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Friedrich Wolfs Novelle erzählt die packende Lebensgeschichte von Hick Jörres, einem Kaufmannssohn, der zwischen den Welten gefangen ist: die heiteren Tage seiner Jugend, die dunklen Schatten des Ersten Weltkrieges und der erbitterte Kampf für eine gerechtere Gesellschaft. Vom jugendlichen Pennäler, der sich in lateinische Klassiker vertieft, bis zum Arbeiter, der in den Wirren des Generalstreiks seinen Mut beweisen muss – Hicks Weg ist geprägt von Freundschaft, Verrat, Liebe und der ewigen Frage nach dem Sinn des Lebens. Eine zeitlose Erzählung über den Verlust von Idealen und die Suche nach dem, was wirklich zählt.
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Seitenzahl: 75
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Friedrich Wolf
Kampf im Kohlenpott
ISBN 978-3-68912-389-5 (E–Book)
Die Novelle ist 1927 entstanden.
Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.
© 2024 EDITION digital®
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Godern
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Hick Jörres, Kaufmannssohn und Sekundaner, bebrütet in seiner Pennälerbude des alten Cicero unsterbliche Abhandlung „über das Greisenalter“. Die einzelnen Vokabeln müssen aus einer tausendseitigen Schwarte herausgeangelt werden; sie kommen wie dicke tote Karpfen mit verglasten Augen. Vergebens hatte der Ordinarius Dippel versucht, die fünfzehnjährigen „Windhunde“ nach dem Vorbild des alten Römers für die erhabenen Freuden des Greisenalters zu begeistern. Die Jungens bauten sich lieber Kajaks, „Seelenverkäufer“ aus Bohrstangen und geteerten Betttüchern dunkler Herkunft. Sie lagen auf den „Krippen“ und Sandbänken des Stroms, legten sich den wutschnaubenden Kapitänen der Schleppdampfer vor die Fahrtlinie oder begannen an Hand einer Inge, Asta und Ruth die Freuden des Jünglingsalters zu erproben.
Soweit stimmte alles.
Auch dass es Sonderlinge gab; dass Hick Jörres, dies viel zu hochgeschossene, eckige junge Holz, an dem leuchtenden Herbstmittag gewissenhaft Wort um Wort die Freuden des Greisenalters aufzubauen begann. Sein Vater, ein kontorgrauer, spirrdürrer Span, nahm sich kaum die Stunde zum Essen: Das Studiengeld für diese und die späteren Universitätsjahre musste herbei; er litt an einem verschleppten, sehr schmerzhaften Blasenleiden, weil er jahrelang tagsüber die fünf Minuten zum W. C. sich nicht abringen konnte … ein heroisches Opfer stummen Fleißes. Es wäre frevelhaft gewesen, wollte Hick die auf ihn gegründeten Erwartungen und Mühen enttäuschen. Vor ihm stand die hohe graue Brandmauer des Vorderhauses, nur zur Linken im schmalen Riss strahlten die schon gelben Blätter des Birnbaums.
Nicht träumen!
Nach dem Cicero warteten noch die Schlachtgesänge des Tyrtäus, die sphärische Trigonometrie und der Vortrag über den „Reinke de Voß“ des Hinrik van Alkmar. Hände in die Ohren, Nase ins Buch, gebüffelt!
Plötzlich durchzuckt’s ihn wie ein elektrischer Schlag … herum, hoch, was hat ihn gepackt!
„Mensch, Hix, Brüderlein …
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den jungen Tag
Vergolden, ja vergolden!“
Lachend parodiert der blonde Bengel hinter ihm den Stormvers mit des Direx schmalziger Betonung: „Was! Kegelschnitte entwickelt der Mensch! Junge, Hix, Stockfisch, weißt du nicht, dass man im Leben dafür Tabellen hat!“
„Im Leben …“
„Nur für das Leben lernen wir …“
„Die Zähne aufeinanderbeißen …“
„Richtig, du alter Römer! Mit siebzig Jahren! Cicero ,De senectute'!“
„Sie haben was geleistet!“
„Ja, als Hannibal ante portas, da legten sich diese siebzigjährigen senatorlichen Tugendbolzen zwischen je zwei achtzehnjährige pralle Puellae, um stoßkräftige Entschlüsse fassen zu können! Wir tun’s auch ohne! Ins Boot, Hix! Ozon ins Blut! In zehn Minuten hast du draußen den dreifachen Salat gelöffelt, ich memorier mit dir überm Fluss in den Riemen!“
„Geht nicht, Alf! Hab’ noch nichts getan!“
„Getan! Getan!“, wirft der Strohschopf seine zu langen Strähnen zurück und klappt über Hicks Schulter das Buch zu: „Aus und gar! Getan!
Was ist denn Tat? Was ist Nichttun?
Nie bist du frei von allem Tun nur einen Nu …
Musst achten auf das Nichttun auch.“
„Hindukusch! Hindukusch!“, fledert Hick die Trigonometrie jetzt in die Mappe. Der Bhagavatgitavers ruft ihre Blutsbrüderschaft hoch: In dem linken Unterarm beider Jungens ist mit Eosinrot das dritte Auge Buddhas eingestochen: ein Punkt, darum ein Kreis, darum das Dreieck. Ihr Blut war ineinandergeronnen … feierlich, geheim, jungensstark: das leichte helle Rinnsal Alf Loe’s, des Sohnes des Wandsbecker Husarenmajors, und Hick Jörres schwerer, dunkler Saft.
*
Wie sie über die herbstgelben Straßen gehen, spricht Alf halbsingend Sanskritverse im Urlaut der Veden; es klingt, wie weicher, klagender Vogelton. Der Fünfzehnjährige ist ein Sprachphänomen: in Syntax und Grammatik eine geradezu „Katilinarische Existenz“, schimmerlos, „unter dem Standpunkt der Klasse“. Aber er „spricht“ Latein, er spricht Griechisch, er spricht Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, als sei er in den Ländern geboren … sobald er die erste Schranke überwunden, sowie er sich mit Auge und Fantasie in die Landschaft hineingeschwungen, fließt auch die Sprache wie aus einem Stauwehr von seinen Lippen. So hält er lateinische und griechische Vorträge, so spricht er tatsächlich die alten Sanskritidiome, wie ein alter Germanist mühsam festgestellt; doch es kann auch geschehen, dass er von der Baghavatgita plötzlich einen Satz macht in eine Horazische Ode oder in eine Sapphische Strophe. Wie ein Känguru springt seine Fantasie. Selbst in der Mathematik arbeitet er mit Zahlenbildern, sieht er die Kegelschnitte und Formeln als plastisches Dominospiel. Sein Gedächtnis ist wie ein hundertköpfiger Vogel, der alles schlingt und nach Wunsch wie Gewöll wieder speit. Er ist müheloser Primus der Klasse. Kein Magister wagt sich mehr zweifelnd, mäkelnd an ihn heran; wie gebändigte Cerberusse umlagern sie ihn, in kaltem Staunen.
Auf der anderen Front lagern die Sirenen. Auch da keine Gefahr. Seine Fantasie schafft sich sogleich Klänge, vor denen alles verschwindet.
Er hat sich in der Hand.
Einer nur gönnt er Raum: Gesche Goch. Einer Sechzehnjährigen mit tizianrotem Feuerschopf, der Tochter eines Obersten. Sie ist mittelgroß, fast schon zu reif, ihm gewachsen. Die Sommersprossen ihrer hellen Haut verhüten billige Schönheit. Virtuos spielt sie die Geige: das „Violinkonzert“, die Varianten Marteaus und Wilhelmys. Hick, dem schwarzen Bürgerproleten, ist sie ein fernes Wunder. Alf ist sie Kampfpreis, Waffe, Sporn. Eines Abends rückt er Hick auf die Bude, knipst das Licht aus, zündet nur eine Kerze und liest seinen Gesang an das „Götterweib“ mit dem lodernden Kehrreim:
„Die Lampe aus! Und lass uns trinken
Du … meine Kraft, ich … Deinen Leib,
In Deinem Arm will ich versinken,
Du Götterweib!“
Stumm vor Bewunderung hat Hick gelauscht und dem Freund ergriffen die Hand gepresst. Wie oft stand er nachts Posten auf dem dunkeln Schulhof, der an den Garten des Oberst stößt, stundenlang, in Regen und Kälte, bis Alf zurückgekehrt. Ohne zu fragen. „Trontje“, den finstern Hagen von Trontheim, hat Gesche ihn getauft.
Da jetzt die beiden Freunde zum Strom schlendern, zuckt Alf wie unter elektrischem Stoß: die gelbe Gardine hängt um den Fensterknauf, zum Knoten verschlungen. Sie ist im Zimmer!
„Turnen!“
Sie stehen im großen Spielplatz des Pennals, im Turndress, das hohe Reck ist eingelegt. Hick lockert mit der Hacke das Sägmehl. Alf drückt eine Zugstemme und geht langsam in den Handstand.
