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In diesem visionären und intensiven Werk von 1918 thematisiert Friedrich Wolf die tiefsten Fragen menschlicher Existenz: Wer sind wir? Was bedeutet es, zu leben, zu lieben, zu sterben und wiedergeboren zu werden? In einer surrealen Welt aus Wandel und Verwandlung entfaltet sich ein symbolträchtiges Drama, das die Grenzen von Individualität, Gemeinschaft und kosmischen Kräften auslotet. „Das bist du“ ist eine faszinierende Mischung aus philosophischer Reflexion, emotionaler Tiefe und dramatischer Spannung – ein zeitloses Schauspiel, das heutige Leser genauso berührt wie vor über 100 Jahren.
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Seitenzahl: 40
Friedrich Wolf
Das bist du - eine Allegorie des Menschseins
Ein Schauspiel
ISBN 978-3-68912-417-5 (E–Book)
Geschrieben 1918 in Dresden
Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.
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Andreas, der Gärtner
Martha, sein Weib
Johannes, sein Geselle
Lukas, der Schmied
Der Ewig-Gleiche
Stimme der Axt
Stimme des Kreuzes
Stimme der Bank
Erstes, zweites, drittes, viertes fünftes, sechstes Wesen
Erscheinung einer Bergkuppe von eisigem Licht erhellt. Nebel fetzt um die Flanken des Berges. Einzelne Wiesen werden sichtbar und verschwinden.
ERSTES WESENspringt auf die Kuppe: Oben!
ZWEITES WESEN hinter ihm her: Ich trug dich!
DRITTES WESENebenso: Ich stach dich, bis du sprangst!
ERSTES WESEN: Was für ein Wort dies: Ich?
ZWEITES WESEN erstaunt: Warst du nie: Ich?
ERSTES WESEN: Weiß nicht.
DRITTES WESENsticht erstes Wesen mit einem langen Stachel: Spürst du dich jetzt?
ERSTES WESEN: Wie meinst du das?
DRITTES WESENerstaunt: Fühlst du keinen Schmerz?
ERSTES WESEN: Was ist das: Schmerz?
ZWEITES WESEN zu drittem Wesen: Ach, er war noch nie geboren.
DRITTES WESEN: Der Arme!
ZWEITES WESEN: Oder er hat es vergessen.
ERSTES WESENzu zweitem Wesen: Sag, was ist das: geboren?
ZWEITES WESEN: Schwer zu sagen; für jeden ein andres.
DRITTES WESENzu zweitem Wesen: Wie war’s denn mit dir zuletzt?
ZWEITES WESEN: Wart mal – zuletzt? Plötzlich. Da war ich ein Schuh, erst am Fuß eines Grafen. In vielen Hotels haben wir verkehrt; ich ward mit Milch gereinigt und mit Flanell gerieben. Aber der Graf selbst fasste mich nur mit zwei Fingerspitzen, und die andern taten’s, weil sie’s mussten. Ich ward auch bald verbraucht, kam zum Kammerdiener, und der gab mich dem Stalljungen. Nun, dacht ich, hast du’s elend; nun geht’s dir dreckig. So war’s. Aber als der Stalljunge mich so matt und schmierig sah, sprach er: „Warte du!“, kratzte mir die Poren aus, hauchte und rieb mit dem Ärmel seines Wollhemdes.
DRITTES WESEN: Ha, ha, das ist schon was Bessres.
ZWEITES WESEN: Ja, und dabei ächzte er: „Warte du!“ Das gefiel mir, und ich gab mir Mühe, blank zu scheinen. Plötzlich hielt er mich von sich, musterte mich fröhlich und sagte: „Na, Alterchen?“ Nun musste ich förmlich lachen, denn: Alterchen, das hatte noch niemand zu mir gesagt. Er aber meinte: „Schau, wie du mich anlachst!“
DRITTES WESEN: Sagte er wirklich: anlachst?
ZWEITES WESEN: Ja! Und jetzt spürte ich, dass ich Leben in mir hatte!
ERSTES WESEN starr: Was ist das: Leben?
DRITTES WESEN: Wart’s ab! Sonst stech ich dich!
ZWEITES WESEN lachend: Er spürt’s ja nicht; aber damals lebte ich, weil …
DRITTES WESEN: Weil?
ZWEITES WESEN zögernd: Weil der Stalljunge mich liebte.
DRITTES WESEN: Glaubst du, dass Liebe Leben erwecken kann?
ZWEITES WESEN: Das tut sie doch.
DRITTES WESEN: Oder: dass man ohne Liebe tot ist?
ERSTES WESEN: Was ist das: tot ist?
DRITTES WESEN: Ich glaube, wir müssen ihm etwas beibringen! Stößt einen summenden Ton aus.
Viertes und fünftes Wesen springen von rückwärts auf die Kuppe.
VIERTES WESEN: Wer summte? Der Ton macht mich rasend!
DRITTES WESEN: Weshalb?
VIERTES WESEN: Er erinnert an den Schleifstein. Ich war eine Axt. Begreifst du das, oder soll ich dich in Stücke hauen?
DRITTES WESEN: Hast du einmal eine Biene in Stücke gehauen? Auf erstes Wesen deutend. Aber dort steht einer, der möchte wissen, was „tot sein“ ist.
VIERTES WESENerstes Wesen betrachtend: War er schon lebend?
DRITTES WESEN: Das weiß er nicht.
VIERTES WESEN: So werde ich mich hüten. Erregt. Vielleicht ist er der Ewig-Gleiche? Wer den anrührt, der kann nicht mehr verwandelt werden.
Zweites und drittes Wesen weichen entsetzt zurück.
ERSTES WESEN: Was ist das: der Ewig-Gleiche?
DRITTES WESEN: Er fragt schon wieder!
VIERTES WESENverächtlich: Er ist doch wohl ein Mensch. Ich habe schon viele Menschen in meiner Behandlung gehabt. Tritt auf erstes Wesen zu. Soll ich dich erschlagen, Mensch? Hast du Angst?
ERSTES WESEN: Was ist das: Angst?
VIERTES WESENzu den anderen: Er ist hoffnungslos! Kommt!
Zweites, drittes und viertes Wesen verwehen. Erstes Wesen steht unbeweglich und starrt ins Leere.
FÜNFTES WESEN tritt leise hinter erstes Wesen: Weißt du auch nicht, was Leben ist?
ERSTES WESEN: Nein.
Fünftes Wesen legt ihre Hand an die Stelle seines Herzens.
ERSTES WESEN bebend: Was ist das?
FÜNFTES WESEN: Errat’s!
ERSTES WESENaufatmend: Ach … du?
FÜNFTES WESEN: Was ist das: du?
ERSTES WESEN erwachend: Was ich nicht mehr bin und einst war … ein Teil von mir?
FÜNFTES WESEN: Den du wieder erlangen möchtest …
ERSTES WESENaufflammend: Dich! Dich!
FÜNFTES WESEN: Still! – Weißt du jetzt, was Leben ist?
ERSTES WESEN: Ein Sicherinnern …
FÜNFTES WESEN: Und Lieben?
ERSTES WESEN: Ein Sichwiedererkennen.
FÜNFTES WESEN ihn umarmend: Du …
Eine Wolke weht beide hinweg. Zugleich stehen zweites, drittes und viertes Wesen wieder auf der Kuppe.
DRITTES WESEN: Wo ist er?
ZWEITES WESEN: Heda! Huhihahe!
DRITTES WESEN: Er hört ja nicht.
VIERTES WESEN: Sicher ein Kieselstein. – Ich habe ordentlich Lust, wieder einmal mit Menschen umzugehen.
DRITTES WESEN: Sie nutzen uns nur aus.
VIERTES WESEN: Sie glauben es; aber auf einmal sind wir doch Herr über sie.
ZWEITES WESEN