldig hatte er sie von der Wand geleckt, tropfenweise seinen brennenden Durst gestillt, seine fiebernde Haut gekühlt. Dann war er endlich vor Erschöpfung eingeschlafen. Und in dem seltsamen Zustand zwischen Schlummer und Erwachen hatte er in wirren Träumen oder Trancezuständen Spuren wahrgenommen, die er vielleicht mit verständigem Denken nicht bemerkt hätte. Einen hauchfeinen Luftzug, eine Schwankung der Temperatur, eine kaum wahrnehmbare Geruchsempfindung vermischten sich mit langjähriger Erfahrung und erlerntem Wissen. Angetrieben von dem Wunsch, zu überleben und Rache zu nehmen, hatte er sich also weiter vorangeschleppt in die Richtung, die ihm sein Spürsinn riet. Eine Änderung der Bodentextur, ein Geräusch von rieselndem Sand, ein paar fragile Knochen, noch von papierartiger Haut überzogen, die Mumie einer längst verstorbenen Schlange gaben ihm die Hoffnung, einen Ausgang zu finden.
Er zog sich auf Ellenbogen und Knien voran, der Gang war zu niedrig, um auch nur kriechen zu können. Dann und wann blieb er keuchend liegen. Mit aller Gewalt verschloss er sein Denken vor der Vorstellung, was geschehen würde, wenn der Gang blind endete. Und noch mehr musste er seine Phantasie zähmen, wenn ihm klar wurde, welche Gesteinsmassen dort über ihm ruhten.
Langsam, sehr langsam, aber stetig robbte er voran, oft stöhnend vor Schmerzen.
Der Ausgang entpuppte sich als eine schmale Spalte, gerade noch breit genug, um sich hinauszuzwängen. Ein Dornbusch davor hatte es nicht eben leichter gemacht und seiner geschundenen Haut weitere Wunden zugefügt. Nur wenige Fuß weit war er gekrochen und dann zusammengebrochen.
In die Helle des Sonnenlichts.
Unendlich dankbar nahm er die heißen Strahlen wahr und blieb erschöpft liegen.
Von Zeit zu Zeit regte sich sein Wille, und er sagte sich, dass er weiterkriechen, Schatten suchen müsste, aber sein Körper verweigerte ihm den Dienst.
Irgendwann kam er zu dem Schluss, es müsse einfach ein Wunder geschehen. Zu mehr als darauf zu warten war er nicht mehr imstande.
Einsichten ins Leben
JA, ES GIBT LAGEN, WO MAN DEN NIEDERGEBEUGTEN MIT GEWALT HERAUSZIEHEN UND DER VERZWEIFLUNG ENTREISSEN MUSS. DIE KLUGHEIT ABER SOLLTE UNS IN JEDER DIESER EINZELNEN FÄLLE LEHREN, WELCHE MITTEL WIR ZU WÄHLEN HABEN.
Freiherr von Knigge: Über das Betragen gegen Leute in allerlei besonderen Verhältnissen und Lagen
Sorgfältig notierte Mansel die abgelesenen Koordinaten in der Streckenkarte und nahm dann wieder das Teleskop zur Hand, um einen Blick über die bereits fertiggestellte Trasse zu werfen. Das war eigentlich nicht nötig, aber hin und wieder erfreute er sich einfach daran, dass die Menschheit in der Lage war, eine gerade Spur durch die Landschaft zu bauen. So ähnlich mochte es den römischen Ingenieuren auch ergangen sein, wenn sie eine Wasserleitung, ein Viadukt oder eine Straße vollendet sahen. Er hatte sich ausreichend mit der antiken Baukunst befasst, um die Leistung der Römer überaus zu würdigen. Bis zu dem Zeitpunkt, da Napoleon seine Militärstraßen angelegt hatte, waren in ganz Europa keine derartig visionären Verkehrswege mehr angelegt worden. Die Eisenbahnlinien, die jetzt entstanden, waren tatsächlich vergleichbar mit den großen Würfen der Alten.
Sein Blick glitt den Damm hoch zu einem kleinen Gehölz, und plötzlich stutzte er. Da ging etwas Seltsames vor sich.
Verdammt, was hatte der Mann vor?
Warum kletterte er mit dem Seil auf den Ast?
