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In dem Schauspiel von 1921 entfaltet sich eine epische Auseinandersetzung mit den Themen Schuld, Gerechtigkeit, Liebe und der Macht des Wandels. In einer patriarchalischen Gesellschaft, die an starre Traditionen gebunden ist, bricht Tamar, eine mutige und leidenschaftliche Frau, aus den Fesseln von Vorurteilen und Zwängen aus. Als Sinnbild für Widerstand gegen Unterdrückung und für die Suche nach individueller Freiheit fordert sie nicht nur ihre Familie, sondern auch die gesellschaftliche Ordnung heraus. Wolf verbindet biblische Symbolik mit sozialem Drama und erschafft so ein zeitloses Werk über die Konflikte zwischen Tradition und Erneuerung. Ein Stück, das zum Nachdenken über die Essenz von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und den Mut zur Veränderung anregt.
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Seitenzahl: 62
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Friedrich Wolf
Tamar – zwischen Rache und Vergebung
Ein Schauspiel
ISBN 978-3-68912-423-6 (E–Book)
Geschrieben 1921 in Worpswede.
Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.
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Patriarch
Der Verzehrte, sein älterer Sohn
Der Knabe, sein jüngerer Sohn
Tamar, des Verzehrten Weib
Schwager
Magd
Irrer
Älteste, Knechte, Verbrecher, Henker, die Nackten
DER VERZEHRTE quer über die Bühne: Flieht! Flieht! Links ab.
PATRIARCH von rechts: Sohn, mein Name! Ihm nach.
Tamar, junges Weib, wie gestoßen von rechts, tastet nach links hinaus. Mägde und Knechte von rechts.
MÄGDE gejagt: Es schlug ins Fest, die Rinder brachen ins Knie, der Wein schüttete; sah ihr’s?
KNECHTE: Der Herr der Ernte; er schenkt nur denen, die gewähren; bleibt!
Blitz und Dunkel.
Hausinneres. Erntetisch am Abend mit Früchten, Gebäck, Wein, Kränzen und Lichtern. Patriarch, Tamar, Knabe in der Mitte; seitlich der Schwager, Knechte, Mägde. Der Stuhl zur Rechten des Patriarchen ist leer.
PATRIARCHzum Knaben: Gelobe!
Knabe zerbricht nach der Sitte das Brot.
PATRIARCH: Sprich!
KNABE: Der das Brot uns gab, dessen Gabe sei …
PATRIARCH: ER sei …
KNABE: Gelobt.
ALLE: ER sei gelobt!
Das Mahl beginnt.
SCHWAGER: Ein fruchtbar Jahr!
ERSTER KNECHT: Zehnfach trugen die Halme.
ZWEITER KNECHT: Und zwiefach die Rinder.
DRITTER KNECHT: Wir säten und flehten.
PATRIARCHzum Knaben: Wo ist dein Bruder?
KNABE: Er floh aufs Feld.
PATRIARCH: In der Nacht, auf die Stoppel … hetzt ihn der Satan?
KNABE: Er betet.
PATRIARCHgrimmig: Betet? Wohl um Spelt und Stroh? Ein fein Gebet, das mit Fluch segnet der Herr!
Tamar fährt zusammen. Ein Hirt eilig von rechts.
HIRT: Ein Tier erschlagen; blitzgesprengt!
PATRIARCH: Verscharr’s!
HIRT: Es trug.
PATRIARCH: Tot?
HIRT: Drei Kälber lebend, Herr! Umher. Drei sagt ich, eins mehr als meine Augen.
ERSTER KNECHT: Welch ein Haus; das birst dreifach Leben noch im Verenden.
ZWEITER KNECHT: Die Scheuer biegt sich, und Kälber donnert’s hier nieder wie Hagelkorn. Zum Hirt. Kerl, du träumst, dein Schiefauge hat das eine Stück dreimal gesehen: zum ersten vom Rist, zum zweiten vom Steiß und zum dritten …
HIRT: He, und zum dritten reißt’s jetzt die Schnauze auf und kann nicht weiter! Ja, Freund, so wahr ich dich mit diesen Augen sehe als eines, waren es dort drei Kälber; aus dem Todeszucken des getroffenen Tiers sprang dreifach die Geburt!
