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Ein bewegendes E-Book, das eine intensive Episode aus dem Ersten Weltkrieg beleuchtet. Mit packender Erzählkunst führt uns Wolf in die Schützengräben und Lebenswelten der Soldaten, insbesondere des Vizefeldwebels Rudolf. Erleben Sie die Grausamkeit des Krieges, die Kameradschaft unter Soldaten und die unermüdliche Suche nach Menschlichkeit und Hoffnung inmitten des Chaos. Diese Erzählung bietet einen eindrucksvollen Einblick in die Härten und emotionalen Herausforderungen, denen die jungen Männer damals gegenüberstanden. Eine Geschichte von Mut, Pflichtbewusstsein und der unermesslichen Sehnsucht nach Frieden.
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Seitenzahl: 36
Friedrich Wolf
Die Nacht von Béthineville
Erzählung
ISBN 978-3-68912-048-1 (E–Book)
Die Erzählung wurde 1936 verfasst.
Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.
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Es gibt Menschen, die aus einem brennenden Haus springen, von einem Fuß auf den andern treten und weitergehn. Sehr viele Soldaten sind aus den Schützengräben des ersten Weltkrieges, aus dem Feuerbereich der Flammenwerfer und Gasgranaten in den Zivilberuf zurückgestiegen, so wie man am Montag die Arbeit vom Samstag wieder aufnimmt. Auch ich selbst begann erst 1917 nachzudenken, als mein Freund Bender am Steenbach bei Langemarck fiel, grade während wir unsre alten Satteltaschen und Kartons zum Urlaub packten. Oft aber waren es ganz andre Dinge als Granatsplitter, die unsre Gedanken in Bewegung setzten.
Es ist nicht zu bestreiten, Vizefeldwebel Rudolf vom Sächsischen Reserve-Pionierbataillon Nr. 12 war einer der physisch vollkommensten Landser, die ich in jenen grauen vier Jahren kennenlernte. Ein Soldat wie aus der Felddienstordnung geschnitten: 1,75 Meter groß, lange Marschbeine, eckige Schultern, von denen die Tragriemen des Tornisters nicht abglitten, kein Gramm zu viel an seinem einundzwanzigjährigen trainierten Jungenkörper und – das Wichtigste – mit einem Kopf unter dem Schweißleder des Helms, der gradlinig und direkt preußisch jeden Befehl seines Vorgesetzten ausführte.
Er hatte im Juli 1914 eben sein Technikum beendet und wollte als Landmesserpraktikant beginnen. Aber am 5. August 1914 war er als Gefreiter ausgerückt und bereits nach zehn Tagen bei Dinant – die Treidelleine im Mund – im belgischen Infanteriefeuer über die Maas geschwommen. Im Juli 1915, während der ersten Champagneschlacht, hatte er allein mit seinem Zug den Staudamm von St. Souplet drei Tage lang gegen eine Übermacht französischer Sappeure und Kolonialtruppen verteidigt, war mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse dekoriert und zum „Vize“ befördert worden. Er teilte den letzten Becher Kaffee mit seinem Nebenmann, er requirierte befehlsgemäß die letzte Kuh von belgischen Bauern. In einer Regennacht während unsres Rückzugs gab er auf dem Flugplatz von Chalons seinen Mantel einem Pionier, der in Dysenteriekrämpfen auf dem Boden schnatterte; bei einer gewaltsamen Erkundung vor Reims sprengte er mit geballten Ladungen das Schäferhäuschen in die Luft, in dem sich vier Mann einer französischen Patrouille befanden. Mit einem Wort, der „Vize-Rudolf“ war ein Soldat, wie ihn sich kein Vorgesetzter besser denken konnte.
Wie auf Eisenbahnschienen lief sein Leben, zumal sein Kompanieführer, ein Oberleutnant Herschel, die Direktive übernahm. Dieser Oberleutnant war ein heimlicher, aber gewaltiger Alkoholiker. Bei Tage riss er sich zusammen, ging während des „Morgensegens“, im Granatfeuer, außerhalb des Grabens spazieren und polierte sich „kaltblütig“ die Nägel. Natürlich liebte er es, einen Stab Ordonnanzen um sich zu haben. Früh nach dem Rundgang durch die Stellung musste die Küchenordonnanz den Kaffee in weißen Wollhandschuhen servieren. Einmal fehlte der Zucker. „Wo ist der Zucker, du Zebra?“, fragte Herschel leise, um sofort loszubrüllen: „Habe ich Kaffee befohlen oder Heringsjauche?“ Der Mann wurde abgelöst und musste drei Nächte hinaus auf Patrouille. Wenn Herschel seine „Tour“ hatte – das heißt, wenn am Abend vorher ein neuer Schub Beutekognak oder Champagner in seinem Unterstand gelandet war –, dann sah er nachts das Mündungsfeuer von französischen „Eisenbahngeschützen“, dann mussten gewaltsame Erkundungen durch die feindlichen Linien gemacht werden, dann starben einige sächsische Pioniere den Heldentod.
Obwohl im Grunde völlig anders geartet, war Vizefeldwebel Rudolf der getreue Schatten des Oberleutnants. Oft spielten sie Tage und Nächte hindurch Schach, während draußen der Regen in die kreidigen Gräben rieselte. Dann kippte Herschel einen Kognak nach dem andern hinter die Binde, und der Vize hielt mit, bis sie von ihren Burschen Kupitz und Hattlieb in die Kojen geschleift wurden.
Der Vizefeldwebel war einen Tag vor dem Ausrücken ins Feld mit noch einundzwanzig jungen Kameraden zusammen vor einer Gewehrpyramide kriegsgetraut worden. Der Oberleutnant stellte nun während der nächtlichen Sitzungen mit Vorliebe „wissenschaftliche Fragen“ über jene Jungfernnacht und „Schnellehe“ an Vize-Rudolf; er freute sich, wenn der Junge errötete und dennoch – gleichsam in strammer Haltung – wahrheitsgemäß antworten musste. Der Oberleutnant war für den Vize die verkörperte Befehlsgewalt, und der Vize war der verlängerte Arm des Oberleutnants. Verlangte die Division wieder einmal Gefangene, so wusste der Oberleutnant, er konnte sich auf den Vize verlassen.
Nur einmal entstand eine seltsame Verwirrung. Ein deutscher Flieger war – von den feindlichen Flaks getroffen – zwischen den Linien abgestürzt. Der Apparat war zertrümmert, aber der Flieger lebte und schrie um Hilfe. Offenbar lag er eingeklemmt zwischen dem Gestänge und litt grässliche Schmerzen. Herschel und Rudolf beobachteten ihn durch eine Schießscharte des Grabens. Der Vize fragte: „Gestatten Herr Oberleutnant, dass ich ihn mit der Drahtschere herausschneide.“
„Bei Tag?“
„Abends ist er verblutet.“
Der Oberleutnant gestattete.