Das sah ja aus …
Er warf seinem Mitarbeiter das Teleskop zu und lief zu seinem Pferd. In gestrecktem Galopp erreichte er in kurzer Zeit das Gehölz, sprang aus dem Sattel und eilte mit großen Schritten zu dem Baum, um gerade noch im allerletzten Augenblick den Körper aufzufangen, der sich von einem starken Ast hatte fallen lassen.
Ächzend unter dem Gewicht wusste er im Augenblick nicht so recht, was er tun sollte. An das Seil um den Hals des Mannes kam er nicht heran, ihn loszulassen hätte bedeutet, ihn tatsächlich hängen zu lassen.
»Knüpfen Sie den Knoten auf, Sie Idiot!«, fuhr er den Lebensmüden an.
»Gehen Sie fort!«, antwortete dieser heiser.
»Bestimmt nicht. Was Sie da vorhaben, ist definitiv keine Lösung Ihrer Probleme. Es gibt immer einen anderen Weg.«
»Das können Sie nicht wissen.«
»Glauben Sie mir, ich kann! Knüpfen Sie den Knoten auf, und ich helfe Ihnen, die Lösung zu finden!«
Mansels Arme begannen zu zittern. Der Mann war nicht eben leicht, und da er ihn um die Taille gefasst hielt, hatte er auch keine andere Möglichkeit, als ihn einfach stehend umklammert zu halten. Immerhin versucht der Selbstmörder nicht, sich aus seinem Griff zu befreien, sondern schwieg jetzt.
»Was immer es ist, es ist kein Grund, in den Tod zu gehen. Ehre kann man sich wieder verdienen, materielle Güter ersetzen, Liebe wiederfinden. Glauben Sie mir, irgendwo und irgendwie ist es möglich. Und wenn gar nichts anderes geht, ist es ehrenhafter, sich der Strafe zu stellen, als in den Tod zu fliehen. Ich bin sicher, mein Freund, es gibt in Ihrem Leben Menschen, denen Sie mit Ihrem Selbstmord größere Schmerzen bereiten als mit einer noch so schwerwiegenden Verfehlung.«
Der andere bewegte die Arme, und mit einem heimlichen Aufatmen bemerkte Hendryk Mansel, dass er die Schlinge über den Kopf zog. Dankbar kniete er nieder und ließ den Mann zu Boden. Dem aber knickten die Beine unter dem Körper weg, und er fiel ins Gras. Nun konnte er sich ein Bild von dem Geretteten machen. Er war ein magerer, blasser Mensch mit gekräuselten, rotblonden Haaren, etwas jünger als er, also Ende zwanzig, korrekt, wenn auch nicht modisch gekleidet in langen grauen Hosen, Weste und Überrock. Seine Hände waren nicht schwielig, sondern weich, wiesen aber Tintenspuren auf. Eine runde Brille hing ihm schief auf der Nase, auf der ein paar Sommersprossen so zusammenstanden, dass sie eine Mondsichel bildeten. Ein kleiner Angestellter, ein Kanzlist oder Schreiber vielleicht. Der schmale Goldring an seiner Rechten mochte auf eine Ehefrau verweisen.
»Mein Name ist Hendryk Mansel. Ich bin Vermessungsingenieur der Eisenbahn und sah Sie im Teleskop Ihre Vorbereitungen treffen«, eröffnete er das Gespräch.
Der andere hustete, setzte sich dann auf und vergrub den Kopf in den Händen. Dann sah er hoch.
»Ich sollte Ihnen wohl dankbar sein, Herr Mansel. Ich weiß noch nicht, ob ich’s wirklich bin. Aber - verzeihen Sie - mein Name ist Karl Lüning.«
»Und was, Herr Lüning, trieb Sie dazu, eine solch drastische Maßnahme zu ergreifen?«
»Die Schande. Mein Gott, die Schande. Verstehen Sie - mir droht eine Anzeige wegen Diebstahls. Sie wäre mein Ruin.«
Wieder versank der Kopf in den Händen.
»Eine berechtigte Anklage?«
»Natürlich«, seufzte Lüning.
»Ein großer Betrag?«
»Gott, nein. Aber was spielt das für eine Rolle?«
»Manchmal eine entscheidende. Könnten Sie es zurückzahlen?«
»Wovon? Rücklagen habe ich nicht, und ich werde doch auch meine Stelle verlieren.«
»Ja, eine schwierige Situation. Aber um Sie zu verstehen, Herr Lüning - warum haben Sie in die Kasse gegriffen? Denn darum geht es doch?«