SCHWAGER: Ein Zeichen! Zu Patriarch. Des Gerechten Saat trägt Frucht und Aberfrucht.
PATRIARCHerregt: Her soll er!
SCHWAGER: Wer?
KNECHT: Was ist?
PATRIARCH: In dieser Stunde! – Schleppt er geheime Dinge in seines Herzens Nacht, ich will die Fackel meines Rechts werfen in diesen Abgrund. Zu den anderen. Was steht ihr? Gafft? Verstieß ich gegen das Gesetz je?
SCHWAGER: Du?
KNECHT: Herr!
PATRIARCH: War ich je untreu?
SCHWAGER: Untreu? Nicht wachsamer war je ein Diener des Ewigen!
ERSTER KNECHT: Nicht sorgender ein Vater …
ZWEITER KNECHT: Nicht gerechter ein Richter …
PATRIARCHzum Knaben: Hierher, in dieser Stunde! Und sollt man ihn hinter die Stiere binden!
KNABE: Doch wenn er …
PATRIARCHwild: Wenn er kniet und wieder in den Acker wühlt sein Gesicht, reißt ihn hoch, und speit er glühende Rufe in die Nacht, einen Stier nimm, einen Stier, einen schaumigen, eine Siele, bind ihn mit der Ferse dran und hetz das Stück nach hier! – Fort!
Der Knabe schnell ab.
PATRIARCHleise: Herr, Herr, was tat ich dir?
Stille.
SCHWAGER schielend: Das … überfiel dich? Doch warfst du dich nicht mörderisch in falschen Abgrund? Irrst du nicht?
PATRIARCH: Irren? Irrt der morsche Stamm, wenn er hinbricht? Ist Tod ein Irrtum?
IRRERkriecht unterm Tisch hervor: Der Tod, hoho, Gevatterchen, wer ruft mich? Es kommt ja doch nichts, wenn man ruft; auch ich komme nicht, weil … ich schon da bin. Denn die Sonne steht am steilsten um Mitternacht, und das Sterbelichtlein steht hinter dir, wenn du dich verdoppelst; darum aber kommt nur, was schon ist.
ERSTER KNECHT schlägt nach ihm: Tollhund!
TRUNKENER KNECHT: Lass ihn, er ist ein einfältiger Tod; wenn man ihn verdoppelt, wird er Leben werden. Maul auf, Doppeltod! Das Leben ist die einzige Wahrheit, – gießt ihm Wein in den Mund – wenn man’s vertilgt. Die Magd umarmend. He?
MAGD findet sich: Da ’s in mir schon klopft.
PATRIARCH: Knecht!
Der Knecht lässt von der Magd. – Stille.
SCHWAGERsich erhebend: Auf! Es ist spät, der Wein steigt in uns.
ERSTER KNECHT ebenso: Die Kerzen flackern.
TRUNKENER KNECHT: Was … he, wer ist spät? Wer flackert? Hier flackert niemand … ich will sehen, wer hier … Wird von den anderen hinausgestoßen.
SCHWAGERihnen nach: Schließt ihn ins Gatter! Sich wendend. Nicht ist gut, alles zu sehn. Mit den andern bis auf Tamar und den Patriarchen ab.
Stille.
PATRIARCHfür sich: Nicht ist gut, alles zu sehn. Doch über Kindeshäupter, über des Lebens Gefild … Zu Tamar. Du!
Tamar schreckt hoch.
PATRIARCH: Wie lang du sein bist?
TAMARscheu: Ins dritte Jahr, Vater.
PATRIARCH: Ins dritte Jahr? Und also zwölf und zwölf, und also dreißig Monde.
Tamar steht wie gelähmt.