In ihrem Zimmer steht Gesche und schaut auf den dunkeln Hof, der von ihrem Garten durch eine hohe, glasgespickte Mauer getrennt. Alf beginnt jetzt die Riesenwelle, im Kamm- und Ristgriff, umgreifend, von rechts nach links, von links nach rechts … ein weißblitzendes Rad in seinem hellen Trikot … bremsend zum Handstand, hohe Hocke ab. Die Reihe ist nun an Hick. Ohne ein Wort klar: er darf den Freund nicht ausstechen. So produziert er eine biedere Kraftübung mit der „Wage“ vorwärts und rückwärts, eine Sache, die es in sich hat, doch nach nichts aussieht. Alf setzt seine Adlerwelle dagegen mit hoher Wende. Sturmspringen über Bock und Pferd und schließlich Ringen.
Hier ist Hick der Härtere.
Doch er lässt sich legen.
12
Wie er doch einmal einen Griff durchführen will, spürt er plötzlich des wütenden Freundes unfaire Drosselung am Hals; schnell gibt er frei.
Noch denselben Abend gegen acht kommt Alf, sehr erregt: „Los, Hix! Zu!“
Hick folgt stumm, er spürt das Zittern des Freundes. In Alfs Bude, hoch im dritten Stock brennt eine kleine Lampe, deren Nickelreflektor wie ein Mantel das Licht dreiviertel umgreift und als Scheinwerfer nur einen schmalen Streifen entlässt. Der Raum ist sonst dunkel: die Wände mit den knienden Buddhas, den Majolikadrachen, der Totenmaske von Kainz, den Lorbeerkränzen der Turnfeste und Regatten früherer Behauser; auch die schlanken Spitzbogen der zwei Fenster sind durch tiefblaue lange Vorhänge verdeckt.
Auf einmal ertönt ein Geigensolo … leise, aus der offenen Tür, die zum Schlafraum führt. Wie die Geige verstummt, hört Hick plötzlich Alfs Stimme: Verse in fremden Zungen, eifernde, donnernde, brausende … dann wieder wie Vogelsang, Sanskritverse, glatt wie Meeresspiegel … und wieder die Geige, und wieder die Stimme, Ruf durch Wälder. Jetzt leuchtet’s im Scheinwurf der Lampe wie Feuer: Nur in ihr offenes, glutrotes Haar gehüllt steht Gesche, den Kopf tief über die Geige gesenkt und streicht Akkorde … Rau, verzweifelt, krachende Wetter.
Hicks Kopf ist tief in seine Hände vergraben, auf seinen Knien, er schluckt wie an einer roten Schnecke, weshalb … er zwingt den Blick hoch: Alfs helles, weiches Gesicht, sein rundes Kinn, die halbgeöffneten Lippen, schlürfend, Griechenliebling … ihm fremd, alles in ihm borstet dagegen, körperlicher Schauder, Schwüle, hinaus, hinaus!!
Er fällt die Treppe fast herab, so rennt er.
Alf lacht ihn am nächsten Morgen nur aus: Cicero „De senectute“! Stählerner Römer! Am Nachmittag, wie sie im Doppelskuller über den Strom zocken, meint Gesche vom Steuer her: „Trontje, hattest du Angst oder wolltest du mich … belehren?“
„Er ist ein Kind!“, schnauft Alf.
Hick schweigt.
Nichts ist anders zwischen ihnen, Alf ist lachender Gott, er ist Lehnsmann, Alltagsmensch, Büffler.
Ostern.
Versetzung, dank Alfs Hilfen. „Stürz dich einmal ins Leben, Trontje! Einmal was Tolles, Senator!“, ruft Alf ihm zu, wie der Zug anzieht, der ihn nach Hamburg in die Ferien führt.
Hick geht mit Gesche heim, vom Bahnhof über den „Damm“.
„Er hat recht!“, sagt sie plötzlich, „du erstickst in deiner Haut, wenn du sie nicht einmal durchbrichst! Jede Larve, jede Eidechse tut das, wenn sie wächst! Du bist immer derselbe!“
„Ich kann nichts dafür …“, schaut er weg.
„Doch kannst du, Trontje!“, wird sie ganz eifrig, „du bist nicht freudig!“ Aber sofort hält sie inne und merkt ihre Torheit: In den Ferien muss er die Konto- und Warenbücher des Vaters nachtragen, dessen verzehrtes, schmerzverzogenes Gesicht besser als alle Worte sagt: weil du studieren sollst! Diese graue Härte steht jetzt schon in dem herben Jungensgesicht. Gesche fasst seine Hand und lenkt den Weg zu den „Krippen“, Steinbuhnen, die weit in den Strom hinausspringen. Dort sitzen sie nieder. Die Wellen schießen in scharfen Strudeln um die vordersten Blöcke: Freiheit! Plötzlich bückte sich Hick, zerrt einen schweren Schiefer heraus, schwingt ihn auf die Rechte und schleudert ihn mit Wucht in den Strom.
Wasser überklatscht sie.