PATRIARCH: Dreißig Monde, jäh. Höhnen mich die leeren Jahre, starrt Wüstenspuk, grinst der dürre Ast, der keinen Spross mehr treibt aus allem Saft des Stamms? – Mein Enkel. Tamar senkt das Haupt.
PATRIARCH: Dreißig Monde, dass du sein bist, dreißig Monde teilst du sein Lager, Tag um Tag warte ich auf das Glied, das mein Geschlecht anhefte an die Kette der Kommenden; aber der Herr hat keinen Segen auf dich; er hat dich verworfen wie eine taube Nuss.
Tamar sinkt zusammen.
PATRIARCH: Sterben werde ich! Dein Unsegen fällt wie ein Fluch auf uns alle; auf uns alle fällt er wie der Schatten einer schwarzen Wolke, die sich nicht öffnet. Dreifach sterben werde ich im Tod meines Hauses, verdammt und verdampft auf leerem Rost, du … Mädchen.
TAMARauffahrend: Mädchen?
PATRIARCH: Mädchen!
TAMAR gegen ihn: Was weißt du?
PATRIARCH hart: Was ich sehe.
TAMAR: Was siehst du?
PATRIARCH: Nichts.
TAMAR: Vater!
PATRIARCH: Nenne mich Vater, wenn ich Mutter dich nenne. Schweigen. Dein Übel?
TAMARhilflos: Mein Übel … dies … ja welches … dieses … Geschüttelt. Nein, nein, ich kann’s nicht sagen …
PATRIARCH: Dein Übel? Witternd. Ich kenne dein Wesen nicht, deinen Saft, du blonde Löwin, dich starkschultrig goldmähnig Wüstenbild mit den vollen Brüsten und dem leeren Schoß. Was hörte der Sohn nicht auf seines Vaters Stimme, als er dich ausriss aus fernem Stamm! – Dein Übel?
TAMAR: Quäle mich nicht.
PATRIARCH: Quäl ich dich? Als kenntest du Qual! Wild. Mein Stamm verdorrt; das Werk von hundert Vätern steht, eine umgestürzte Pyramide spitz auf deinem Leib, du … Kind!
TAMARleise: Und wenn es … deines Gottes Wille?
PATRIARCH: Dass dieser Stamm zerbricht? Dass der Gerechte verdorrt? Auch der Ewige hat seine Gesetze. Er kann nicht umstoßen die eigenen Tafeln.
Tamar horcht.
PATRIARCH: Nein, nein, der Herr hält sein Versprechen. Durch Jahrhunderte strahlt dies Haus im Licht der guten Werke. Wo steckt der Fluch? Stutzt. Er, der Spötter, der Tropf, der Nachtschreck, das Gespenst, der Schuhu, deiner … welch Laster treibt ihn?
TAMAR: Er ist heilig, Vater.
PATRIARCHhöhnend: Heilig – mit den Mägden?
TAMAR: Vater!
PATRIARCH: Du also?
Tamar wendet sich und verbirgt ihr Haupt.
PATRIARCH: Du schweigst? Im Zorn des Gerechten. So höre das Gesetz, das du kennst: Wenn das dritte Jahr voll ist und an deinen Schoß klopft, und er ist verschlossen dein Schoß, so wird dein Mann dir einen Scheidebrief schreiben, und verachtet und verflucht wirst du – Ausgestoßene – heimkehren zu deinen Zelten.
Tamar stürzt nieder.
PATRIARCH hoch: Gelobt sei der Herr, der wachet über den Gerechten und der die Frevler …
Der Verzehrte in zerrissenem Gewand, halb nackt, übernächtigt, tritt von rechts hinzu.
VERZEHRTER: F–l–i–e–h–t!
PATRIARCHihm entgegen: Steh! Schweige!
VERZEHRTERgeheimnisvoll: Flieht, flieht … es weht …
PATRIARCHhält ihn: Sohn!
Verzehrter starrt ihn an.
PATRIARCH: Bist du ein Tier, ein Mensch, ein Urianswurf, ein Gespenst; bist du mein … Sohn?
VERZEHRTERabwesend: Es weht … es weht …
PATRIARCH: